Mother’s Spirit 1 und 2
by Enzo

Liebe zwischen zwei Kulturen

Schlimmer kann es für den schmächtigen, zurückgezogenen, schüchternen, aber liebenswerten Universitätsangestellten Ryouichirou Tsutsuki kaum noch kommen: Er soll im Auftrag des Unipräsidenten einen Austauschstudenten aufnehmen. Vorbei die Ruhe, denn Austauschstudent Qualtaqa kommt direkt aus dem Dschungel – ohne jemals Kontakt mit der westlichen Zivilisation gehabt zu haben. Dementsprechend kann er weder Englisch, noch kennt Qaltaqa die Errungenschaften der modernen Technik. So stellt allein schon ein Gang auf die (japanische Hightech-)Toilette den muskulösen Krieger vor ungeahnte Herausforderungen. Aber der sanfte Riese ist zäh und willig, alles über sein Gastland zu lernen. Und so erstaunt er nicht nur die hohen Tiere der Universität mit seiner Lerngeschwindigkeit, sondern nötigt auch Ryo eine gehörige Portion Respekt ab.

Ryo selbst ist im Laufe der Zeit fasziniert von Qaltqa und dessen Fähigkeiten, im Dschungel zu (über)leben. Aber auch Qaltaqas Äußeres lässt ihn nicht kalt, denn alle Menschen vom Stamm der Lutha sind extrem attraktiv. Qaltaqa hingegen mag Ryos Liebenswürdigkeit und Warmherzigkeit. Und da Qaltaqa gewohnt ist, im Einklang mit der Natur zu leben, zeigt er Ryo offen seine Gefühle. Das ist für den japanischen Mann, dem von Anfang an beigebracht wird, seine Gefühle zu verbergen und ständig Selbstkritik zu üben, sehr erschreckend, aber gleichzeitig auch faszinierend.

So nähern sich die beiden vordergründig so unterschiedlichen Männer langsam einander an und beginnen eine heimliche Liebesbeziehung. Allerdings will Qaltqa mehr. Er nimmt Ryo mit in den Dschungel und stellt ihn seinen Stammesmitgliedern als seine “Braut” vor. Wie werden die Stammesältesten auf diese kühne Ankündigung reagieren?

Homosexualität

Die beiden in sich abgeschlossenen Bände bedienen das Genre BL (boys love = gleichgeschlechtliche Liebe zwischen jungen Männern). Da auch Sexszenen vorkommen, ist der Manga allerdings erst für ältere Leser/innen zu empfehlen. Dass dem Thema Homosexualität in Mangas ein eigenes Genre eingeräumt wird, ist erst einmal zu begrüßen. Allerdings dient es meist nicht dazu, mehr Toleranz in der (japanischen) Gesellschaft zu fördern, sondern zielt auf den Frauengeschmack ab: BL wird vorwiegend von Leserinnen gekauft, die die attraktiven Charaktere sehr zu schätzen wissen. Das Gegenstück, Yuri genannt, das die gleichgeschlechtliche Liebe zwischen Frauen thematisiert, wird eher stiefmütterlich behandelt. Das weist leider auch wieder auf die unterschiedliche Wertigkeit von Frau und Mann hin. Lesbische Liebe wird auch hierzulande nicht so offen gelebt wie schwule Liebe. Sie führt im Vergleich dazu eher ein Schattendasein. Zudem müssen viele Lesben (mit oft vorausgehenden schlechten herterosexuellen Beziehungen und den daraus resultierenden Kindern) genau wie heterosexuell Alleinerziehende mit finanzieller Armut klarkommen. Diese scheint bei schwulen Männern nicht so verbreitet zu sein.

In den BL-Mangas wird der Problematik, denen sich homosexuelle Paare ausgesetzt sehen, nicht besonders viel Raum eingeräumt, obwohl es Mangas gibt, die das durchaus tun. Das Problem des Outings wird auch hier realtiv schnell abgehandelt. Ansonsten ist die zarte Liebe, die da erblüht, schön anzusehen, denn sie ist durchaus romantischer Natur und nicht explizit auf Sexszenen ausgelegt.

Westliche Welt versus Naturvölker

Auch dieser Manga tappt in die Falle, die westliche Kultur über die der Naturvölker zu stellen. Der Vorstandsvorsitzende betont zwar die Intelligenz und die außergewöhnlichen körperlichen Fähigkeiten der Lutha, aber “da sie ein Naturvolk sind und weit weg von der Zivilisation leben, kennen sie bedauerlicherweise keinerlei Kultur des Lernens” und will dem mit seinen Beziehungen Abhilfe schaffen. Weder stellt sich ihm  die Frage, ob das gut für das Naturvolk ist, noch ist ihm die Vetternwirtschaft bewusst, die er da betreibt. Und Ryou fragt auch nicht nach, denn es gilt das hierarchische Prinzip des Gehorsams. Arrogant auch die Aussage, das Naturvolk würde “keinerlei Kultur des Lernens” kennen. Wer sich damit mehr beschäftigt, weiß, dass es sehr wohl eine Kultur des Lernens gibt, die aber anders (und damit der westlichen offensichtlich nicht gleichwertig, weil mündlich und nicht schriftlich) ist.

Davon abgesehen macht sich keine der Figuren darüber Gedanken, was die “Segnungen” der Zivilisation für Schäden anrichten können. Und es in der Vergangenheit auch getan haben, wie z.B.  Raubbau an der Natur, Einschleppen tödlicher Krankheiten, Alkohol, Landwegnahme, Zivilisationskrankheiten usw. Gut, dass der Manga zumindest ansatzweise die naturverbundene Sicht der Lutha dagegenstellt, von der der Raubbau betreibende Westen noch einiges bzgl. Nachhaltigkeit lernen kann. (Mal abgesehen davon muss man ja auch in der westlichen Welt nicht jeden technischen Schnickschnack mitmachen; Internet-, Handy- und Fernsehsucht kombiniert mit Bewegungsmangel reicht vollauf.) Schön auch, dass die Lutha einen Kult der Großen Göttin betreiben. Der Manga greift hier die Vorstellungen der vor-patriarchalichen Zeit auf, in der die Göttin als lebensspendende Frau in all ihrer Macht aufgetreten ist und selbst in den patriarchalischen Religionen immer noch weiterexistiert, weil sie trotz aller Repressionen und Streichungen nie ganz verschwunden ist. Anstatt Männer und Frauen zu beschneiden, wird hier eine Religion präsentiert, die Stärke und Schwäche gleichwertig vereint, die Veränderung begrüßt und betont, dass man aus sich heraus strahlen kann. Zum Glück wird ebenfalls deutlich, dass die Lutha ihre Traditionen keineswegs aufgeben wollen. Sie wollen das Beste aus beiden Welten miteinander vereinen und sich von den schädigenden Vorstellungen trennen.

Fazit

Romantischer BL-Manga, der durchaus Potential hat, aber an entscheidender Stelle auch unkritische Momente aufweist.


Genre: Manga
Illustrated by Carlsen Manga!

1000 Serpentinen Angst

Dreifach diskriminiert

Im Themenspektrum zeitgenössischer deutscher Belletristik hat inzwischen auch die Rassismus-Problematik einen festen Platz, Olivia Wenzel liefert mit ihrem Romandebüt «1000 Serpentinen Angst» einen vielbeachteten Beitrag dazu. Die junge, künstlerisch vielseitig tätige Schriftstellerin, als ‹Afrodeutsche› in Weimar geboren, bezeichnet ihren autofiktionalen Roman im Interview mit der taz als «Coming-out als Nicht-Weiße». Ein Entwicklungsroman also, dessen Protagonistin nicht sie selber sei, sondern eine «düstere Variante» von ihr, mit der sie allerdings die titelgebende ‹Angst› gemeinsam habe. Nachdem sie aus Thüringen weggezogen sei, spüre sie deutlich eine Entspannung, im Bus schaue sie sich nicht mehr «die ganze Zeit um, ob irgendwo Nazis sitzen. Und ich schaue auch nicht, wer mit mir aussteigt».

Dieser Roman behandelt die Konsequenzen, die sich aus der dreifachen Diskriminierung als Farbige, Frau und Ossi für die namenlose, 35jährige Protagonistin ergeben. Ihr Vater musste die DDR verlassen und ist nach Afrika zurückgegangen, es besteht nur ein loser Kontakt mit ihm per E-Mail. Einmal hat sie ihn in Angola besucht, als erfolgreicher Geschäftsmann unterstützt er sie seit einiger Zeit auch finanziell. Die Mutter hatte als aufmüpfige Punkerin im sozialistischen Arbeiter- und Bauernparadies viele Probleme, sie hat mehrfach versucht, ihre Zwillingskinder wegzugeben und auszureisen. Auch heute steckt sie scheinbar immer noch in nicht genannten Schwierigkeiten, jedenfalls versteckt sie sich vor irgendwem. Der Zwillingsbruder nahm sich 17jährig das Leben, die einst linientreue Großmutter hat sich politisch nach rechts orientiert und wird bei der nächsten Wahl ‹die Rechten› wählen. Nach diversen heterosexuellen Affären und Beziehungen hat die Protagonistin in der Vietnamesin Kim eine lesbische Lebensgefährtin gefunden, und zu guter Letzt wird sie dann auch noch schwanger und ist damit ziemlich überfordert.

All dies ist nicht in einen als Handlung zu bezeichnenden Plot eingebettet, der dreiteilige Roman berichtet vielmehr extrem fragmentarisch davon, und zwar in einer an das Theater erinnernden, dialogischen Erzählform. Diese Gedankensplitter sind weder chronologisch noch thematisch geordnet, sie folgen eher der chaotischen Weise, in der verschiedenste Reflexionen gedanklich spontan verarbeitet werden. Leitmotivisch erscheint dabei häufig ein Verkaufsautomat, der einerseits die materielle Gier des Kindes nach Kaugummis oder irgendwelchem Tinnef ausdrückt, den man mittels Taschengeld aus dessen Schublade entnehmen kann. Die Ich-Erzählerin imaginiert ihn aber auch in den verschiedensten Träumen als einen Zufluchtsort vor den Bedrohungen der Welt, in den sie sich dann immer wieder verkriecht. Wegen ihrer Angstpsychose ist sie bei drei verschiedenen Therapeuten in Behandlung, ohne dass man ihr wirklich helfen kann. Ihre Probleme lägen ja nicht in der Vergangenheit, heißt es, sondern sind gegenwärtig. «Sie sind in unserem Land eben eine Minderheit» lautet lapidar die wenig hilfreiche Diagnose.

Stilistisch ungewöhnlich ist die verhörartige Erzählweise, mit der die Autorin ihr Thema rassistischer Ausgegrenztheit literarisch umsetzt, eine der Stimmen stellt immer wieder übergriffige Fragen. Die Sprache dabei ist lässig, ein flippiger, betont heutiger Jugendslang, der häufig mit englischen Einschüben angereichert ist und in seiner Lakonie oft zum Schmunzeln Anlass gibt. Wer da jeweils spricht bei diesen funkelnden Wortgefechten, das ist ungewiss, die Stimme aus dem Off beeinträchtigt jedoch weder Lesefluss noch Verständnis. «Woran denke ich, was unterschlage ich?» ist alles, was die Autorin vermitteln will. Und sie findet dafür in einer Art Katharsis eine versöhnliche Formel, indem sie bekennt, dass es ihr gut geht in Berlin und auch, dass sie ihre Identität keinesfalls verdrängen darf. Also versucht sie selbstbewusst, sich gesellschaftlich zu emanzipieren, – ihr als Leser dabei zu folgen, lohnt sich.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Fischer Verlag

Über Leben: Zukunftsfrage Artensterben: Wie wir die Ökokrise überwinden

Um es gleich vorweg zu sagen: Das Buch Über Leben: Zukunftsfrage Artensterben: Wie wir die Ökokrise überwinden von Dirk Steffens und Fritz Habekuß geht unter die Haut und man sieht die Welt danach mit anderen Augen an. Es zeigt uns, dass die Biodiversität Grundlage jedweden menschlichen Lebens ist und wie sehr sie heute schon gefährdet ist. Gelesen habe ich es während der ersten Welle der Coronazeit — in der Geborgenheit meines Gartens.

Und staunte, wie die Autoren in diesem Buch auf die Gefahr globaler Krisen hinweisen, die letztlich mit dem Eindringen der Menschen in gewachsene Ordnungen entstanden sind. Wie schnell bewährte Ordnungen durch Invasoren aus dem Gleichgewicht geraten können. Die Pandemie, die nach Fertigstellung des Buches auftrat, schien wie eine Folge der verlorenen Biodiversität.

Das Buch ist in acht Kapiteln aufgebaut, im ersten geht es um die Liebe zur Natur. Wir werden als die Nachfahren der Nomaden beschrieben, die wir sind: Wer sich besser auf die Natur verstand, hatte bessere Überlebenschancen. Dabei geht es nicht nur um eine scharfe Beobachtungsgabe, sondern auch um Gefühle. Der Untertitel des Kapitels lautet „Wahre Liebe“. „Gefühle sind zwar real, aber sie sind nicht objektivierbar. Disqualifizieren sie sich deshalb für eine Diskussion?“

Im nächsten Kapitel wird die Expansion, der Wunsch nach mehr und noch mehr beschrieben: „I take what’s mine, then take some more.“ Sagt ein Rapper als Leitmotiv. War das Schaffen von Besitz bei den ersten Nomaden noch sinnvoll zum Überleben, gilt es jetzt den Verstand dagegen zu setzen, wenn „wir Dinge (kaufen), die wir nicht brauchen, um damit Menschen zu beeindrucken, die wir nicht mögen.“

Das dritte Kapitel heißt einfach „Zusammen sind wir stark“ und wir erkennen die Bedeutung der Biodiversität, deren Entstehung im vierten Kapitel „Anthropozän“ minutiös beschrieben wird: Wir Menschen sind, wenn wir der Entstehung der Welt bis heute in vierundzwanzig Stunden ordnen, erst um 23:59:57 Uhr dazugekommen und haben seitdem der Erde unseren Stempel aufgedrückt. Unsere Spuren sind bis auf den tiefsten Meeresgrund zu sehen, viele Arten sind schon durch uns ausgestorben. Als Einleitung ein Satz von Charles Darwin: „Alles was gegen die Natur ist, hat auf Dauer keinen Bestand.“ Auch dieses Kapitel ist mit vielen Beispielen versehen, die das globale Geschehen beschreiben.

Im fünften Kapitel „Ein Fluss klagt an“ werden die schädlichen Eingriffe von der Quelle bis zur Mündung des Mississippi aufgezählt. Der Untertitel lautet: Wie es wäre, wenn nicht nur Menschen Rechte hätten. Neben all den Untaten, die dem Fluss (Begradigungen und 40 000 Deiche!) zugemutet werden, und damit den Menschen, die an seinen Ufern leben, wird der Gedanke entwickelt, der Natur Rechte zuzusprechen. „In letzter Zeit haben Richterinnen und Richter mehr für den Umweltschutz getan als Regierungen.“ In diesem Kapitel eingebettet sind Grafiken, die erst das beschriebene Elend quantifizieren, dann aber auch aufzeigen, wie „Der Weg in eine grüne Gesellschaft“ aussehen könnte.

Mit gefielen am besten die Zitate, manche Jahrhunderte alt, die zeigen, dass der Übergang des Gemeindebesitzes (Allmende) in Privateigentum der Beginn der Fehlentwicklungen war. (Siehe auch die Rezension von der Hauptstadtgärtner!) Das Kapitel schließt: „Und wenn Aktiengesellschaften Rechte haben können, gibt es keinen Grund, sie dem Mississippi zu verweigern.“

Im sechsten Kapitel Selbstlose Vampire —Der Kapitalismus im Zeitalter der Ökologie geht es um die Anzeichen, dass der Kapitalismus mehr und mehr gezwungen ist, die Natur zu schützen. Das Paradigma, dass Wirtschaft wachsen muss, wird hinterfragt. Unter dem Zwischentitel Fuck capitalism! machen wir einen Ausflug nach China, wo die Regierung schon vor Jahren einen Plan aufgestellt hat, Treibhausgasemissionen ab 2030 zu verringern, und ihn wahrscheinlich vorfristig erreicht. Nach kurzer Debatte über den Vergleich der Systeme, wird diese aber damit abgeschlossen, dass sich auch Zentralkomitees irren können. In diesem Kapitel geht den beiden Naturliebhabern das Herz durch, Politik ist nicht ihr Ding. Wer kann schon sagen, „Die Abschaffung der Sklaverei und die Gleichberechtigung der Frauen sind Beispiele dafür, wie lange für selbstverständlich gehaltene Hierarchien überwunden werden können.“ Allenfalls gilt das für die Sklaverei in Europa und Amerika, aber: wo, bitte, ist das Patriarchat überwunden? Aber warum nicht auch einmal mit den Autoren träumen, dass der Chef von BlackRock und Greta Thunberg „aus völlig unterschiedlichen Motiven auf dasselbe Ziel zusteuern?“

Im siebten Kapitel Kollaps oder Revolte werden historische Beispiele für gesellschaftliche Fortschritte durchleuchtet: Abschaffung der Sklaverei, Wasser- und Abwassersysteme oder vor etwa 20 Jahren das Bannen des Rauchens. Welche Schritte braucht es für den Prozess und wer spielt dabei welche Rolle? Das achte Kapitel ist dann zu Beginn der Coronakrise geschrieben und ermuntert zu Maßnahmen gegen die Ökokrise, die Jede/r von uns schaffen kann.

In meinen Rezensionen gebe ich gerne Empfehlungen, wer dieses Buch lesen sollte. Aufgrund der Fülle der Beispiele eigentlich Jeder, der verstehen will, in welchem Zustand sich unser Planet befindet. Wenn Politiker das nicht schaffen, dann kann man den Naturwissenschaftlern das nicht vorwerfen. Mein Schlusssatz steht schon im Buch: „Wir haben kein Weltuntergangbuch geschrieben. Denn wenn es um die Erde geht, ist Optimismus Pflicht, allein schon wegen fehlender Alternativen.“

Leseprobe


Genre: Sachbuch, Umwelt
Illustrated by Penguin

Inniger Schiffbruch

Grandios gescheitert

Als ein Erzählexperiment der besonderen Art erweist sich Frank Witzels neuer Roman «Inniger Schiffbruch», wirkt darin doch die psycho-therapeutische Aufarbeitung seiner eigenen Kindheit direkt auf den eigentlichen Schreibprozess zurück, er kommentiert sich permanent selbst. In ständigen Selbstzweifeln wird in dieser kaum fiktionalisierten Autobiografie immer wieder auch die Frage nach der Erzählbarkeit dessen aufgeworfen, wovon der Autor in Form einer breit angelegten Vergangenheits-Bewältigung berichtet. Die Figur des von Selbstzweifeln geplagten Ich-Erzählers in dieser literarischen Psychoanalyse vereint also Therapeut und Patient in einer Person. Ein schwieriges Unterfangen, das zum Scheitern verurteilt ist, und prompt erleidet der Autor denn auch literarisch «innigen Schiffbruch» mit seiner seelischen Tiefenlotung. Statt ‹Roman› nämlich, der als Narrativ ohne jede Handlung nur falsche Erwartungen weckt, wäre ‹Sachbuch› die angemessene literarische Form gewesen für diesen intellektuell recht anspruchsvollen und zudem auch interessanten Stoff.

Nach dem Tod des Vaters ist der Sohn mit dessen Nachlass beschäftigt, die Mutter war schon zwei Jahre zuvor verstorben. Er sichtet einen Riesenbestand an Fotoalben, Diakästen, Super8-Filmspulen, Briefen, Tagebüchern und anderem mehr, wozu auch bis zu vier, jahrzehntelang parallel geführte, Kalender des pedantischen Vaters gehören. Bei dieser Recherche wird eine Unzahl an Erinnerungen geweckt, die nicht nur auf den materiellen Nachlass gestützt sind, sondern ergänzend auch auf Erzählungen der Eltern und Großeltern. Beide Eltern waren vom Krieg traumatisiert, die aus wohlhabendem Hause stammende Mutter wurde als 16Jährige aus Schlesien vertrieben, der Vater machte nach dem Krieg notgedrungen eine Lehre als Kaufmann. Er wandte sich dann jedoch der Musik zu, musste aber seine Hoffnungen auf eine Karriere als Pianist und Komponist schon bald aufgeben, wurde Musiklehrer und fungierte außerdem auch als Organist und Chorleiter seiner Kirche. Das Elternpaar ist auf seine Weise also nazigeschädigt und verdrängt in den Jahren des Wirtschaftswunders, wie so viele andere auch, die unrühmliche Vergangenheit. Fast alle Erinnerungen des Autors beziehen sich auf den ebenso bigotten wie strengen Vater mit seinem brutalen Erziehungsterror, die Mutter hat kaum verwertbare Spuren für seine Erinnerungsarbeit hinterlassen, und auch sein Bruder kommt so gut wie gar nicht vor. Auffällig ist zudem die scheinbare Bindungslosigkeit des Autors, Frauen werden allenfalls mal in einem Halbsatz erwähnt. Äußerst befremdlich, aber zudem auch symptomatisch erscheint seine Feststellung, dass er einfach nicht trauern könne um seine Eltern, er kommt ihnen auch posthum nicht nahe.

Eine Stärke dieses zutiefst meditativen Buches ist die anschauliche Beschreibung der Lebenswirklichkeit in der BRD, die materiell mit dem Stichwort ‹Nierentisch› und kulturell mit ‹Beatclub› umschrieben werden kann. Ergänzend zu seinen zahlreichen Träumen und endlosen Grübeleien zieht der Autor auch jede Menge Sekundärliteratur heran, seine Zitierliste umfasst 22 Bücher von Adorno bis Vittorini, und auch der Buchtitel ist ein Zitat aus Rilkes Übersetzung von Leopardis berühmtem Gedicht «L’infinito».

Auf seiner rastlosen Suche nach dem Unausgesprochenen, dem schamhaft Verdrängten im Labyrinth der Vergangenheit, verwendet der Autor eine Technik, bei der er eigene Erinnerungssplitter assoziativ mit materiell gespeicherten Memorabilien vermischt. Dabei werden allerlei Diskrepanzen zu Tage gefördert, Erinnerungen lassen sich nun mal nicht objektivieren. Durch das ständig wiederholte Hinterfragen, das letztendlich ja zu nichts hinführt, wird die Lektüre nicht nur beschwerlich, sondern allmählich auch immer langweiliger. Und viele der Details und Assoziationen, in die er sich verliert, mögen für Frank Witzel wichtig sein, nicht aber für den geplagten Leser. Dieser Roman ist als solcher grandios gescheitert!

Fazit: miserabel

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Genre: Roman
Illustrated by Matthes & Seitz

Emanuel Gyger & Arnold Klopfenstein

Unberührte Schneelandschaften, ein virtuoses Spiel mit Licht und Schatten, Pulverschneewolken, eine ausgefeilte Bildkomposition und ein atemberaubendes Gespür für den richtigen Augenblick zeichnen die Fotos von Emanuel Gyger (1886–1951) und Arnold Klopfenstein (1896–1961) aus. Die beiden Schweizer Fotografen schufen vor rund einhundert Jahren spektakuläre Skifotos, die für ihre Zeit einzigartig und wegweisend waren und den Betrachter heute noch faszinieren. Weiterlesen


Genre: Bildband, Fotografie
Illustrated by Martin Regenbrecht

Ich an meiner Seite

Fragwürdige Resozialisierung

Mit ihrem zweiten Roman packt Birgit Birnbacher das schwierige Thema der Resozialisierung von jugendlichen Straftätern an. Die österreicherische Soziologin sei, wie sie im Nachwort schreibt, «der realen Vorlage für die Hauptfigur dieses Romans für die geduldige und beständige Gesprächsbereitschaft» sehr zu Dank verpflichtet. Ihr Buch schaffte es auf die Longlist des diesjährigen Frankfurter Buchpreises, zu Recht?

Arthur wird im Juni 2010 nach 26 Monaten aus dem Gefängnis entlassen und kommt zur Resozialisierung in eine WG in Wien, ein Projekt, das von einer wissenschaftlichen Studie begleitet ist. Sein Therapeut Dr. Konstantin Vogl, den alle nur Börd nennen, fällt durch seine unkonventionellen Methoden auf. Er verkörpert in Auftreten und Kleidung genau das, was man einen ‹schrägen Vogel› nennt. Unter Depressionen leidend wäre der Alkoholiker eher selbst behandlungsbedürftig, er übt jedoch auf Arthur einen erfreulich positiven Einfluss aus. Unter anderem dadurch, dass er ihn dazu anhält, ihm auf Tonband über sein Leben zu berichten. Diese protokollartigen Selbstauskünfte des personalen Erzählers werden, kursiv und in anderer Schrift, immer wieder kurz in die 33 auktorial erzählten Kapitel dieser tragischen Geschichte eingeblendet. Der Protagonist kommt aus prekären Verhältnissen, denen seine Mutter beherzt entflieht, indem sie mit seinem Stiefvater und ihren beiden Söhnen von ihrer österreichischen Kleinstadt nach Andalusien auswandert, um dort eine Palliativklinik für Wohlhabende zu leiten. Arthur beginnt dort schon bald eine offenbar homo/bisexuelle Dreiecksbeziehung mit Milla und Princeton. Der vermeintliche Freund aber versucht ihn bei einem Bootsausflug zu ertränken, während gleichzeitig Milla spurlos verschwindet und irgendwann für tot erklärt wird. Mit einer Patientin schließlich, die er einmal reglos daliegend antrifft und um die er sich sofort rührend bemüht, entwickelt sich schnell eine innige Beziehung. Grazetta, die alte Frau, die hier zum Sterben hergekommen ist, war früher mal eine bekannte Schauspielerin. Schließlich geht Arthur aber dann doch zurück nach Wien, findet dort jedoch keine Arbeit und wird in seiner Not mit einer raffinierten Internet-Abzocke straffällig.

Man ist an Alfred Döblins Figur Franz Bieberkopf in «Berlin Alexanderplatz» erinnert, wenn Arthur sich nach der Entlassung in einem ähnlichen Circulus vitiosus als ehemaliger Häftling um Wohnung und Arbeit bemüht. Dem intelligenten 22Jährigen fehlen die nötigen Referenzen, um eine Wohnung zu mieten, und er kann auch keine Zeugnisse vorweisen, so dass alle seine Bewerbungen erfolglos bleiben, selbst wenn er die Haft als ‹Auslandsaufenthalt› deklariert. Er scheint das Unglück geradezu magisch anzuziehen, sein Online-Konto wird geplündert und ein Mitbewohner seines armseligen möblierten Zimmers stiehlt ihm aus Rache, weil er ihm kein Geld leihen wollte, einen Umschlag mit Dokumenten. Die waren auf wohlwollendes Betreiben von Grazetta professionell gefälscht und hätten ihm bei seiner Suche nach Arbeit und Wohnung sehr nützlich sein können. Was Arthur auch anpackt, es geht schief, dabei ist er sich sicher, «dass ich ein nützlicher Mensch bin», was er Börd so auch aufs Band spricht. Ihm fehlt der familiäre Rückhalt, die Mutter ist voll eingespannt bei ihrem sozialen Aufstieg aus dem Prekariat, sie kann und will sich nicht um ihn kümmern.

Der Plot ist mit vielen zeitlich ungeordneten Sprüngen vom kitschigen Ende im Jahre 2011 bis zurück zu Arthurs Geburt 1988 alles andere als leicht lesbar. Er ist aber auch oft schwer nachvollziehbar, sei es in Szenen wie der brutalen Gewaltorgie im Knast, Arthurs technisch fragwürdigem Phishing-Fischzug oder der völlig unmotivierten Boots-Episode. Völlig deplaziert ist schließlich auch die Figur der Grazetta, und die Schilderung einer zu vermietenden Messi-Wohnung ist wohl kaum als Satire gemeint. Als was aber dann? Buchpreiswürdig jedenfalls ist dieser Roman keinesfalls!

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Zsolnay Wien

Annette, ein Heldinnenepos

Annette, ein HeldinneneposAnne Weber trifft Annette Beaumanoir als über 90-Jährige und bewundert in ihr die Heldin, ausgehend von deren Erzählungen als Kämpferin für Gerechtigkeit. „Sie glaubt nicht an Gott, aber er an sie. Falls es ihn gibt, so hat er sie gemacht.“ Heißt es schon im ersten Absatz, der in der Sprache von Heldenepen beginnt.

Das Buch ist mitreißend, nicht nur ich habe es erstmal von Anfang an verschlungen. Mich interessierte vor allem die Innensicht auf Frankreich während der Mitte des letzten Jahrhunderts.

Annette verbringt ihre Kindheit als Einzelkind, sehr geliebt, in einem kleinen Ort in der Bretagne. Die großen Klassenunterschiede der Zeit gibt es auch in ihrer kleinen Familie, bei den beiden Omas: Die eine reich und hartherzig, sie enterbt Annettes Vater, weil er sich für ihre Mutter, die Tochter der armen Mémère entschieden hat. Dann geht es weiter, wie man es schon oft gelesen hat: in ihrer Jugendzeit besetzen die Nazis das Land und sie schließt sich der Résistance an. Sie rettet untergetauchte jüdische Bürger, verfasst Flugblätter gegen die Besatzer. „Sowieso sehnt sie sich nach ernsthafteren Taten und hat längst begonnen, in Richtung PC zu schielen. Der ist weder der personel computer noch die political correctness, die er heute meint, sondern eine Partei, die seit September 39 verboten ist.“

Zu dieser Zeit in ihrem Leben komme ich in dieser Rezension am Schluss noch einmal, in den Vordergrund wollte ich aber das stellen, was so neu und „noch nie zu lesen“ war, jedenfalls für mich, die einmal ein Kind der deutsch-französischen Freundschaft war: Der Algerienkrieg, der übrigens erst seit 1998 als solcher in Frankreich genannt werden darf, zuerst waren es „Ereignisse“, die Mitte der Fünfziger Jahre beginnen.

Annette ist inzwischen arriviert: Sie hat ihr Medizinstudium abgeschlossen, ja, das hat sie zwischendurch auch immer betrieben, ist mit einem „Genossen“ verheiratet, der auch Arzt ist und lebt in Marseille, als angesehene Neurowissenschaftlerin. Zwei Söhne sind auch da. Die Ausdehnung der „Ereignisse“ bringen ihr ein neues Leben, das ohne ihre Geschichte als Widerständlerin nicht denkbar wäre: Sie unterstützt die Befreiungsfront Algeriens.

Die Lage ist aus heutiger Sicht kaum vorstellbar: Algerien besteht aus drei französischen Departements, allerdings sind die einheimischen Einwohner nicht mit Bürgerrechten versehen. De Gaulle sagt in einer Ansprache zu den Berbern, die über neunzig Prozent der Bevölkerung ausmachen, „Je vous ai compris“, nur um 2 Tage später von der „Algérie francaise“ zu sprechen. Als Unterstützerin der FNL, der Befreiungsfront, sammelt wie vorerst nur Geld und leistet (wie zur Zeit der deutschen Besatzung) Kurierdienste.

Die Lage spitzt sich zu, sie wird verraten, auf der Nationalstraße 7 inhaftiert. Hier nimmt uns die Autorin auf einen kleinen Ausflug in das alte Frankreich mit, in einem Chanson von Charles Trenet, über die „Nationale Sept“. Sie lässt die Straße weiter, nach Süden, gehen, wo sie im Süden Frankreichs (!) in der algerischen Wüste endet. Dort, in Tamarasset, wo die Regierung Anfang der sechziger Jahre einen Atomtest durchführt mit dem zynischen Namen „gerboise bleue“ (blaue Wüstenspringmaus.) Blau ist die Wüstenmaus mitnichten; es sind die dort lebenden Tuaregs, von denen Unzählige ungezählt sterben. Die Bombe hatte viermal die Kraft von „little boy“, der Bombe von Hiroshima.

Im Gefängnis wird sie mit algerischen Widerständlerinnen zusammengesperrt, lernt eine andere Kultur kennen, die anderen Freiheitskämpferinnen sind nicht nur sozialistisch, sondern auch muslimisch geprägt. Sie wird als Terroristin zu zehn Jahren Haft verurteilt. Aber sie ist schwanger, darf außerhalb des Gefängnisses gebären, wonach sie flieht und erst in der tunesischen Exilregierung, später dann nach der Befreiung Algeriens auch Mitglied der sozialistischen Regierung wird.

Hier werden nun immer wieder Überlegungen und Überzeugungen von Annette beschrieben, sie hat ein feines Gespür für Unstimmigkeiten, so spürt sie den Verräter sehr früh, aber sie unterdrückt diese Gedanken immer wieder erfolgreich. Sie möchte Heldin werden, wird aber, weil sie eine Frau ist, nur mit zuarbeitenden Aufgaben betraut. Die kommunistische Partei bietet ihr, zu ihrer Empörung, an, Frauenzeitschriften zu gestalten. Und sie sieht, dass nicht nur die Franzosen foltern, wie die Deutschen, sondern auch die FNL.

Die Erinnerungen an die frühe Jugend, das Erwachsenwerden stehen bei der Autorin im Vordergrund. Schon da lässt sie Annette erleben, wie Menschen sich verändern, wenn die politische Situation es möglich macht.

Es geht um Roland, ihren Anleiter bei der kommunistischen Partei, ein geflitzter Jude; sie verlieben sich. An seinem Beispiel sei beschrieben, wie Anne Weber Geschichte aufarbeitet und Helden Gerechtigkeit gewährt. Robert wird von den deutschen Besetzern verhaftet, flieht, wird von einem Hirten dabei beobachtet. Dieser informiert eine Gruppe französischer Bauern, die ihn und seine zwei Gefährten lynchen, erschießen und in einem See begraben. Dort wird er noch 1944, als die Deutschen geflohen sind, ausgegraben und in einem Friedhof umgebettet. 1949 dann findet er seine letzte „Unruhestätte“ auf dem Militärkarree des Friedhofs von Saint-Ouen.

„Das Veteranenministerium ernennt ihn nachträglich zum Hauptmann, und zwar zu einem, der fürs Vaterland gestorben ist, wobei es zu vergessen scheint, dass bis dahin ein gelber Stern der einzige Orden war, den er von seinem Vaterland bekam, dass dieses Vaterland ihm alle Rechte nahm, ihn jahrelang verfolgte mit dem Ziel, ihn in ein Transitlager zu verfrachten und ihn dann mit der vaterländischen Bahn nach Osten in den Tod zu schicken.“ Die Mörder werden später verhaftet und bestraft. Aber durch Anne Weber wird auch er, posthum, zum Helden.

Zurück zu Annette, sie wollte Heldin sein und hat ihr Leben diesem Wunsch geweiht. Nach der Lektüre dieses Buches frage ich mich als Kind einer postheroischen Gesellschaft: Und was ist mit den Kindern? Mit Myriam, die sie unmittelbar nach der Geburt verlassen musste, um der Haftstrafe zu entgehen, was sagen die anderen dazu? Brauchen wir Frauen als Heldinnen?


Genre: Belletristik
Illustrated by Matthes & Seitz

Mission Pflaumenbaum

Reise zu den Wutbürgern

«Mission Pflaumenbaum», der für den Deutschen Buchpreis nominierte Roman von Jens Wonneberger, liefert dreißig Jahre nach der ‹Wende› eine schonungslose Bestandsaufnahme dessen, was politisch als ‹Blühende Landschaften› prognostiziert worden war. Geschildert wird in einer kammerspielartigen Inszenierung eine ganz andere Realität, die von Verlusten gekennzeichnet ist, von Entfremdung und von Hilflosigkeit. Ein Stimmungsbarometer ostdeutscher Befindlichkeiten also, hier erzählt als Wochenendbesuch eines Vaters bei seiner Tochter in einem sächsischen Dorf. Eine ländliche Idylle, in die sich die kinderlose Dreißigjährige mit ihrem in der IT-Branche beschäftigten Mann auf ihrer Stadtflucht erst vor wenigen Wochen zurückgezogen hat.

Kramer, ihr Vater, überzeugter Großstadtmensch und Bibliothekar von Beruf, ein großer Skeptiker, nicht nur was die Wiedervereinigung anbelangt, ist mit dem Bus angereist. Er wird gleich beim Weg von der Haltestelle zum Haus seiner Tochter von einem ebenso leutseligen wie verbitterten Kauz namens Rottmann angesprochen. Der macht aus seinem Herzen keine Mördergrube, redselig überschüttet er Kramer geradezu mit seinen pessimistischen Ansichten über sein Dorf und dessen Bewohner. «Es wird gemeckert und lamentiert, und jeder weiß sowieso alles besser, aber ich fürchte, irgendwann wird ihnen dieses Meckern und Motzen nicht mehr reichen, und dann wird’s hier gewaltig krachen» lautet seine düstere Vorahnung. Der zeitlich auf zwei Tage begrenzte Plot besteht im Wesentlichen aus Gesprächen, die auf Spaziergängen durchs Dorf und bei nicht immer zufälligen Begegnungen zwischen den beiden Männern geführt werden. Jeder im Dorf kennt den von niemandem wirklich ernst genommenen Schwätzer, der wie die trojanische Kassandra für die Zukunft immer nur schwarz sieht. Rottmanns grenzenloses Mitteilungsbedürfnis bekommt damit für Kramer zunehmend etwas ziemlich Beklemmendes.

Immer mehr erfährt er von den alten Zeiten, als im Dorf noch eine Gurtweberei existierte, in der fast alle Bewohner gearbeitet haben. Die aber wurde nach dem Krieg enteignet, nach der Wende von der Treuhand als unrentabel billig verscherbelt und bald darauf platt gemacht, sogar die Fabrikgebäude wurden abgerissen. Auch die ehemalige Villa des Fabrikanten wurde nach dem Krieg lange Zeit zweckentfremdet und war dann dem Verfall preisgegeben, ehe sich schließlich ein Wessi fand, der sie aus dem Dornröschenschlaf erweckt und zu seinem pompösen Landsitz ausgebaut hat. Verwaist ist auch der Dorfkrug, einst gesellschaftlicher Mittelpunkt der Gemeinde, und es gibt auch keinen Friedhof mehr. Die Toten aber seien doch, klagt Rottmann, die Seele einer dörflichen Gemeinschaft, man müsse sie besuchen können an ihren Gräbern, sonst sei das Dorf auch tot. Als örtliches Faktotum ist er ehrenamtlich für die schäbige Kirche zuständig, er scheint von allen alles zu wissen. In seiner nicht abreißenden Suada beklagt dieser unverbesserliche Wutbürger, dass schon bald «Fremde» in die verfallene Waldsiedlung einquartiert würden, Hottentotten nennt er sie, und wie zur Mahnung sieht Kramer im Vorgarten eines Hauses prompt die Reichskriegsflagge fröhlich flattern.

«Eher Sprachverdichtung, das sehr knappe Erzählen» spiele für ihn eine Rolle beim Schreiben, hat Jens Wonneberger im Interview erklärt. Und so lebt auch dieser schmale Band weitgehend von der Sprache, es passiert nichts wirklich Erzählenswertes auf dieser Reise ins rätselhafte Unterbewusstsein dauerbeleidigter, sächsischer Provinzler. Der Plot fungiert nur als Gerüst für lange Gespräche, mit denen hier en passant die schwierige Thematik ostdeutscher Lebenswirklichkeit verdeutlicht wird. Wobei diese Dialoge überzeugend und unaufgeregt beschreiben, was wirklich schwer zu begreifen ist nach dreißig Jahren. Vielleicht hilft dieser sprachlich exzellente, angenehm zu lesende, stille Roman mit seiner Reise zu den Wutbürgern ja auch, einen Autor zu entdecken, der noch wenig bekannt ist.

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Müry Salzmann

Johnny Ohneland

Ein Narrativ als Selbstgespräch

Nach zehn Jahren hat Judith Zander mit «Johnny Ohneland» kürzlich ihren zweiten Roman veröffentlicht, ein Werk, das in vielerlei Hinsicht überrascht. Da ist zunächst der Vorname im Titel, der sich als angenommener Name eines Mädchens mit dem schönen Namen Joana erweist, der Nachname Ohneland spielt auf den unglücklichen Bruder von Richard Löwenherz an. Das Mädel hat schon früh ihre Weiblichkeit durch diesen Vornamen zu verdrängen versucht, für alle ist sie nur noch Johnny, es geht folglich um die Gender-Problematik als zentralem Thema. Ungewöhnlich ist neben dem, ‹was› erzählt wird, aber auch, ‹wie› erzählt wird, denn die Geschichte ist bis auf wenige Seiten am Schluss komplett in Du-Form erzählt. Johnny spricht also im Präteritum zu sich selbst, in einem endlosen inneren Monolog. An diesen zunächst irritierenden Erzählstil gewöhnt man sich allmählich als Leser, was aber nicht darüber hinweghilft, dass die auf diese Art entstehenden, komplizierten und zuweilen stilblütenverdächtigen Satzgebilde den Lesefluss oft erheblich stören. Weiter im Du-Ton:

Von früh an, schon im Kindergarten, führst du ein Außenseiter-Dasein. Du bist extrem introvertiert, zudem äußerst kontaktscheu und folglich immer allein, sieht man mal von deinem zwei Jahre jüngeren Bruder Charlie ab, mit dem du dich meistens gut verstehst. Ihr werdet oft für Zwillinge gehalten, so sehr gleicht ihr euch äußerlich, besonders seit du deine Haare jungenhaft kurz geschnitten hast und dir nur noch knabenhafte Klamotten anziehst. In diesem typischen Entwicklungsroman bist du ein unangepasstes Mädchen auf der Suche nach deinem wahren Ich, deine Lieblingsbeschäftigung ist Nachdenken, hast du erkannt. Du kommst aus einer namenlosen Kleinstadt in MeckPom, dein Vater ist Bäcker, deine Mutter arbeitet in einem Blumenladen, eine bildungsferne Herkunft mithin. Orte der Handlung sind neben der pommerschen Provinz auch Finnland, wo du in Helsinki studiert hast, außerdem Australien, dort hast du nach dem Studium deinen ersten Arbeitsplatz am Goethe-Institut von Sydney gefunden. Vom Kindergarten angefangen über Grundschule, Gymnasium und Studium ist dein Leben von den Schwierigkeiten deiner Selbstfindung bestimmt gewesen, geradezu analytisch schilderst du als Protagonistin dein Seelenleben in allen Details. Eine Zäsur stellte dabei das plötzliche Verschwinden deiner Mutter dar, die der Familie in einen Zettel auf dem Küchentisch lapidar mitgeteilt hat, dass sie ein neues Leben ohne euch begonnen habe, sie würde nie mehr zurückkommen, und ihr sollt nicht nachforschen.

Nach deiner Entjungferung, durch ein maskulines Wesen immerhin, wirst du geradezu magisch zum eigenen Geschlecht hingezogen, mehr als Herumknutschen findet dabei aber nie statt. Zwischendurch hast du dann sogar noch den einen oder anderen Lover, als One-Night-Stand, nie für länger. Bis du am Ende deines Australien-Aufenthalts schließlich doch noch mit einer Frau intim wirst, – was dich dann aber auch nicht recht überzeugen kann. Jedenfalls, wird dir da endlich klar, bist du ja tatsächlich bisexuell, du sitzt quasi zwischen den Stühlen!

Diese Geschichte, die eher einer Meditation gleicht, ist mit Intertextualität üppig angereichert, im Anhang sind fast hundert Quellen benannt. Außerdem finden sich unzählige Redensarten, Sprüche, Zitate und Songtexte, viele auf Englisch. In klugen Selbstreflexionen werden metaphernreich Johnnys Seelenleben, ihre genderspezifischen Probleme und manch anderes Ungemach in der Welt beleuchtet. Beste, aber leider einzige amüsante Episode ist ein Discobesuch, bei dem der DJ gnadenlos die Tanzfläche leer fegt, indem er plötzlich, zur Ankurbelung des Getränkekonsums, nur noch öde Schnulzen auflegt. Zweifellos ist die Sprache das erfreulichste Merkmal dieses Narrativs, ein wortmächtiger, sehr spezifischer Stil. Dabei wird allerdings selbstverliebt oft weit über das Ziel hinausgeschossen, was den Text gewaltig aufbläht, weniger wäre hier mehr gewesen!

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by dtv München

Melancholie

Melancholie. „Nullum magnum ingenium sine mixtura dementiae (Kein großes Genie ohne eine Mischung von Irrsinn)“, wie schon der griechische Philosoph Aristoteles wusste. Ein wohl ebenso gewaltiges wie „irrsinniges“ Werk hat der 1952 in Debrecen (Ungarn) geborene Kunsttheoretiker, Literaturwissenschaftler und Essayist in den Achtzigern des 20. Jahrhunderts zur Melancholie vorgelegt.

Kulturgeschichte einer “Krankheit”

Das als Kulturgeschichte der Melancholie angelegte Werk aus dem Jahre 1984 (Original „Melankólia“) resp. 1988 bei Matthes & Seitz strotzt vor brillanten Ideen und Formulierungen sowie literarischen, ästhetischen und historischen Einsichten zur „Gemütskrankheit“ Melancholie. Denn Földényi beschreibt die Melancholie auch als Energie­ und Kreativitätsquelle, die trotz ihre schlechten Rufs auch in der Lage ist, uns in Bewegung zu setzen, wenn wir es nur zuließen. Schon in seinem Vorwort lässt der Autor klar erkennen, worin die eigentliche Melancholie besteht und dass sie uns alle betrifft: „Die Wörter, sie sagen weniger als wir durch sie auszudrücken wünschen- sie leiten uns fehl, entführen unsere Gedanken ihrem eigentlichen Ziel (…)“. Unsere Wörter drücken eben nicht nur das aus, was wir mitzuteilen wünschen und das allein genügte schon, einen denkenden und sensiblen als den wir uns wohl alle betrachten möchten, in die entsprechende Gemütslage zu bringen. Aber je stärker die Angst und der Wahnsinn beim Melancholiker überhandnehmen, umso mehr würden sich bei ihm auch Klarsicht und Urteilsvermögen verstärken. Der Melancholiker ist also auch ein: …Seher!

Das Wissen der Ausgestoßenen

Schon Hippokrates habe von den Melancholikern als aus sich selbst Heraustretende und sich in Ekstase Befindlichen gesprochen. Die Nähe zum Wahrsager und Wahnsinnigen im Griechischen weist Földényi auch etymologisch nach: „Der Wahrsager (μάντης) ist nicht nur etymologisch, sondern auch schicksalsmäßig ein Verwandter des Wahnsinngen (μανιακός), der wiederum ein Zwilling des Melancholikers (μελαγχολία) ist.“ Schon ,  Hölderlin fluchte in seinem Empedokles, dass gerade die Melancholiker ob ihres Wissens „von der Welt der Übrigen“ ausgeschlossen seien: „Oh ewiges Geheimnis! Was wir sind und suchen, können wir nicht finden; was wir finden, sind wir nicht.“ Sie seien einfach nicht fähig, zu leben wie die anderen, aber ihre Einsamkeit sei keineswegs die eines Romantikers, so Földényi. Ausgerechnet die Melancholiker seien jahrtausendelang zu Wahrsagern gemacht worden, eben weil sie über ein höheres Wissen verfügten, da sie isoliert und einsam lebten. Vor diesen Eingeweihten würde Leben und Tod nicht aufeinander folgen, sondern sich im Augenblick vereinen. (Bei Empedokles sind die zwei wichtigsten Triebfedern des Seins die Liebe und der Streit, also Vereinigung und Trennung.) Eben deswegen erzeuge das Wissen der Wahrsager, Wahnsinnigen und Philosophen Melancholie, weil es den Menschen an den Punkt “des letztendlichen Unwissens, der ihm entzogenen Geheimnisse” führe. Die unter dem Saturn (Melancholiker) geborenen könnten auch in der Nacht sehen und diese verlöre so ihren Schrecken. Die antike Nacht strahlte eben heller, während die christliche vor Dunkelheit starrte.

Melancholie: Mann der Extreme

Rotwein, Rufus von Ephesos, die vier Temperamente, Kierkegaards Verdauungsproblem des Melancholikers sind nur ein paar Tags, die sich hier hinzufügen ließen. Mehr aber noch die außerordentlich handlichen Zitate: “Der Melancholiker möchte sich selbst genügen, er möchte durch sich selbst die Vollkommenheit erreichen.” Oder: “Melancholie…das Vorrecht des Hofnarren.” Aber auch: “Der Melancholiker ist ein Mann der Extreme und wird aus allen Richtungen von Gefahren bedroht. Seine Fähigkeiten reichen bis zu den Grenzen es menschlichen Seins und wie der Planet Saturnus kann auch der Melancholiker verkünden: Nach mir folgt entweder des Nichts oder Gott.”

László F. Földényi zählt nicht nur zu den bedeutendsten ungarischen Intellektuellen und leitet als Professor den Lehrstuhl für Kunsttheorie an der Akademie für Theater und Film, Budapest. Zudem ist er Herausgeber der gesammelten Werke von Heinrich von Kleist in ungarischer Sprache und u.a. Friedrich-Gundolf-Preisträger. Seit 2009 ist er auch Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Für sein Werk „Lob der Melancholie. Rätselhafte Botschaften“ wurde er 2020 mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung ausgezeichnet.

László F. Földényi

Melancholie

Übersetzung: Nora Tahy, Gerd Bergfleth

2020, 438 Seiten, Broschur

ISBN: 978-3-95757-926-3

Preis: 15,00 €

Matthes & Seitz Berlin


Genre: Abendland, Antike, Kulturgeschichte, Moderne, Philosophie

Batman: Die Rückkehr des dunklen Ritters

Batman: Die Rückkehr des dunklen Ritters. Für Sammler und Neuleser wurde die bahnbrechende und richtungsweisende Neuinterpretation des Batman-Epos von Frank Miller “Die Rückkehr des Dunklen Ritters“ als 4-Ausgaben-Edition im europäischen Alben-Format (XL-Hardcover-Format) neu aufgelegt. Die sog. Mutanten terrorisieren ein Gotham der Zukunft in der Batman schon über 50 Jahre alt ist und es dennoch noch einmal wissen will: von Mann zu Mann.

Batman mit 50

„Das sollte wehtun. Alle Muskeln sollten Schmerzen, mich an jeder Bewegung hindern. Und wäre ich älter, dann würden sie das auch… Aber ich bin wieder dreißig… Nein, zwanzig! Der Regen ist wie eine Taufe. Meine Wiedergeburt…“. Denn obwohl ihn seine ausgezeichnete Ausrüstung eigentlich schützen würde, bevorzugt der Batman des 21. Jahrhunderts den Zweikampf gegen den Anführer der Mutanten, den er mit seinem Panzer einfach plattwalzen hätte können. Aber Batman wird ja nicht umsonst „Ritter“ genannt: er hat immer noch einen Ehrenkodex, der ihm verbietet absichtlich zu töten. Die Graphik, die Frank Miller und Klaus Janson dabei anwenden ist genauso neuartig wie die Geschichte, die sie erzählen. Da gibt es großformatige Bilder mit Inserts, aber auch eine aufgereihte Panelserie, die chronologisch durchläuft und den Takt der neuen Zeit misst. Denn Batman ist kein Jungspunt mehr, sondern ein Mann der Maß nimmt. Und das genau!

Alle gegen einen

Die neue Ästhetik, die Frank Miller dem dunklen Ritter 1986 verpasste, revolutionierte das Genre und verpasste auch alten Schurken wie Joker und Two-Face einen gelungenen Neuauftritt. Aber auch der dunkle Ritter, Batman, bekommt unerwartete Unterstützung von einem weiblichen Robin (Carrie Kelley), der ihm als guten Beginn einer Freundschaft erstmal das Leben rettet. Auch die Medien spielen in Millers Batman-Version eine gewichtige Rolle, denn die sensationslüsterne Presse macht aus dem dunklen Ritter einen Vigilanten, der psychisch ebenso gestört sei, wie seine Widersacher. Dazu werden sog. Experten interviewt, die immer wieder mit ihren Kommentaren in das Geschehen eingreifen. Neben Psychologen spielt auch Ellen Yindel, die neue Commissioner von Gotham, eine wichtige Rolle, die verspricht, allen Kriminellen das Handwerk zu legen und als erste Amtshandlung einen Haftbefehl gegen den dunklen Ritter zu erlassen.

Die Teile 1-3 der Neuauflage sind bereits erschienen. Band 4 ist bereits in Vorbereitung.

Frank Miller, Klaus Janson

Batman

Die Rückkehr des Dunklen Ritters 1-4. Alben-Edition

(Storys: Batman: The Dark Knight Returns 1)

2020, Hardcover, 60 Seiten

ISBN: 9783741620430

13,00 €

Panini Verlag

 

 


Genre: Comic, Graphic Novel
Illustrated by Panini Comics

Manara: Caravaggio’s Schatten

Fast drei Jahre mussten die Milo Manara Fans auf die Fortsetzung der Werkausgabe beim Panini Verlag warten. Band 18 Caravaggio beinhaltet die beiden Geschichten „Mit  Pinsel und Schwert“ und „Gnade“, beide in Farbe und mit einem Glossar im Anhang versehen. Als Einleitung zu den beiden Stories hat Milo Manara zwei Briefe an Caravaggio verfasst, mit dem er nicht wohl nur die Initialen gemeinsam hat.

 

Manara: Huren als Heilige

Michelangelo Merisi, nach seinem Herkunftsort Caravaggio genannt, hatte schon zu Lebzeiten viele Bewunderer und auch Neider. Durch seine hohe Begabung, sein malerisches Talent, fand er aber auch immer wieder Schutz, denn er musste mehrmals in seinem Leben fliehen. „Mit Pinsel und Schwert“ beginnt im Spätsommer 1592, als Caravaggio nach Rom zieht und sich vom Hilfsmaler bald zum Malerstar hocharbeitet. Seine Modelle sucht er sich oft in den verrufenen Gegenden, etwa den Ortacci, einem abgesperrten Gebiet zwischen der Piazza del Popolo und dem Tiber wo auf Erlass Papst Pius V. die Prostitution legal war. So war das Modell für seine Maria eine Hure, keine Heilige und das grenzte damals quasi an Häresie. Aber Caravaggio trieb sich auch gerne in Wirtshäusern herum, wo es des Öfteren zu Raufhändeln kam. „Hüte dich vor der Sonne“, prophezeit ihm in einer solchen Spelunke eine Zigeunerin, „denn die Sonne wird dich töten“.

 

Ein Maler des Volkes

Caravaggio, der bekannter weise am liebsten im Dunkeln malte, sah das Licht auch hinter den Schatten, denn gerade das Schwarz war seine Kunst. Ihm blieb nichts verborgen, das wusste wohl auch Kardinal Francesco Maria Del Monte, dessen Palast Manara auf einer Piazza prächtig abbildet. Zur selben Zeit schmachtete aber Giordano Bruno als Ketzer im Kerker und ganz allgemein sollte man sich hüten, sich mit dem Heiligen Stuhl anzulegen, wie Caravaggio bald an eigener Haut erfahren muss. Der Hinrichtung Beatrice Cenci soll er persönlich beigewohnt haben, auch sie unschuldig als Ketzerin verurteilt. Aber es war nicht Caravaggios Aufgabe die Verbrechen der Katholischen Kirche zu malen, sondern die Verheißungen des Testaments. Milo Manara begleitet Caravaggio auf der Flucht nach Neapel (L’orecchio di Dionisio) und Malta und zeigt, wie der Verfolgte auch Zuflucht fand bei jenen, die er gemalt hatte. Denn er war kein Maler der Reichen und Schönen, sondern ein Maler der Wahrheit. Ein Maler des Volkes.

Im Anhang befinden sich neben einer kompletten Auflistung aller Manara Werke beim Panini Verlag auch weitere Tuschezeichnungen, die im Rahmen des Manara Caravaggio Projektes entstanden waren. Das vorliegende Comic ist gebunden, hat einen Schutzumschlag und genügt den höchsten Ansprüchen an eine Graphic Novel, die ein Leser derselben haben kann. Mit einem Wort: ein Gedicht!

 

Milo Manara Werkausgabe 18

Caravaggio

(Originaltitel: Caravaggio: La tavolozza e la spada)

2020, Hardcover, Album, 156 Seiten

ISBN: 9783741620737

30,00 €

Panini Verlag

 

 

 

 

 


Illustrated by Panini Comics

Triceratops

Beklemmende Lektüre

Mit «Triceratops» von Stephan Roiss scheint sich eine Tradition österreichischer Psychiatrie-Romane zu verstetigen, denn prompt landete heuer auch dieses Debüt auf der Longlist des Frankfurter Buchpreises, so wie im Vorjahr schon «Vater unser» von Angela Lehner. Aber damit enden auch schon alle Gemeinsamkeiten der beiden Romane, denn was wir hier zu lesen bekommen, das ist vergleichsweise schwere Kost. Er habe fünf Jahre an seinem autobiografisch inspirierten Roman geschrieben, hat der Autor erklärt, zum einen wegen der extrem komprimierten Erzählweise, andererseits aber auch wegen der schwierig durchzuhaltenden, ungewöhnlichen Wir-Perspektive, aus der heraus erzählt wird. Und es handelt sich beileibe nicht um den Pluralis Majestatis dabei, diese spezielle Erzählform verdeutlicht als Selbstschutz des Protagonisten vielmehr seine hoffnungslose Einsamkeit. Der titelgebende Dinosaurier wiederum, ein wehrhaftes Urzeit-Nashorn mit einem mächtigen Nackenschild und drei Hörnern, ist ein beredter Hinweis auf seine Sehnsucht nach Geborgenheit.

Erzählt wird die traumatische Geschichte eines namenlos bleibenden Jungen, der in einer psychisch gestörten Familie aufwächst. Die Mutter war schon fünfmal in der geschlossenen Psychiatrie, sie sei gemütskrank, seit sie ihren Vater aufgefunden habe, der sich in der Scheune erhängt hat. Die psychisch labile, ältere Schwester wiederum glaubt, ihre Verhaltensstörung von der Mutter geerbt zu haben. Gebetsmühlenartig wiederholt sie den Satz «Alles wird gut», der sich wie ein roter Faden durch die Geschichte zieht. Dem frömmelnden, eher weichlichen Vater gelingt es trotz aller Bemühungen nicht, Normalität herzustellen in seiner Familie, auf der ein Fluch zu liegen scheint, er flüchtet sich resigniert in den Alkohol. Und der Sohn schließlich, der in solch trostloser Umgebung aufwächst und all dem nicht gewachsen ist, weicht in die Sprachlosigkeit aus. Er bleibt meist stumm und rettet sich in Traumwelten hinein. Und zu denen gehören eben auch die Dinosaurier, um deren Stärke und Unverwundbarkeit er sie beneidet, sie sind immer wieder Motive seiner kindlichen Malereien. Trotz aller psychischen Probleme jedoch gibt es auch ein ‹normales› Familienleben, zu dem die altersbedingt zeitweise demente Großmutter beiträgt.

Sprunghaft und in kleinste Abschnitte unterteilt wird mit «Triceratops» eine bedrückende Coming-of-Age-Geschichte erzählt, die in den 1980/90er Jahren angesiedelt ist. Angefangen vom achtjährigen Schulkind bis in die späte Adoleszenz hinein reiht sich da, geradezu lakonisch, ein Erinnerungssplitter an den anderen. Das reicht vom plötzlichen Versagen in der dörflichen Schule, diversen Streichen und Missgeschicken, dem Ausbrechen auch aus familiären Pflichten bis hin zur Initiation durch ein Punk-Mädchen und dem Abtauchen in den städtischen Untergrund. Zu einer Zäsur kommt es, als die seelisch gestörte Schwester ihr wenige Monate altes Baby erstickt, weil sie ihm ein Schicksal wie das ihre nicht zumuten will.

Stephan Roiss hat mit seinem Roman nicht nur eine eindringliche Darstellung der Verzweiflung geschaffen, er hat cool und emotionslos das Psychogramm einer Familie beschrieben, mit allen ihren seelischen Vorbedingungen und Abhängigkeiten. Die seltsame Wir-Perspektive, die immer wieder die Frage aufkommen lässt, von wo aus da erzählt wird, trägt mit ihrer ungewohnten Tonalität einiges bei zur düsteren Stimmung dieser Erzählung, sie wirkt geradezu beschwörend auf den Leser ein. Erst auf der letzten Seite wechselt die Perspektive, plötzlich ist von dem ‹Jungen› die Rede, der da seine Schwester in der geschlossenen Anstalt besuchen kommt. «Ich heiße Konrad. Wie heißen Sie?» lautet der letzte Satz, mit dem ein seit Jahrzehnten weg gesperrter Insasse, den er aber schon jahrelang kennt, sich ihm vorstellt. «Triceratops» ist eine gekonnt erzählte, beklemmende Lektüre, narrativ durchaus bereichernd, aber inhaltlich völlig inkonsistent, und recht unerfreulich obendrein!

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Kremayr und Scheriau

Ein Tag wird kommen

Mit persönlichem Bonus

«Ein Tag wird kommen», der erste auf Deutsch erschienene Roman der jungen italienischen Schriftstellerin Giulia Caminito, ist von der eigenen Familiengeschichte inspiriert. Ihr Urgroßvater war Anarchist und liefert damit die Vorlage für einen der beiden Protagonisten dieses politisch geprägten Romans. Den religiösen Widerpart dazu bildet als ebenfalls historische Figur die aus dem Sudan verschleppte Zeinab Alif, sie hatte als Nonne den Namen Maria Giuseppina Benvenuti angenommen, das Volk nannte sie nur La Moretta. Die Erzählung mit dem neugierig machenden Titel ist in der italienischen Region ‹Marken› angesiedelt und schildert das Leben der vom Unglück verfolgten Familie des Bäckers Luigi Ceresa in der kleinen Ortschaft Serra de’ Conti. Den historischen Hintergrund bilden Anfang des 20ten Jahrhunderts Ereignisse wie der Erste Weltkrieg, die anarchistische Bewegung von Errico Malatesta und das Aufkeimen des Faschismus unter Mussolini.

Ein Roman über zwei ungleiche Männer, zum einen der kämpferische Anarchist Lupo, dem die Autorin allegorisch gleich zu Beginn den auf dem Titel abgebildeten Wolf zugesellt. Der von ihm verletzt aufgefundene und großgezogene Welpe wird, symbolisch leider deutlich überzogen, ‹Cane› genannt, künftig sein treuer Begleiter. Zweiter Protagonist ist sein schwächlicher und ängstlicher Bruder Nicola, der zum Arbeiten absolut nicht taugt. Die ungleichen Brüder lieben sich inniglich, sie bilden ein unzertrennliches Paar mit dem Kraftprotz Lupo als unermüdlichem Beschützer, der seinerseits von der Bildung des introvertierten jüngeren Bruders profitiert. Im Prolog legt Nicola das Gewehr auf Lupo an und schießt, ein gekonnt Spannung erzeugender Beginn, dem allerdings eine anfangs ziemlich verwirrende Geschichte folgt, die erst ab der zweiten Buchhälfte geläufiger lesbar wird. In getrennten Handlungsfäden wird, mit diversen Rückblenden und Vorgriffen, die Geschichte der Familie Ceresa erzählt, die in ärmlichsten Verhältnissen lebt. Nach vielen Totgeburten sind dann auch noch zwei ihrer überlebenden fünf Kinder früh gestorben, außer den beiden Söhnen gibt es nur noch die rebellische Nella, die aber als junges Mädchen ins örtliche Kloster gehen musste. Hinter all dem verbirgt sich, das wird dem Leser schon bald klar, ein düsteres Familiengeheimnis, auf das ja schon der Buchtitel hindeutet.

In dieser elegischen Geschichte der Hungerleider geht es sehr rau zu, alle fristen ihr karges Dasein in dem zutiefst ungerechten Halbpächter-System Italiens. Der Widerstand gegen dieses verhasste Relikt aus feudalen Zeiten eskaliert in der «Settimana Rossa», den Unruhen und Streiks in Ancona im Juni 1914, an denen auch Lupo in vorderster Front beteiligt ist. Sein Bruder Nicola wird als 1899-Geborener blutjung in den sinnlosen Krieg geschickt, dessen Grauen die Autorin eindrucksvoll schildert. Ebenso eindrücklich sind die Beschreibungen des Klarissinnen-Klosters, in dem die unglückliche Nella wie eine Gefangene lebt. La Moretta hat dort als Äbtissin unerbittlich ein strenges Reglement etabliert, zu dem besonders das unbedingte Schweigegelübde gehört, aber auch die ausnahmslose Klausur. Was der Krieg nicht geschafft hat, das vollendet die Spanische Grippe, die weite Teile der Bevölkerung dahinrafft und ganze Landstriche entvölkert, weitaus schlimmer als das, was wir zur Zeit mit Corona erleben.

Diese in dreizehn Kapitel sowie Prolog und Epilog gegliederte Geschichte wird in einer dem freudlosen Geschehen angepassten, schlichten Sprache erzählt, wobei die verwendeten Metaphern manchmal alles andere als überzeugend sind. Vom Plot her reizvoll ist der gut herausgearbeitete Gegensatz zwischen politischer Anarchie und naivster Religiosität. Der Roman erscheint thematisch jedoch ziemlich überfrachtet, Giulia Caminito hat sich regelrecht verzettelt mit ihrem multi-thematischen Sujet. Wer lange in den ‹Marken› gelebt hat wie ich, wird ihr das aber, als persönlicher Bonus quasi, gerne nachsehen.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Wagenbach

LTB Kochbuch – Einfach lecker! 15 Comics und Rezepte

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London, 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts: “Die kulinarische Weltreise” – in 6 Teilen – wird für Onkel Dagobert alias Lord Dagobert D. Duckby (Besitzer des Lokals “Die goldene Gans”) und Franz Gans alias Fancois Gourmet (Pariser Koch der “Goldenen Gans”) nicht nur zu einem Abenteuer, sondern auch zu einem kulinarischen Highlight. Zu verdanken haben sie diese Weltreise der Wette mit Klaas Klever alias John K. Klever (Besitzer des Restaurants “Neue Gabel”, Konkurrenz der “Goldenen Gans”). Duckby verspricht, in einem Monat alle Kontinente zu besuchen und von dort je ein landestypisches Rezept mitzubringen. Diese sollen in Duckbys Restaurant nach Ablauf der Reise serviert werden. Werden die beiden es schaffen oder bringen die Schwierigkeiten der Reise sie zu Fall?

Ein “Umwerfender Geschmack” verursacht bei Gundel Gaukley einen Ohnmachtsanfall.

Einen “Kochkurs im Chateau Baguette” soll Mickey nach Wunsch seiner herzallerliebsten Minnie absolvieren, damit ihr Verlobter die Feinheiten der gehobenen Küche kennen und schätzen lernt. Allerdings artet der Kochkurs in detektivische Detailarbeit aus, als eine mysteriöse Gestalt des Nachts im Chateau herumschleicht.

Diese deutschen Erstveröffentlichungen und 7 weitere schon in LTBs veröffentlichte Geschichten verbinden einen spannenden und lustigen Inhalt mit einem schmackhaften Rezept. Natürlich spart auch dieses LTB nicht mit Anspielungen z.B. auf Weltliteratur wie z.B. “In 80 Tagen um die Welt” oder musikalische Größen wie die Rolling Stones. Die Anspielungen in dem LTB machen sie nicht nur für Kinder, sondern auch für erwachsene Fans spannend.

Ebenfalls interessant ist auch die letzte Geschichte des Buches “Zu gut getarnt”, in der die Panzerknacker zur Tarnung eine Straßenküche aufmachen, um die gegenüberliegende Bank auszuspionieren. Daraus entwickelt sich ein florierendes, legales Geschäft. Eine scheinbare Nebensache kann also zur Glück (und Geld) bringenden Hauptsache werden, wenn man es denn zulässt.

Aber auch “Die wichtigste Zutat” vermittelt eine Botschaft: Nicht sterile, komplizierte und hochstylische Küche ist bei den Menschen gefragt, sondern mit Liebe Gekochtes und Gebackenes, mit dem man gute Erinnerungen verknüpft.

“Mit allen Tricks” zeigt, dass gute Küche nicht zum (nachbarschaftlichen) unguten Wettkampf ausarten, sondern tatsächlich Menschen miteinander verbinden sollte.

“Am Anfang war der Mais” erzählt, wie eine Stadt dank eines Lebensmittels floriert. Das spielt auf andere Städte wie z.B. das rheinland-pfälzische Schifferstadt mit seinen Rettichen (und der dazugehörigen Rettichkönigin) an, vermittelt aber v.a. den Wert von Lebensmitteln und propagiert den ganzheitlichen Zugang zu solchen, um sie wertschätzen zu können. Sie erinnert aber auch an die alte Praxis, Nahrung (Samen u.Ä.) für schlechte Zeiten aufzubewahren, und  an die weltweit einzige Sauerteigbibliothek.

Neben all diesen genussfreudigen Geschichten hat die Redaktion aber auch gute, schmackhafte und größtenteils leicht zuzubereitende Rezepte zu den Geschichten ausgesucht, die v.a. vegetarisch sind. Süßspeisen dürfen neben all dem Gesunden aber auch sein. Mein Sohn und ich haben die meisten der Rezepte schon nachgekocht und finden sie sehr schmackhaft. Für meinen Sohn, der von jeher kein besonders guter Esser war, bedeuteten diese Rezepte aber auch, dass sie mit seinen Liebelingsfiguren verknüpft sind, was das Essen für ihn besonders interessant macht.

Damit erfüllen die Geschichten und Rezepte eine sehr wichtige Funktion: Sie führen Kinder an gesunde Nahrung heran und begeistern sie für diese – auch solche wie meinen Sohn, die für Essen normalerweise nicht viel übrig haben.

Fazit: Die gelungene Verbindung von spannenden Geschichten rund ums (v.a. gesunde) Essen und dazugehörigen schmackhaften und meist leicht nachzukochenden Rezepten liefern nicht nur Lese- sondern auch Gaumengenuss für die ganze Familie und einen schönen Zugang zum Umgang mit Lebensmitteln. Die Idee ist zwar für das LTB nicht neu, darf aber ruhig aufgrund der guten Eigenschaften zum Klassiker ausgebaut werden.

 


Genre: Comic
Illustrated by Egmont Ehapa