Bleeding Edge

Maxine Tarnow ist eine private Ermittlerin in Betrugsfällen und sie hat gut zu tun in diesem New Yorker Frühsommer 2001. Die erste Dotcom-Blase ist geplatzt; die Überlebenden versuchen zu retten, was zu retten ist, egal mit welchen Mitteln. Maxine beschäftigt sich mit einem Unternehmen, das Sicherheitssoftware herstellt und dessen zwielichtigem Chef, einem milliardenschweren Computer-Nerd. Dazu ihr Nebenjob als Mutter und Beinahe-Ehefrau; das Schicksal hat ihr kein leichtes Päckchen geschnürt.

Sie taucht ein in die verstörenden Tiefen des Internets und findet dort Bedrohliches, das sie nicht immer versteht, ihr aber trotzdem Angst macht. Auch im real life häufen sich merkwürdige Begebenheiten, sie trifft auf die russische Mafia und bald gibt es den ersten Toten. Und dann sind da noch die seltsamen Videos, die man ihr zuspielt, in diesen ersten Tagen des Septembers 2001…

Ich bin eigentlich eher skeptisch mit Begriffen wie »Kultautor«, und ein solcher ist Thomas Pynchon ohne Zweifel, nicht nur, weil er die Öffentlichkeit konsequent scheut. Also war »Bleeding Edge« meine erste Begegnung mit ihm, aber es wird nicht die letzte gewesen sein, so viel ist sicher. Faszinierend sind seine geschliffene Sprachgewalt und der spielerische Umgang mit Worten, ebenso die Vielzahl der Charaktere, deren bisweilen skurrile Geschichten genüsslich ausgebreitet werden. Trotzdem behält der Plot eine gewisse Stringenz bei, die Geschehnisse werden zügig vorangetrieben, und das gelingt bei einem Werk dieses Umfangs nicht vielen Schriftstellern.

Und so ist »Bleeding Edge« viel mehr als ein weiterer 9/11-Roman, obwohl das natürlich ein zentrales Thema des Buches ist und auch die entsprechenden Verschwörungstheorien nicht fehlen dürfen in einer zutiefst neurotischen Gesellschaft, die detailliert beschrieben und seziert wird. Die ungeheure Dichte von Sprache und Handlung verlangt dem Leser einiges ab, aber wenn er sich darauf einlässt, wird er reichlich belohnt, von mir eine klare Empfehlung!


Genre: Belletristik
Illustrated by Rowohlt

Ich und Kaminski

ich und kaminskiSebastian Zöllner, ein von Freunden und Freundin verlassener, erfolgloser Journalist, setzt kurz vor seiner endgültigen Pleite alles auf eine Karte, um einen guten Job in der Kunstszene zu ergattern. Er will ein Buch, ein bleibendes Quellenwerk, über einen uralten, zurückgezogen lebenden Maler schreiben, der als einer der Großen seiner Zunft gilt: Manuel Kaminski, ein von Picasso und Matisse gelobter Malerfürst.

Der Boulevardschreiber interessiert sich einen Dreck für Kunst, er hat im Vorfeld lediglich oberflächlich recherchiert. Gleichwohl bläst er sich zu einem affektierten Kenner auf, der sein Fähnlein je nach Gesprächspartner in den Wind hängt, um voranzukommen. Er rechnet mit dem baldigen Ableben Kaminskis und sieht sich bereits als dessen gefeierter Biograf in Talkshows sitzen. Konsequent wird er im Romantitel »Ich und Kaminski« auch an erster Stelle genannt.

Durch Bestechung des Hauspersonals dringt er in das Refugium des Künstlers ein. Er durchsucht heimlich das Haus nach interessantem Material und versucht, die weitgehende Hilflosigkeit des angeblich blinden Greises auszunutzen, um pikante Details aus dessen Leben zu erfahren.

Doch Kaminski dreht den Spieß um und führt den Schmarotzer vor. Obwohl er so wirkt, als tue er jeden Augenblick den letzten Schnaufer, bestimmt er den Fortgang des Geschehens und veranlasst den Biografen, mit ihm eine Reise zu seiner Jugendliebe Therese Lessing zu unternehmen. Während er die letzten finanziellen Reserven des Unsympathen verzehrt, verwickelt der alte Meister Zoellner in immer neue Geschichten über sein Leben, täuscht Vergesslichkeit vor und verwirrt ihn zunehmend.

Am Ende scheitert der selbsternannte Kunstkritiker, der sich als selbstverliebter und in seiner Vorgehensweise entsprechend rücksichtsloser Kerl entpuppt und damit in gewisser Weise auch dem Objekt seiner Begierde ähnelt. Als er schließlich erfährt, dass längst ein anderer, prominenter Autor vertraglich als Kaminski-Biograf verpflichtet ist, wirft er seine Aufzeichnungen Blatt für Blatt ins Meer.

In seinem Kurzroman, mit dem ihm noch vor »Die Vermessung der Welt« der Durchbruch gelang, karikiert der Autor sowohl die Rolle des Künstlerbiografen wie die des Künstlers selbst. Er erweist sich als exakter Beobachter und unterhält, ohne bekehren oder belehren zu wollen. Aufgrund der Kürze des Textes ist »Ich und Kaminski« ein geeigneter Einstieg in die Welt des Daniel Kehlmann.

Taschenbuch und E-Book kosten identisch € 7,99. Ein klassisches Beispiel dafür, dass Suhrkamp nicht das leiseste Interesse zeigt, sich neuen Medien und einem jungen Markt zu öffnen.

Inzwischen wurde der Roman mit Daniel Brühl in der Hauptrolle verfilmt. Dies ist der Trailer:


Genre: Belletristik
Illustrated by Suhrkamp Frankfurt am Main

Veronika beschließt zu sterben

Selbstbestimmt will Veronika, Mitte 20, ihr Leben beenden, da sie es „in vollen Zügen genossen hatte“ und jetzt endlich frei sein und vergessen wollte – für immer. Mutig nimmt sie die mühsam besorgten Tabletten …

Doch der Selbstmord missglückt und sie erwacht in „Villete“, dem „berühmt-berüchtigten Irrenhaus“ von Ljubljana, der Hauptstadt von Slowenien, welches Veronikas Heimat ist. In „Villete“ nimmt sich ihr Dr. Igor mit einem gewagte Experiment an, um Veronika von ihrem Todeswunsch zu heilen, obwohl sie ja nur noch eine Woche zu leben hat, da der Selbstmordversuch ihr Herz zu stark in Mitleidenschaft gezogen hat.

Veronika nutzt diese eine Woche und lernt die Insassen von Villete näher kennen und fühlt sich von einigen „Verrückten“ besonders stark angezogen. Sie ist fasziniert und irritiert von dieser so anderen Welt, fern des bisherigen Alltags und der Probleme ihrer Heimat, die gerade einen Bürgerkrieg überstanden hat.

Paulo Coelho verarbeitet in seinem Buch nicht nur seine, über zwanzig Jahre zurückliegenden, eigenen Erfahrungen als Psychatriepatient, sondern stellt Fragen und gibt mögliche gedankliche Anregungen an den Leser. Er versucht zu erklären, was eigentlich „Verrücktsein“ im jeweiligen gesellschaftlichen Rahmen bedeuten kann und wie Menschen überhaupt in die Psychatrie kommen, um Hilfe zu suchen oder zu fliehen vor dem, was als normales Leben angenommen wird. Der Arzt Dr. Igor steht zusammen mit dem Pflegepersonal den Patienten als Institution „Psychatrie“ gegenüber und oft scheinen ihre Handlungen willkürlich und unverantwortlich. Trotzdem genesen einige „Villete“- Patienten und wagen nach langer Zeit wieder den Schritt aus dem Schutz dieser Institution hinaus ins reale Leben.
Zu ihnen zählt auch der schizophrene Eduard, dessen Geschichte den Leser genauso in seinen Bann zieht wie Veronikas Geschichte.

Obwohl das Buch vor zehn Jahren das erste Mal erschienen ist, scheint es nichts von seiner Aktualität verloren zu haben. Es wird immer wieder, und der Statistik zufolge auch immer mehr, Menschen geben, die ihr Leben als beendet und abgeschlossen betrachten oder die sich mit den rasant voranschreitenden gesellschaftlichen Veränderungen nicht arangieren können oder wollen. Und wenn diese Menschen psychatrische Hilfe erhalten, gibt es bestimmt inzwischen neue Medikamente und Methoden, die einige vielleicht von ihren Leiden heilen…
Letztendlich entscheidet jedoch jeder Leser dieses Buches selbst, in wie weit er sich während und nach der Lektüre des Buches gedanklich mit dem Sinn seines eigenen Lebens und seinem gesellschaftlichen Kontext auseinander setzen möchte. Ich, für meine Person, habe dieses dünne Büchlein weder schnell durchflogen, noch werde ich es schnell wieder vergessen können. Dazu war es viel zu faszinierend für mich!


Genre: Belletristik
Illustrated by Diogenes Zürich

Der Reiher

Dieser Roman schildert den letzten Tag im Leben von Edgardo Limentani, einem jüdischen Rechtsanwalt und Landbesitzer aus der oberitalienischen Stadt Ferrara. Limentani beschließt an diesem Tag endlich einmal wieder in die Valle, einer südlich des Po-Deltas gelegenen Sumpflandschaft, auf Jagd zu gehen. Limentani fährt in die Sümpfe, legt dabei einen Stopp ein, führt ein Gespräch mit dem Gasthauswirt Bellagamba und unternimmt einen Versuch, sich mit seinem Cousin Ulderico zu verabreden. Auf der Rückfahrt verschenkt Limentani die gesamte Jagdbeute, die obendrein gänzlich von seinem Jagdhelfer erlegt wurde. Er ruht sich im Gasthaus von Bellagamba aus, bevor er in sein Haus zurückkehrt, um sich dort in sein Zimmer zurückzuziehen. Für immer.

So wenig in „Der Reiher“ äußerlich geschieht, so intensiv wird die Lektüre durch das, was sich in Edgardo Limentani und durch das, was mit ihm geschieht. An das Ende dieses 152 Seiten umfassenden Romans angelangt, weiß der Leser, dass Edgardo Limentani beschlossen hat, seinem Leben ein Ende zu setzen. Im Alter von 45 Jahren. So wenig, wie offensichtlich an diesem Tag geschehen ist und den der Autor Giorgio Bassani so eindringlich zu schildern vermag, so schwer wiegt für Limentani diese Gleichförmigkeit und von Banalitäten strotzende Handlung. Neben der Hauptfigur Limentani wird Bassanis Geschichte von wenigen Personen bevölkert. Der Inhaber eines Gasthauses mit Zimmern, namens Bellagamba, der Jagdhelfer, der in den Sümpfen Edgardo Limentani nicht nur führt und hilft, sondern eigentlich allein für die Jagdausbeute sorgt sowie Ulderico, der Cousin des Landbesitzers spielen eine Rolle. Und die Zeit, in der diese Geschichte spielt: Wenige Monate nach dem Ende des italienischen Faschismus und der Kapitulation Nazi-Deutschlands.
Bellagamba ist ein Faschist der ersten Stunde und begegnet Limentani fast unbefangen. Sein Cousin hatte Mussolini ebenso begeistert zugejubelt, wie er sich nun mit dem neuen, demokratischen System, arrangiert. Sein Jagdhelfer zeigt ihm eine Zielstrebigkeit in der Jagd, die ihm vor lauter grüblerischer Selbstbefragung abgeht. Kurz nach dem Ende des Faschismus, nach Krieg und Holocaust kann ein Tag so banal sein, als ob eigentlich nichts geschehen wäre. Giorgio Bassani, einer der Großen der italienischen Literatur des 20. Jahrhunderts, wurde oft als einer der „leisesten Schriftsteller Europas“ bezeichnet. Tatsächlich erzählt Bassani in seinen Romanen und Erzählungen in einer Beiläufigkeit vom Leben der Menschen in seiner Heimatstadt Ferrara, die durchaus etwas atemberaubendes hat. Bassani beschreibt eine über jahrhunderte entstandene, einmalige, scheinbar voll assimilierte Kultur des Judentums in Ferrara. Das Wissen darüber, dass es wenig bedurfte, um das zu Negieren und dass diese Kultur mit dem Holocaust unwiederbringlich untergegangen ist, bewirkt eine Intensität dieser Erzählungen, die literarisch ihresgleichen sucht.
Alfred Andersch formulierte schon 1968: „Die Größe Bassanis kann daran erkannt werden, dass der Leser seiner Bücher sich der Stadt Ferrara nicht mehr als Tourist nähern kann, weder als naiver noch als kenntnisreicher. Ferrara wird ihn in erster Linie als Schauplatz der Erzählungen Bassanis interessieren.“


Genre: Belletristik
Illustrated by Klaus Wagenbach Berlin

Venedig unter vier Augen

Noch ein Buch über Venedig? Nicht, dass sich der amerikanische Romancier Louis Begley und seine Frau, die Biographin Anka Muhlstein nicht auch diese Frage gestellt hätten. Glücklicherweise hat sie das aber nicht davon abgehalten, „Venedig unter vier Augen“ zu schreiben. Begley eröffnet den Band mit einer Erzählung, nach deren Lektüre die Koffer gedanklich schon gepackt sind. Anka Muhlstein schließt sich mit der Beschreibung ihrer Lieblingsorte und Lieblingsrestaurants in der Lagunenstadt an. Danach möchte man den Rest des Buches nur noch auf der Reise in die Serenissima lesen. Dieses Buch ist nichts mehr und nichts weniger als eine überaus gelungene Liebeserklärung an Venedig.

Das im Mare-Buchverlag schon 2003 erschienene Buch, nun auch als Taschenbuch bei Fischer zu haben, besteht aus vier Teilen. Den Reigen eröffnet Louis Begley mit einer Erzählung, die von der erotischen Initiationsgeschichte eines amerikanischen Studenten und natürlich in Venedig handelt. Lilly, einer Mitstudentin aus vermögendem Hause nach Venedig nachreisend, hat er nach seinem Aufenthalt in der Lagunenstadt ebensoviel über Lilly erfahren, wie von der Topographie, von Kunst und Kultur in Venedig. Die Liebe zu dieser außergewöhnlichen Stadt überdauert die Begierde nach Lilly, die ihm zu Beginn der Erzählung erklärte, wie man am besten nach Venedig komme: „Der Königsweg nach Venedig, sagte Lilly, ist in einer Gondel. Alles andere wäre Frevel.“ Diesem Ratschlag, das schreibt uns Begley mit einem Zitat hinter die Ohren, wäre Thomas Mann nicht gefolgt. Dieser nämlich meinte, dass auf dem Bahnhof in Venedig anzukommen, einen Palast durch die Hintertür betreten hieße. Welche Wege die Begleys in Venedig betraten, davon handelt der zweite Teil des Buches.

Anka Muhlsteins beschreibt in „Die Schlüssel zu Venedig die Lieblingsorte und die Restaurants in Venedig, „die Begegnungen mit ihren Padroni und dem Bedienungspersonal“, die den Begleys die Stadt und ihre Einwohner auf besondere Weise näher gebracht habe. Kulinarisch darf man dabei nicht allzu viel erwarten. Im Gegenteil wird eingangs über eines der Lokale lobend berichtet: „Louis erklärte, er habe noch nie einen so guten Hamburger gegessen“. Die Orte und Lokale, von denen Anka Muhlstein erzählt, werden durch die Menschen lebendig, die sie bevölkern und die in ihnen arbeiten. So wird Muhlsteins Beschreibung vor allem eine Hommage an das Venedig der Venezianer und nicht das der Touristen.

Diesen beiden Texten folgt ein Fotoalbum mit Fotografien der Begleys, ihrer Kinder und Enkel in Venedig. Eine Abhandlung von Luois Begley über Venedig und die Literatur beschließt das Buch. Begley schreibt über den Ort und seine Schriftsteller und über die Frage, wie sich die Lektüre eines Buches verändert, hat man Venedig erst einmal kennengelernt.

Und um die Frage noch einmal aufzugreifen, die wir am Anfang dieses Literaturtipps gestellt haben, sei hier Louis Begley zitiert, der widerrum einen berühmten Kollegen zitiert:
„Venedig: es ist eine Freude, das Wort zu schreiben, aber ich weiß nicht, ob es nicht eine gewisse Anmaßung wäre, wollte man so tun, als sei dem noch etwas hinzuzufügen. Venedig ist tausendfach gemalt und beschrieben worden und von allen Städten der Welt am leichtesten zu besichtigen, ohne dass man eigens dorthin reist…“ Dieses Zitat stammt von Henry James, der zu seinem Ruhm und unserem Glück – gegen den eigenen Rat wieder und wieder über „la Serenissima“ schrieb.


Genre: Belletristik
Illustrated by marebuch-verlag Hamburg