Marionetten

51XJKMEY8WL„Marionetten“ von John le Carré erschien 2008 in deutscher Sprache. Man darf annehmen, dass le Carré den Roman unter dem Eindruck der furchtbaren Ereignisse in New York etwa 2003, also heute vor über 10 Jahren geschrieben hat.

Im Januar 2002 entstand als Folge des 11. September 2001 das berüchtigte Gefangenenlager Guantanamo Bay auf Kuba. Von diesem Zeitpunkt an sind alle Männer verdächtig, die ein arabisches Aussehen haben oder einen schwarzen Bart tragen, schlimmstenfalls beides. Die echten Terroristen rasieren sich und verschwinden unsichtbar in der Menge.

Issa Karpow, die Leidensfigur im Buch, ist jung. Er kommt aus Tschetschenien und einen Bart trägt er auch. Zumindest anfangs, bis ihn Annabel Richter, eine junge Rechtsanwältin der Organisation Fluchthafen in Hamburg, dazu überreden kann, sich wenigstens den Bart abzurasieren.

Issa hat zwei Probleme – er sieht aus wie Terroristen eben aussehen, und er ist so naiv, wie man nicht sein darf, will man sich nicht verdächtig machen.

Issa ist illegal von Tschetschenien über Russland, die Türkei, Schweden und Dänemark nach Hamburg gekommen. Auf der langen Reise ist er immer wieder im Gefängnis gelandet, weil er sich allein durch seine Naivität verdächtig machte. Sein verstorbener Vater war zu Lebzeiten Oberst der Roten Armee, der es durch allerlei undurchsichtige Geschäfte zu einem stolzen Vermögen gebracht hat. Issa hält seinen Vater für einen Verbrecher und Mörder (er glaubt auch, dass er Issas tschetschenische Mutter auf dem Gewissen hat) und deshalb will er das Erbe seines Vaters Hilfsorganisationen zukommen lassen, die sich dem Wohl der Menschheit verschrieben haben. Wenn es noch eines zusätzlichen Verdachtsmomentes bedurfte, Issa endgültig in die Ecke eines hochgradig gefährlichen Terroristen zu rücken, dann ist es sein Wunsch, das Erbe zu verschenken.

Das Geld liegt auf einer Bank in Hamburg und nur deshalb ist Issa in die Hansestadt gekommen. Er ist auch fest davon überzeugt, dass deutsche Behörden jedem Asylsuchenden freundlich gegenübertreten, wie es in einem Rechtsstaat üblich ist, und er glaubt auch, dass er in Hamburg Medizin studieren wird. Vielleicht auch Jura oder beides. Naiv, wie er ist, hat er sich noch nicht entschieden. Und ein ehrbares Leben wird er in Deutschland führen, anders als sein Vater, den er so abgrundtief hasst, dass er den Vatersnamen, den –witsch zwischen Issa und Karpow, nicht führt. Die Parallelen zu dem, was wir aktuell in Deutschland erleben (das Jahr 2015 wird als das Jahr der Flüchtlingskatastrophe in die Geschichte eingehen!), sind unverkennbar, was nur den zwingenden Schluss zulässt, dass John le Carré über hellseherische Eingebungen verfügt haben muss, als er das Buch schrieb. Wie er auch gewusst haben muss, dass demnächst Träger längerer schwarzer Bärte automatisch als Terroristen eingestuft werden und arabische Frauen mit stärkerem Leibesumfang sofort in Verdacht geraten, einen Sprengstoffgürtel zu tragen.

Die Verantwortlichen für den 11. September, zumindest nach allem, was man bis heute weiß, haben längere Zeit in Hamburg gelebt, weshalb man laut le Carré in der Hansestadt glaubt, eine besondere Verantwortung bei der Bekämpfung des Terrorismus leisten zu müssen. Folgerichtig gibt es eine Antiterroreinheit, die – unabhängig von den offiziellen deutschen Sicherheitsbehörden – undercover ermittelt. Dazu kommen die üblichen Geheimdienste und auch die CIA darf nicht fehlen.

Die Behörden stehen unter Erfolgszwang und dieser Druck führt dazu, dass man Erfolge vorzeigen muss, koste es, was es wolle. Man darf vermuten, dass in jenen Jahren das Wort Kollateralschaden erfunden wurde.

Issa gerät sehr schnell ins Visier der Ermittler. Wegen seines Bartes, den er anfangs trägt, wegen seiner tschetschenischen Herkunft, der illegalen Einreise in Deutschland und seiner Naivität, sehr viel Geld verschenken zu wollen, ist er prädestiniert, den Terroristen zu geben.

An dieser Stelle muss ich die Schilderung der von le Carré erfundenen Figuren beenden, es würde dem Leser zu viel der Spannung nehmen. Nur so viel sei gesagt – der Autor schafft es auf unnachahmliche Weise, den Nervenkitzel von Kapitel zu Kapitel zu steigern und man ist geneigt, laut zu rufen: „Merkt ihr nicht – wollt ihr nicht merken, dass ihr den Falschen jagt?“

Das ist die Kernaussage dieses Romans, wie beinahe aller seiner Romane – die Geheimdienste erschaffen Feinde, wo keine sind und verlieren dabei die tatsächlichen Feinde aus den Augen. Und – das kommt noch hinzu – gleichgültig ob fiktiv oder real, die Dienste bekommen von jeder Regierung so ziemlich jedes Budget zur Pseudobekämpfung genehmigt, und jedes durch das Grundgesetz garantierte Persönlichkeitsrecht wird abgeschafft. Auch das ist eine Entwicklung, die wir gerade in mehreren westlichen Ländern erleben.

Ein Wort zu John le Carré. Wer seine Biografie kennt, weiß, dass er selbst nach dem Krieg beim britischen Geheimdienst war. Einem Interview, das er einem Journalisten gegeben hat, kann man entnehmen, dass er seine damaligen Arbeitgeber (übrigens eine Außenstelle Londons in Bonn) nicht ganz ernst genommen hat. Wie er auch einmal angedeutet hat, keinen Geheimdienst richtig ernst zu nehmen. Wenigstens zwei Altbundeskanzler haben eine sehr ähnliche Einstellung geäußert – Helmut Schmidt und Helmut Kohl.

Von besonderem Reiz ist die Sprache des Autors. Es ist dieser in beinahe jedem Satz anklingende, so typisch britische Zynismus, mit dem le Carré die diversen Akteure der deutschen Geheimdienstszene bloßstellt. Le Carrés Schilderungen werden nur noch von der Realität übertroffen, die wir seit Edward Snowden über in- und ausländische Geheimdienste erfahren haben oder vorher bereits wussten.

An dieser Stelle sei ein Abstecher in die reale Welt erlaubt. Murat Kurnaz, Sohn türkischer Eltern, in Deutschland geboren und aufgewachsen, mit deutschem Pass, hat von 2002 bis 2006 in Guantanamo eingesessen. Wie wir inzwischen wissen, gab es keinen ausreichenden Anfangsverdacht, darüber hinaus wurde ihm jegliche konsularische Betreuung seitens der deutschen Behörden verweigert. Kurnaz hat trotz der in Guantanamo praktizierten Folter wie Waterboarding nie ein Geständnis abgelegt, denn es gab nicht zu gestehen. Er hat für seine unrechtmäßige Inhaftierung nie eine Entschädigung erhalten, nicht einmal eine Entschuldigung wurde ihm zuteil. Die deutschen Behörden gingen sogar soweit, ihm nach seiner Entlassung aus Guantanamo die Einreise nach Deutschland zu verweigern, und man wollte ihm die deutsche Staatsbürgerschaft aberkennen. Das ließ sich letztendlich dann doch nicht durchsetzen. Soweit bekannt, war seine Festnahme letztendlich auf eine Verwechselung zurückzuführen.

Es gibt mehrere Parallelen zwischen der fiktiven Person Issa Karpow in John le Carrés Roman Marionetten und den Erlebnissen des realen Murat Kurnaz. Beide waren zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort. Beide sind naive Zeitgenossen, die rein zufällig ins Räderwerk der Ermittler geraten. Und beide haben sich schon deshalb extrem verdächtig gemacht, weil sie kein Geständnis ablegten, weil sie nichts zu gestehen haben.

Die Geschichte des Murat Kurnaz ist unter dem Titel „5 Jahre Leben“ verfilmt worden, ein ungemein spannendes 2-Personen-Kammerspiel – Murat Kurnaz und der ihn verhörende Offizier. Marionetten ist unter dem Titel „A Most Wanted Man“ verfilmt worden. Den Chef der Undercover-Abteilung in Hamburg, Günter Bachmann, spielt der erst kürzlich verstorbenen Philip Seymour Hoffman. Es ist seine letzte großartige Rolle.

Noch ein Wort zum Tag des 9/11. Ich erinnere mich, als sei es gestern gewesen. Ich saß vor meinem Rechner, schrieb irgendetwas, rechts neben dem Editor hatte ich wie immer die Nachrichten aufgeklappt. Ich sah die Zwillingstürme des World Trade Centers, dann die schwarzen Wolken – und wollte es nicht glauben. Erst bei den Spätnachrichten abends begriff ich, was ich gesehen hatte. Der Tag hatte die Welt verändert.


Genre: Agentenroman, Belletristik, Spionage, Thriller
Illustrated by Ullstein Berlin

Riven Rock

riven_rock-9783423127844Nahezu überschwappend dieser Irrsinn. Der arme Mr McCormick, ein Gejagter seiner inneren Richter, der Unfähigkeit Sexualität als etwas Normales sehen und fühlen zu können, eine übermächtige Mutter, eine ebenfalls psychisch kranke große Schwester. Dann die Jahrzehnte, in denen der Millionär weggesperrt leben muss. Wechselnde Psychiater, die “Redekuren” verordnen, sprich Psychoanalyse, die damals völlig unbekannt war, dazwischen einer, der die Affen und ihre Sexualität im Park des Anwesens erforscht. Sehr schräg, amüsant und gut gemacht. Weiterlesen


Genre: Belletristik, Romane
Illustrated by dtv München

Bleeding Edge

Maxine Tarnow ist eine private Ermittlerin in Betrugsfällen und sie hat gut zu tun in diesem New Yorker Frühsommer 2001. Die erste Dotcom-Blase ist geplatzt; die Überlebenden versuchen zu retten, was zu retten ist, egal mit welchen Mitteln. Maxine beschäftigt sich mit einem Unternehmen, das Sicherheitssoftware herstellt und dessen zwielichtigem Chef, einem milliardenschweren Computer-Nerd. Dazu ihr Nebenjob als Mutter und Beinahe-Ehefrau; das Schicksal hat ihr kein leichtes Päckchen geschnürt.

Sie taucht ein in die verstörenden Tiefen des Internets und findet dort Bedrohliches, das sie nicht immer versteht, ihr aber trotzdem Angst macht. Auch im real life häufen sich merkwürdige Begebenheiten, sie trifft auf die russische Mafia und bald gibt es den ersten Toten. Und dann sind da noch die seltsamen Videos, die man ihr zuspielt, in diesen ersten Tagen des Septembers 2001…

Ich bin eigentlich eher skeptisch mit Begriffen wie »Kultautor«, und ein solcher ist Thomas Pynchon ohne Zweifel, nicht nur, weil er die Öffentlichkeit konsequent scheut. Also war »Bleeding Edge« meine erste Begegnung mit ihm, aber es wird nicht die letzte gewesen sein, so viel ist sicher. Faszinierend sind seine geschliffene Sprachgewalt und der spielerische Umgang mit Worten, ebenso die Vielzahl der Charaktere, deren bisweilen skurrile Geschichten genüsslich ausgebreitet werden. Trotzdem behält der Plot eine gewisse Stringenz bei, die Geschehnisse werden zügig vorangetrieben, und das gelingt bei einem Werk dieses Umfangs nicht vielen Schriftstellern.

Und so ist »Bleeding Edge« viel mehr als ein weiterer 9/11-Roman, obwohl das natürlich ein zentrales Thema des Buches ist und auch die entsprechenden Verschwörungstheorien nicht fehlen dürfen in einer zutiefst neurotischen Gesellschaft, die detailliert beschrieben und seziert wird. Die ungeheure Dichte von Sprache und Handlung verlangt dem Leser einiges ab, aber wenn er sich darauf einlässt, wird er reichlich belohnt, von mir eine klare Empfehlung!


Genre: Belletristik
Illustrated by Rowohlt

Ich und Kaminski

ich und kaminskiSebastian Zöllner, ein von Freunden und Freundin verlassener, erfolgloser Journalist, setzt kurz vor seiner endgültigen Pleite alles auf eine Karte, um einen guten Job in der Kunstszene zu ergattern. Er will ein Buch, ein bleibendes Quellenwerk, über einen uralten, zurückgezogen lebenden Maler schreiben, der als einer der Großen seiner Zunft gilt: Manuel Kaminski, ein von Picasso und Matisse gelobter Malerfürst.

Der Boulevardschreiber interessiert sich einen Dreck für Kunst, er hat im Vorfeld lediglich oberflächlich recherchiert. Gleichwohl bläst er sich zu einem affektierten Kenner auf, der sein Fähnlein je nach Gesprächspartner in den Wind hängt, um voranzukommen. Er rechnet mit dem baldigen Ableben Kaminskis und sieht sich bereits als dessen gefeierter Biograf in Talkshows sitzen. Konsequent wird er im Romantitel »Ich und Kaminski« auch an erster Stelle genannt.

Durch Bestechung des Hauspersonals dringt er in das Refugium des Künstlers ein. Er durchsucht heimlich das Haus nach interessantem Material und versucht, die weitgehende Hilflosigkeit des angeblich blinden Greises auszunutzen, um pikante Details aus dessen Leben zu erfahren.

Doch Kaminski dreht den Spieß um und führt den Schmarotzer vor. Obwohl er so wirkt, als tue er jeden Augenblick den letzten Schnaufer, bestimmt er den Fortgang des Geschehens und veranlasst den Biografen, mit ihm eine Reise zu seiner Jugendliebe Therese Lessing zu unternehmen. Während er die letzten finanziellen Reserven des Unsympathen verzehrt, verwickelt der alte Meister Zoellner in immer neue Geschichten über sein Leben, täuscht Vergesslichkeit vor und verwirrt ihn zunehmend.

Am Ende scheitert der selbsternannte Kunstkritiker, der sich als selbstverliebter und in seiner Vorgehensweise entsprechend rücksichtsloser Kerl entpuppt und damit in gewisser Weise auch dem Objekt seiner Begierde ähnelt. Als er schließlich erfährt, dass längst ein anderer, prominenter Autor vertraglich als Kaminski-Biograf verpflichtet ist, wirft er seine Aufzeichnungen Blatt für Blatt ins Meer.

In seinem Kurzroman, mit dem ihm noch vor »Die Vermessung der Welt« der Durchbruch gelang, karikiert der Autor sowohl die Rolle des Künstlerbiografen wie die des Künstlers selbst. Er erweist sich als exakter Beobachter und unterhält, ohne bekehren oder belehren zu wollen. Aufgrund der Kürze des Textes ist »Ich und Kaminski« ein geeigneter Einstieg in die Welt des Daniel Kehlmann.

Taschenbuch und E-Book kosten identisch € 7,99. Ein klassisches Beispiel dafür, dass Suhrkamp nicht das leiseste Interesse zeigt, sich neuen Medien und einem jungen Markt zu öffnen.

Inzwischen wurde der Roman mit Daniel Brühl in der Hauptrolle verfilmt. Dies ist der Trailer:


Genre: Belletristik
Illustrated by Suhrkamp Frankfurt am Main

Veronika beschließt zu sterben

Selbstbestimmt will Veronika, Mitte 20, ihr Leben beenden, da sie es „in vollen Zügen genossen hatte“ und jetzt endlich frei sein und vergessen wollte – für immer. Mutig nimmt sie die mühsam besorgten Tabletten …

Doch der Selbstmord missglückt und sie erwacht in „Villete“, dem „berühmt-berüchtigten Irrenhaus“ von Ljubljana, der Hauptstadt von Slowenien, welches Veronikas Heimat ist. In „Villete“ nimmt sich ihr Dr. Igor mit einem gewagte Experiment an, um Veronika von ihrem Todeswunsch zu heilen, obwohl sie ja nur noch eine Woche zu leben hat, da der Selbstmordversuch ihr Herz zu stark in Mitleidenschaft gezogen hat.

Veronika nutzt diese eine Woche und lernt die Insassen von Villete näher kennen und fühlt sich von einigen „Verrückten“ besonders stark angezogen. Sie ist fasziniert und irritiert von dieser so anderen Welt, fern des bisherigen Alltags und der Probleme ihrer Heimat, die gerade einen Bürgerkrieg überstanden hat.

Paulo Coelho verarbeitet in seinem Buch nicht nur seine, über zwanzig Jahre zurückliegenden, eigenen Erfahrungen als Psychatriepatient, sondern stellt Fragen und gibt mögliche gedankliche Anregungen an den Leser. Er versucht zu erklären, was eigentlich „Verrücktsein“ im jeweiligen gesellschaftlichen Rahmen bedeuten kann und wie Menschen überhaupt in die Psychatrie kommen, um Hilfe zu suchen oder zu fliehen vor dem, was als normales Leben angenommen wird. Der Arzt Dr. Igor steht zusammen mit dem Pflegepersonal den Patienten als Institution „Psychatrie“ gegenüber und oft scheinen ihre Handlungen willkürlich und unverantwortlich. Trotzdem genesen einige „Villete“- Patienten und wagen nach langer Zeit wieder den Schritt aus dem Schutz dieser Institution hinaus ins reale Leben.
Zu ihnen zählt auch der schizophrene Eduard, dessen Geschichte den Leser genauso in seinen Bann zieht wie Veronikas Geschichte.

Obwohl das Buch vor zehn Jahren das erste Mal erschienen ist, scheint es nichts von seiner Aktualität verloren zu haben. Es wird immer wieder, und der Statistik zufolge auch immer mehr, Menschen geben, die ihr Leben als beendet und abgeschlossen betrachten oder die sich mit den rasant voranschreitenden gesellschaftlichen Veränderungen nicht arangieren können oder wollen. Und wenn diese Menschen psychatrische Hilfe erhalten, gibt es bestimmt inzwischen neue Medikamente und Methoden, die einige vielleicht von ihren Leiden heilen…
Letztendlich entscheidet jedoch jeder Leser dieses Buches selbst, in wie weit er sich während und nach der Lektüre des Buches gedanklich mit dem Sinn seines eigenen Lebens und seinem gesellschaftlichen Kontext auseinander setzen möchte. Ich, für meine Person, habe dieses dünne Büchlein weder schnell durchflogen, noch werde ich es schnell wieder vergessen können. Dazu war es viel zu faszinierend für mich!


Genre: Belletristik
Illustrated by Diogenes Zürich

Der Reiher

Dieser Roman schildert den letzten Tag im Leben von Edgardo Limentani, einem jüdischen Rechtsanwalt und Landbesitzer aus der oberitalienischen Stadt Ferrara. Limentani beschließt an diesem Tag endlich einmal wieder in die Valle, einer südlich des Po-Deltas gelegenen Sumpflandschaft, auf Jagd zu gehen. Limentani fährt in die Sümpfe, legt dabei einen Stopp ein, führt ein Gespräch mit dem Gasthauswirt Bellagamba und unternimmt einen Versuch, sich mit seinem Cousin Ulderico zu verabreden. Auf der Rückfahrt verschenkt Limentani die gesamte Jagdbeute, die obendrein gänzlich von seinem Jagdhelfer erlegt wurde. Er ruht sich im Gasthaus von Bellagamba aus, bevor er in sein Haus zurückkehrt, um sich dort in sein Zimmer zurückzuziehen. Für immer.

So wenig in „Der Reiher“ äußerlich geschieht, so intensiv wird die Lektüre durch das, was sich in Edgardo Limentani und durch das, was mit ihm geschieht. An das Ende dieses 152 Seiten umfassenden Romans angelangt, weiß der Leser, dass Edgardo Limentani beschlossen hat, seinem Leben ein Ende zu setzen. Im Alter von 45 Jahren. So wenig, wie offensichtlich an diesem Tag geschehen ist und den der Autor Giorgio Bassani so eindringlich zu schildern vermag, so schwer wiegt für Limentani diese Gleichförmigkeit und von Banalitäten strotzende Handlung. Neben der Hauptfigur Limentani wird Bassanis Geschichte von wenigen Personen bevölkert. Der Inhaber eines Gasthauses mit Zimmern, namens Bellagamba, der Jagdhelfer, der in den Sümpfen Edgardo Limentani nicht nur führt und hilft, sondern eigentlich allein für die Jagdausbeute sorgt sowie Ulderico, der Cousin des Landbesitzers spielen eine Rolle. Und die Zeit, in der diese Geschichte spielt: Wenige Monate nach dem Ende des italienischen Faschismus und der Kapitulation Nazi-Deutschlands.
Bellagamba ist ein Faschist der ersten Stunde und begegnet Limentani fast unbefangen. Sein Cousin hatte Mussolini ebenso begeistert zugejubelt, wie er sich nun mit dem neuen, demokratischen System, arrangiert. Sein Jagdhelfer zeigt ihm eine Zielstrebigkeit in der Jagd, die ihm vor lauter grüblerischer Selbstbefragung abgeht. Kurz nach dem Ende des Faschismus, nach Krieg und Holocaust kann ein Tag so banal sein, als ob eigentlich nichts geschehen wäre. Giorgio Bassani, einer der Großen der italienischen Literatur des 20. Jahrhunderts, wurde oft als einer der „leisesten Schriftsteller Europas“ bezeichnet. Tatsächlich erzählt Bassani in seinen Romanen und Erzählungen in einer Beiläufigkeit vom Leben der Menschen in seiner Heimatstadt Ferrara, die durchaus etwas atemberaubendes hat. Bassani beschreibt eine über jahrhunderte entstandene, einmalige, scheinbar voll assimilierte Kultur des Judentums in Ferrara. Das Wissen darüber, dass es wenig bedurfte, um das zu Negieren und dass diese Kultur mit dem Holocaust unwiederbringlich untergegangen ist, bewirkt eine Intensität dieser Erzählungen, die literarisch ihresgleichen sucht.
Alfred Andersch formulierte schon 1968: „Die Größe Bassanis kann daran erkannt werden, dass der Leser seiner Bücher sich der Stadt Ferrara nicht mehr als Tourist nähern kann, weder als naiver noch als kenntnisreicher. Ferrara wird ihn in erster Linie als Schauplatz der Erzählungen Bassanis interessieren.“


Genre: Belletristik
Illustrated by Klaus Wagenbach Berlin

Venedig unter vier Augen

Noch ein Buch über Venedig? Nicht, dass sich der amerikanische Romancier Louis Begley und seine Frau, die Biographin Anka Muhlstein nicht auch diese Frage gestellt hätten. Glücklicherweise hat sie das aber nicht davon abgehalten, „Venedig unter vier Augen“ zu schreiben. Begley eröffnet den Band mit einer Erzählung, nach deren Lektüre die Koffer gedanklich schon gepackt sind. Anka Muhlstein schließt sich mit der Beschreibung ihrer Lieblingsorte und Lieblingsrestaurants in der Lagunenstadt an. Danach möchte man den Rest des Buches nur noch auf der Reise in die Serenissima lesen. Dieses Buch ist nichts mehr und nichts weniger als eine überaus gelungene Liebeserklärung an Venedig.

Das im Mare-Buchverlag schon 2003 erschienene Buch, nun auch als Taschenbuch bei Fischer zu haben, besteht aus vier Teilen. Den Reigen eröffnet Louis Begley mit einer Erzählung, die von der erotischen Initiationsgeschichte eines amerikanischen Studenten und natürlich in Venedig handelt. Lilly, einer Mitstudentin aus vermögendem Hause nach Venedig nachreisend, hat er nach seinem Aufenthalt in der Lagunenstadt ebensoviel über Lilly erfahren, wie von der Topographie, von Kunst und Kultur in Venedig. Die Liebe zu dieser außergewöhnlichen Stadt überdauert die Begierde nach Lilly, die ihm zu Beginn der Erzählung erklärte, wie man am besten nach Venedig komme: „Der Königsweg nach Venedig, sagte Lilly, ist in einer Gondel. Alles andere wäre Frevel.“ Diesem Ratschlag, das schreibt uns Begley mit einem Zitat hinter die Ohren, wäre Thomas Mann nicht gefolgt. Dieser nämlich meinte, dass auf dem Bahnhof in Venedig anzukommen, einen Palast durch die Hintertür betreten hieße. Welche Wege die Begleys in Venedig betraten, davon handelt der zweite Teil des Buches.

Anka Muhlsteins beschreibt in „Die Schlüssel zu Venedig die Lieblingsorte und die Restaurants in Venedig, „die Begegnungen mit ihren Padroni und dem Bedienungspersonal“, die den Begleys die Stadt und ihre Einwohner auf besondere Weise näher gebracht habe. Kulinarisch darf man dabei nicht allzu viel erwarten. Im Gegenteil wird eingangs über eines der Lokale lobend berichtet: „Louis erklärte, er habe noch nie einen so guten Hamburger gegessen“. Die Orte und Lokale, von denen Anka Muhlstein erzählt, werden durch die Menschen lebendig, die sie bevölkern und die in ihnen arbeiten. So wird Muhlsteins Beschreibung vor allem eine Hommage an das Venedig der Venezianer und nicht das der Touristen.

Diesen beiden Texten folgt ein Fotoalbum mit Fotografien der Begleys, ihrer Kinder und Enkel in Venedig. Eine Abhandlung von Luois Begley über Venedig und die Literatur beschließt das Buch. Begley schreibt über den Ort und seine Schriftsteller und über die Frage, wie sich die Lektüre eines Buches verändert, hat man Venedig erst einmal kennengelernt.

Und um die Frage noch einmal aufzugreifen, die wir am Anfang dieses Literaturtipps gestellt haben, sei hier Louis Begley zitiert, der widerrum einen berühmten Kollegen zitiert:
„Venedig: es ist eine Freude, das Wort zu schreiben, aber ich weiß nicht, ob es nicht eine gewisse Anmaßung wäre, wollte man so tun, als sei dem noch etwas hinzuzufügen. Venedig ist tausendfach gemalt und beschrieben worden und von allen Städten der Welt am leichtesten zu besichtigen, ohne dass man eigens dorthin reist…“ Dieses Zitat stammt von Henry James, der zu seinem Ruhm und unserem Glück – gegen den eigenen Rat wieder und wieder über „la Serenissima“ schrieb.


Genre: Belletristik
Illustrated by marebuch-verlag Hamburg