Die langen Abende

Wer bin ich gewesen?

Der Name ‹Olive Kitteridge› ist seit der Verleihung des Pulitzer Preises für den gleichnamigen Roman von Elisabeth Strout bekannt, nun hat sie zwölf Jahre später mit «Olive, Again» eine Fortsetzung geschrieben, die kürzlich unter dem Titel «Die langen Abende» auch auf Deutsch erschienen ist. Ein Blick in ihre Vita erklärt die Thematik ihrer Geschichte, die amerikanische Autorin hat neben Jura auch Gerontologie studiert und ist folglich bestens vertraut mit der Misere des alternden Menschen. Wie der deutsche Titel schon andeutet, geht es um Verlorenheit und Einsamkeit in diesem Roman, eine innere Leere, von der auch die toughe Protagonistin im Alter nicht verschont bleibt.

Die Heldin ist pensionierte Mathematik-Lehrerin in einer kleinen Küstenstadt des US-Bundesstaats Maine, sie ist für ihre kratzbürstige Art berüchtigt. Nachdem ihr Mann gestorben ist, bahnt sich zwischen ihr und einem ehemaligen Harvard-Professor eine Beziehung an. Beide sind sehr einsam, ihre Kinder sind ihnen fremd geworden, sie haben kaum noch Kontakt zu ihnen. In Rückblenden erzählt die Autorin von den Vorbedingungen dieser Entfremdung, deren Ursache oft auch in ihnen selbst zu finden ist. Und zwar in ihrem wenig empathischen Verhalten sowohl den eigenen Kindern gegenüber, für das es im Nachhinein kaum eine Erklärung gibt, ebenso aber auch zu den Enkeln. Sie heiraten und erleben ziemlich überraschend und von Olive unerwartet doch noch eine zufriedenstellende, fast glücklich zu nennende Zeit miteinander. Zusätzlich werden anekdotisch diverse andere Figuren eingebunden, die alle nur lose mit der zynischen, geradezu verbiesterten alten Frau verbunden sind. Die schließlich durch alle Plagen des Alterns hindurch muss, als 83Jährige aber noch munter Auto fährt, auch wenn sie schon mal das Brems- mit dem Gaspedal verwechselt.

Elisabeth Strout erzählt ihre beklemmende Geschichte aus einer resignativen Sicht und in einer nüchternen, auf das Nötigste reduzierten, manchmal etwas holperigen Sprache. Zu den wenigen Lichtblicken gehören die in der Biestigkeit ihrer Heroine liegenden, komischen Situationen, aber auch deren verblüffende Schlagfertigkeit gibt öfter mal Anlass zum Schmunzeln. Als Olive am Pick-up ihrer Putzfrau einen Aufkleber «mit dem Namen dieses orangehaarigen Kotzbrockens, der jetzt Präsident war» entdeckt, «hätte sie fast den nächsten Herzinfarkt bekommen». Schließlich stellt sich bei ihr im Verlauf der Erzählung aber ein gewisses Maß an Altersmilde ein, ihre Kampfeslust lässt jedenfalls deutlich nach, und Vieles, was sie sonst in Rage gebracht hätte, lässt sie schon mal unkommentiert einfach so durchgehen. Ihre zunehmenden Selbstzweifel machen sie am Ende fast sympathisch, und so notiert sie als Schlusssatz ihrer Erinnerungen, mit denen die Hochbetagte sich so manches von der Seele geschrieben hat: «Ich könnte nicht sagen, wer ich gewesen bin. Ganz ehrlich, ich begreife gar nichts».

Dieser episodisch angelegte Roman lässt kaum ein Klischee aus, um die familiären Zerrüttungen zu beschreiben, die beim Lesen ein frostiges Klima erzeugen. Der Plot plätschert vorhersehbar und an immer den gleichen Schauplätzen in einer drögen Kleinstadt nahezu ereignislos vor sich hin. Auch die wortkargen Dialoge der wenig sympathischen, blutleeren Figuren tragen kaum etwas dazu bei, ihre psychischen Leerstellen aufzudecken als mögliche Ursache ihrer bedrückenden Hoffnungslosigkeit. So etwas wie Lebensfreude ist bei keiner der geradezu verstockten Figuren zu erkennen, auch bei den Nebenfiguren nicht. Großenteils also Menschen, die man als Leser nicht kennen möchte in der Realität, – und die so geballt wohl auch nur in einem Roman vorkommen! Es herrscht nur Bitternis, schicksalhafte Tragik dominiert das Narrativ. Als Versuch, heutiger Lebenswirklichkeit näher zu kommen, scheitert dieser Roman grandios an der unzureichenden stilistischen Umsetzung, ein kreativer oder gar originärer Impetus ist vor lauter Stereotypen nicht erkennbar.

Fazit: miserabel

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Luchterhand

Batman: Der letzte Kreuzzug

Batman: Die Rückkehr des dunklen Ritter von Frank Miller ist auch der Ausgangspunkt von dieser neuen Geschichte des Autorenduos Brian Azzarello/Frank Miller, das von John Romita Jr. kunstvoll in Szene gesetzt wurde. 1986 hatte Miller von einem alternden Batman erzählt, der auch mit menschlichen Problemen kämpft: Schmerzen und das Alter.

Batman, der letzte Kreuzzug

2001 erschein mit Batman: Der dunkle Ritter schlägt zurück ein grelles Sequel zum Klassiker. Und 2017 folgte ebenfalls mit Brian Azzarello Batman: Dark Knight III – Die Übermenschen eine weitere Fortsetzung. Warum Batman damals in den Ruhestand ging erklärte wiederum Batman: Ein Todesfall in der Familie.

Batman

Der letzte Kreuzzug ist nun wiederum die Vorgeschichte, also das Prequel, zu Die Rückkehr des dunklen Ritters, das einen ehrgeizigen Jason Todd als zweiten Robin zeigt. Denn der Junge aus den Slums sollte in die Fußstapfen von Dick Grayson, dem Hochseilartisten, treten.

Besonders hervorzuheben wäre hier der Zeichenstil von John Romita Jr., der sich deutlich von ähnlichen Erzeugnissen zum Thema abhebt. Und zwar durch seine außerordentliche Qualität. So gibt es etwa eine Szene, die im Schnürlregen spielt und dermaßen authentisch gezeichnet ist, dass man sich mitten darin versetzt fühlt und fast schon selbst einen Regenschirm aufspannen möchte.

Batman: in Würde altern

Auch wenn viele der Gesichter etwas runder und platter als normal wirken, kommt es etwa gerade beim Zweikampf zwischen Robin und Poison Ivy zu keinen Zweifeln. Hier werkelt ein Comic Artist, der sein Handwerk versteht und detailliert mit den Versatzstücken des Genres arbeitet.

Ein Zweikampf zwischen Batman und Killer Croc macht deutlich spürbar, wie alt sich Batman in seinen Knochen schon fühlt und wie er dennoch weiterkämpft, unerschöpft und stets motiviert, das Böse aus der Welt zu schaffen. Aber als Batman und Robin eine von Poison Ivy hypnotisierte Bande der Reichen von Gotham City bekämpfen müssen, beginnen die eigentlichen (Kopf-)Schmerzen. Batman beginnt sich Sorgen um sein Double und seine Nachfolge zu machen, denn diesem mangelt es an einem essentiellen Batman-Kriterium: Feingefühl.

Brian Azzarello, Frank Miller
Batman: Der letzte Kreuzzug
Zeichner: John Romita Jr.
Storys: The Dark Knight Returns: The Last Crusade
2020, Hardcover, 68 Seiten
ISBN: 9783741620423
15,00 €
Panini Verlag


Genre: Comic, Graphic Novel
Illustrated by Panini Comics

Bukowski Fuck Machine

Bukowski Fuck Machine. „Erections, Ejaculations, Exhibtions and General Tales of Ordinary Madness 1967-1972“ war der Titel des Sammelbandes in denen Charles Bukowskis unzählige Kolumnen aus diversen Undergroundzeitschriften erstmals als Buch erschienen. Aber Bukowski schrieb auch Gedichte und Romane und insgesamt umfasst sein Werk mehr als 40 Bücher. Am 16. August wäre er 100 Jahre alt geworden, ein guter Vorwand für eine Re-Lektüre.

Chronist des White Trash

Auch in „Fuck Machine“ folgt Bukowski dem bereits mehrmals bewährten Rezept: es muss vom F… die Rede sein, damit die Leute seine Stories lesen. Das behauptet zumindest er selbst in einer der Geschichten mit dem Titel „Zwölf fliegende Affen, die nicht richtig kopulieren wollen“. In dieser in „Fuck Machine“ enthaltenen Geschichte beschreibt er seinen Arbeitsstil in seiner bekannt ironischen Weise und veräppelt sich quasi selbst.

Aber es geht auch brutaler zu in seinen Stories, etwa in „Die kopulierende Nixe von Venice, Kalifornien“, wenn zwei abgewrackte Typen Gangstern eine Leiche klauen und diese dann missbrauchen. Dabei haben sie ohnehin ihr ganzes Leben lang tote Frauen gefickt, wie einer dem anderen vorwirft.

Der Chronist des White Trash, Bukowski, macht auch nicht davor halt, sich in zwei Schwulenhasser einzufühlen, die in „Die Ermordung des Ramon Vasquez“ ihr Unwesen treiben. Eine kleine Fußnote macht darauf aufmerksam, dass der Autor keinem seiner Mitgeschöpfe wehtun, zu nahe treten oder Unrecht tun möchte. Denn auch diese Geschichte ist Fiktion, auch wenn sich bei Bukowski oft Facts und Fiction zu Faction mischen.

Bukowski Fuck Machine

Sein Saufkumpel Jeff ist ein brutaler Kerl, der auch schwangere Frauen die Treppen runterschmeisst, erst als eine Gruppen Chinesen ihn festhält, kapiert der Protagonist, dass auch er etwas gegen seinen Freund unternehmen muss. In „Der weiße Bart“ vergnügt sich der Protagonist und zwei seiner Freunde mit einer Minderjährigen, „Abstammung unbekannt“. Aber auch seine Boxergeschichte „Kid Stardust im Schlachthof“ und die Titelgeschichte, „Fickmaschine“, haben es in sich.

Unvergessen bleibt bei jedem Leser aber „Fünfzehn Zentimeter“, eine Geschichte, die man nie mehr vergisst. Charles Bukowski verstand es wie kein anderer, die harte Realität des amerikanischen Albtraums in einfache, aber treffende Worte zu fassen und mit seinem lakonischen Humor abzufedern.

Durch Übertreibungen und Wiederholungen machte er aus der Kehrseite des American Dream ein Leben, das sich hauptsächlich in Slums, Absteigen, Bars, Hurenhäusern und Schlachthöfen abspielte. Oder bei Boxkämpfen und Pferderennen. Bestimmt aber im Bett mit einer jener Frauen, die die Reichen übrig ließen: „Wir kriegen die Mädchen, wenn die mit den Mädchen Schluss gemacht haben und es keine Mädchen mehr sind – wir kriegen die benutzten, die versauten, die kranken und kaputten. Wenn man nach ‘ner Weile aus zweiter, dritter und vierter Hand mehr will, gibt man’s auf; oder man will es wenigstens aufgeben. Trinken hilft.“

Charles Bukowski
Fuck Machine. Stories
Übersetzt von: Wulf Teichmann
2019, 176 Seiten, Taschenbuch
ISBN: 978-3-596-52236-1
12,00 €
FISCHER Taschenbuch


Genre: Kurzgeschichten und Erzählungen, Short Stories
Illustrated by Fischer Verlag

Der abenteuerliche Simplicissimus

Die Weisheit des Narren

«Der abenteuerliche Simplicissimus» von Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen, dessen erste fünf Bücher 1668 erschienen sind, ein Jahr später von «Continuatio» als Fortsetzungsband gefolgt, zählt als barocker Schelmenroman nach pikareskem Vorbild des Don Quijote zum literarischen Kanon. Der umfassend belesene Autor verarbeitet in seinem als erster deutschsprachiger Prosaroman von Weltrang geltenden, vielschichtigen Hauptwerk eigene Erfahrungen während des Dreißigjährigen Krieges. Er stützt sich aber auch auf eine schier unüberschaubare Fülle von Versatzstücken aus der Mythologie und aus antiken Werken, ferner verwendet er zahlreiche Erkenntnisse seiner Zeit aus den unterschiedlichsten Wissengebieten für seine Geschichte. Stellt ein vor mehr als 350 Jahren geschriebenes Werk auch für den heutigen Leser eine bereichernde und erfreuliche Lektüre dar? Beides kann vorab schon mal bejaht werden!

Als Kind lebt der Romanheld als Viehhirte auf dem Bauernhof seiner Eltern, er flüchtet nach der Brandschatzung des Elternhauses durch marodierende Soldaten in den tiefen Wald. Dort wird er von einem frommen Einsiedler aufgenommen, der ihn Simplicius nennt, ihn zu asketischer Frömmigkeit erzieht und ihm Lesen und Schreiben beibringt. Als der Einsiedler zwei Jahre später im Sterben liegt, legt er ihm als Tugenden für seine künftige Lebensführung Selbsterkenntnis, Beständigkeit und Welterkenntnis ans Herz. Nach dieser Initiationsphase gelangt Simplicius in das von Schweden besetzte Hanau und wird zunächst Page des Kommandanten. Seiner Einfalt wegen wird er als «Simplicissimus» schon bald ins höfische Narrenkostüm gezwungen, schließlich gerät er in Gefangenschaft kroatischer Soldaten. Sein weiteres Leben gestaltet sich als wildes Auf und Ab, er wird selbst Soldat, lebt in Saus und Braus und erlangt schließlich durch sein furchtloses Draufgängertum als ‹Jäger von Soest› hohes Ansehen bei Freund und Feind. Auf seinen vielen Raubzügen macht er reiche Beute, verliert aber eben so oft alles wieder, auch seine zwei Ehen enden tragisch. Bei einem unfreiwilligen Aufenthalt in Paris wird er als ‹Beau Alman› berühmt, er verdient viel Geld als Gigolo hochgestellter Damen, wird erneut ausgeraubt, kommt aber als Quacksalber schnell wieder zu Geld. Ein Husarenstück reiht sich an das andere in diesem turbulenten Roman, und auch die Geisterwelt kommt nicht zu kurz mit einem Ritt auf den Hexentanzplatz und einer Begegnung mit dem Wassergeist am Mummelsee. Nach vielen haarsträubenden Abenteuern auf seinen Reisen in alle Welt endet der Roman schließlich in einer Robinsonade, die für den selbstreflexiven Helden zu einem Erweckungserlebnis wird. Er erkennt sein bisheriges frevelhaftes Leben und kehrt bußfertig in die Askese eines frommen Einsiedlers zurück, womit sich narrativ der Kreis schließt.

Leitmotiv dieser häufig allegorisch hinterlegten Handlung ist die individuelle Desillusionierung, ‹erkenne dich selbst› ist seine Botschaft. Neben allem Pikaresken und christlich erbaulicher Frömmelei enthält diese satirische Geschichte mit ihrem episodisch angelegten Plot sehr deutliche gesellschaftskritische Anspielungen auf die Verwilderung der Sitten. Das mag einer der Gründe dafür gewesen sein, dass der Roman anfangs noch unter Pseudonym erschien.

Thomas Mann sprach begeistert von einem «Literatur- und Lebens-Denkmal der seltensten Art». Nun ist ein barockes Werk wie dieses trotz sorgfältiger sprachlicher Überarbeitung für uns Heutige natürlich nicht leicht zu lesen. Ein umfangreiches Register hilft dem Leser aber über fast alle Verständnisklippen hinweg und erweitert en passant auch seinen Horizont in Sachen ‹Dreißigjähriger Krieg›. Die atmosphärisch dazu passende, derbe Sprache schildert das oft grausame Geschehen scheinbar ungerührt, und auch die vielen Romanfiguren wirken emotional eher unterkühlt. Wer Geduld hat mit der geradezu ausufernden Reihe von Szenen und Episoden, der wird seine Freude haben an diesem satirischen Roman.

Fazit: lesenswert

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Patmos Verlag Eschbach

Echos Kammern

Ziel erreicht

Wohl dem Leser, der wie die Schriftstellerin Iris Hanika in der Sprache das beste Mittel sieht, die Gegenwart auszuhalten, wie sie im Interview erklärte, und mit Sprache spielt sie dann auch gleich sehr virtuos in ihrem neuesten Roman «Echos Kammern», wovon schon der Titel kündet. Ovid berichtet in seinen «Metamorphosen» von Narziss, dem in sein eigenes Spiegelbild verliebten Schönling, dem die Nymphe Echo, die nie ein eigenes Wort sagen kann und immer nur wiederholt, was der andere sagt, mit Haut und Haaren verfällt. Und so ist denn dieser Roman in seinem zweiten Teil auch ein diesem griechischen Mythos folgender Liebesroman, im ersten Teil jedoch erinnert er an den grandiosen New-York-Roman von John Dos Passos, er beschreibt fast hundert Jahre später das heutige urbane Leben in dieser faszinierenden Metropole.

Die fünfzigjährige Dichterin Sophonisbe aus Berlin, bekannt geworden durch ihren Gedichtband «Mythen in Tüten», reist zum Big Apple, um sich für ein neues Buchprojekt inspirieren zu lassen. Sie durchstreift die Stadt und notiert ihre Eindrücke in der 1925 erfundenen, deutsch-amerikanischen Kunstsprache ‹lengevitch›: «Ich will berichten von was ich habe gesehen und was ich habe erlebt in New York City, aber nicht in ganze Stadt New York, sondern nur in Stadtteil Manhattan …». Schon am zweiten Tag landet sie, einer seltsamen schwarzen Gestalt folgend, die sich schon bald als ihr ureigener Engel entpuppt, auf einer Party bei der Pop-Ikone Beyoncé. Dort lernt sie Josh kennen, einen ungewöhnlich schönen jungen Amerikaner, der an einer Dissertation über eine wissenschaftlich bisher vernachlässigte Periode der ukrainischen Geschichte arbeitet. Mit ihm zusammen besucht sie später auch alte Berliner Freunde, die eine feudale Wohnung in dem angesagten Wohnquartier Upper East Side besitzen. Durch Vermittlung dieses Paares findet sie dann auch Ersatz für ihre winzige Berliner Wohnung, die etwa gleichaltrige Roxana in Berlin, erfolgreiche Autorin von Ratgeberbüchern, suche jemanden, der zu ihr passt und in ihre riesige Altbauwohnung mit einziehen wolle. Im zweiten Teil des Romans wird von der ebenso desaströsen Gentrifizierung auch in dieser Großstadt berichtet, und als Josh schließlich zu Besuch kommt, verliebt sich Roxana prompt unsterblich in den langweiligen Schönling, der selbstverliebt darauf überhaupt nicht reagiert.

Gemeinsam ist beiden Städten, dass sie, angefeuert durch die Finanzkrise und die nachfolgende, nach Anlagemöglichkeiten suchende Geldschwemme, Stadtteil für Stadtteil einem permanenten Aufwertungsdruck ausgesetzt sind. Diese Viertel werden einerseits immer feudaler, verlieren gleichzeitig aber auch ihr besonderes Flair, werden unbezahlbar, verdrängen die ursprüngliche Bevölkerung und veröden letztendlich. Was hier nüchtern geschildert wird, ist im Roman durchaus streitbar und mit an Zynismus grenzender Ironie beschrieben, die oft sehr amüsant ist. Dem schließt sich die unerfüllte Liebesgeschichte an, wobei nicht erkennbar ist, was die beiden Romanteile thematisch verbindet, die Motive erscheinen völlig willkürlich aneinander gereiht.

Die Autorin treibt in heiterem Tonfall ein virtuoses Spiel mit verschiedenen Erzählstimmen, die das teilweise bizarre Geschehen distanziert beschreiben. Ihrer Figur Josh fehlt die Selbstverliebtheit von Narziss, die liebestolle Roxana wiederum kann sich im Gegensatz zu Echo sehr wohl sprachlich frei ausdrücken, und Sophonisbe muss anders als ihre antike Namensgeberin keinen Giftbecher trinken. Diese Anspielungen auf die mythologischen Vorbilder wirken allesamt wie intellektuelle Selbstbespiegelungen einer eitlen Autorin. Echokammern dienen in der Akustik der Verstärkung des Halls, ob dies analog hier im Roman auch literarisch funktioniert, darf für beide bedienten Genres mit Fug und Recht bezweifelt werden, für den New-York-Teil ebenso wie für die Liebesgeschichte. Ihr erklärtes Ziel, mal etwas völlig Sinnloses zu schreiben, hat Iris Hanika jedenfalls erreicht.

Fazit: miserabel

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Droschl

Kaputt in Hollywood

Kaputt in Hollywood: Zum 100. Geburtstag des geliebten Skandal-Autors Charles Bukowski ist in der FISCHER Taschenbibliothek „Kaputt in Hollywood“ eine Neuausgabe als gebundenes Buch mit 192 Seiten erschienen. Dieser Rezension liegt die Taschenbuchausgabe von 2018 mit 121 Seiten vor. Die beiden Ausgaben unterscheiden sich inhaltlich meines nur durch die Druckgröße der Buchstaben. Alles zehn Stories sind eine Auswahl aus dem unter dem amerikansichen Original erschienenen Sammelband „Erections, Ejaculations, Exhibitions and General Tales of Ordinary Madness, 1967-1972“. Bukowskis Geschichten waren vor 1972 in diversen Undergroundzeitschriften erschienen und unter diesem Titel erstmals gesammelt veröffentlicht worden. Die deutsche Erstveröffentlichschung übernahm damals der Maro-Verlag im Jahre 1976. Im Anhang zu dieser Ausgabe findet sich ein Interview von Thomas Kettner mit dem Autor.

Der amerikanische Zelluloid-Traum

„Deutschland war einfach ein Schimpfwort, etwas Unanständiges…“, erzählt Bukowski in diesem Interview dem eigens aus Frankfurt angereisten Journalisten. Er erzählt ihm von seiner ersten Kurzgeschichte, die er mit 13 Jahren schrieb in der ein Deutscher alles abknallt, was sich bewegt. Also Sohn deutscher Einwanderer wurde Bukowski oft gehänselt und das war seine Art, an seinen Mitschülern Rache zu nehmen. In diesem Sinne könnte man auch sein ganzes weiteres Werk verstehen, denn Schriftsteller wurde Bukowski wahrscheinlich vor allem deswegen, weil sein Vater ihn mißhandelt hatte. Davon erzählt er in seinem Jugendroman, aber ab und an auch in seinen Kurzgeschichten. In „Kaputt in Hollywood“ ist der Autor schon um die 50 und beschreibt den American Way of Life als das was er ist: Zelluloid. Für sich selbst findet er brauchbare Worte, die ich hier gerne in voller Länge zitiere: „(…)eine merkwürdige Type, eine seltsame Kreatur, die plötzlich auftaucht und eigenartige Töne von sich gibt, wie man sie bis dahin eigentlich nicht so gehört hat. Nichts Außergewönliches, aber irgendwie interessant, auf eine merkwürdig kaputte musikalische verrückte Art. (…) Ich bin eine störende Mißbildung.“ Wer Bukowski nach dieser Selbstbeschreibung noch nicht liebt, wird es spätestens, wenn er eine der zehn Kurzgeschichten in diesem Band aufschlägt.

Kaputt in Hollywood: Love it or Leave it

„Shit, man brauchte mindestens 150 Jahre, um in Harvard als Klassiker eingestuft zu werden“ (aus: „Zen-Hochzeit“). So etwa „Geburt, Leben und Tod einer Untergrundzeitung“ in der er seine Beziehung zu einer solchen mit Namen „Open Pussy“ beschreibt. Ein Verhör mit Beamten bei der Post, bei der er zu dieser Zeit arbeitete wird darin ebenso verhöhnt, wie der Herausgeber und dessen Frau Cherry. Denn die Obszonität seiner Texte sorgte schließlich dafür, dass die Zeitung aus dem Verkehr gezogen wurde. Oder war es doch das Foto einer nackten Pussy auf der Titelseite? Bukowskis lakonischer Humor zeigt, dass das Ganze Love & Peace Gerede von damals auch nur ein Verkaufsschmäh war, denn als der Verleger der Hippie-Zeitung entdeckt, dass seine Frau ihn betrügt, kauft er sich als erstes eine Pistole. In der Titelgeschichte packt der Protagonist seine Frau in ihr Klappbett und beschreibt sie als Brathähnchen mit Pferdezähnen während ein Typ in ein Longdrink-Glas Leber onaniert. In „Love it or Leave it“ wird er krankenhausreif geschlagen, weil er auf einem Autofriedhof jede Nacht in einem anderen Auto nächtigte. Aber Bukowski beschreibt auch den Arbeitsalltag normaler Arbeiter, denen oft keine andere Wahl bleibt, als zur Flasche zu greifen, ob überhaupt einen Halt zu finden. Es folgen immer wieder Slapstickeinlagen im Suff, etwa wenn er auf das Pflaster knallt, aber die Flasche dann doch heil bleibt. Der Kopf aber nicht. Besonders lesenswert ist auch die Zoo-Geschichte von Gordon und Crazy Carol in der er sein ganzes erzählerisches Talent zeigt. In „Eine verregnete Weibergeschichte“ schreibt er: „Während mein Alter Tag für Tag die Scheiße aus mir rausschlug, wollte ich 80 Jahre alt werden und das Jahr 2000 erleben.“ Das hat er nicht ganz geschafft. Bukowski starb im Jahr 1994.

Bukowski zum 100. Noch 50 Jahre also, bis auch er von Harvard als Klassiker der amerikanischen Literatur eingestuft wird.

Charles Bukowski

Kaputt in Hollywood. Stories

Übersetzt von: Carl Weissner

2018, Taschenbuch, 121 Seiten

ISBN: 978-3-596-90512-6

12,00 €

Fischer Verlag


Genre: Short Stories
Illustrated by Fischer Verlag

Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche

Klamauk mit Katharsis

Wenn ein Roman wie der von Alina Bronsky mit «Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche» betitelt ist, erwartet man als Leser eine unkonventionelle, lustige Geschichte. Und der zweite Roman der russisch-deutschen Schriftstellerin zeichnet sich auch tatsächlich durch eine schon fast überbordende Komik aus, mit der über allerdings weniger lustige Probleme einer resoluten Tatarin in der UDSSR und späteren Migrantin in Deutschland berichtet wird. Der Buchtitel ist genau so ironisch gemeint wie der ganze Roman ironisch erzählt ist. Dessen oft verblüffender, manchmal kindlich anmutender Witz wird darin allein durch eine ebenso unerschütterlich selbstbewusste wie grotesk naive, ungebildete Protagonistin verkörpert.

Die Geschichte beginnt im Jahre 1978 mit einem gescheiterten Abtreibungsversuch, den die 40jährige Ich-Erzählerin Rosalinda Kalganowa von einer Engelmacherin aus der Nachbarschaft an ihrer hässlichen, dummen Tochter Sulfia vornehmen lässt. Der Abbruch gelingt nur zur Hälfte, es handelte sich nämlich um Zwillinge. Von denen überlebt einer den Eingriff und kommt wohlbehalten als Enkeltochter Aminat zur Welt, die zu einem wunderschönen Mädchen heranwächst. Was folgt ist die in rasantem Tempo chronologisch erzählte Geschichte dieser drei Frauen, in der die dominante Großmutter unangefochten das Kommando führt. Zunächst sorgt sie dafür, dass ihre Tochter Sulfia, die inzwischen Krankenschwester geworden ist, endlich einen Ehemann bekommt. Dabei kommt für Rosa, ihre Tochter hat da keinerlei Mitspracherecht, schließlich nur ein deutscher Patient Sulfias in Frage, der an einem Kochbuch über die tatarische Küche arbeitet. Mit dessen Hilfe erreicht sie dann auch tatsächlich für das Frauentrio die Auswanderung aus ihrem sozialistischen Mangel- und Korruptionsstaat in das aus tatarischer Sicht paradiesische Deutschland. Dabei nutzt sie völlig unerschrocken und skrupellos die pädophile Neigung von Dieter, dem künftigen Ehemann ihrer Tochter Sulfia, der ein Auge auf die schöne Aminat geworfen hat, – Vladimir Nabokov lässt grüssen!

In einem ständigen Auf und Ab passieren in diesem Roman, der einen erzählerischen Zeitraum von etwa dreißig Jahren umfasst, die seltsamsten Dinge. Die Heldin Rosa ist in ihrem heroischen Kampf für die drei Frauen unermüdlich und mit scheinbar nie versiegender Kraft im Einsatz, um ein besseres Leben für sie alle zu erreichen. Männer sind im Roman-Geschehen allenfalls unbedeutende Randfiguren, ihren Ehemann Kalganov hat sie fest im Griff und nennt ihn demonstrativ nur beim Nachnamen. Überhaupt taugen Männer ihr persönlich allenfalls für gelegentliche Dienste im Bett und als potentielle Ernährer, mehr erwartet sie nicht von ihnen. Mit eisernem Willen lässt sie sich auch von den zahlreichen Rückschlägen nicht entmutigen, die das Leben für sie bereithält und sie bis zum elegischen Ende der Geschichte begleiten.

Ohne Zweifel ist dies eine Satire, eine mit viel schwarzem Humor karikaturhaft, manchmal sogar zynisch überzeichnete Familiengeschichte. Hinter deren amüsant «tatarischem» Duktus schimmert jedoch allzu deutlich das Elend des Sozialismus durch mit seiner absurden Mangelwirtschaft und der prekären Wohnungsnot. All das menschliche Elend, das daraus erwächst und das dieses erbitterte kämpferische Verhalten der Protagonistin zur Folge hat, wie es hier bewusst verharmlosend in beschwingt lustigem Ton geschildert wird, bildet den alles andere als lustigen Hintergrund dieses abgründigen, tragischen Romans. Und genau darin liegt seine große Schwäche, er leidet literarisch an der Ambivalenz zwischen Form und Inhalt. Nur die dem Geschehen zugrunde liegende Tragik rettet das Buch vor dem Verdikt «Klamauk». Amüsante Schundliteratur der anspruchslosen Sorte liegt hier also nicht vor, auch wenn das streckenweise so scheint und vom Buchtitel und Cover her auch suggeriert wird. Dass die Heldin am Ende schließlich resigniert, könnte man dann wohlwollend sogar als Katharsis deuten.

Fazit: mäßig

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Kiepenheuer & Witsch Köln

Notes on a Dirty Old Man. Charles Bukowski von A bis Z

Ein überraschend vielschichtiger Blick auf den Dirty Old Man

 

Pünktlich zum 100. Geburtstag, den Charles Bukowski am 16. August 2020 gefeiert hätte, veröffentlicht der Verlag Zweitausendeins das Buch „Notes on a Dirty Old Man. Charles Bukowski von A bis Z“. Der Verlag kündigt es als ein „unlexikografisches Lexikon“, eine „persönliche Bukowskipedia“ an. Diese forsche Einordnung, die von Understatement und Übertreibung zugleich geprägt ist, hätte Bukowski sicherlich gefallen. Immerhin kann sich Zweitausendeins auf die Fahnen schreiben, im Dreigespann mit dem Augsburger Maro-Verlag und dem 2012 verstorbenen Übersetzer Carl Weissner Bukowski Ende der 1970er Jahre in Deutschland bekannt gemacht zu haben. Erst diese Aufmerksamkeit sorgte für eine weiter geschärfte Wahrnehmung in seiner Heimat Amerika.

Die Schattenseite des American Dream

Charles Bukowski, dessen Romane, Gedichte und Short Stories sich vornehmlich um Verlierer, Säufer, Außenseiter, Machos, Prostituierte, Schmuddelsex und Entmenschlichung drehen – also die Schattenseite des American Dream -, war für Zweitausendeins schon immer eine Herzensangelegenheit. Für das Buchprojekt konnte man Frank Schäfer gewinnen, seines Zeichens Schriftsteller, Popkulturexperte, Heavy Metal-Freak und Bukowski-Enthusiast.

„Charles Bukowski von A bis Z“ suggeriert etwas Umfassendes, Kompendienhaftes. Der Untertitel erinnert beispielsweise an die bei Metzler/Springer erschienenen „Personen-Handbücher Literatur“, etwa zu Robert Walser, Thomas Mann oder Franz Kafka. Genau ein solches Nachschlagewerk ist „Notes on a Dirty Old Man“ jedoch nicht. Und dennoch schafft es Frank Schäfer, einen überraschend vielschichtigen Blick auf Leben, Werk und Wirkung Charles Bukowskis zu werfen.

47 Stichwörter und profundes Wissen

Unter insgesamt 47 Stichwörtern, von „Ablehnungsbescheid“ bis „Weissner“, hat Schäfer jeweils ein- bis sechsseitige Essays verfasst und in zwei Fällen Interviews geliefert, die mit profundem Wissen zu Bukowski aufwarten. Dabei zeigt sich Schäfer nicht nur auf der Höhe des jeweiligen Forschungsstandes, sondern es gelingt ihm auch, eine Fülle an Details in einer kurzweiligen Form und einem gut lesbaren, bisweilen ironisch-saloppen Schreibstil zu vermitteln.

Schäfer bestätigt zwar so manches Bukowski-Klischee, etwa den für die literarische Produktion nötigen Dauersuff (erst 1988 lebt er nach einer Therapie gegen Hautkrebs für sechs Monate abstinent). Doch zeichnet er das ebenso differenzierte Bild eines sensiblen, zu scharfen Beobachtungen fähigen Dichters, der schon in jungen Jahren aufgrund seiner schweren Akne-Erkrankung zum Außenseiter („Gesicht“) wurde. Zugleich machten ihn die fortwährenden Misshandlungen durch seinen gewalttätigen Vater zum desillusionierten Fatalisten („Vater“). Bukowski sprang nicht gerade zimperlich mit Zeitgenossen in seinem Umfeld um („Open City“), war erklärtermaßen apolitisch („Politik“) und hasste Dichterlesungen (und hielt sie doch des Geldes wegen, „Dichterlesungen“). Zudem hatte er ein merkwürdig ambivalentes Verhältnis zu den umfangreichen Textüberarbeitungen durch seinen Verleger John Martin („Verschlimmbesserungen“).

Reizthemen

Auch Kontroverses wird nicht eingeebnet: Bukowski war mitunter rassistisch, frauenfeindlich, homophob. Dennoch pflegte er eine Freundschaft zu dem schwulen Dichter Harold Norse („Homos“) oder arbeitete durchaus respektvoll mit vielen schwarzen Kollegen während seiner diversen Aushilfsjobs zusammen („Rassismus“). Gerade diese offensichtliche Beliebigkeit von Standpunkten und der nicht zu leugnende Opportunismus Bukowskis liefern seinen Kritikern bis heute genug Reizthemen für die Geringschätzung seines Werks. Doch nicht zuletzt in den unideologischen Abbildungen der Realität finden Bukowski-Fans dagegen ebenso viele Qualitätsaspekte. Die Polarisierung, die Bukowski nach wie vor erzeugt, hat unter anderem hier ihre Wurzeln.

Da es zu X, Y und Z keine Stichwörter gibt, präsentiert Schäfer unter „XYZ“ eine stichwortartige Biografie Bukowskis, die, nach Jahren geordnet, die wichtigsten Stationen in Leben und Werk nachzeichnet. Abgerundet wir der Band mit einem aufs Wesentliche beschränkte Literaturverzeichnis und mit einem Fototeil. Dieser bietet 20 Schwarzweißbilder, die der deutsche Fotograf Michael Montfort 1978 hauptsächlich während Bukowskis Lesereise nach Deutschland geschossen hatte. Diese Reise wurde seinerzeit von Zweitausendeins organisiert – so schließt sich der Kreis.

Für Kenner und Einsteiger

„Notes on a Dirty Old Man” eignet sich für Bukowski-Kenner wie für -einsteiger gleichermaßen. Man kann die Essays chronologisch lesen oder sich auch bestimmte, ausgewählte Stichwörter vornehmen. Jeder Essay ist wie ein Teil eines sich nach und nach zu einem Gesamtbild fügenden Puzzles.

Nach der Lektüre hat man den Eindruck, dem kontroversen Autor und seinem Werk nicht nur ein Stück näher gekommen zu sein, sondern auch ein differenziertes Bild fernab einseitiger Lobhudelei erlangt zu haben. Das ist eine Leistung, die eine ausführliche Bukowski-Biografie (von denen es einige gibt), nicht besser machen könnte. Insofern ist das Buch ein durchaus gelungenes und würdiges Geburtstagsgeschenk zu Charles Bukowskis Hundertstem. Der gute, alte Buk stößt sicherlich darauf an – im Himmel, in der Hölle oder irgendwo dazwischen.

 

Frank Schäfer: Notes on a Dirty Old Man. Charles Bukowski von A bis Z.
Leipzig: Zweitausendeins, 2020.
272 Seiten, 17,90 Euro.
ISBN: 978-3963180675

Zweitausendeins


Genre: Amerikanische Literatur, Amerikanistik, Biographien, Kulturgeschichte, Lyrik, Roman, Sachbuch
Illustrated by Zweitausendeins Leipzig

Die Liebe der Väter

Bereichernd und erfreulich?

Thomas Hettche thematisiert in seinem fünften Roman «Die Liebe der Väter» die unlösbar scheinenden Konflikte eines unverheirateten Paares, das nach der Trennung in einem Dauerstreit um das damals zweijährige, gemeinsame Kind lebt. Die vom Gesetzgeber als alleinerziehende Mutter grotesk einseitig mit diktatorischen Befugnissen ausgestattete Frau macht in diesem Roman bösartig von ihrer Macht Gebrauch und treibt den Vater rachsüchtig immer wieder zur Verzweifelung. Ist es dem Autor, der für seine unkonventionelle Stoffwahl bekannt ist, wirklich gelungen, mit diesem eher für ein Ratgeberbuch taugenden Thema ein belletristisches Werk zu schreiben, das man als ‹bereichernd und erfreulich› und also als ‹lesenswert› bezeichnen kann?

Vor dem Hintergrund der Atmosphäre von Sylt wird erzählt, wie der Ich-Erzähler und Vater der dreizehnjährigen Annika zwischen Weihnachten und Sylvester zusammen mit seiner Tochter bei einem befreundeten Ehepaar in deren Ferienhaus eine Urlaubswoche verbringt. Für den freiberuflichen Vertreter einiger Buchverlage ist dies eine der seltenen Gelegenheiten, seiner Tochter nahe zu sein. Außerdem sieht er die Insel wieder, auf der er als Kind mit seiner Mutter viele Sommer verbracht hat. Annika kommt in den Gesprächen mit dem Vater immer wieder auf die quälende Frage zurück, warum er damals ihre Mutter und damit ja auch sie verlassen habe, aber es gelingt ihm nicht, darauf eine für die Pubertierende befriedigende Antwort zu finden. Es kommt zum Eklat, als er die schon leicht alkoholisierte Annika wegen einer patzigen Bemerkung während der pompösen Sylvesterfeier in einem Top-Restaurant vor allen Leuten ohrfeigt. Sie läuft davon und ist für mehrere Tage nicht auffindbar, er aber traut sich nicht, ihre Mutter darüber zu informieren.

Weite Teile des Romans beschäftigen sich mit der Ohnmacht des nahezu rechtlosen Vaters der sorgeberechtigten Mutter gegenüber, aber auch mit seinen quälenden Schuldgefühlen als berufsbedingt fast immer abwesender Vater. In diversen Rückblenden berichtet er von den tragischen Vorbedingungen dieses menschlichen Dramas und von der Liebe getrennt lebender Väter, die doch so ganz anders sei als die in intakten Familien. Thomas Hettche unterminiert mit der narrativen Form des unzuverlässigen Erzählers die Glaubwürdigkeit seines Protagonisten, und allzu oft erwischt man ihn denn auch dabei, wehleidig durchaus fragwürdige, egoistische Positionen zu vertreten. Seine Freunde beginnen sich allmählich zu distanzieren von ihm und legen ihm schließlich sogar nahe, abzureisen. Diese elegische Geschichte ist mit zweifellos gekonnten, aber leider viel zu ausschweifenden Beschreibungen von Sylt garniert, ohne dass dabei eine wie auch immer geartete motivische Verbindung zum eigentlichen Thema erkennbar wird. Die eher nüchternen, knappen Dialoge sind fast schon spröde zu nennen, sie werden von häufigen inneren Monologen des parteiischen Vaters ergänzt in diesem von Aggressionen und Verletztheiten beherrschten, psychologischen Roman.

Als mit suggestiver Dringlichkeit dargestellte Vater-Tochter-Problematik leidet die larmoyante Erzählung nicht wenig darunter, dass sich zu den Protagonisten keine emotionale Nähe aufzubauen vermag, die Figuren bleiben allesamt (nordisch?) unterkühlt. Die betont einseitige Vater-Perspektive unterstreicht den Impetus des Romans, die verkorkste familiäre Konstellation als Folge äußerst konträrer Lebenskonzepte der Beteiligten begreifbar zu machen. Abgesehen davon, dass die rein juristische Problematik inzwischen ja teilweise obsolet geworden ist, bestimmt die psychische Thematik unverändert die Lebenswirklichkeit in jenen Patchwork-Familien, denen wegen tiefer Verletzungen zum friedlichen Miteinander der Wille oder die Fähigkeit fehlt. Dieser Roman mag entsprechende Diskussionen anstoßen, seine Thematik wäre aber besser in einem Sachbuch aufgehoben, als belletristische Lektüre ‹bereichernd und erfreulich› ist dieses Buch jedenfalls nicht!

Fazit: mäßig

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Kiepenheuer & Witsch Köln

Léon und Louise

Ein Glücksfall der Gegenwartsliteratur

Man ist bei «Léon und Louise» von Alex Capus an den berühmten Liebesroman von Garcia-Marquez erinnert. In beiden Geschichten finden die Paare erst im Alter zu ihrem späten Glück, dem sie in den beiden jeweils grandiosen Schlussszenen, von der Welt abgeschottet, auf einem Schiff entgegenfahren. Als Handlungsgerüst dienen dem Schweizer Schriftsteller einige Details aus dem Leben seines Großvaters, um die herum er einen klug konstruierten Plot aufbaut, den man treffend auch mit «Die Liebe in den Zeiten der Weltkriege» betiteln könnte, beide politischen Katastrophen lauern als Menetekel über dem schicksalhaften Romangeschehen.

«Wir saßen in der Kathedrale von Notre-Dame und warteten auf den Pfarrer», lautet der erste Satz. Im offenen Sarg liegt Léon Le Galle, der Großvater des Ich-Erzählers, der in einem epilogartigen ersten Kapitel berichtet, wie plötzlich eine kleine graue Gestalt durch eine Seitentür eintritt, zum Sarg eilt, den Toten küsst, eine Fahrradklingel aus ihrer Handtasche nimmt, zweimal damit klingelt, sie in den Sarg legt, sich zur Trauerfamilie umwendet und jedem kurz in die Augen schaut, ehe sie genau so schnell verschwindet wie sie gekommen ist. Es ist der 16. April 1986, die zierliche alte Dame war Louise, die langjährige Geliebte von Léon, die keiner der Hinterbliebenen je gesehen hatte, – er hat ihr genau diese Klingel kurz nach ihrer ersten Begegnung ans Fahrrad montiert.

Im Frühling 1918 lernt der damals 17jährige Léon in der Normandie Louise kennen, ihre kurze Romanze wird jäh beendet, als sie bei einem Fahrradausflug ans Meer von Tieffliegern angegriffen werden. Beide werden schwer verletzt in verschiedene Lazarette gebracht und halten den jeweils anderen für tot, wobei ein eifersüchtiger Bürgermeister seine Hand im Spiel hatte. Zehn Jahre später sieht der inzwischen verheiratete Léon in der Pariser Metro Louise in einem Zug davonfahren. Es gelingt ihm, sie zu finden, nach einer Liebesnacht beschließen sie aber, sich mit Rücksicht auf Léons Ehe nie mehr wiederzusehen. Der Zweite Weltkrieg verschlägt Louise dienstlich nach Afrika. Léon wird noch mehrmals Vater und schlägt sich als Polizei-Chemiker mit den Besatzern herum. Ein schmuckes Hausboot, das eigentlich ungewollt plötzlich sein Eigentum ist, wird nach Kriegsende das behagliche Refugium des sympathischen Mannes.

Aus der Perspektive seiner Figuren wird in diesem ebenso unsentimentalen wie originellen Roman vor allem eine äußerst unruhige politische Epoche geschildert, die sich sehr anschaulich in den Begebenheiten und Schicksalen spiegelt, von denen die kleinen Leute in Frankreich betroffen waren. Besonders die Figurenzeichnung des eher gegensätzlichen Liebespaares mit dem gutmütigen, in sich gekehrten und phlegmatischen Léon und der burschikosen, selbstbewussten, lebenslustigen Louise ist überzeugend gelungen. Ihre Beziehung ist völlig frei vom schnulzigen Herz-Schmerz-Chaos gängiger Genre-Romane, wobei man trotzdem deutlich spürt, wie tief die Beiden über Jahrzehnte hinweg emotional verbunden bleiben, allen Widrigkeiten zum Trotz. Es sind nicht so sehr ihre individuellen Charaktere, die den Leser beeindrucken, es ist vielmehr die Unbedingtheit, mit der sie scheinbar gottgewollt zueinander gehören. Sogar Léons Frau, der er bis zu ihrem Tod unverbrüchlich verbunden bleibt als verlässlicher Ehemann, erkennt diese adhäsiven Kräfte und entscheidet sich nach anfänglichen Protesten schließlich lebensklug, sie zu akzeptieren. Beeindruckend ist die klare Haltung des Ehepaares, das nach so langer Gemeinsamkeit am Sakrament der Ehe festhält. Aber Léon kann nun mal seiner Vergangenheit nicht entfliehen, die Liebe zu Louise ist sein Schicksal und bestimmt auch ganz entscheidend ihr Leben. Mit großem Einfühlungsvermögen in einer angenehm lesbaren Sprache geschrieben, gewürzt mit einer wohldosierten Portion Humor, ist dieser Roman einer der seltenen Glücksfälle unserer höhepunktarmen Gegenwartsliteratur.

Fazit: erstklassig

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by dtv München

Georgs Sorgen um die Vergangenheit

Éducation sentimentale

Schon der monströse Doppeltitel des Romans «Georgs Sorgen um die Vergangenheit oder Im Reich des heiligen Hodensack-Bimbams von Prag» von Jan Faktor reizt zum Widerspruch. Sorgen macht man sich um die Zukunft, aber gerade die sieht der Ich-Erzähler als Alter Ego des tschechischen Autors ja in blühenden Farben, sie wird phantastisch sein, da ist er sich sicher. ‹Sex sells› wusste schon Charlotte Roche, die mit ihrem unappetitlichen Roman «Feuchtgebiete» dem Leser ihre Thematik aber wenigstens nicht dermaßen obszön und plakativ schon im Titel aufdrängt, wie es hier geschieht. Andererseits vermag ein Coming-of-Age-Roman aus Prag, – einziges Wort dieses unsäglichen Titelungeheuers, das aufhorchen lässt -, der zudem auch noch in bester Schelmenroman-Tradition geschrieben ist, ja durchaus die Neugier zu wecken.

Georg wächst in einem prominenten Prager Viertel bei seiner geschiedenen Mutter auf, die für eine liberale Zeitschrift arbeitet. Mit Großmüttern, diversen Tanten und Cousinen bewohnen sie gemeinsam eine provisorisch unterteilte, ehemals hochherrschaftliche Altbauwohnung. Einziger Mann in dieser femininen WG ist sein Onkel, ein unermüdlicher, aber nicht immer erfolgreicher Do-it-yourself-Handwerker, der bei der Spionageabwehr arbeitet. Durch die weibliche Dominanz ist der Pubertierende schon früh sexuell geprägt. Seine erste – und einzige – Geliebte wird die zwanzig Jahre ältere Dana, eine gute Freundin seiner Mutter, die als naturbegeisterte Objektkünstlerin in einem Bauernhaus auf dem Lande lebt. In der Adoleszenz bestimmen brutale Jugendbanden Georgs rebellischen Alltag, er lernt Kampfsport und sieht die Welt fast ausschließlich in ihrer rein materiellen Dimension. Wobei ihn besonders jede Form von Schmutz und Unrat fasziniert, er arbeitet folglich für einige Zeit als Müllmann, nachdem er seine schulische Ausbildung vorzeitig beendet hat. Später sattelt er auf Schlosser um und verbringt schließlich zwei Jahre als Bergführer und Hüttenwart in der hohen Tatra.

Prägendes Element dieses satirischen Romans in bewährter Nachfolge von Hasek oder Hrabal ist die unbändige Fabulierlust des Autors, der aus postsozialistischer Sicht hemmungslos die triste Lebenswirklichkeit seines Volkes anprangert. Dass er dabei häufig über das Ziel hinausschießt ist eine der Schwächen dieses ständig ins Groteske abdriftenden Romans. Ein weit schlimmeres Manko aber ist das Fehlen jedweden politischen Hintergrundes, Umbrüche wie der Prager Frühling 1968 und der Einmarsch der Roten Armee werden nur nebenbei erwähnt, Georg trifft auf keinen Panzer, selbst Alexander Dubček kommt nicht vor. Auch der Versuch, den Holocaust in Form einer Reise zu den polnischen Munitionsfabriken einzubinden, in denen Georgs Mutter für die Nazis arbeiten musste, bleibt unkommentiert und wenig überzeugend. Stattdessen gerät der Weg dorthin mitten durch die DDR zu einer Schilderung der grotesken Gastronomie dieses sozialistischen Bruderlandes. Weitaus bester Teil der Erzählung ist zweifellos das zufällige Zusammentreffen mehrerer befreundeter Intellektueller verschiedenster Couleur, die auf der Straße stehend eine hochinteressante Diskussion zu kulturellen und politischen Themen führen. Georg wendet sich vehement gegen das lustige Verschwejkeln der tschechischen Misere und fasst seinen politischen Frust in dem Satz zusammen: «Unsere Scheißpartei hat die Leute um die Möglichkeit gebracht, unter normalen Verhältnissen erwachsen zu werden».

Diese eher traurige Geschichte wird nicht chronologisch erzählt, sie bewegt sich vielmehr in ständig wechselnden Zeitebenen, die eine altersmäßige Einordnung des «Kindes» Georg manchmal schwierig macht. Jan Faktor erzählt in einem geradezu übermütigen Stil, der mit kreativen Wortgebilden und unkonventionellen Gedankensprüngen eher an Hrabal als an Hasek erinnert. Eine tragische Éducation sentimentale im Flaubertschen Sinn also, die allerdings kaum bereichernd, wenig unterhaltend und viel zu lang geraten ist.

Fazit: mäßig

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Kiepenheuer & Witsch Köln

Spider-Man/Black Cat: Das Böse in dir

Spider-Man/Black Cat: Das Böse in dir. Der Filmemacher Kevin Smith (Dogma, Chasing Amy, Clerks) lässt die schon seit 1979 bekannte Marvel Heldin Black Cat alias Felicia Hardy in einem spannenden Abenteuer wieder auferstehen. In den Achtzigern kämpfte sie mit Spiderman alias Peter Parker gegen Owl und Dr. Octopus. Doch in „Das Böse in dir“ kämpft sie nicht nur gegen das Böse in Gestalt von Scorpia und Mr Brownstone, sondern auch gegen das Böse in ihr selbst. Ein Überraschungsgast spielt ebenfalls eine wichtige Rolle bei der Resozialisierung von Black Cat.

Das Böse in NYC: das Ortega-Kartell

What’s new, pussycat?“ Felicia Hardy kehrt in ihr ehemaliges Revier New York zurück, wo die Antiheldin und Meisterdiebin nicht nur auf ihren netzspinnenden Ex Spider-Man trifft, sondern auch auf einen Gegner, der Felicia mit der Erinnerung an das finsterste Kapitel ihres Lebens konfrontiert. Denn es geht um einen Schauspieler, der mittels Heroin kleine Jungs und Mädchen gefügig macht, um sie zu vergewaltigen. Anfangs verdächtigt Spidey noch Black Cat, dass sie dem tot aufgefundenen Jungen, das „H“ verabreichte, doch dann kämpfen sie alsbald an einer Seite. Es kommt zu einem Ortega-Massaker, benannt nach dem Ortega-Kartell, das die meisten Drogen in NYC vercheckt, bei dem ein Baby als einziges das Massaker überlebt. „Ich bin eine Frau mit Vaterkomplex, trage hautenges feuchtes Leder und habe meine Tage“, ruft Black Cat bevor sie sich ins Kampfgetümmel stürzt und hakt nach: „Was kann gefährlicher sein?

Liebe im Freien Fall und ohne Netz

Ist es Zwang, wenn man es mit Liebe tut?“ In Rückblenden wird auch die Geschichte von Felicia Hardy erzählt, die beinahe auch auf die schiefe Bahn geraten wäre, hätte sie nicht den (zweiten) Mann ihres Lebens kennengelernt: Spiderman! Man sagt, jede Beziehung einer Frau zu einem Mann werde durch die Beziehung zum ersten Mann, den sie liebt, geprägt: ihrem Vater. Aber was haben Felicia Hardys Vater und Peter Parker gemeinsam? Auch ein Thema, das in diesem nachdenklichen Comic angesprochen wird. Die knallbunten Farben in Zuckerlwatte gebettet erzeugen einen berauschenden Effekt, denn die Story ist nahe dran am Leben, obwohl es sich um Superhelden handelt. Statistisch gesehen wird in den USA alle zweieinhalb Minuten eine Frau vergewaltigt, heißt es etwa an einer Stelle. Jede vierte oder jede neunte Frau (je nach Berechnungsmethode) macht Erfahrungen mit sexueller Belästigung, die Vergewaltigung zumindest impliziert. Aber nicht allen Frauen gelingt es, sich aus ihrem Trauma zu einer Black Cat zu entwickeln.

Das Böse, das (nur) Männer tun

Da hilft vielleicht die vorliegende Graphic Novel, die das sexuelle Knistern zwischen Spidey und Black Cat förmlich spürbar werden lässt. Wobei man nicht genau weiß, wer bei einem Kampf der beiden unterliegen würde. Gut, dass es da noch diesen Überraschungsgast gibt, der schlichtet, hier aber nicht verraten wird. Doch am Ende wird noch ein weiterer Superschurke geboren, da helfen auch Black Cat’s eindringliche sozialarbeiterliche Worte nichts. „The Evil that Men Do“ ist der Originaltitel dieser Story, die nicht nur aufgrund ihrer schönen Aufmachung im Hardcover mehr Aufmerksamkeit verdient hat. Geheimtipp!

Kevin Smith

Spider-Man/Black Cat: Das Böse in dir
Zeichner: Rachel Dodson, Terry Dodson
Storys:Spider-Man/Black Cat: The Evil That Men Do 1-6
2020, Hardcover, 164 Seitenzahl
ISBN: 9783741616464
25,00 €
Panini


Genre: Comic, Graphic Novel
Illustrated by Panini Comics

Die Infantin trägt den Scheitel links

Die Infantin trägt den Scheitel links: Die Demontage eines Heimatidylls in den Salzburger Bergen ist einer neuen, jungen und auch experimentellen Sprache verfasst, die man gerne als Expressionismus bezeichnen würde, wäre da nicht schon diese Malerei. Immerhin Nitsch und Pollock kommen auch vor, aber eigentlich geht es um eine ganze andere Familie, die Anti-Trapp Familie vielleicht. Helena Adler stellt Klischees ihrer Heimat auf den Kopf und sie hat dabei (auch noch) sichtlich Spaß. Denn in der Rolle ihres kleinen Mädchen-Ichs lassen sich leicht ein paar Tabus brechen. Ein Wimmelbild nach Pieter Bruegel?

Anti-Trapp-Idylle einer Anti-Alpen-Heidi

Da wäre einmal ihr unbändiger Hass gegen ihre beiden älteren Zwillingsschwestern und ihre Abneigung gegen ihre frömmelnde, bigotte Mutter und einen Vater mit einem fatalen Hang zu Alkohol. Selbstverständlich ist diese Konstellation nur eine sprachliche Verdichtung ihrer tatsächlichen Kindheit, denn natürlich war alles eigentlich gar nicht so schlimm. Damals. Immerhin gab es Bechertelefone, die man jederzeit unterbrechen konnte, denn man muss ja nicht immer erreichbar sein, wenn man gebraucht wurde. „Es ist die Zeit, als Jeanny im Radio rauf und runter gespielt wird. Quit livin’ on dreams.“, schreibt Adler, aber auch sonst erwähnt sie viel Kram aus den Neunzigern, etwa Schwarzenegger oder Knight Rider und natürlich MacGyver. „Der Lauf der Filmgeschichte entspricht der Chronologie der Filmgeschichte“, schreibt Adler an einer Stelle. Was konnte man am Land auch anderes tun, als den eigenen „Staubmagneten“ und „Versorger des Herzens“ zu lieben?

Infantin: Arabeske und Attitüde

Ihre Eltern konnten ihr wohl nicht genug Unterhaltung sein: „Meine Mutter rastet nicht, habe ich immer geprahlt. Und wenn sie rastet, dann rastet sie aus.“ Da hilft es manchmal, aufgeblasene Luftballons als Sauerstoffspender unter dem Bett aufzubewahren. Früher wohnten da noch Krokodile. „Der Unterschied zwischen dem und Holz ist der, dass Holz arbeitet“, meint der Vater. Die zitierten Kalendersprüche, die wir alle aus unserer Kindheit kennen, werden von Adler mit viel Sprachwitz und Situationskomik konterkariert. Es geht mehr um das Vergnügen an der Sprache und am Lesen als um eine Handlung. Und die richtigen Eltern müssen auch nicht wirklich beleidigt sein. Die rasante Abhandlung ihrer Kindheit strotzt manchmal vor banalen Obszonitäten, dann wieder wird Absurdes gereicht: Die Schwarze Anna führt eine offene Beziehung mit Prinz Valium, den sie als ihre Mätresse bezeichnet. Sie sucht einen Mann, der ihr keine Toblerone reicht, sondern die Pyramiden mit Schokolade überzieht. Ahja und für die Bildungsbürger ist auch etwas dabei: jedes Kapitel des gerade mal 150 Seiten starken Büchleins ist mit Zwischenüberschriften übertitelt, die von malerischen Werken europäischer Künstler stammen. Tatsächlich keine Frau dabei, deswegen kein –innen.

Helena Adler

Roman
2020, 176 Seiten, gebunden mit SU

ISBN: 978-3-99027-242-8

€ 20,-

Jung und Jung


Genre: Jugend, Kindheitserinnerungen, Roman
Illustrated by Jung und Jung

100 Jahre Bukowski: Short Stories

100 Jahre Bukowski

100 Jahre Bukowski. Der Meister der Kurzgeschichte wäre dieses Jahr, am 16. August, 100 Jahre alt geworden. Warum er es nicht schaffte, erzählen u.a. seine hier vorliegenden Short Stories, die in den Siebziger Jahren auch in Deutschland veröffentlicht wurden. Die beiden hier vorliegenden Bukowski Short Story Sammlungen „Pittsburgh Phil & Co. Stories vom verschütteten Leben“ und „Ein Profi. Stories vom verschütteten Leben“ erschienen 1973 erstmals im amerikanischen Original unter dem Titel „South of North“ bei Black Sparrow Press. 1977 wurden sie auf Deutsch bei Zweitausendeins als „Das ausbruchsichere Paradies. Stories vom verschütteten Leben“ veröffentlicht. Der Deutsche Taschenbuchverlag dtv hat 1983 die Zweiteilung vorgenommen, die bis zur 18. Auflage 2016 beibehalten wurde.

Bukowski und die Frau des Lebens

Finanziell gesehen war man mit einer Möse eindeutig besser dran als mit einem Schwanz. Um das zu verdienen, was sie ihn zehn Minuten anschaffte, mußte ich einen ganzen Tag arbeiten und noch einige Überstunden dranhängen.“ (In. Zwei Trinker) Schon in der ersten Story, „Die Stripperinnen von Burbank“, macht Bukowski klar wo der Hammer hängt. Acht Stunden lang schlägt er auf einen Konkurrenten ein, bis auch er begreift, dass „wenn man acht oder neun Stunden lang aufeinander eingeschlagen hat“, sich ein ganz „eigenartiges Gefühl der Verbundenheit“ entwickelt. Zumal es eigentlich um gar nichts geht, denn wer verliebt sich schon in eine Stripperin, die Rosalie heißt? Bukowski macht sich Gedanken über das Zusammeleben mit Frauen oder beschreibt den Größenwahnsinn des Halbschwergewichtlers Jack, der nach seinen Kämpfen trinkt und raucht, obwohl seine Ann ihn belehrt, es nicht zu tun. Zumeist hat sich ohnehin alles gegen seine Protagonisten verschworen: „Frauen, Jobs, keine Jobs, das Wetter, die Hunde“. In „Das ausbruchsichere Paradies“ hält eine Frau, Dawn, sich vier Homuncoli, die sie auf einem Bartresen kopulieren lässt, wovon sie selbst so angetörnt wird, dass sie mit der Barbekanntschaft, dem Erzähler, mit nach Hause nimmt. In „Liebe für 17,50“ wendet sich Robert von seiner Flamme Brenda ab und verliebt sich in eine Schaufensterpuppe, Stella, die er einem alten Juden abluchst und in seine Bude mitnimmt. „Eine gute Frau, das ist das Größte auf der Welt“, lässte er einen seiner Protagonisten sagen. Aber wo soll Henry Chinaski so eine finden?

Im Ring mit Hemingway

100 Jahre Bukowski

Egal in welche Rolle Charles Bukowski schlüpft, es sind immer sympathische Verlierer, die er beschreibt und die sein Herz erwärmen, denn er hält nichts von dem „gutrasierten Boy mit der Krawatte und dem guten Job“, wie er in „Mumm“ freimütig bekennt. In dem zweiten Band „Ein Profi. Stories vom verschütteten Leben“ befreit er den leibhaftigen Teufel aus einem Käfig, bis er merkt, dass dieser ihm seine Frau ausspannt. Aber Chinaski schlägt selbst dem Teufel ein Schnippchen. „Ich interessiere mich mehr für Perverse als für Heilige“, schreibt er, „Ich kann relaxen in Gesellschaft von Pennern, denn ich bin selber einer. Ich habe nichts übrig für Gesetze, Moral, Religion, Vorschriften. Ich mag mich nicht von der Gesellschaft trimmen lassen.“ Mit Worten wie diesen machte Charles Bukowski sich in den Siebzigern zum Anti-Helden einer ganzen Generation. Er erzählt von seinen Lesereisen und was Dylan Thomas umgebracht hat. Oder steigt mit Ernest Hemingway in den Ring. Innerhalb eines Absatzes schreibt er sich vom Grashüpfer zum unbestrittenen King, um dann wieder in Selbstmordgedanken zu versinken. Oft geht er mit dem Gefühl ins Bett, das alle Säufer kennen, schreibt er an einer Stelle: „Ich hatte mich lächerlich gemacht, aber zum Teufel damit.

Charles Bukowski
Pittsburgh Phil und Co. Stories vom verschütteten Leben
Zusammengestellt und ins Deutsche übertragen von Carl Weissner
ISBN: 978-3-423-12391-4
dtv
7,90 EURO

Charles Bukowski, Carl Weissner (Hrsg.)
Ein Profi. Stories vom verschütteten Leben
Zusammengestellt und ins Deutsche übertragen von Carl Weissner
ISBN: 978-3-423-10188-2
dtv
8,90 EURO


Genre: Feminismus, Literatur, Short Stories
Illustrated by dtv München

Busengewunder – Meine feministischen Kolumnen

BH, Körperbehaarung, Menstruation, magische Wirkung der Plazenta, gezeichnete (Box-)Brüste, Genitalnamen, Stöckelschuhe, Strafgesetzbuch und echte Gleichberechtigung, Objektifizierung des weiblichen Geschlechts, männliche Fantasien, Pinkeln in der Natur – Lisa Frühbeis verarbeitet in ihren Comicstrips ihre Gedanken rund um Emanzipation. Und das macht sie tiefsinnig, witzig, provokant, aber immer im Sinne der echten Gleichberechtigung von Frau und Mann.

Sie will zum Nachdenken anregen, erzeugt bei mitdenkenden Leser/innen aber auch immer wieder ein Gefühl des “Darüber habe ich auch schon nachgedacht, aber nicht darüber zu sprechen gewagt.” Denn schließlich ist es wirklich unfair, wenn Männer, z.T. sehr offensichtlich, in der Öffentlichkeit pinkeln, während die Frauen große Anstregungen unternehmen müssen, um bei diesem Geschäft nicht beobachtet zu werden. Da wird auch der einzige Vorteil des Rockes (ohne Unterhose) deutlich, denn so geht es auch im Laufen. Und wo dominiert noch die männliche Sicht? Nicht nur bei den gezeichneten unnatürlichen Brüsten, sondern auch im Strafgesetzbuch, das männlichen und weiblichen Exhibitionismus unterschiedlich hart bestraft.

Süffisant und offensichtlich subtil ist auch die weibliche und männliche Methode zu kommunizieren – da hilft bei einem älteren, korpulenteren, selbstverliebten, arroganten Gockel noch nicht einmal die Ich-Botschaft. Auch sonst erdrückt die schiere physische und psychische Masse das weibliche Gegenüber, sodass frau sich unwillkürlich fragt: Woher kommt so ein ungerechtfertigtes männliches Selbstbewusstsein? Oder “The bloody Circle of Life”, mit dem sich nur die Frauen quälen müssen – was offensichtlich niemanden interessiert. Im Berufsleben schon gar nicht.

Um den Blick zu weiten für die Geschlechterungerechtigkeit (auch heutzutage) helfen die Strips “Quote im Tomatenbeet” und “Der Tausch”: Man(n) stelle sich vor, er habe präspermales Syndrom, innenliegende Hoden, jeden Monat nur ein einziges Spermium, nicht monogamiefähige Frauen aufgrund der hohen Eierproduktion, die Pille für den Mann, eine mit 28 Jahren nachlassende Fruchtbarkeit des Spermiums und mit 50 Jahren beginnende Hormonstörungen. Selbstredend mit allen Nebenwirkungen. “Ist es wirklich so schlimm?”, fragt nach diesem Gedankenkonstrukt der männliche Gesprächspartner, was die Frau mit der ihr eigenen weiblichen Kommunikationsfähigkeit und Bescheidenheit so beantwortet: “Ein bisschen mehr Anerkennung wäre schon angebracht.”

Aber warum  nur ein bisschen? Warum nicht ein bisschen mehr? Auch finanziell? Das fragen die gelben die etablierten roten Tomaten in “Quote im Tomatenbeet”. Und wenn Tomate schon dabei ist: Was ist mit den dunklen und grünen Tomaten? “Und was meint der Gärtner dazu? ‘Puh… Da müsste ich ja tatsächlich was ändern… Wie anstrengend!'” Tja. Mit einer solchen Einstellung kann’s ja nix werden.

In “Busengewunder” geht Frühbeis der Frage nach, warum Frauen sich eigentlich mit BH und überhaupt verhüllen sollen, wenn es doch am Mann wäre, seine Hormone zu zügeln. Zu Recht. Denn man(n) trägt ja auch keinen PH. Und warum dürfen Männerhaare überall, auch an unmöglichen Stellen, sprießen, wenn frau schon einen auf den Deckel kriegt bei bloßer Beinbehaarung? “Angriff der Killerhaare” geht humorvoll und informativ dieser spannenden Frage nach. Und gibt preis: “Scheini-Beini kamen ab den 40-er Jahren in Mode, zusammen mit kürzer werdenden Röcken.” Und warum? “Um die teuren Nylonstrümpfe zu imitieren.” Aha.

Womit schon Sinn und Unsinn von Frauenmode in “Über Oberflächen” über die Jahrhunderte hinweg kritisch beleuchtet wird – bis hin zu gesundheitlichen Schäden nicht nur durch das Korsett, sondern auch durch die Stöckelschuhe in “Pomp my Feet”, deren Absätze übrigens früher Männern vorbehalten waren. Und zwar als Zeichen für Pferdebesitz und damit Wohlstand. Außerdem heben sie, geschichtlich gesehen sogar geschlechtsneutral, den Po hübsch an. Was bei Affen Paarunsbereitschaft signalisiert. Moral von der Geschicht’ beim XX: “Ich geh barfuß.” XY: “Ist eh viel gesünder… Bereit zur Paarung?”

Dass der weibliche Körper sowieso immer an erster Stelle steht als Objekt der (nicht nur) männlichen Betrachtung zeigt “Die Macht über Körper”. Denn auch Frauen tragen ungefragt und unreflektiert zur Objektifizierung ihres eigenen Geschlechts bei. Da sollte frau sich ruhig fest an die eigene Nase fassen, um Kommentare wie “Hast ganz schön zugelegt hinten. So findest du nie einen Mann!” zu vermeiden.

Und um es auf die Spitze zu treiben, gibt es den Geschlechterwahnsinn auch noch teuer zu kaufen – als rosa Hammer im Baumarkt zum Beispiel.

Wertvoller Comic über emanzipatorische Gedanken. Davon gibt es leider viel zu wenig, also gerne mehr davon!


Genre: Comics
Illustrated by Carlsen Verlag Hamburg