Paradox. Am Abgrund der Ewigkeit

35D95D6D-1967-48D0-9D0A-E85F4EE5B4FEWas macht gute Unterhaltungsliteratur aus? Neben den Aspekten Sprache, Stil, Ästhetik sowie der Kraft, Bilder im Kopf des Lesers zu erzeugen, ihn zu fesseln und zu binden, spielt der Aspekt des Lernens und der Öffnung des eigenen Denkhorizonts ein wichtige Rolle. Gerade in dieser Hinsicht bietet der völlig zu Recht mit dem Kindle Storyteller Award ausgezeichnete Roman „Paradox“ ein Beispiel. Weiterlesen


Genre: Science-fiction, Self-Publisher
Illustrated by Bastei Lübbe

Außer sich

salzmann-1Пошёл ты!

Die bisher als Dramatikerin bekannte Sasha Marianna Salzmann hat es mit «Außer sich» auf Anhieb ins Finale des Deutschen Buchpreises geschafft, «Ein Debütroman mit großer sprachlicher und dramaturgischer Kraft» hat die Frankfurter Jury ihre Wahl begründet. Begonnen hat die in Wolgograd geborene und 1995 als Zehnjährige mit ihren jüdischen Eltern nach Deutschland emigrierte Schriftstellerin ihren ersten Roman während eines Stipendiums in Istanbul. Die türkische Metropole dient hier als exotischer Schauplatz ihrer Geschichte einer sehr rigorosen Selbstfindung.

Die Zwillinge Alissa und Anton wachsen fast schon symbiotisch aneinanderhängend in prekären Verhältnissen in Moskau auf, sie landen nach der Ausreise zunächst in einem Asylantenheim tief in der deutschen Provinz. Den Eltern gelingt aber ein bescheidener Aufstieg, Alissa beginnt sogar ein Mathematik-Studium in Berlin, das sie dann bald wieder abbricht, weil es sie zu stark am Boxtraining hindert (sic!). Als Anton spurlos verschwindet und nach geraumer Zeit eine Postkarte ohne Text und Absender aus Istanbul eintrifft, beschließt Alissa, ihn dort zu suchen. Dieses Handlungsgerüst dient der Autorin in ihrem vier Generationen umfassenden Epos einer von den politischen Umbrüchen Europas gebeutelten Familie als Basis für weit ausholende Rückblicke auf das Leben der Eltern und Großeltern Alissas. Die Intensität und Schonungslosigkeit dieser familiären Nabelschau auf der einen Seite, die kompromisslose, keine Grenzen kennende Suche nach sich selbst, nach dem Sinn hinter alldem auf der anderen Seite, gerät der Autorin zu einem ebenso verstörenden wie tabulosen Seelenstriptease Alissas.

«Ich bin nicht wie du», sagt sie einmal zu ihrer Mutter, «ich bin kein Tier, das vor sich hin grast und alles hinnimmt, wie es kommt. Ich will nichts von diesem Leben, in dem es alles gibt, aber niemand etwas will. Ich will nichts von diesem Schnickschnack, den ihr für die Erfüllung eures Lebens haltet, weil ihr sonst nichts habt, woran ihr glauben könnt.» Mehr Kapitalismuskritik geht kaum, und so gleitet Alissa tief in ein Istanbuler Milieu ab, das kleinkriminell geprägt ist, eine Schwulen- und Transgender-Szene mit Drogen, Alkohol, Prostitution. Hedonisten unter den Lesern wird viel Geduld abverlangt bei den detailverliebten Schilderungen aus dem schmuddeligen gesellschaftlichen Untergrund, es wird geschwitzt, gestunken, gepisst, gekotzt, gefickt bei endlosen Streifzügen durch vermüllte Abbruchhäuser und Kellerlöcher, die mit verwanzten, verdreckten Matratzen und ohne auch nur minimalistische Hygiene der Heldin als jederzeit von Auflösung bedrohte, improvisierte Bleibe dienen. Und die anarchische Alissa hadert letztendlich auch mit ihrem Geschlecht, sie versucht wie viele in der Szene mit Testosteronspritzen ihren rein körperlichen Sexus dem innerlichen, gefühlten anzugleichen.

Aus Sicht Alissas – mal in der ersten, mal in der dritten Person – erzählt die Autorin ihre Geschichte in einer klaren, unprätentiösen Sprache, teilweise aus einiger Distanz und dann auch wieder sehr nahe bei ihrer Protagonistin. Neben dem im Russischen scheinbar unvermeidlichen Namenswirrwarr, bei dem hier eine vorangestellte Personenliste allerdings darüber aufklärt, dass Etja, Etina und Etinka oder Katho, Katharina und Katüscha jeweils die gleiche Person meint, haben mich die häufigen kyrillischen Einsprengseln irritiert, die fast alle ohne Übersetzung bleiben. Bis auf «verpiss dich!», für das ich dann auf Russisch im Internet eine andere Formulierung fand als im Buch, «Пошёл ты!» nämlich. Was soll das also! Besonders gefallen haben mir die anschaulich erzählten Kapitel über die russischen Großeltern, die ein wenig über Alissas unappetitliche Abenteuer in der Transgender-Szene Istanbuls hinwegtrösten, bei denen mir öfter mal unwillkürlich etwas ähnliches wie Пошёл ты herausgerutscht ist. Ein sperriger Roman also, rätselhaft, hoch komprimiert erzählt zudem, der weitab vom Mainstream angesiedelt ist.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Suhrkamp Frankfurt am Main

Die Hauptstadt

menasse-1Brüssel oder Auschwitz

Neueste in der langen Reihe von Ehrungen für den österreichischen Schriftsteller Robert Menasse ist der ihm vor drei Tagen verliehene Preis der Frankfurter Buchmesse für den Roman «Die Hauptstadt». Er hat damit den weltweit ersten EU-Roman veröffentlicht, ein Panorama der europäischen Eliten, eine Farce aber auch über die Brüsseler Verhältnisse abseits der Blitzlichtgewitter und rituellen Statements von Spitzenpolitikern, wie man sie aus den Medien kennt. Der europa-politisch engagierte Autor, der sich schon vielfach in Essays und Traktaten mit der europäischen Idee beschäftigt hat, greift hier mit dem Moloch der Brüsseler Bürokratie ein literarisches Thema auf, das in dem schwierigen Fahrwasser, in dem sich die EU derzeit befindet, manchem allein von der guten Absicht her schon preiswürdig erscheinen mag.

«Da läuft ein Schwein». Mit dem ungewöhnlichen Rahmenmotiv eines durch Brüssel irrlichternden Borstenviehs, das im Roman immer wieder mal kurz auftaucht, beginnt Menasse seinen Prolog, sicherlich auch in Hinblick auf die allfälligen Konnotationen. Und wie man bald erfährt, stammt eine seiner Figuren von der EU-Kommission prompt aus dem agrarischen Milieu, sein Bruder betreibt einen Schweinemastbetrieb und ist als Lobbyist in Brüssel aktiv, um von dem gewaltigen Agrar-Etat der Gemeinschaft möglichst viel zu ergattern. Vergleichsweise winzig sind dagegen die Gelder, die Fenia Xenopoulou von der Generaldirektion Kultur zu Verfügung stehen. Sie hat den schwierigen Auftrag, das arg ramponierte Image der Kommission mit einer Feier zu ihrem fünfzigjährigen Bestehen aufzupolieren, – Musils «Parallelaktion» als literarisches Vorbild also! Und sie gewinnt Gefallen an der Idee, dafür Auschwitz heranzuziehen, den Fokus der Gemeinschaft also weg vom kleinteilig Ökonomischen auf das universal Moralische, auf das historische Grauen zu richten, das die Gründungsväter Europas mit ihrem Zusammenrücken ein für alle Mal politisch bannen wollten, nach dem Motto: Nie wieder!

In diversen, fragmentarisch erzählten Handlungssträngen entwickelt Menasse das anschauliche Bild eines engen Geflechts von karrieregeilen Akteuren, die mit- und gegeneinander arbeitend in Think-Tanks nach kreativen Lösungen suchen für die geplante Feier, – oder sie, im Hintergrund und mit geschickten Winkelzügen, schnöde hintertreiben. Der nach außen hin erratische Block der Kommission wird hier zum lebendigen Organismus europäischer Eliten, in dem der Einzelne als das berühmte Rädchen im Getriebe fungiert, sich damit für ein großes Ganzes engagierend. Das im Roman verwendete Insider-Kauderwelsch ist allerdings sehr gewöhnungsbedürftig für den Leser, und die vielen fremdsprachigen Textschnipsel sind ebenfalls nicht gerade leserfreundlich.

Der Plot ist mit einem Mordfall angereichert, dessen spurlose Tilgung aus allen Akten und Datenbanken auf die große Politik hinweist, die Nato ist im Spiel, und da ist alles möglich, es gibt schließlich ja auch noch eine supranationale, vatikanische Killertruppe. Eine der Figuren kommt bei dem Attentat im U-Bahnhof Maelbeek (sic!) ums Leben, und der emeritierte Professor aus einer Nazi-Familie fordert gar in seiner Einführungsrede die Gründung einer neuen europäischen Hauptstadt auf dem Boden von Auschwitz als symbolträchtigem Standort. Das Schwein aber erscheint plötzlich als Hirngespinst einiger überspannter Bewohner Brüssels, das Boulevardblatt lässt ihre hysterisch aufgeblähte Serie daraufhin sang und klanglos in der Versenkung verschwinden. Menasse erzählt seine vielschichtige, zuweilen tief in die Vergangenheit zurückgreifende, turbulente Geschichte durchaus ironisch, er verbindet dabei gekonnt ziemlich disparate Themen miteinander, wobei mir seine überwiegend männlichen Figuren jedoch arg überzeichnet vorkommen. Der große Wurf ist dieser Roman literarisch bestimmt nicht, Buchpreis hin oder her, aber er erweitert den Horizont und ist zudem unterhaltsam, mithin also durchaus bestsellertauglich.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Suhrkamp Frankfurt am Main

Benzin

2175E2D5-5868-4180-9679-6C174950081EAxel Hollmann liefert mit „Benzin“ einen spannenden Krimi, der im zweiten Drittel voll durchstartet und bis zum Höhepunkt rasant durchhält. Seine Geschichte spielt im Milieu der neuen Berliner Mitte und erzählt vom Aufbegehren der „Ureinwohner“ gegen das Profitstreben unersättlicher Baulöwen und ihrer Helfershelfer. Weiterlesen


Genre: Kriminalromane
Illustrated by Kindle Edition

Romeo oder Julia

falkner-1Orgasmusfrühstück

Folgt man der Definition Goethes, ist diese Prosa Gerhard Falkners mit dem deskriptiven Titel «Romeo oder Julia» eine Novelle, kein Roman, erzählt sie doch eindeutig von einer «unerhörten Begebenheit», die sich ereignet hat. «Die in Teil 1 ‹Innsbruck› geschilderten Vorfälle haben in allen Details so stattgefunden», lässt uns der Autor in seiner Nachbemerkung wissen. Dass hier (mal wieder) ein Schriftsteller als Protagonist fungiert (sic!), weist ja überdeutlich auf die autobiografische Basis des Erzählten hin. So was muss kein Nachteil sein, zeugt andererseits aber auch nicht gerade von besonderer Kreativität, geschweige denn Phantasie des Schriftstellers, seine Thematik betreffend.

Ich-Erzähler Kurt Prinzhorn, angesehener Lyriker, viel beschäftigter Teilnehmer an allerlei literarischen Tagungen und Bohemien mittleren Alters, wird in Innsbruck zum Stalking-Opfer. Jemand ist in sein Hotelzimmer eingedrungen und hat offensichtlich dort ein Bad genommen, lange schwarze Haare und Seifenreste in der von ihm nicht benutzten Badewanne sind eindeutige Indizien. Polizei und Hotelleitung sind eher skeptisch und bleiben es auch dann noch, als später der Schlüsselbund und eine Mappe mit Notizbüchern des Poeten aus seinem Zimmer verschwinden. In den zwei Teilen «Moskau» und «Madrid» der dreiteiligen Geschichte wird Kurt anschließend mit unter der Zimmertür durchgeschobenen Zetteln rätselhaft wirren, auch obszönen Inhalts belästigt, bis sich im dramatischen Showdown am Ende dann alles aufklärt, – für den Leser kaum überraschend übrigens.

Die Erzählung beginnt sprachlich gekonnt in einem mit feiner Ironie angereicherten, angenehm lesbaren Plauderton, chronologisch und sehr plausibel erzählt, mit eher knappen Dialogen. Dabei empfindet man die häufigen Abschweifungen in Literatur, Kunst und Popkultur durchaus bereichernd, wobei sich die Intertextualität dieser Prosa weitgehend auf Lyrik bezieht, der «Ort ohne Eigenschaften» für ein langweiliges Kaff im Nördlinger Ries ist da die löbliche, schon fast geniale Ausnahme. Als intertextuell kann man demgegenüber schon «Raskolnikow» nicht mehr werten, – denn der erscheint hier nicht als Metapher, sondern als von Kurt so getaufter, hungriger Moskauer Straßenköter. Gerhard Falkner nutzt die literarische Insider-Perspektive aber auch für einige ebenso amüsante wie drastische Seitenhiebe auf seine Zunft und gefällt sich in von ihm geschaffenen, verblüffenden Neologismen, zu denen auch das von mir im Titel genannte «Orgasmusfrühstück» gehört. Womit ein weiteres Stichwort gegeben ist, diese Geschichte wird aus einer unverhohlen machohaften Perspektive erzählt, bei der die Frauen dem chauvinistischen Helden geradezu nachlaufen und ihm widerstandslos erliegen, so er denn interessiert ist. Elke Heidenreich hat für solcherart selbstgefällige Erzählerpose bei einem deutschen Nobelpreisträger mal sehr zu Recht den Begriff «eklige Altmännerliteratur» geprägt. Für Zweifler sei vorsorglich angemerkt, dass der Rezensent ein Mann ist, – mit allem, was einen solchen ausmacht -, und keineswegs eine kampfeslustige Feministin!

Der Plot verliert im zweiten Teil deutlich an Fahrt, in Moskau wurde nur maßlos gesoffen, ist mir als Leser gerade noch in Erinnerung geblieben, und in Madrid schließlich tändelt der egozentrische Held mit einer schönen, toughen Frau herum, die man diesem durch nichts zu beeindruckenden, sich selbst aber allzu wichtig nehmenden Unsympath gar nicht gönnt. Der eitle Smalltalk bei den literarischen Treffen nervt den Leser irgendwann gewaltig, und der zuweilen durchscheinende schizophrene Hintergrund des Plots bleibt Beiwerk, er wird vom Autor nicht weiter thematisiert. Das eher lustlose Ende zeigt nichts mehr von der anfänglichen Erzählkraft des Autors und wirkt in seiner Vorhersehbarkeit geradezu kitschig, es läuft zudem so rasant ab, dass man sich als Leser über die vielen, für das Wodkasaufen in Moskau verschwendeten Seiten noch nachträglich ärgert.

Fazit: miserabel

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Genre: Roman
Illustrated by Berlin Verlag Berlin

Die Kieferninseln

poschmann-2Clash of Cultures

Die mit vielen Ehrungen überhäufte Schriftstellerin Marion Poschmann ist heuer mit ihrem neuen, dem vierten Roman «Die Kieferninseln» bereits das zweite Mal unter den Finalisten des Deutschen Buchpreises, sie gilt einigen sogar als Favoritin. Wir haben es dabei mit einer federleicht geschriebenen Tragikkomödie zu tun, die in Japan spielt und Witz wie auch Tragik aus dem Zusammenprall zweier unterschiedlicher Kulturen zieht, verkörpert zudem durch zwei einsame Protagonisten, wie sie konträrer nicht sein könnten.

«Er hatte geträumt, dass seine Frau ihn betrügt», lautet der erste Satz des Romans. Privatdozent Gilbert Silvester, Kulturwissenschaftler ohne Fortune, der im Rahmen eines Drittmittelprojekts über Bartfrisuren forscht, ist auch am selben Abend noch fest von ihrer Schuld überzeugt und stellt sie zur Rede. Es kommt zum Streit, wütend rafft er ein paar Sachen zusammen, verlässt das Haus und fährt zum Flughafen. Auf Seite zwei schon sitzt er in einem Airbus nach Tokyo, es war der früheste Interkontinentalflug, den er buchen konnte. Als er in der japanischen Metropole ziellos herumstreift, bemerkt er auf einem Bahnhof einen jungen Mann, der offensichtlich Suizid begehen will. Er bringt ihn davon ab, indem er ihm klar macht, wie vulgär doch ein Bahnhof sei für sein Vorhaben. «Wir finden einen besseren Platz», verspricht Gilbert und nimmt den Petrochemie-Studenten Yosa Tamagotchi, der trotz ordentlicher Noten unter extremer Prüfungsangst leidet, mit in sein Hotel.

Indem die Autorin ihrem Protagonisten den Namen jenes virtuellen Kückens gibt, das Ende der neunziger Jahre weltweit einen kurzzeitigen Hype ausgelöst hatte, betont und verdeutlicht sie dessen Hilfsbedürftigkeit. Gilbert entdeckt den Samariter in sich, er will Yosa helfen, einen würdigen Ort für seinen Suizid zu finden. Gemeinsam begeben sie sich auf den Spuren des berühmten japanischen Haiku-Dichters Matsuo Bashō an jene mystischen Orte, die er auf seiner legendären Pilgerreise Ende des 17ten Jahrhunderts besucht hatte und deren Endpunkt damals die Bucht von Matsushima war, – die Kieferninseln, einer der schönsten Orte Japans. Der gemeinsame Trip ist natürlich geprägt vom erwartbaren Clash of Cultures, den die Autorin geschickt einwebt in ihre leichtfüßig, zuweilen auch lakonisch erzählte Geschichte. Entsetzt merkt Kaffeetrinker Gilbert zum Beispiel erst im Flugzeug, dass Japan ja zu den Teenationen gehört. Und dass es dort ethnisch bedingt auch kaum Bartträger gibt, also keine für seine Studien verwertbare Bartkultur, – auch Yosa hat nur ein dünnes Ziegenbärtchen, und auch das ist nur angeklebt, wie sich später herausstellt. Und wenn sich ein Zugschaffner bei Gilbert für dreißig Sekunden Verspätung entschuldigt, erscheint ihm als Kunden der Deutschen Bundesbahn das schon fast überirdisch.

Die Geschichte wird zu weiten Teilen in Form der inneren Rede aus der Perspektive Gilberts erzählt, ein echter Gedankenaustausch zwischen den beiden einsamen Männern scheitert an den englischen Sprachkenntnissen Yosas. Es gibt zudem keine markanten Nebenfiguren im Roman, alles ist nebelhaft und unbestimmt, auch Gilberts Frau und Yosas Familie bleiben völlig profillos. Wahrhaft irrwitzig ist die Szene im Selbstmordwald Aokigahara am Fuße des Fuji, den Umweltschützer einmal im Jahr von verwesten Leichen säubern, 102 Tote waren es im Jahre 2003, – auch hier übrigens ein literarischer Nachahmeffekt wie bei Goethes Werther. Es gelingt der Autorin mühelos, die schon fast hysterische Naturliebe der Japaner poetisch umzusetzen, ihr Held Gilbert ist am Ende tief in die japanische Mentalität mit ihren strengen Ritualen eingetaucht, wovon insbesondere die Haiku zeugen, die er eifrig verfasst bei seiner roadtripartigen Sinnsuche. Ein pikaresker Roman, morbide zugleich und damit auch irritierend, der unbestimmt zwischen Traum und Wirklichkeit pendelt, in der zweiten Hälfte dann leider einiges von seinem Esprit verliert, das Ende aber immerhin wohltuend offen lässt.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Suhrkamp Frankfurt am Main

Schlafende Sonne

Lehr_25647_MR.inddPoetologische Phänomenologie

Mit «Schlafende Sonne» ist der erste Teil des Opus Magnum von Thomas Lehr erschienen, dem zwei weitere folgen sollen. «Wird fortgesetzt» lesen wir also am Ende, doch so mancher Leser wird spätestens da, wenn er denn überhaupt so weit gekommen ist, entnervt aufstöhnen: «Aber ohne mich!» Denn indem der Autor schon im Motto mit dem Phänomen der Spirale seinem Roman dessen formales Prinzip voranstellt, weist er auch gleich auf ein narratives Chaos hin, dem er in seinem unkonventionellen Text immer wieder vom Innern einer erzählerischen Spirale her beizukommen sucht. Es wird also nicht linear erzählt, sondern ohne erkennbare Chronologie vom stofflichen Zentrum her in sich drehenden, geradezu verwirbelten Erzählsträngen, die lesend nachzuvollziehen mehr als anstrengend, häufig gar unmöglich ist. Verliert also der arglose Leser in dieser fragmentierten Erzählung die Orientierung, was voraussehbar ist, liegt das ganz gewiss nicht an seinem rezeptiven Unvermögen, soviel vorab.

Dreh- und Angelpunkt der Geschichte mit ihren drei Protagonisten ist ein einziger Tag im August 2011, an dem die Künstlerin Milena Sonntag im Berlin ihre große Werkschau eröffnet. Ihr Ex-Geliebter Rudolf Zacharias, einst ihr Philosophie-Professor, reist extra aus Tokio an, ihr Ehemann Jonas, dessen Statement «Ich bin nur Physiker» ihn in intellektuellen Disputen der Künstlergemeinde stets aus der Schusslinie nimmt, holt ihn am Flughafen ab. Das ist auch schon die eigentliche Handlung, die wegen ihrer eintägigen Dauer unwillkürlich an Joyce erinnert. Aber anders als im «Ulysses» stehen hier nicht die Protagonisten im Zentrum der Erzählung, sondern die Geschichte Deutschlands selbst in politischer, gesellschaftlicher, wissenschaftlicher Hinsicht, und zwar über einen Zeitraum von etwa hundert Jahren hinweg. In den vielen die Seiten füllenden, aus der leitmotivischen «Spirale» heraus sich entwickelnden Erzählkreisen werden intellektuell anspruchsvoll philosophische, physikalische, kunsttheoretische, universitäre, historische, soziologische Themen behandelt. Die so entstehenden erratischen Bilder jedoch sind ohne inneren Zusammenhang, vieldeutig und kaum zu entschlüsseln, auch mit Hilfe des zweiten Leitmotivs «Sonne» nicht.

Muss man also, wie in Feuilleton zu lesen war, den Roman mehrmals lesen, um ihn wirklich zu verstehen? Man könnte den sich radikal außerhalb aller Konventionen stellenden Erzählstil Lehrs, seine eher technisch als poetologisch angelegte Sprache, als provokativ empfinden. Inwieweit der auf diese Art bewerkstelligte Einblick ins deutsche Bewusstsein wirklich Erkenntnis fördernd ist, hängt einzig vom Erfahrungshintergrund des jeweiligen Lesers ab. Der Roman schließt nach meiner Einschätzung aber weite Leserkreise von einer bereichernden Wirkung der Lektüre mit Sicherheit aus, zu akademisch hochgestochen wird hier schwadroniert, quasi nach Bildungsbürgerart. «Ich bin vielfach ungebildet» hat der Autor mit einem Musil-Zitat eine entsprechende Frage abgewiegelt, meinen Nonsens-Verdacht damit erhärtend. Denn ob das akademische Parlando des Romans einer fachlich kritischen Prüfung standhält, vermag ich zwar nicht zu beurteilen, es bleibt aber doch fraglich.

Ohne Zweifel schreibt Thomas Lehr auf höchstem Niveau, virtuos immer wieder die Erzählperspektiven wechselnd. Er erzeugt mühelos hoch assoziative Bilder in seinem breit angelegten deutschen Panorama, in dem Alltagsleben oder ökonomische Aspekte ausgeblendet bleiben und Sex als eine fast schon artistische Zweckübung behandelt wird, bei der Erotik kaum eine Rolle spielt. Die Figuren des Romans sind wenig lebensecht, zudem intellektuell maßlos überzeichnet, und manche der weit ausholenden Erzählbögen führen einfach nur ins Leere. In dem für die Shortlist des diesjährigen Buchpreises nominierten Roman ist der Inhalt der Form derart radikal untergeordnet, dass der Leser größte Mühe hat, auch nur ein Gran Sinn in das Ganze zu bringen. Schade eigentlich!

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Hanser

Die Pest

camus-2Zwischen den Toten der Nacht und den Sterbenden des Tages

In seinem Roman «Die Pest» von 1947 hat Nobelpreisträger Albert Camus viel selbst Erlebtes verarbeitet, wozu neben dem Handlungsort Oran insbesondere das Bedrückende der politischen und militärischen Situation im besetzten Frankreich, seine langen Klinikaufenthalte wegen seiner Tuberkulose und die ebenfalls lange Trennung von seiner Frau gehören. Innerhalb seiner mit existentialistischen Motiven angereicherten Philosophie des Absurden erscheint hier dominant das Element der Revolte im Sinne von Auflehnung, von Protest gegen die Zumutung des Daseins, die unbegreifliche Sinnlosigkeit der menschlichen Existenz. Und zur Revolte als ständiger Handlungsmaxime im Werk von Camus gehört untrennbar die Solidarität, der uneingeschränkte Respekt vor dem anderen. Insoweit ist der berühmte Roman eine Art groß angelegte Meditation über die menschliche Existenz als solche. Das Nobelkomitee erkannte ihm den Preis zu «für seine bedeutungsvolle Verfasserschaft, die mit scharfsichtigem Ernst menschliche Gewissensprobleme in unserer Zeit beleuchtet».

Zum Elend dieser Welt zählt für den Menschen ohne Zweifel an erster Stelle der Tod als unabwendbarer Endpunkt seiner Existenz. Und eine tödliche Seuche wie die Pest wirft da natürlich zuallererst die Frage der Theodizee auf, das menschliche Dasein scheint in Hinblick darauf absurd, ein um sich greifender Atheismus ist die Folge. Als Gegenkräfte nennt Camus vor allem die Solidarität, die er als neue Art des Humanismus begreift, sowie Freundschaft und Liebe, für die es sich zu kämpfen lohne und die zusammen jene menschliche «Wärme» erzeugen können, die er als elementarstes Bedürfnis der Menschheit definiert.

Ein Ich-Erzähler berichtet von einem seltsamen, rasant um sich greifenden Rattensterben in der algerischen Hafenstadt Oran in den 1940er Jahren. Der Protagonist Dr. Bernhard Rieux deutet anhand der Symptome die sich ebenfalls häufenden Todesfälle unter den Bewohnern schon bald als Beginn einer Pestepidemie und stemmt sich selbstlos der schrecklichen Seuche entgegen. Der Ausnahmezustand wird ausgerufen und die Stadt nach außen hin komplett abgeriegelt. In den folgenden Monaten herrscht in dem als ganze Stadt in Quarantäne genommenen Oran der «Schwarze Tod», dem gegenüber sich der Arzt wie Sisyphos fühlt. Die Deutung der Pest durch Pater Paneloux als Strafe Gottes für die sündigen Menschen lässt Rieux nicht gelten, er gerät darüber in einen heftigen Disput mit ihm. Während des sich in fünf Phasen über ein ganzes Jahr hinweg ersteckenden Verlaufs der Pest begegnet der Leser einer Reihe von Figuren, mit denen Rieux in Kontakt ist. Da ist sein politisch engagierter Nachbar Tarrou, oder der auswärtige Journalist Rambert, der in Oran von der Pest überrascht wurde und nun mit gefangen ist, der verhinderte Schriftsteller Grand, der einen Roman schreiben will, aber schon am ersten Satz scheitert, oder Cottard, ein zwielichtiger Rentner, der von der Pest profitiert und am Ende verrückt wird.

In diesen metaphysischen Roman des Bösen, verkörpert durch die tödliche Seuche, haben Zeitgenossen Anspielungen auf den Zweiten Weltkrieg und die Résistance hinein interpretiert. Die literarische Qualität des Romans kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Lektüre gelinde gesagt beschwerlich ist, nicht nur der bedrückenden Thematik wegen. Denn wenn Rieux, der sich letztendlich als der wahre Erzähler outet, immer wieder durch die staubigen Gassen Orans flaniert, dabei seine Freunde trifft und mit ihnen endlose Gespräche über die Pest führt, ohne dass wirklich etwas geschieht, dann gerät die Lektüre irgendwann zur Geduldsprobe. «Frühmorgens weht ein leichter Wind durch die noch ausgestorbene Stadt. Um diese Stunde zwischen den Toten der Nacht und den Sterbenden des Tages scheint die Pest ihr Wüten zu unterbrechen und wieder Atem zu schöpfen». Sätze fast identischen Inhalts finden sich gleich hundertfach, weniger wäre hier wirklich mehr gewesen!

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Rowohlt

Das Frausein in den Sechzigern

ferrante3Sich zu entscheiden, heißt jemandem wehtun“. Lena befindet sich in einem außergewöhnlichen Transformationsprozess, ganz so wie die bewegten Siebziger Jahre um sie herum. Es wird viel demonstriert und diskutiert und die Frauen werden sich ihrer unterdrückten Rolle im Patriarchat bewusst. Aber nicht nur die Arbeiter befinden sich im Ausstand, auch Studenten kommen zu ihren Prüfungen mit einer geladenen Pistole, um ein besseres Prüfungsergebnis zu erzielen. So ergeht es zumindest Pietro, dem Ehemann Lenas, der an der Hochschule in Florenz als Professor arbeitet. Der dritte Teil der Neapolitanischen Saga hat es in sich: privat und politisch.

Frausein unter Freundinnen

Mit dem Vorwurf konfrontiert „Liebesgeschichtchen“ zu schreiben räumt Lena in „Die Geschichte der getrennten Wege“ endgültig auf, denn sie zeigt sich zunehmend politisiert und wird sich ihrer Rolle als Frau in der Gesellschaft bewusst. Ihr zweiter Roman, den Lena während ihrer Ehe und zwei Schwangerschaften zu schreiben versucht, entpuppt sich zwar als Flopp, dafür thematisiert sie im dritten Buch ihr Frausein und die Rolle der Frauen in der (italienischen) Nachkriegsgesellschaft und davor: „Die Reduzierung meiner Person auf eine gedeckte Tafel für den sexuellen Appetit des Mannes, auf ein gut gekochtes Gericht, damit ihm das Wasser im Mund zusammenläuft.“ Und dennoch unterwirft sie sich der klassischen Stutenbissigkeit als sie ihrer Konkurrentin, Eleonara, der Frau ihrer Jugendliebe Nino, begegnet und misst sich mit ihr, um nicht gerade schöne Worte über sie finden. Aber das beruht bekanntlich auf Gegenseitigkeit.

Sprache der Klasse

Schöne sprachliche Bilder wie „Ich legte den Hörer auf, als hätte ich mich an ihm verbrannt“ oder „Mein Kopf war ein Tränenquell wie der des rasenden Rolands“ wechseln sich mit Überlegungen zur eigenen Sprachfindung ab. Denn der „Rione“ – das Viertel Neapels in dem Lena geboren wurde – nötigte ihr immer wieder dann seine Sprache auf, wenn sie nervös und unzufrieden war und das beeinflusste auch ihr Denken, obwohl sie längt in die höheren Sphären der Gesellschaft aufgestiegen ist und in Florenz lebt, mit einem hochangesehenen Ehemann, zwei Kindern und den Ariostas, einer einflussreichen Familie, im Hintergrund. Reife bestehe darin, denkt sich Lena, sich nicht zu sehr aufzuregen und die Wende zu akzeptieren, die das Leben nehme, „einen Weg zwischen der Praxis des Alltags und theoretischem Erkenntnissen einzuschlagen, zu lernen, sich anzusehen, sich zu erkennen, während man auf große Veränderungen wartete“. Mit einem gekonnt arrangierten Cliffhanger leitet Elena Ferrante zum vierten Teil der Neapolitanischen Erfolgssaga über, der aber auf Deutsch bei Suhrkamp erst am 5. Februar 2018 – mit dem Titel „Die Geschichte des verlorenen Kindes“ – erscheinen wird. Man(n) kann es gar nicht mehr erwarten.

Elena Ferrante
Die Geschichte der getrennten Wege – Band 3 der Neapolitanischen Saga (Erwachsenenjahre)
Aus dem Italienischen von Karin Krieger
D: 24,00 € /A: 24,70 € /CH: 34,50 sFr
2017, gebunden, 540 Seiten
ISBN: 978-3-518-42575-6


Genre: Belletristik, Biographien, Briefe, Emanzipation, Erfahrungen, Erinnerungen, Feminismus, Frauenliteratur, Gesellschaftsroman, Memoiren
Illustrated by Suhrkamp Frankfurt am Main

Paläo-Art: Urzeittiere und Pulp-Dinos im Großformat

paleoart_ju_d_3d_03421_1707131052_id_1128674Palaeo-Art: Das dreidimensionale Strukturencover lässt einen Dinosaurier ertasten, dessen Maul geradezu vor Blut trieft und Appetit auf noch mehr Urzeitgeschichte macht. Gleich die ersten Seiten hinter dem Hardcover-Cover sind ausklappbar und erreichen beinahe die Spannweite eines Urzeitvogels. Paläo-Art, das ist Geschichte in einem neuen Format erzählt, großformatig, bunt und spannend oder wie es Walter Ford im Vorwort nennt: „Das ist schon verwirrend, aber Paläo-Kunst ist keine Höhlenmalerei, das wäre paläolithische Kunst.“, letztere wäre tatsächlich schon „steinalt“, Paläo-Kunst hingegen ist gerade einmal 100 Jahre alt, wie auch der junge Walter Ford einst beim Spielen schmerzlich feststellen musste.

Palaeo-Art: Archiv der Illusionen

Die Paläo-Kunst ist eine zeitgenössiche Kunstform, die 1830 in England begann und die prähistorische Vergangenheit anhand von Knochen- und Skelettfunden rekonstruierte, um sich so ein Bild von der Altsteinzeit zu machen. Paläo-Künstler rekonstruierten dabei aber nicht nur die Urtiere, sondern ach die entsprechenden Landschaften. So wie sich die Menschen mit der Erfindung der Dampfmaschine vermehrt Gedanken über eine mögliche Zukunft machten, so konstruierten sie auch ihre prähistorische Vergangenheit mit Bildern von Tieren und Pflanzen, die zuvor noch nie ein menschliches Auge erblickt hatte. Walter Ford suchte also jemanden, der sich mit den künstlerischen Aspekten der Urzeit auseinandersetzte und fand Zoë Lescaze, die schon „riesige Wandbilder in Moskauer Museen, strahlende Ölgemälde in dunklen Lagerräumen in Tschechien und feine Aquarelle in Schubladen britischer Archive“ aufgestöbert hatte, noch bevor er von dieser Publikation zu träumen gewagt hatte.

Wahrheit: Kind ihrer Zeit

Das Ergebnis dieser Zusammenarbeit liegt nun in einer einzigartigen Publikation des TASCHEN Verlages vor, die wieder einmal alle Grenzen sprengt. „Dieses Buch strotzt vor Darstellungen, die in der hitzigen Aufregung überraschender Entdeckungen entstanden. (…) Es ist wie eine doppelte Zeitmaschine aus einem Science Fiction Comic, den ich als Kind geliebt hätte“ und als Erwachsener erst richtig zu schätzen weiß, möchte man hinzufügen. Anhand von Werken aus der Zeit von 1830 bis 1990 zeichnet die vorliegende Publikation die wundersame Geschichte der Paläo-Kunst nach und zeigt dass die Wahrheit immer auch ein Kind ihrer Zeit ist, denn viele Darstellungen sind dem jeweiligen Zeitgeist angepasst und sagen wohl genau so viel oder sogar mehr über ihre Zeit aus, wie über die Zeit des Abgebildeten. Dinosaurier im Stile des Fauvismus, vom Japonismus oder vom Jugendstil beeinflusst, viktorianische und sowjetrussische Urzeittiere ebenso wie Pulp-Dinos, albtraumhafte Monster oder majestätische Titanen. Ein Essay von Zoë Lescaze sowie eine Vielzahl beeindruckender Abbildungen und Illustrationen sowie vier Ausklappseiten im Riesenformat überzeugen nicht nur Paläo-Fans, sondern auch zeitgenössische Kunstkritiker.

Zoë Lescaze/Walton Ford

Paläo-Art: Darstellungen der Urgeschichte
Hardcover mit 4 Ausklappseiten, 28 x 37,4 cm, 292 Seiten
Ausgaben in Deutsch/ Englisch/ Französisch/ Spanisch
2017, TASCHEN
ISBN 978-3-8365-6584-4
75.-€

 


Genre: Dokumentation, Dystopie, Kulturgeschichte
Illustrated by Taschen Köln

Herztier

mueller-2Nichts stimmt, aber alles ist wahr

Der zweite Roman der als Banater Schwäbin in Rumänien geborenen Herta Müller unter dem kryptischen Titel «Herztier» ist 1994 erschienen, sieben Jahre nach der Ausreise der späteren Nobelpreisträgerin nach Deutschland. Sein Thema ist die Angst, und wovon sie berichtet ist laut eigener Definition «autofiktonal». Die mit Preisen überhäufte Schriftstellerin war in ihrer Heimat nämlich selbst Pressionen der allgegenwärtigen Securitate ausgesetzt, dem perfiden Geheimdienst des Diktators Ceausescu. Sie wolle mit ihren Texten ausdrücken, wie Diktaturen Menschen ihrer Würde beraubten, hat sie in einem Interview gesagt. Bei der Preisvergabe hatte das Nobelkomitee 2009 explizit auf die «Intensität der von ihr verfassten Literatur» hingewiesen. Auch wenn in den drei Romanen, die ich von ihr gelesen habe, mit der Thematik auch die Tonart wechselt, ist ihr sehr eigenständiger Erzählstil doch gleich geblieben. Ob er uns alle anspricht, ist zumindest fraglich. Das titelgebende «Herztier» nämlich, als Begriff dem rumänischen Neologismus «inimal» als Verschmelzung von inimă (Herz) und animal (Tier) entsprechend, prägt schließlich jeden Menschen auf ganz eigene Weise, auch den lesenden.

Eine namenlos bleibende Ich-Erzählerin berichtet zunächst von Lola, einer jungen Frau vom Lande, die in der Großstadt studiert und mit ihr und vier weiteren Mädchen zusammen ein als «Viereck» bezeichnetes Zimmer bewohnt. Lolas als Flucht in eine andere Welt gedachten, wahllosen sexuellen Kontakte mit irgendwelchen Männern enden so deprimierend, dass sie sich erhängt – und posthum aus Partei und Uni ausgeschlossen wird. Mit Edgar, Kurt und Georg bildet sich sodann ein vierblättriges Kleeblatt von Regimekritikern um die Protagonistin, sie schreiben heimlich Gedichte und treffen sich konspirativ in einem verlassenen Sommerhaus, in dem sie auch verbotene Bücher lesen. Immer wieder verschwinden Menschen auf unerklärliche Weise, und auch die Vier geraten ins Visier der Securitate. Ihre Briefe werden geöffnet, ihre Zimmer durchsucht, und wiederholt werden sie von Hauptmann Pjele verhört. Weil sie nach dem Studium schließlich nacheinander irgendwann aus ihren Arbeitsstellen entlassen werden, verlässt Georg als Erster sein Heimatland und reist nach Deutschland, begeht dort aber schon bald darauf Selbstmord, noch bevor die Erzählerin und Edgar ebenfalls deprimiert ausreisen. Als Teresa, ihre beste Freundin, sie im Westen besucht, wird schnell klar, dass sie nun ebenfalls für die Securitate arbeitet. Kurt, der als Letzter in Rumänien geblieben ist, erhängt sich am Ende, nachdem er dem Westen eine Liste von Fluchtopfern zugespielt hat.

«Bücher über schlimme Zeiten werden oft als Zeugnisse gelesen. Auch in meinen Büchern geht es notgedrungen um schlimme Zeiten, um das amputierte Leben in der Diktatur» hat Herta Müller in einem Essay geschrieben. Sie erzählt ihre Geschichte in einer hoch poetischen, äußerst assoziationsreichen, aber gleichzeitig auch sehr robust wirkenden Sprache, bei der sie insbesondere auf den Rhythmus achte, ihre Sätze also zur Kontrolle selbst laut lese. Und zu ihrem Sprachstil merkt sie an: «Ich mag keine abstrakten Begriffe in meinen Texten. Das Wort Diktatur zum Beispiel würde ich nie schreiben».

Es sind die Leerstellen in ihrer fragmentierten Prosa, der oft fehlende logische und semantische Zusammenhang, das unstrukturierte Geflecht der heraufbeschworenen, sich allzu oft widersprechenden oder sinnlos scheinenden Assoziationen, ihre eigensinnigen Sprachbilder also, die das Lesen dieses Romans ziemlich schwierig machen. «Nichts stimmt, aber alles ist wahr» hat Herta Müller zu ihrer poetologischen Arbeitsweise angemerkt. Was ich so interpretiere, dass man sich als ihr Leser aus dem Wahren selbst das Stimmige konstruieren soll, sich also die eigene Wirklichkeit erschaffen muss mit ganz individuellen Bedeutungen. Das mag für manchen Leser erfreulich sein, war es für mich allerdings ganz und gar nicht!

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Fischer Taschenbuch Frankfurt am Main

Taxi 79 ab Station

thorsteinsson-1Brennevín oder Whisky

Als einer der bedeutendsten Schriftsteller Islands hat Indridi G. Thorsteinsson mit seinem Debütroman «Taxi 79 ab Station» 1955 auf Anhieb einen Klassiker geschaffen, den er innerhalb nur weniger Wochen geschrieben hatte. Der kurze Roman wurde 1962 verfilmt und liegt seit der Frankfurter Buchmesse 2011, nach mehr als fünfzig Jahren also, in deutscher Übersetzung vor. Thorsteinsson war längere Zeit auch journalistisch tätig und hat noch fünf weitere Romane veröffentlicht, außerdem sind Sammelbände mit Kurzgeschichten und eine Gedichtsammlung von ihm erschienen.

Der Titel des Romans erscheint ein wenig kryptisch, er zitiert jedoch nichts anderes als die Lautsprecheransage, die im Warteraum eines Taxiunternehmens in Reykjavík erschallt, wenn dem jungen Romanhelden Ragnar Sigurdsson, Fahrer des Taxis 79, eine Fahrt zugeteilt wird. Einen solchen Auftrag erhält er gleich zu Beginn der Geschichte, er muss einen sinnlos betrunkenen amerikanischen Soldaten zur US-Airbase in Keflavik fahren. Bei der Rückfahrt trifft er auf einen liegen gebliebenen Buick, dessen elegant angezogener Fahrerin er seine Hilfe anbietet. Zufällig hat er sogar einen Keilriemen dabei, mit dem er den luxuriösen Wagen der Frau wieder fahrbereit machen kann. Aus dieser flüchtigen Begegnung entsteht schnell eine leidenschaftliche Liebesbeziehung, die ihnen beiden als Ausweg erscheint aus wenig erfreulichen Lebensumständen. Die geheimnisvolle Gudridur, eine Lebedame, die ein wenig älter ist als er und von ihm Gógó genannt werden will, ist mit einem reichen, aber kranken Mann verheiratet, der nach einem Pferdetritt hirnverletzt in einer psychiatrischen Anstalt in Dänemark untergebracht ist und dort möglicherweise auch operiert werden soll. Ragnar lebt prekär als selbstständiger Taxifahrer, er ist nebenbei auch in den schwunghaften Alkoholschmuggel auf der Insel involviert. Als Habenichts erstarrt er in einer drögen Alltagsroutine, die Raten für sein klappriges Taxi erdrücken ihn beinahe, seine Zukunft erscheint ihm alles andere als rosig.

Der Anfang der 1950er Jahre angesiedelte Roman behandelt zum einen das Verhältnis der Geschlechter zueinander, die Sprachlosigkeit der beiden Liebenden ist symptomatisch für eine Fremdheit, die trotz aller Leidenschaft zwischen ihnen bestehen bleibt, sie wissen wenig voneinander außerhalb ihrer sexuellen Beziehung. Außerdem wird auch die Moderne thematisiert, dem technischen Fortschritt in der quirligen Metropole wird das Landleben als bessere Lebensform gegenüber gestellt. Ragnar, der vom Lande stammt, geht gern mit seinem besten Freund auf die Jagd nach Wildgänsen, taucht am liebsten ab in die archaische Welt der entlegenen Bauerndörfer Islands. Und es wird viel Alkohol getrunken in diesem Roman, Brennevín oder Whisky, – nur Hochprozentiges also, nichts anderes -, und zwar in abenteuerlichen Mengen. Zu seinem spröde realistischen Schreibstil hat Thorsteinsson einmal angemerkt: «Ich hatte niemals Lust, eine spezielle Erfahrungswelt zu schaffen, weil ich Fantasie nicht leiden kann».

Jagd, Rauchen, Saufen und Frauen sind literarische Zutaten, die auch Hemingway gern benutzt hat. Dessen journalistisch knappe Sprache findet sich ähnlich auch hier, sie ist jedoch um einiges anspielungsreicher, deutlich weniger lakonisch also. Das Finale der atmosphärisch dicht erzählten Geschichte ist nicht unbedingt vorhersehbar, der Spannung wegen soll hier auch nichts weiter ausgeplaudert werden darüber. Im Spannungsfeld zwischen beginnender Massen-Motorisierung und beschaulicher Naturliebe, zwischen Moderne und Tradition, erzählt der Autor uns eine autobiografisch geprägte, melodramatische Geschichte. Die ist thematisch zwar nicht neu, durch ihren besonderen Stil aber sehr angenehm und kurzweilig zu lesen, sie bringt dem Leser nebenbei auch die ureigene isländische Identität nahe, wozu insbesondere auch die punktgenauen, wortkargen Dialoge beitragen.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Transit Buchverlag Berlin

Von der Kirche missbraucht

Von der Kirche missbrauchtUnlängst besuchte ich Regensburg, die Stadt der missbrauchten Regensburger Domspatzen. Deren Schicksal interessiert mich, es waren nachweislich 547 Kinder, die den frommen Brüdern zum Opfer fielen und sich nun endlich öffnen. Mein erster Weg führte mich deshalb in die Dom-Buchhandlung. Denn inzwischen gibt es Augenzeugenberichte der Betroffenen in Buchform, und die wollte ich mir gern ansehen. Weiterlesen


Genre: Autobiografie, Dokumentation
Illustrated by Riva Verlag München

Irgendwas ist immer

Tucholsky: Humor mit fünf Sinnen

Tucho2„Besser ein Anzug nach Maß als eine Gesinnung von der Stange“, schreibt der Mann, der Zeit seines Lebens wohl nie in einen Anzug gepasst hätte: Kurt Tucholsky. Den einen war er zu links, den anderen zu konservativ und doch hat „Tucho“ – ein Pseudonym mit dem er gerne seine Briefe unterschrieb – sie alle zum Lachen gebracht. Der „kleine Berliner, der mit seiner Schreibmaschine eine Katastrophe aufhalten wollte“ (Erich Kästner) war nicht nur ein begnadeter Feuilletonist, sondern auch Schriftsteller und Kabarettist. Niemals analysierte er die Welt als Parteigänger einer bestimmten politischen Richtung, sondern immer als Mensch und zwar als Mensch mit „allen fünf Sinnen“, wie auch der Herausgeber, Günter Stolzenberger, im Nachwort betont. Seine Lyrik ist zutiefst humanistisch, denn seine Themen greifen aus dem Alltagsleben und egal ob er über politische Schandtaten oder defekte Wasserhähne schreibe, immer habe er es mit dem Augenmaß der einfachen Menschen getan, die ihn auch verstanden und sogar seine Chanson und Lieder sangen.

Animation zum Denken

Das Leben und Leiden der einfachen Menschen sei stets im Fokus seines Engagements gestanden und durch stilistische Meisterschaft habe er es mittels seines federleichten Humors auch erträglicher gemacht, wer in seinem Werke wühle, so Stolzenberger, der gehe in den Wald in einem guten Pilzjahr: „Man hat nicht nur die Freude des Findens sondern kehrt auch noch mit vollem Korb zurück.“ Und so hat sich zu dem einen Büchlein, das sich seinen Lebensweisheiten widmet, auch gleich ein zweites gesellt, das mehr seine Lieder, Chansons und Schmonzetten beinhaltet. Zwischen 1907 und 1932 hat Kurt Tucholsky unter den unterschiedlichsten Pseudonymen insgesamt 2500 Artikel, Feuilletons und Reiseberichte, 800 Gedichte, Stellungnahmen zum Zeitgeschehen, zwei Liebesromane und ein Reisebuch veröffentlicht. Da ihm Bücher „zu langsam“ waren bevorzugte er es zeit seines Lebens Woche für Woche eine ganze Reihe Zeitungen und Zeitzschriften mit seinen Texten zu bombardieren, darunter Die Weltbühne, Vorwärts, das Berliner Tageblatt und viele andere mehr. Theobald Tiger – so eines seiner Pseudonyme – habe die Massenkultur mit ihren eigenen Mitteln bekämpft, denn er nutzte die Form der Unterhaltung, „um es klammheimlich oder offen zum Denken zu animieren“, so der Herausgeber.

Tucho1

Tucholskys gestossne Seufzer

Peter Panter – auch das ein Pseudonym – blieb auch als Dichter Journalist, denn zu genau und treffend sind seine Beschreibungen und Analysen des alltäglichen Lebens in der Weimarer Republik. Der als Schüler ausgerechnet in Deutsch sitzen gebliebene legte sein Abitur ab, um wenig später ein juristisches Studium in Bestzeit abzuschließen. Seine ersten Texte werden ausgerechnet von einer Zeitschrift namens „Ulk“ veröffentlicht, aber auch Pan, März und Simplicissimus drucken seine Glossen und Gedichte. Als Ignaz Wrobel oder Kaspar Hauser schreibt er Satire und wird nach Ableisten seines Militärdienstes auch bald politisiert, denn schließlich erlebte er auch den Ersten Weltkrieg und kannte die Verheerungen die der Krieg in einem Land und seiner Bevölkerung hinterlässt. Sein kurzes Tete a Tete mit der USPD und deren Zeitung Freiheit mögen ihm manche Demokraten übel nehmen, aber Tucholsky blieb doch stets Kabarettist. 1924 wird er sogar Korrespondent in Paris und pendelt zwischen den beiden Hauptstädten in denen er jeweils eine Geliebte und eine Ehefrau hat. „Golf“, schreibt Tucholsky an einer Stelle, „ist ein verdorbener Spaziergang“, aber man könne einen Hintern schminken, wie man wolle, es werde nie ein ordentliches Gesicht daraus. „Mensch, wenn du so lang wärst wie de dumm bist, könntste aus der Dachrinne saufen“. Diese und weitere Lebensweisheiten können sie in den beiden Sammlungen von Günter Stolzenberger „Dürfen darf man alles“ und „Irgendwas ist immer“, erschienen als Hardcover-Taschenbuch bei dtv nachlesen. Und zu guter letzt noch ein „gestossner Seufzer“ aus dem Tucholsky-Gedicht „Ein gestossner Seufzer“, das sich wunderbar als Motto für einen langen Ausgehabend eignet: „Trink aus der Nachbarin Champagnerglas!/Bleib schuldig Miete, Liebe, Arzt und Glas!/Bezahl den Apfel – friß die Ananas!/Wer also handelt bringts zu was.“

Günter Stolzenberger (Hrsg.)
Kurt Tucholsky
Dürfen darf man alles. Lebensweisheiten
EUR 9,90 € [DE], EUR 10,20 € [A]
dtv Literatur
Herausgegeben von Günter Stolzenberger
176 Seiten, ISBN 978-3-423-14011-9

Günter Stolzenberger (Hrsg.)
Kurt Tucholsky
Irgendwas ist immer. Lebensweisheiten
EUR 12,00 € [DE], EUR 12,40 € [A]
dtv Literatur
Originalausgabe, 208 Seiten, ISBN 978-3-423-28119-5
7. April 2017

 


Genre: Aphorismen, Lyrik
Illustrated by dtv München