Die Tschechow-Leserin

Traumverlorene Selbstreflexion

Der Titel des Debütromans der italienischen Literatur-Wissenschaftlerin Giulia Corsalini lässt aufhorchen, «Die Tschechow-Leserin» dürfte zumindest die an gehobener Literatur interessierten Leser neugierig machen. Die vierzigjährige Ich-Erzählerin und Protagonistin Nina stammt aus Kiew. Sie hat einen Ruf als Spezialistin für Tschechow, lebt aber mangels beruflicher Chancen mit ihrem pflegebedürftigen Mann und der achtzehnjährigen Tochter Katja in prekären Verhältnissen. Um ihre finanzielle Lage zu verbessern und vor allem der Tochter ein Medizinstudium zu ermöglichen, verlässt sie die Ukraine und nimmt in Italien eine Stelle als Pflegerin bei einer alten Dame an.

Die gleichförmige, wenig erfreuliche Arbeit und ihre Einsamkeit in der Universitätsstadt Macerata weckt in ihr wieder die Leidenschaft für Literatur, die lange Zeit unter dem Druck der widrigen Lebensumstände verdrängt war. Sie sucht in ihrer freien Zeit die Universitäts-Bibliothek auf, beginnt sich wieder intensiv mit Tschechow zu befassen und lernt im Institut für Slawistik den Professor De Felice kennen. Der bietet ihr schon bald einen befristeten Lehrauftrag an, den sie neben ihrem Putzfrauenjob in einem Supermarkt ausüben kann. Mit den Studenten untersucht sie in ihren Vorlesungen den Einfluss Tschechows auf die italienische Erzähl-Literatur und erfüllt zur Zufriedenheit aller die Erwartungen an ihre Dozentur. Ihre Beziehung zu dem zwanzig Jahre älteren Russisch-Professor bleibt, obwohl sie sich auch privat etwas näher kommen, rein intellektueller Natur, man zollt sich gegenseitig höchsten Respekt, auch wenn es manchmal scheint, als wäre da mehr. Als sie die Nachricht erhält, dass es ihrem Mann deutlich schlechter geht, beschließt sie, endgültig nach Kiew zurückzukehren. Dabei vertraut sie dem Freund ihrer Tochter, der Arzt ist, dass mit einem schnellen Ableben aber nicht zu rechnen sei, und schiebt ihre Abreise um zwei Wochen hinaus. Ihr Mann stirbt jedoch überraschend schon drei Tage später, sie ist also nicht mehr rechtzeitig an sein Sterbebett gekommen, was ihr die Tochter sehr übel nimmt.

Im zweiten Teil des Romans erzählt die Autorin, dass Nina in Kiew geblieben ist, dort eine Stelle am Institut für russische Sprache und Kultur angenommen und sich allmählich auch mit ihrer Tochter ausgesöhnt hat, die inzwischen selbst Mutter geworden ist. Acht Jahre nach ihrer überstürzten Abreise erhält sie aus Macerata die Einladung, auf einer dreitägigen Tschechow-Konferenz den Einführungs-Vortrag zu halten. Innerlich zerrissen widmet Nina sich dort aber einer ukrainischen Pflegekraft, die junge Frau ist im Umgang mit den Behörden völlig hilflos. Die Veranstaltung endet im Fiasko, sie lässt sich bei der Konferenz nicht blicken. Im Epilog wird geschildert, wie sie ein halbes Jahr später die Tochter besucht und die Nachricht erhält, dass De Felice gestorben ist. «Ich war eine leidenschaftliche Tschechow-Leserin: Es ist, als hätte ich dies alles schon immer vorausgeahnt», heißt es am Schluss.

Neben dem Thema Migration, welches im zweiten Teil einen breiten Raum einnimmt und ja auch die Protagonistin selbst betrifft, steht in diesem distanziert erzählten Roman aber vor allem Ninas innere Abkehr von ihrem ursprünglichen Leben im Blickpunkt. Ihr entgleiten die Dinge, sie tut nicht das, was sie eigentlich tun wollte und befindet sich am Ende in einer seelischen Vorhölle. Ein schicksalhafter Auflösungs-Prozess, aus dem es kein Entkommen zu geben scheint. Es ist die permanente Selbstreflexion, die hier im Blickpunkt steht, als Romanfigur bleibt Nina auffallend blass, ihre Gefühle sind kaum zu entschlüsseln. Über allem liegt stilistisch die für Tschechow typische, traumverlorene Melancholie, und wie dieser belässt auch Giulia Corsalini vieles im Ungefähren und verzichtet auf psychologische Deutungen. Unpassend jedoch ist leider der Schluss des Romans, bei dem alle Dissonanzen zwischen Mutter und Tochter kurzerhand weggebügelt werden.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by nonsolo.Verlag

Zukunftsmusik

Aus der Kommunalka

Als Roman einer Zeitenwende beschreibt «Zukunftsmusik» von Katerina Poladjan den Beginn einer neuen Ära in Russland, die sich in diesem Fall ungewöhnlich exakt auf ein genaues Datum fixieren lässt, den 11. März 1985. Aber ebenso exakt lässt sich mit dem Überfall Russlands auf die Ukraine der Tag für das Ende dieser Ära benennen, der 24. Februar 2022. Natürlich konnten die Menschen im Roman nicht ahnen, was sich mit der Wahl von Michail Gorbatschow zum ZK-Generalsekretär für sie verbessern würde, sie haben es allenfalls gespürt. So wie wir Heutigen noch nicht ahnen, was Putins Wahn letztendlich bedeutet.

Handlungsort ist eine unbenannte Stadt tausend Werst östlich von Moskau, wo sich in einer aus unterschiedlichsten Mitgliedern bestehenden, WG-ähnlichen Kommunalka mit sechs Mietparteien die Protagonisten des Romans eine Wohnung teilen. Da leben in einem der Zimmer auf engstem Raum Großmutter Warwara, pensionierte Hebamme, die aushilfsweise noch in der Klinik arbeitet und an diesem Tag einem Kind auf die Welt hilft. Mutter Maria arbeitet als Aufseherin im Museum und ist in Matwej verliebt. Ihre Tochter Janka schließlich arbeitet in Nachtschicht in der Glühlampenfabrik und will am Abend in der Küche ein Kwartirnik veranstalten, ein zur Umgehung der Zensur von jungen Leuten einfach in den Privathaushalt verlegtes Konzert. Der Ingenieur Matwej von nebenan hat einen schlechten Tag, denn einer der Probanden bei den von ihm betreuten Versuchen zur Aufhebung der Schwerkraft stirbt. Er hat die Marotte, alles aus seinem Leben in kleinen Kästchen aufzubewahren, deren Inhalte er geradezu zwanghaft ständig umsortiert. Der hoch angesehene alte Professor ist selten zu sehen, bei der Feier zu dessen letztem Geburtstag nutzte Ippolit, Schaffner bei der Eisenbahn, die Gelegenheit und flüsterte Warwara zu, «er sei schon lange hinter ihr her, ihre Verbindung sei durch die Vorsehung bestimmt, und nun sei es an der Zeit, sich dem Schicksal zu ergeben. Warwara ließ ihn wissen, sie werde über sein Ansinnen nachdenken und ihn bezüglich ihrer Entscheidung in Kenntnis setzen». Sie hat ihn erhört!

Bezeichnend für die Verhältnisse ist eine Szene, in der sich Maria an diesem 11. März spontan in einer Schlange mit anstellt, die bis weit auf die Straße hinaus reicht. «Was glauben Sie, was uns erwartet»? fragt sie den Mann vor ihr. «Am Anfang dieser Schlange erwarten uns feine, rosa glänzende Krakauer Würstchen, und wenn wir Pech haben, erwartet uns das Nichts. Und bis wir an der Reihe sind, ist uns die Möglichkeit gegeben zu überlegen, ob wir das, wofür wir anstehen, überhaupt brauchen». Zwischen Resignation und Aufbruch in bessere Zeiten strahlen die Figuren des Romans eine innere Unruhe aus, die sich bereits von der Gegenwart gelöst zu haben scheint und einem Gefühl Platz gibt, das vielleicht ja doch alles besser werden könnte. Wobei die Befreiung aus den beengten Wohnverhältnissen auf ihrer Prioritätenliste ganz oben steht.

Der für den Leipziger Buchpreis nominierte Roman enthält viele Anspielungen auf die russische Literatur, wobei besonders Zitate von Tschechow teils wörtlich übernommen werden. Deutliche Bezüge gibt es aber auch auf Bulgakow, dessen ins Surreale weisender Stil sich bei Katarina Poladjan in ihrem ins Fantastische übergehenden Schluss wiederfindet. Da öffnet sich der Flur plötzlich ins Freie, ohne das sich jemand daran stört. In der kleinen Küche tummeln sich unglaublich viele Leute, obwohl Janka selbst gar nicht auftritt. In Anspielung auf den «Kirschgarten» werden jede Menge kleine Bäumchen aus der Küche durch den Flur getragen, Menschen steigen aus dem Fenster und fliegen davon. Auffallend ist auch die Diskrepanz zwischen den geschliffenen Dialogen aller Bewohner, man siezt sich natürlich, und dem eher proletarisch anmutenden Leben in der beengten Wohnung. Dieser im Stil des Magischen Realismus ohne Larmoyanz geschriebene Roman aus einer Kommunalka ist eine bereichernde, aber auch amüsante Lektüre.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Fischer Verlag

The Scumbag – Kokainfinger

The Scumbag – ein Antiheld wie deadpool

The Scumbag. “Frische Helden braucht das Land!” Jedoch ist Ernie Ray Clementine weder noch ganz “frisch” noch ein Held. In den Siebzigern hängengeblieben, ist Ernie ein abgehalfterter Biker, der seine Jugend im im Nebel von Sex, Drugs and Rock’n’Roll verlebt hat. Doch dann erhält Ernie durch Zufall Superkräfte und plötzlich reißt sich die halbe Welt um ihn. Oder eher die Halbwelt?

Mit Formula Maxima vom Looser zum Winner

“Scumbag” könnte man sowohl mit Drecksack als auch Abschaum übersetzen. Fans von Deadpool und Wanted werden auch mit dem selbstsüchtigen Junkie mit Superkräften, der als Spion die Welt retten soll ihren Spaß haben. Im Auftakt zur neuen Historie von Bestsellerautor Rick Remender (DEADLY CLASS, UNCANNY AVENGERS) geht es um nicht weniger als die Rettung der Welt. Aber nicht vor Bösewichten, sondern vor solchen “Relikten einer anderen Zeit” wie Ernie. Sein Dealer Spanish Larry ist sein bester Freund, was nur beweist, dass er keine Freunde hat. Bei einem Zweikampf zwischen zwei Superschurken, greift sich ausgerechnet Ernie die Spritze mit der Formula Maxima und kommt so unverhofft zu Superkräften. Er wird nun von einer extraterrestrischen Polizistin für “Vater Zeit” gehalten, der allerdings längst das Zeitliche gesegnet hat. Erstere arbeitet dann doch für die hiesige Regierung und verspricht ihm einen vollen Drogenkoffer wenn er von nun an kooperiert. Was könnte Ernie mehr überzeugen? Schließlich lautet sein Codename nicht umsonst “Scumbag”. Da passt der General für der amerikanischen Flagge mit dem Skorpion-Emblem ganz gut, denn auch Scumbag trägt einen Scorpions-Schriftzug auf seiner Jeansjacke. Der General wettert bei seiner Ansprache gegen PC und Cancel-Culture und den Untergang der weißen Kultur in Amerika, während Scumbag auf den Auftritt einer seiner Lieblingsbands wartet. Aber die spielen nicht.

Scumbag: Kooperation für Korruption

Aber die Regierung scheut keine Mühen Ernie auf ihre Seite zu bringen: ein flugfähiger 1978er Thunderbird mit Mach4 Antrieb, eine Sexdoll als Pilotin sowie ein Handschuhfach vollgepackt mit Sachen zum Dröhnen überzeugen den abgehalfterten Biker dann doch sehr schnell. Die Zeichnungen sind der Zeit in der sie spielen angepasst, will heißen: ganz schön bunt und psychodelisch. Wenn sich Ernie Ray Clementine nicht schon als Jugendlicher das Hirn so zugedröhnt hätte, wäre er vielleicht doch ein Megaspion geworden. Aber so fehlt ihm doch etwas die Richtung, gut dass er bei seinem ersten Abenteuer eine attraktive Pilotin mit K.I. hat, so kann sie das Denken für ihn übernehmen. Sollte etwas schief gehen, gibt es immer noch das Handschuhfach…

Ein überraschendes Debüt eines Anti-Helden, wie ihn die Comic-Welt wohl noch nie gesehen hat. Sieht man von Deadpool und Wanted einmal ab. Die Biker-Klamotten Ernies sind auf jeden Fall ausstellungswürdig und gehören zu Recht ins Museum. Oder in einen Comicserien wie diese, die vermag, auch eine Looser wie Scumbag von seiner besten Seite zu zeigen!

Rick Remender
The Scumbag – Kokainfinger
Zeichner: Andrew Robinson, Darick Robertson, Lewis Larosa, u.a.
Original Storys: The Scumbag Vol. 1: Cocainefinger
2022, Softcover, Genre: Science-Fiction, 156 Seiten
ISBN: 9783741627828
18,00 €
Panini


Genre: Comic
Illustrated by Panini Comics

Manifesto. Warum ich niemals aufgebe.

Bernhardine Evaristo hat 60 Jahre an sich gearbeitet, um eine erfolgreiche Autorin zu werden. Zuvor hatte ich das Buch Mädchen, Frau, etc. gelesen, das 2019 den Booker Preis gewonnen hat. Ihren Weg beschreibt sie ehrlich und mit Humor. Sie nennt ihre Selbstreflexionen „ein Memoir und eine Meditation.“

Das Buch ist in sechs Kapitel eingeteilt, deren Zahl in allen Sprachen angegeben werden, die mit ihrer Herkunft zu tun haben. Dazu mehr am Schluss, wenn es um die Übersetzung geht. Für dieses Manifest, es werden anderthalb Seiten am Ende des Buches, hat sie viel recherchiert, angefangen mit ihren Vorfahren: Die Mutter war der Stolz der Familie, die erste Akademikerin, mit englischen, irischen und auch deutschen Wurzeln. Und so wird es für die Großmutter eine Enttäuschung, als sie ihre Liebe, einen nigerianischen Einwanderer, heiratet. Bernhardine wird das vierte von acht Kindern.

Die Nachbarn im armen Süden Londons werfen Scheiben ein, oder legen tote Ratten vor die Tür. Der Vater, sie nennt ihn Yorubakrieger, geht dagegen vor, verklagt Angreifer, als Betriebsrat tritt er auch für Gerechtigkeit Anderer ein. Zu Hause ist er sehr streng, die Wärme und Geborgenheit, die die Mutter schafft, wird durch seine Anwesenheit nur gestört.  Die Mutter ist streng katholisch, Bernhardine beobachtet schon als Kind, wie Priester von der Gemeinde, die Mutter einbegriffen, verherrlicht werden, obwohl sie von denen als „Schokos“ abgewertet werden.

Sie beschreibt sich selbst als Schulkind, erst in einer katholischen Grundschule, kommentiert Zeugnisse, die ihr ausgestellt wurden. In der Mittelschule lernt sie noch Handarbeiten und ist stolz, darin nie gut gewesen zu sein. Als Schwester hat sie die jüngere, mit der sie das Zimmer teilte, dominiert. Als Teenager wollte sie so schnell wie möglich die Familie verlassen. Sie taucht in das aufregende Leben in London ein, das Anderssein wird ihre Rolle.

Sie sucht Beziehungen zu anderen Frauen, sie nennt es ihr „lesbisches Zeitalter“, macht One-Night-Stands, bis sie dauerhafte Beziehungen sucht und findet. Später beschreibt sie, wie sie unter DDD, das steht für die durchgeknallte Domina, leidet. Hier macht es Spaß, die Vorbilder für den Roman zu erkennen.

Sie verbringt viel Zeit in Theatergruppen, initiiert solche, später konzentriert sie sich auf das Schreiben, über Jahre nimmt sie Kurse, Lyrik wird ihr Ding und sie gründet Gruppierungen, mit denen der Nachwuchs gefördert wird, zunehmend für People of Color.

In Kapitel fünf: Lyrik, Roman, Versroman, Fusion Fiction sehen wir, wie sie systematisch die Entwicklung ihrer Stärken betrieben hat, wie sie nach Scheitern immer weiterarbeitet, manches fünfmal umschrieb, bis es zu dem wurde, was sie vorhatte. „Wer Geschichten erzählt, muss alle inneren und äußeren Hürden überwinden und der Hingabe an Ehrgeiz, harte Arbeit, Handwerk, Originalität und Unaufhaltsamkeit immer den Vorrang geben.“

Besonders originell fand ich die Phase, als sie ihr lesbisches Zeitalter beenden wollte, und detailliert beschreibt, was sie am Outfit ändern musste, um auf Männer zu wirken. Es half: Seit einigen Jahren lebt sie mit David, dem Großen, zusammen, wie er in der Danksagung genannt wird.

Ein wichtiger Aspekt ist ihr der Platz, den wir in der Ahnenreihe einnehmen. So endet das Manifest mit folgenden Absätzen:

„Was wir wissen, müssen wir an die nächste Generation weitergeben und denen, die uns helfen, müssen wir unseren Dank aussprechen — kein Mensch kommt je allein ans Ziel.

Und hinter uns schwanken schweigend die Ahnen, die toten ‚Seelen der Verblichenen, die der Grund dafür sind, dass es uns gibt — an sie müssen wir immer denken.“

Sie tut es auch, in dem jedes Kapitel in allen Sprachen nummeriert wird, die von ihren Ahnen gesprochen worden waren. Ich habe das Buch auf Englisch gelesen. Die Übersetzung war stimmig. Leider hat die Übersetzerin in der deutschen Fassung die Nummerierungen in Deutsch weggelassen. Ob das im Sinne von Bernhardine ist?


Genre: Gesellschaft, Multikulti, Rassismus
Illustrated by Tropen Verlag

Moon Knight: Mitternachtssonne

Moon Knight Collection von Charlie Huston

Moon Knight: Mitternachtssonne. Die komplette Serie in einem Band trägt auch den irreführenden Titel “Moon Knight Collection von Charlie Huston”. Tatsächlich handelt es sich aber um eine knallharte Saga des Roman- und TV-Autors Charlie Huston (WOLVERINE, Joe Pitt, Powers) und Zeichner-Superstar David Finch (AVENGERS: HELDENFALL, BATMAN) in einem Band.

Khonsu, Gott der Rache

Die vorliegende Geschichte entstand parallel zum Marvel-Event Civil War. Damals standen sich als Wortführer Iron Man und Captain America gegenüber und spalteten die Superheldengemeinde in Registrierungs(un)willige. Das Debüt hatte der düstere Moon Knight schon 1975 im Comic “Werewolf by Night 32” von Doug Moench und Don Perlin. Moon Knight bekam bald eine eigene Serie und stritt an der Seite der kalifornischen West Coast Avengers mit Hawkeye für das Gute in der Welt. Dabei ist Marc Spector nicht wirklich ein “guter” Superheld, denn er leidet unter Persönlichkeitsspaltung und Wahnsinn. Das mag damit zusammenhängen, dass der Söldner Marc vor einer altägyptischen Statue des Mondgottes Khonshu starb und als dessen Avatar wiederkehrte. Einmal war Marc der wohlhabende Steven Grant, ein andermal ein Taxifahrer namens Jake Lockley und lieferte sich Fights mit seinen einstigen Kameraden vom Komitee, Midnight und Bushmaster. Aber Moon Knight hat auch Freunde, z.B. Jean-Paul “Frenchie” Duchamp, seine große Liebe Marlene Alraune, sein obdachloser Informant Bertrand Crawley, sein Butler Samuels und der Diner-Besitzer Gena Landers.

Über 30: die Hölle!

Oh es tut so weh. Jedes Jahr über Dreißig ist die Hölle.” In den ersten Kapiteln der vorliegenden Mega-Saga (356 Seiten!) sieht Marc Spector noch seinem Kumpel Bertrand Crawley, dem Obdachlosen, ähnlich. Denn er ist nicht nur unrasiert, langhaarig und im Rollstuhl, sondern auch gebrochen und von seinem Gott und seinen Freunden verlassen. Moon Knight am Ende? Mitnichten. Denn das Artwork von Superstar David Finch alleine ist schon alleine so beeindruckend, dass sich spätestens bei der in Pink getauchten Kussszene mit Marlene das Herz auftut. Die Anspielung auf permanenten Sex (“Ich tu es immer wieder“) zeigt elegant, dass auch Superhelden Gefühle haben. Aber leider möchte der “lunare Legionär” unbedingt ein Held sein und das gestaltet sich mitunter schwierig. “Er ist kein Söldner und Mörder. ER ist ein reicher Menschenfreund. Arbeiter. Mann des Volkes. Held.”, meint zumindest sein alter ego. Und zudem Sohn eines Rabbis, der ägyptische Gottheit verkörpert. Khunshu.

Moon Knight: Mitternachtssonne

Nichts bleibt geheim. Alles ist sichtbar. Was wir sein können. Was wir sind. Es ist alles da. Wenn man die Zeichen lesen kann.” Ein prächtiges Abenteuer mit beeindruckenden, düsteren Zeichnungen, die selbst einen Batman blaß aussehen lassen würden. Gastauftritte von Spiderman und Punisher inklusive.

Charlie Huston/David Finch
Moon Knight: Mitternachtssonne
Original Storys: Moon Knight (2006) 1-13
2022, Hardcover, 356 Seiten
ISBN: 9783741626296
Panini
42,00 €


Genre: Comics, Graphic Novel, Marvel
Illustrated by Panini Comics

Rombo

Eine Geschichte, die partout keine sein will

Der das Thema des neuen Romans von Esther Kinsky bereits andeutende Titel «Rombo» steht im Italienischen mythisch für das dumpfe, mehr spür- als hörbare Grollen aus der Tiefe, welches heftigen Erdbeben vorauszugehen scheint. Es geht hier um die verheerenden Erdbeben, die am 6. Mai 1976 im Bereich des Monte San Simeone im Friaul begannen und denen im September gleichen Jahres weitere schwere Erdbeben folgten. Bis zum Herbst jenes Jahres zerstörten die gewaltigen Erschütterungen zehntausende Häuser und forderten fast tausend Tote. Wie schon in «Hain», ihrem letzten Roman, dienen auch hier ausufernde Beschreibungen von Natur und Landschaft als stimmungsmäßige Grundierung für das eigentliche Thema. Es geht um das menschliche Trauma bleibender Erinnerungen an zerstörerische Naturgewalten, das in Worte zu fassen nicht so einfach ist. Ähnlich traumatische Erfahrungen von 9/11, nicht weniger schrecklich, zeugen davon.

Jedes der sieben Abschnitte des Romans wird durch ein kurzes Zitat aus verschiedenen wissenschaftlichen Werken zur Geognosie eingeleitet, wie die Lehre von Aufbau und Struktur der Erdkruste im neunzehnten Jahrhundert noch hieß. Ebenso fachkundigen Ehrgeiz verwendet die Autorin auf ihre eigenen, minutiösen Schilderungen der zerklüfteten Landschaft des betroffenen Gebietes. Mit großer sprachlicher Präzision beschreibt sie die Eigenarten von Flora und Fauna der rauen Bergregion mit ihren oft extremen Wetterlagen. Die krempeln im Verein mit den häufigen Erdbeben die geologischen Verhältnisse manchmal derart um, dass quasi neues Gelände entsteht. Meist durch Felsstürze oder plötzliche Schneeschmelze verursacht, werden unversehens Flüsse und Bäche in ein entferntes Bett umgelenkt. Oder durch Fels und Geröll verursachte Aufstauungen lassen an anderer Stelle neue Tümpel und Teiche entstehen. – und nichts ist mehr, wie es mal war.

Wenn es im Roman heißt, «die Erinnerungen, das sind wir selbst», dann ist das ein Hinweis auf die sieben Dorfbewohner, die zum Teil als Ich-Erzähler in meist kurzen Erinnerungs-Schnipseln über sich selbst und ihre persönlichen Lebensumstände, vor allem aber über ihre Beobachtungen und Erlebnisse vor, beim und nach dem Erdbeben berichten. Allesamt Einwohner des armseligen Bergdorfes Venzone, das sich mangels Arbeitsplätzen zusehends entvölkert und immer mehr ins Abseits gedrängt wird. «Die Erinnerung ist ein Tier, das aus vielen Mäulern bellt», merkt der alte Anselmo zum Thema an. Esther Kinsky verwendet ihre fiktiven Protokolle nicht dokumentarisch, sondern schiebt sie in scheinbar bunter Folge in ihre thematisch nur bruchstückhaft zusammen gefügten Natur-Betrachtungen ein. Angereichert wird dieses Pendeln zwischen den Erzähl-Gegenständen durch immer wieder mal eingeschobene Mythen wie die von «Rombo», dem seismischen Unglücksboten. Es gibt aber auch Legenden und Sagen, wie sie zum Beispiel im Lied von der «Riba Faronika», dem pharaonischen Fisch, in der Region weiterleben als eigenständige Schöpfungs-Geschichte.

Mit ihrem verstörenden Mix aus Natur, Trauma und Mythen stellt die Autorin dem äußeren Chaos ein poetologisches gegenüber, eines der Sphären und Wörter, wohl um das Unfassbare sichtbar zu machen. Insoweit kann man ihren artifiziellen Roman als metaphorisch angelegten Versuch über das Erinnern lesen. Und natürlich steckt darin auch die alte Frage der Theodizee, wie kann Gott das zulassen? Durch ihre peniblen Natur-Beschreibungen festigt sie zunehmend den Eindruck, dass aber alles richtig ist, wie es ist. All diesen vielen geologischen und biologischen Exkursen, den Berichten ihrer blutleer bleibenden Figuren, den knappen, auktorialen Ergänzungen über Land und Leute fehlt jedoch ein narrativer Überbau, der die nicht weniger als 142 disparaten Textblöcke zu einer als Roman überzeugenden Prosa mit erkennbar rotem Faden zusammen bindet. Denn so bleibt kaum was haften nach der Lektüre einer Geschichte, die nun mal partout keine sein will.

Fazit: miserabel

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Genre: Roman
Illustrated by Suhrkamp Berlin

Serge

Schade eigentlich

Wen wundert’s, dass auch «Serge», Yasmina Rezas neuer Roman, eher wie ein Drama in Prosaform wirkt. Er lebt sprachlich von seinen funkelnden Dialogen, mit denen die französische Schriftstellerin in ihren Theaterstücken ja ebenfalls brilliert. Hier nun kreuzen die Mitglieder einer jüdischen Familie verbal die Klingen. Der titelgebende Sohn Serge ist ein nichtsnutziger Aufschneider, der von seinem jüngeren Bruder Jean, dem Ich-Erzähler, maßlos bewundert wird. Jean selbst ist ein unscheinbarer Typ ohne Charisma, ein Leisetreter, der im Hintergrund bleibt und außer seiner Funktion als Protokollant auch kaum in das Geschehen hineinwirkt. Nana, die von allen geliebte Tochter der Poppers, hat einen nach Ansicht der Familie unpassenden Mann geheiratet. Sie ist aber im Beziehungs-Chaos der diversen anderen Familien-Mitglieder als einzige wirklich glücklich. Die nicht praktizierende jüdische Familie ist innerlich gespalten durch den Antisemitismus-Vorwurf, den der verstorbene Vater regelmäßig in die Debatte warf, wenn es um Israel und seine Politik ging. Wer diesen Staat kritisiert, ist gegen die Juden, so seine felsenfeste Überzeugung!

Das verkrachte Genie Serge, ein unsympathischer Kotzbrocken, ist als Sechzigjähriger auf der ganzen Linie gescheitert. Seine ominösen Geschäfte als Berater sind nur noch reine Luftnummern, die er sich aber unverdrossen schönredet, auch wenn er finanziell völlig am Ende ist. Seine Ehen sind ebenfalls gescheitert, um seine Kinder kümmert er sich kaum, sie leben bei den Müttern, Auch seine Beziehungen halten nicht lange, er vermasselt es jedes Mal. Als plötzlich auch die achtzigjährige Mutter stirbt, stellen die Geschwister fest, dass sie von ihren Vorfahren und deren Schicksal so gut wie nichts wissen, zum Fragen ist es nun aber zu spät. Auf Vorschlag der Tochter von Serge starten sie zu einem gemeinsamen Besuch nach Auschwitz. Wie zu erwarten ist auch hier Serge der Störenfried, er weigert sich, die wichtigen Stationen der Gedenkstätte zu betreten, zeigt keinerlei Interesse an dem, wovon doch auch seine eigene Familie betroffen war. Jean protokolliert, ebenfalls wenig beeindruckt, das abstoßende touristische Umfeld. Erstaunt stellt er fest, er habe noch nie eine so mit Blumen herausgeputzte Stadt wie Auschwitz gesehen. Was als Versuch gedacht war, das nach dem Tod der Mutter auseinander zu brechen drohende Familiengefüge zu erhalten, erweist sich als Illusion. «Nach unserer Rückkehr aus Auschwitz haben Nana und Serge übereinstimmend und ohne Absprache beschlossen, nie wieder miteinander zu reden».

Das zentrale Thema der Erinnerung wird hier weitgehend im Desaster einer tragikkomischen Reise behandelt, wobei die eigentlichen Motive der Suche nach familiären Spuren und nach Wahrheit völlig in den Hintergrund geraten. Mit ihrer genauen Beobachtungsgabe und der ungenierten Art, Figuren sezierend kühl zu beschreiben, gleichzeitig aber auch noch warmherzig auf sie zu blicken, bewirkt die Autorin eine zuweilen unfreiwillig komisch wirkende, sprachliche Ambivalenz. Und auch der aus diesem Blickwinkel beschriebene Auschwitz-Besuch erscheint als kühnes Unterfangen und wirft die drängende Frage nach einem angemessenen Umgang mit der unsäglichen historischen Vergangenheit auf.

Hervorzuheben sind die brillanten, oft sarkastischen und zuweilen sogar witzigen Dialoge in diesem Roman. Misslungen ist zweifellos die von Anfang an fragwürdige, nebulöse Erzählerfigur des Jean, der im Text eher selten auftritt und mangels klarem eigenen Profil kaum erkennbar ist. Wenn er als Ich-Erzähler dann aber zuweilen auch noch in die Position eines auktorialen Erzählers rückt, weil er Dinge und Vorgänge beschreibt, die er als Akteur gar nicht wissen kann, ist man als Leser vollends irritiert. Dieser illusionslose Roman, der ohne Moralisieren ein schwieriges Thema behandelt, liefert weder neue Erkenntnisse, noch ist er, abgesehen von den Dialogen, besonders unterhaltsam. Schade eigentlich!

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Hanser Verlag München

Das hochsensible Kind

Abbildung von Aron | Das hochsensible Kind | 1. Auflage | 2008 | beck-shop.deHochsensitivität/Hochsensibilität – eine Bereicherung für die Gesellschaft

Im vorliegenden Buch behandelt Elaine N. Aron, Pionierin auf diesem Gebiet, das Thema Hochsensitivität/Hochsensibilität bei Kindern. Sie selbst ist ebenfalls hochsensibel und hat einen hochsensiblen Sohn. Das merkt man dem Buch an, denn die Autorin und Psychologin kann in ihre Erfahrungsschatzkiste greifen, Situationen realistisch darstellen, das Thema wissenschaftlich einordnen und Tipps geben, um hochsensible Kinder angemessen zu erziehen. Tipps gibt es reichlich, denn ihr ist es wichtig, dass die Vorzüge der Hochsensitivität/Hochsensibilität als das gewürdigt werden, was sie sind: eine Bereicherung der Gesellschaft und auch eine Bereicherung für den hochsensiblen Menschen (HSM) selbst. Natürlich hat dieser Wesenszug – und Aron betont, dass es einer ist und eben keine Krankheit! – seine Nachteile, die sie weder verschweigt, noch übermäßig auswalzt. Sie kennt die Nachteile und geht nicht nur in diesem Buch pragmatisch mit ihnen um.

Anbei einige Zitate aus dem Buch, um zu verstehen, wie HSM und HSK (hochsensible Kinder) ticken:

„Wie in diesem Buch erläutert, haben HSK die angeborene, im Nervensystem verankerte Disposition, selbst die unterschwelligen Aspekte einer Situation wahrzunehmen und diese Informationen auf einer tiefen Ebene zu verarbeiten, bevor sie eine Entscheidung treffen oder handeln. Infolgedessen sind HSK in der Regel hochgradig reflektierend, intuitiv und kreativ (fähig zu vernetztem Denken), gewissenhaft, um Fairness bemüht und empathisch. Sie haben ein ausgeprägtes Gespür für subtile Veränderungen, Details oder den „fehlenden Baustein“ in einem Mosaik. Diese temperamentbedingte Disposition bewirkt, dass sie sich leichter überfordert und verletzt fühlen, sowohl physisch als auch emotional; sie tau­en langsamer auf, finden schwerer Anschluss und sind im Unterricht bisweilen still und wortkarg.“

»Sensibel« heißt in diesem Fall nicht, dass jemand freundlich, empathisch, künstlerisch veranlagt oder besonders feinfühlig ist. Natürlich finden wir diese Qualitäten gern bei hochsensiblen Menschen, zumindest, wenn sie sich von ihrer besten Seite zeigen. Hinzu kommen Züge wie Gewissenhaftigkeit, eine Neigung zur Spiritualität, eine gute Intuition und viele andere Tugenden. Aber hochsensible Menschen haben auf derlei Eigenschaften kein Monopol, und wenn sie sich überfordert fühlen, dann sucht man diese Eigenschaften oft vergebens bei ihnen. Hochsensibilität ist ein neutraler Wesenszug, der sich am besten als eine von zwei grundlegenden Überlebensstrategien beschreiben lässt: die erste, die Hochsensibilität, impliziert, dass man beobachtet und überlegt, bevor man handelt; bei der zweiten Variante handelt man schnell und lässt es dafür auf mehrere Versuche ankommen. Es ist unschwer zu erkennen, dass jede dieser Strategien in einigen Situationen er­folgreich ist, in anderen nicht.“

An Lehrer*innen gewandt: „Helfen Sie Eltern und Kollegen zu erkennen, dass die genetisch bedingte Disposition von HSK nicht verändert werden kann, völlig normal ist (dieses Merkmal findet man in jeder Spezies, in prozentual gleicher Ausprägung) und ihre Vor- und Nachteile hat, je nach Situation. […] Verbessern Sie, was möglich ist, denn HSK dienen als „Frühwarnsystem“ und machen auf Missstände aufmerksam, die alle Schüler bis zu einem gewissen Grad beeinträchtigen.“

Hochsensibilität hat also nach Aron viel zu viele positive Seiten, um vorweg verurteilend als Defizit eingestuft zu werden. Wie oben erwähnt geht sie darauf ein, dass nicht nur Menschen hochsensibel sein können. Auch Tiere sind es und diese durch alle Gattungen hinweg mit einem Anteil von bis zu 20%. Aron weist darauf hin, dass hochsensible Menschen und Tiere entscheidend zum Überleben einer Gruppe beitragen – sie sind aufgrund ihres bis in alle Bereiche/Sinne gehende feine Gespür das Frühwarnsystem der Gruppe und überleben eher als solche, die es nicht haben. Hochsensible besitzen auch einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn, Empathie, sind gute Zuhörer*innen, hochgradig (selbst-)reflektiert, intelligent und damit wie geschaffen für alle Berufe, in denen es um das Wohl der Gemeinschaft geht und um Systemen, die von Grund auf falsch sind, auf die Spur zu kommen, deren Schwächen zu beleuchten und ihnen entgegenzusteuern. So verwundert es nicht, dass HSM oftmals beratende Funktionen innehaben, Lehr- oder psychologische Berufe ausüben, da sie hochreflektiert und feinfühlig sind. Auch Künstler*innen sind oftmals hochsensibel, da Hochsensibilität einen Reichtum an Kreativität und eine kritische Innenschau mit sich bringt.

HSK bringen von Natur aus diese Eigenschaften ebenfalls mit und sind von Baby an hochsensibel. Deshalb reagieren sie etwas anders als normalsensible Kinder auf ihre Umwelt. Wenn Eltern wissen, wie HSK ticken, können sie besser auf sie eingehen – und genau das ist das Herzensanliegen von Aron, die nicht mit wissenschaftlichen Erkenntnissen und alltäglichen Situationen spart, um den Leser*innen die Hochsensibilität bei Kindern nahezubringen. Das tut sie sehr detailliert, was sehr hilfreich ist. Die Art und Weise, wie sie schreibt, könnte zwar für Nicht-Akademiker etwas anspruchsvoller sein, trotzdem ist ihr Schreibstil noch gut verständlich.

 

Für Hochsensible eine willkommene Art der Arbeit an sich selbst, für Eltern Hochsensibler eine kompetente Anleitung

 

Für mich persönlich war die Lektüre des Buches ebenfalls hilfreich. Ich habe zwar kein hochsensibles Kind, dafür war ich aber selbst ein HSK und bin ein HSM. Ich habe mich in vielem wiedererkannt und v.a. habe ich erkannt, wie man mit mir in meiner Jugend hätte hilfreich umgehen können, es aber nicht getan hat. Leider passiert das (zu) vielen hochsensiblen Menschen, weshalb sie erst einmal ihre Kindheitslasten aufarbeiten müssen, um sich zu befreien und ein besseres Leben führen zu können. Da aber HSM Reflexion im Blut liegt, fällt es ihnen nicht so schwer wie anderen, psychologisch an sich zu arbeiten. Allerdings wissen sie auch, dass es nicht leicht werden wird. Ich ebenso, weshalb das Durcharbeiten dieses und anderer Bücher über Hochsensibilität Arbeit an sich selbst ist und dementsprechend Arbeit mit Schmerzen an der eigenen Psyche. Es kann also emotional hoch hergehen, wenn man hochsensibel ist und erkennt, was man alles in seiner Kindheit nicht hatte, was aber einem das Leben sehr erleichtert hätte, wenn man es gehabt hätte. Ich spreche da von grundlegenden Dingen wie Einfühlungsvermögen für das eigene Kind, Selbstreflexion der Eltern, Verständnis, Rückhalt geben, sich für das Kind einsetzen – das und noch mehr hat mir gefehlt, ist aber fundamental gerade für das Erziehen von HSK. Wenn ich dann noch lese, dass Hochsensible, wenn sie ein gutes Umfeld haben und liebevoll aufgewachsen sind, überproportional gesund sind und zudem mit einem gesunden Selbstbewusstsein gesegnet, das zwar die eigenen Schwächen kennt, man aber gut mit ihnen umgehen und die Stärken selbstverständlich an sich schätzen kann, kommt in mir Wut auf Eltern und Gesellschaft hoch, die Hochsensible und ihre Gaben, die eigentlich die Welt ein gutes Stück besser machen würden, so verkennen und verachten.

Am Schreibstil Arons und ihren Anmerkungen merkt man, dass sie all diese Probleme kennt und einen Weg für sich und evtl. auch andere HSM gefunden hat, dem allen mit all seinen Stärken entgegenzutreten. Und das sind bei HSM und HSK nicht wenige. Aron hilft mit ihren Büchern, so auch mit diesem Buch, die Stärken der HSM und HSK zu erkennen, diese auch zu nutzen und sich von allen Vorurteilen der Gesellschaft zu befreien und diesen entgegenzutreten. Das ist ein großer Verdienst der Pionierin auf diesem Gebiet!

Einziger Wermutstropfen: Das Buch wie auch „Sind Sie hochsensibel?“ enthält viele Tippfehler, v.a. wird häufig Sie/sie oder Ihnen/ihnen verwechselt. Das ist wirklich auffällig und lässt mich vermuten, dass das Korrektorat die Unterscheidung anscheinend nicht beherrscht. Solche Sachen lassen bei pauschaler denkenden Leser*innen Zweifel an der Kompetenz der Autorin aufkommen, da Rechtschreibung bzw. deren Mangel schnell mit Kompetenzlosigkeit in anderen Gebieten gleichgesetzt wird. Das würde aber diesem sehr guten, informativen Buch nicht gerecht. Deshalb gehört es bzgl. der Tippfehler dringend überarbeitet.

Fazit

Hochsensible werden aufgrund ihrer hohen Sensitivität und Sensibilität oft abgewertet, haben aber sehr viele Stärken, die der Gesellschaft immer wieder zugutekommen. Aron als Pionierin auf diesem Gebiet (und selbst hochsensibel) gebührt der Verdienst, dass sie auf diesen besonderen Charakterzug hinweist, ihn wissenschaftlich einordnet und deren Stärken immer wieder heraushebt. Dabei vergisst sie aber auch die Schwächen nicht und gibt Tipps, wie man damit umgehen kann. Das tut sie auch in diesem Buch für Eltern hochsensibler Kinder. Sie erklärt ausführlich diesen Charakterzug und spart nicht mit hilfreichen Tipps und anschaulichen Alltagssituationen, um Eltern und ihren Kindern das Leben zu erleichtern. Empfohlen!


Genre: Hochsensibilität, Sachbuch
Illustrated by mvg Verlag

LTB 74 Enten-Edition: Ich erfinde alles!

news ente 74

Das Für und Wider von Erfindungen

„Aller Anfang macht erfinderisch“ zeigt die Anfänge Düsentriebs in der Erfinderschule, in der er auch aus dem großen Schatten eines berühmten Vorfahren heraustreten muss. „Ein wundersames Fluid“ ist letztlich nicht so wundersam wie Dagobert Duck es gerne hätte. „Frisch aus der Pfanne“ gestaltet sich für Daniel Düsentrieb gar nicht so einfach, denn an ihm ist kein Koch verloren gegangen. Also will er einen hypermodernen Grill erfinden, der todsicher leckere Sachen grillt. Aber manchmal ist mehr nicht besser. „Der Flug des Geldes“ zeigt, dass Geld manchmal auch ungewollt Flügel bekommt. Dagobert Duck muss das schmerzhaft erfahren und Daniel Düsentrieb ist an dieser Entwicklung nicht ganz unschuldig. „Das erschöpfte Ich“ demonstriert, dass auch Genies mal eine Pause brauchen. „Eine Idee schneller“ ist Klaas Klever, als er heimlich eine Erfindung Düsentriebs stiehlt.

10 Erstveröffentlichungen von insgesamt 17 Geschichten bietet der Band rund um Daniel Düsentrieb. Das ist eine gute Ausbeute an neuen Geschichten. Mein Sohn findet die Storys „gut und witzig gestaltet“. Zur Geschichte „Genie schläft nie“ meint er, dass deutlich gemacht wird, was passiert, wenn man die ganze Zeit nur am Arbeiten ist und keine Ruhe bekommt. Meine Ergänzung: Diese Story spiegelt sehr gut den Zustand der arbeitenden Bevölkerung wider, v.a. der Familien, die durch das Wirtschaftssystem, das keine Rücksicht auf Menschen nimmt, ständig am Limit sind. Zu „Flug des Geldes“, stellt mein Sohn eine Parallele zu den alten „Ducktales“ Folge 19 („Armstrong macht’s möglich“) und Folge 12 („Die Panzerknacker“) her und sagt, dass man mit manchen Sachen vorsichtig sein muss: Erfindungen können durchaus Schaden anrichten und sich gegen einen wenden. Meine Anmerkung: Moral und Gewissen sollten bei Neuerungen in der Wissenschaft und insgesamt im Leben immer treue Begleiter*innen sein, um vernünftige Entscheidungen zu fällen.

Dass Düsentrieb zwei eigene Bände gewidmet worden sind, findet mein Sohn „cool, denn Daniel Düsentrieb leistet ja schon so einiges“. „Aller Anfang macht erfinderisch“ zeigt den Erfolgsdruck, dem man in der Wissenschaft und im Ausbildungssystem ausgesetzt ist. Dieser ist aber durchaus Feind jeder Kreativität und des Selbstwertgefühls, wie an Düsentrieb und seiner Studienzeit dargestellt wird. „Ein wundersames Fluid“ zeigt anschaulich, was passiert, wenn man nicht ausreichend getestete Dinge freigibt. Wissenschaft und Wirtschaft müssen einhergehen mit moralisch-ethischer Verantwortung. „Der Ideenstau“ demonstriert eine Kreativitätsblockade, die Fortschritt verhindert. „Das erschöpfte Ich“ hält dem Wirtschaftssystem einen Spiegel vor: Es bringt nichts, Menschen in den Burnout zu treiben. Es zeigt aber auch, dass man sich achtsam um sich selbst kümmern muss und sich auch nicht selbst ausbeuten sollte. „Genialer Praktikant“ zeigt, wie zwei Genies miteinander arbeiten, deckt aber auch die Praktiken des skrupellosen Finanz- und Wirtschaftssystems auf – die sich durchaus auch gegen sich selbst wenden können und es auch tun. Man sieht an diesen Beispielen schon, dass die wie immer humorvollen und spannenden Geschichten auch hintergründig sein und zum Nachdenken anregen können.

Insgesamt also gelungen!


Genre: Comic
Illustrated by Egmont Ehapa Media

Norman Mailer. Bert Stern. Marilyn Monroe.

Norman Mailer. Bert Stern. Marilyn Monroe.

Norman Mailer. Bert Stern. Marilyn Monroe. Sechs Wochen vor ihrem bis heute mysteriösen Selbstmord entstanden die vorliegenden Aufnahmen von Amerika’s weiblichem Sexsymbol Nr. 1. Ihr Todestag, der 5. August 1962, jährt sich dieses Jahr zum 60. Mal und so
wird die vorliegende Publikation “Norman Mailer. Bert Stern. Marilyn Monroe.” zu einem eindrucksvollen Gedenken
an eine der Ikonen des 20. Jahrhunderts. Memento mori.

Dreifach legendär:  neue Ausgabe MMs letzter Fotos

Im Bett mit MM…

Als “dreifach legendär” kann der vorliegende TASCHEN Prachtband in Hardcover und Großformat deswegen bezeichnet werden, weil
gleich drei (!) Legenden darin verwickelt sind: der Schriftsteller und Ehemann, der Fotograf und die Leinwandgöttin.
„Dieses Buch sind eigentlich zwei Bücher: eine Biografie und eine Bilder-Retrospektive über eine Schauspielerin, deren größte Liebesaffäre jene mit der Kamera war.“ schreibt Norman Mailer in seiner Biografie Marilyn von 1973. Der TASCHEN Verlag veröffentlicht seinen Originaltext mit Bert Sterns intimen Fotografien aus dem sog. “Last Sitting“, der letzten Fotosession vor ihrem Tod. Seine Marilyn ist aber nicht nur schön, sondern auch tragisch und komplex. Hollywoods größter Star brachte nicht nur die Traumfabrik zum Leuchten.

Marilyn Monroe mit 36

Das dreitägige Vogue-Shooting im Bel-Air Hotel in Los Angeles zeigte die erst 36 Jahre alte Diva als fleischgewordene Inkarnation männlicher Frauenvorstellungen. Der Text von Norman Mailer konterkariert diese Imaginationen mit Schilderungen ihrer trostlosen Kindheit und dem fassungslosen Ende unter mysteriösen Umständen. Als anspruchsvoller Autor (und Ex-Ehemann) will er aber mehr als nur eine bloße Biografie schreiben, vielmehr die “Grenzen der konventionellen Betrachtungsweise” ausloten und das Schema einer konventionellen Biographie überwinden. “Sie wurde am 1. Juni morgens um halb zehn geboren – eine leichte Geburt, die leichteste der drei Entbindungen ihrer Mutter.” Während das Datum ihrer Geburt wohl als richtig angenommen werden kann, stellt sich dennoch auch bei Mailer’s Marilyn Biografie die Frage: Was ist Dichtung, was Wahrheit?

Sex-Symbol wider Willen

Eine Marilyn? Viele!

Marilyn Monroe wurde wie kaum eine andere Geschlechtsgenossin ihrer Epoche auf ein Objekt männlicher Begierde reduziert, das “blonde Dummchen” repräsentierte lange Zeit das Idealbild der meisten Männerphantasien. Dabei gibt es auch Bilder die MM mit dem Ulysses zeigen oder Sätze von ihr wie diesen: “Ich verstehe das nicht ganz, diese Sache mit dem Sex-Symbol … das Schlimme ist, daß ein Sex-Symbol zur Sache wird. Ich will aber keine Sache sein.” Der Fotograf Bert Stern (1929–2013) gilt als einer der größten Porträtfotografen Amerikas, vor allem für Vogue schoss er in den 60er Jahren 200 Seiten pro Jahr. Seine Print-Anzeigen für Smirnoff und seine Porträtserie von Marilyn Monroe sind in die Geschichte eingegangen. Er war der einzige Fotograf den Marilyn Monroe so nahe an sich heranließ, dass er sie sogar nur durch ein weißes Leintuch getrennt fotografieren durfte.

Verführerischer denn je

Darunter war sie wohl wirklich nackt. Was heute als umprofessionell gelten würde, war damals Intimität mit einer Kamera, die wirklich das zeigte, was sie abbildete. Ohne Fotoretusche oder Fotoshop oder wie all die Programm heißen mit denen man heute eine virtuelle Realität kreiert. Der vorliegende Fotoband ist so echt und authentisch wie Fotos einer Celebrity sein können. Ein intimes Porträt, das die Magie zwischen Fotograf und Model nicht nur wiedergibt, sondern zum Leuchten bringt. Auf Bert Sterns Fotos, mit 36 Jahren, sieht MM verführerischer aus als je. Sechs Wochen später lebte sie nicht mehr. Kurzum: eine gelungene Synthese aus literarischem Klassiker und Porträtgalerie in einer wunderschönen Neuausgabe des TASCHEN-Verlages. Zudem gibt es auch eine ebenso verführerische Luxusausgabe.

Alle Fotos mit freundlicher Genehmigung des TASCHEN Verlages (Copyright)!

Norman Mailer, Bert Stern (Hg.)
Norman Mailer. Bert Stern. Marilyn Monroe.
Hardcover, 28 x 33,8 cm, 2,53 kg, 276 Seiten
ISBN 978-3-8365-9261-1 (Englisch)
TASCHEN Verlag
€ 80 | CHF 100


Genre: Biographie, Essay, Fotobuch, Fotografie
Illustrated by Taschen Köln

Eine andere Epoche

Rädchen im Getriebe

Man ist unwillkürlich an Koeppens «Treibhaus» erinnert bei dem neuen Roman von Ulf Erdmann Ziegler, der unter dem Titel «Eine andere Epoche» vom Parlamentarismus in Deutschland erzählt. Hier geht es um weniger dramatische Ereignisse als 1953, wo in Bonn die Wiederbewaffnung zur Abstimmung anstand. Handlungsort ist nun natürlich Berlin, Handlungszeit sind die Jahre 2011 bis 2014, die SPD befand sich damals in der Opposition. Eine parteinahe Politikberaterin konstatierte lapidar: «Dass die SPD überhaupt einen Kanzler-Kandidaten aufstelle, zeuge von Wunderglauben». Auch wenn viele politische Akteure mit Klarnamen benannt sind, kann man das Buch durchaus als Schlüsselroman lesen.

Wegman Frost ist Büroleiter des SPD-Bundestags-Abgeordneten Andi Nair, der schon viermal das Direktmandat für seinen Wahlkreis nahe Hannover gewonnen hat, sein alter Freund aus Jugendtagen. Zu der damaligen Clique gehörte auch Flo Jansen, der einst als Kind aus Saigon gerettet wurde, nach dem Studium bei der FDP gelandet ist und nun als Wirtschaftsminister und Vizekanzler am Kabinettstisch sitzt. Erzählt wird aus der Perspektive Wegmans, der sich scherzhaft als ‹Indianer› bezeichnet, weil er aus einer Reservation in Idaho stamme, er wurde aber in Deutschland bei Pflegeeltern aufgezogen. Die Drei haben sich in Schaumburg-Lippe kennengelernt, nahe von Gerhard Schröders Geburtsort.

In der politischen Chronik jener Jahre gibt es einige markante Ereignisse, die der Autor strikt aus dem Blickwinkel seiner Figuren heraus schildert. Da ist vor allem der Rücktritt des Bundespräsidenten Christian Wulff, den die gegen ihn gerichtete Medien-Kampagne zur Aufgabe des Amtes bewogen hat. Später wurde er jedoch wegen des Vorwurfs der Vorteilsnahme vor Gericht freigesprochen. Ein großes Thema jener Jahre war auch die NSU-Affäre, die in einem Untersuchungs-Ausschuss unter dem Vorsitz von Andi Nair natürlich nicht aufgeklärt werden konnte. Alle Zeugen aus den Reihen von Polizei und Staatsschutz haben ‹gemauert›, um ihr eigenes Unvermögen und ihre hanebüchenen Fehler zu vertuschen. Ein Kollege aus der SPD Bundestags-Fraktion gerät wegen Besitz von Crystal Meth in die Schlagzeilen, und ganz zum Schluss verlässt einer der Protagonisten wegen offensichtlich berechtigter, schwerer Vorwürfe fluchtartig den Reichstag.

Kennzeichnend für Zieglers Erzählweise ist, dass er gerade den karriere- und bedeutungsmäßig am wenigsten hervorstechenden Wegman Frost in den Mittelpunkt stellt. Er ist Angestellter seines Freundes Andi Nair und arbeitet ihm zu, schreibt Reden für ihn und hält ihn auf dem Laufenden über die politische Stimmungslage hinter den Kulissen. Auch privat ist er eher eine unscheinbare Figur ohne Charisma, ein Wunder geradezu, dass sich die toughe Immobilien-Maklerin Marion mit ihm einlässt, ihn sogar bald schon in ihre noble Wohnung einziehen lässt. Deren altkluge Tochter Elli, in der man Uwe Johnsons Marie Cresspahl zu erkennen glaubt, versteht sich von Anfang an sehr gut mit Wegman und verwickelt ihn wissbegierig in manchmal allerdings gar zu tiefsinnig erscheinende Debatten zu Themen jenseits der Politik. Auffallen ist, dass Marion und auch ihre elfjährige Tochter als Charaktere ziemlich blass bleiben. Was übrigens auch für alle anderen, fast durchweg politischen Akteure gilt, deren Privatleben weitgehend ausgeklammert ist. Einzig Wegmans häufige Tagträume enthalten für ihn produktive Aspekte über die Tretmühle des politischen Alltags hinaus. Der Autor schreibt in einer angenehm lesbaren, klaren Sprache aus Sicht seines Helden, wobei er sich aber jeder moralischen Wertung enthält. Wegman Frost agiert als kleines Rädchen im Getriebe der großen Politik, er ist lediglich ein auf kleinste Details achtender Berichterstatter mit einem untrüglichem Sinn für politische Stimmungen. Und dass er sich am Ende sogar vornimmt, jetzt unbedingt mal Hannah Arendts Werk «Über die Revolution» zu lesen, ist fast schon ein revolutionärer Akt für ihn.

Fazit: lesenswert

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Suhrkamp Berlin

Das Gleichgewicht der Welt

Auch wenn das Buch von Rohinton Mistry, einem kanadischen Autor indischer Herkunft, irgendwann zwischen 1966 und 1984 angesiedelt ist, hat seine Szenerie mit Sicherheit bis heute nichts an Aktualität eingebüßt. Es handelt von Zeiten, in denen Indira Gandhi (die nicht mit Mahatma Gandhi verwandt war) in Indien zwei längere Perioden als Premierministerin amtierte. Zeiten, in denen diese versuchte, dem fortwährenden politischen und humanitären Chaos des Subkontinents Herr/Frau zu werden.

In dieser Kulisse erschafft Mistry vier Protagonisten, deren teilweise schockierende Einzelschicksale sie für eine kurze, aber glückliche Zeit zusammenführen, bevor ökonomische, politische und menschliche Zwänge dazu führen, dass sich ihre Wege zum Teil wieder trennen.

Das Buch ist kein Werk für Liebhaber von Happy Ends, von rosaroten Brillen oder des „Eigentlich ist doch alles gar nicht so schlimm“-Slogans. Will man das alltägliche Leben in Indien beschreiben, ist dafür auch kein Platz. Die Realität ist Existenzkampf pur, der tägliche Kampf ums nackte Überleben. Ab Geburt das permanente Bestreben, nicht in die gnadenlose Maschinerie der politischen Willkür oder der Kasten-Fehden zu geraten. Jeder für sich unter 1,4 Milliarden anderen Indern.

Seine vier exemplarischen Lebensläufe baut Mistry gut auf und aus. Das gesellschaftliche Stimmungsbild ist hervorragend koloriert. Allerdings leidet der Gesamteindruck sehr stark unter seiner Liebe zu schier nicht enden wollenden Dialog-Passagen. Das ermüdet und lässt das Panoptikum an emotionalen Bildern gelegentlich verblassen.

Eine Frage begleitet den Leser durch das monumentale Werk. Bei all dem Elend, bei all den Schicksalsschlägen, bei all den menschlichen Katastrophen – wo ist denn nun das Gleichgewicht bei seinen Figuren oder gar auf dieser Welt?

Dazu muss man wissen, dass Rohinton Mistry der ethnischen Gruppe der Parsen angehört, die Anhänger der Lehre des Zoroastrismus sind. Der religiöse Glaube des Zoroastrismus bewertet die Schöpfung des Gottes Ahura Mazda prinzipiell erst einmal als gut. In dieser Welt ringt das Gutsein aber beständig zwischen den guten und den bösen Mächten, versucht also zwischen beidem ein Gleichgewicht zu erreichen. Beides und auch der permanente, alltägliche Kampf sind Inhalt des Lebens, das ob seines göttlichen Ursprungs genau so zu akzeptieren ist.

Neben der ein oder anderen Anspielung auf den Buchtitel im Text, legt Rohinton Mistry nur an einer Stelle einem Protagonisten eine schon eher erklärende Analogie in den Mund:“ … es sei alles Teil des Lebens, dass das Geheimnis des Überlebens darin bestehe, ein Gleichgewicht zwischen Hoffnung und Verzweiflung zu finden, sich auf Veränderungen einzulassen.“

Ein monumentales Werk, dass einen ein Stück weit in einer Stimmung der Erschütterung, der Hilflosigkeit und der Ausweglosigkeit zurücklässt. Oder kann die eine oder andere Figur im Roman Mistry’s mit ihrer existentialistischen Reduktion auf das Lebensminimum im Vergleich zu einer westlichen Gesellschaft mit ihrer permanenten Sinn- und Singularitätssuche auch Vorbildfunktion haben oder zumindest als relativierender Weckruf verstanden werden?


Genre: Belletristik, Erzählung, Kulturgeschichte, Roman
Illustrated by Fischer Verlag

Zebra im Krieg

Der Pisser

Mit dem Zusatz «Nach einer wahren Begebenheit» hat der österreichische Schriftsteller Vladimir Vertlib für seinen neuen Roman «Zebra im Krieg» auf einen realen Bezug hingewiesen. Durch die offizielle Bagatellisierung der aggressiven Kämpfe im Roman als «erweiterte Polizeiaktion gegen Terroristen» wird überdeutlich auch auf den Ukrainekonflikt verwiesen. Es geht in diesem Roman um politischen Totalitarismus, dem heute mit seiner digitalen Variante im Internet eine nicht minder gefährliche, mediale Spielart als weiteres Lügenbabel zur Seite steht.

In einem quasi rechtsfreien Raum toben sich Hassprediger aller Couleur aus, so auch der arbeitslose Flugzeug-Ingenieur Paul Sarianidis. Der weiß mit seiner vielen Freizeit nichts Besseres anzufangen, als sich in einschlägigen Internet-Foren herumzutreiben und als Blogger seine Meinung in die Welt hinaus zu posten. In seiner nicht benannten balkanischen Hafenstadt tobt ein Bürgerkrieg, die multiethnische Einwohnerschaft sitzt in der Falle, man kann die umzingelte Stadt nicht mehr verlassen, die Rebellen haben sie vorübergehend in ihre Gewalt gebracht. Und ausgerechnet gegen den charismatischen Führer dieser Aufständischen hat Paul einen Hass-Kommentar geschrieben, in dem er ihn auf das Übelste beschimpft. Prompt stehen plötzlich Milizionäre vor der Tür des Mitte-Dreißigjährigen, die ihn zum Verhör mitnehmen. Dort trifft er auf sein verbales Opfer, den Rebellenführer Boris Lupowitsch, der ihn nun seinerseits beschimpft und derart bedroht, dass Paul sich vor Angst in die Hosen macht. All das wird mit zwei Kameras akribisch gefilmt und anschließend ins Netz gestellt. Paul erntet Hohn, Spott und eine traurige Berühmtheit als «Der Pisser». Dieses Begebnis ist nach Aussage des Autors übrigens authentisch. Der mit einer Ärztin verheiratete, mit Tochter und der eigenen Mutter zusammenlebende Paul wird nun auch zu Hause gescholten. Er hat die ganze Familie blamiert, was ihm besonders seine über alles geliebte, zwölfjährige Tochter Lena sehr übel nimmt.

Dieser dystopische Roman ist als Persiflage auf die Vorgänge in der Ost-Ukraine angelegt. Das Augenmerk des Autors liegt allerdings nicht auf dem politischen Machtpoker, sondern auf den dämonischen Kräften in den Köpfen der Bevölkerung, die sich im Internet eine Bühne suchen, um dort ihre vorgefassten Meinungen weiter anzuheizen, statt an einem Konsens mitzuwirken, um die Gegensätze zum Wohle aller zu überwinden. Als stadtbekannte Figur wird «Der Pisser» bei einem seiner ruhelosen Streifzüge durch die zerschossenen Straßen von einem grölenden Mob, zusammen mit der Intendantin des Theaters, symbolisch in einer vor Deck starrenden Bio-Mülltonne ‹entsorgt›. Pauls Versuche, sich mit Hilfe zweier PR-Spezialsten von seinem peinlichen Image zu befreien, scheitern kläglich, er wird nur finanziell ausgenommen von ihnen. «Ich will einmal im Leben das Richtige tun», beschießt der Antiheld und kümmert sich fortan um die alten jüdischen Hausnachbarn, die abgeholt worden sind. Es gelingt ihm tatsächlich, das Paar frei zu bekommen. Sie vertrauen ihm daraufhin ihren bescheidenen Schatz an, neben persönlichen Erinnerungsstücken vor allem 3000 Dollar, die er nach ihrem Tod der in den USA lebenden Tochter zukommen lassen soll, ehe sie der korrupte Staat kassiert.

Pauls multikulturelle Heimatstadt, ein Schmelztiegel aus griechischen, ukrainischen und koptischen Vorfahren sowie Russen, Armeniern, Türken, Juden und anderen Ethnien mehr, hat seinen Status als kosmopolitischer Sehnsuchtsort längst verloren. Nachdem in den Kämpfen auch der Zoo zerstört wurde, laufen plötzlich exotische Tiere durch die Stadt, so das titelgebende Zebra als Symbol für Friedfertigkeit. Die vom Autor als geharnischte Kritik an der Enthemmung in den sozialen Medien samt ihren Folgen angelegte Geschichte bleibt in der Form leider fragwürdig. Sie ist weder als Satire noch als Gesellschaftskritik wirklich überzeugend und wirkt in ihrer Slapstickartigkeit oft einfach nur albern.

Fazit: mäßig

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Residenz Verlag

Kalt wie dein Herz

Dennis Lehane Neuübersetzung Kalt wie dein Herz

Kalt wie dein Herz. “I heard the old men say: ‘All that is beautiful drifts away/Like the Waters’“. (W. B. Yeats) Ein neuer alter Fall für Kenzie & Gennaro, das Detektiv-Duo aus Boston. Die Neuübersetzung von Peter Torberg hält sich an die 1999 bei William Morris, New York unter dem Titel “Prayers for Rain” erschienene Originalausgabe.

Kalt wie dein Herz

Wahrlich kurz sind die schönen Momente, die vorbei huschen wie das Wasser. Ebenso wenig kann man diese Momente festhalten und was bleibt sind die Erinnerungen. Solche Erinnerungen an schöne Momente hat auch Patrick Kenzie, denn Angela Gennaro und er haben sich nicht nur als Arbeitskollegen, sondern auch als Sexpartner getrennt. Dabei war beiden klar, dass es immer schon mehr als nur Sex war. Vielleicht liegt es auch daran, dass sich der knallharte Detektiv Kenzie ein schlechtes Gewissen wegen einer Klientin macht. Kenzie hatte seinen Kumpel fürs Grobe, Bubba, auf einen Stalker, Cody Falk, angesetzt, der Karen Nichols das Leben schwer machte. Der Job war schnell erledigt, aber einige Wochen später erfährt Kenzie, dass sich eben diese Karen Nichols von der Aussichtsplattform des Bostoner Custom House im 25. Stock in den Tod gestürzt hat. Zuvor soll sie als Prostituierte gearbeitet haben und auch in der Drogenszene Bostons kein unbeschriebenes Blatt gewesen sein. All das passt so überhaupt nicht zu der Karen Nichols, die Kenzie kennengelernt hat, dass er beschliesst, sich hinter die Sache zu klemmen. “Diese Karen Nichols hatte auf mich nicht den Eindruck gemacht, dass sie nackt von einem Gebäude springt.” Sie war eher “diejenige, die ihre Socken bügelte und Stofftiere sammelte“. Zudem hat es der Killer nicht nur auf Frauen abgesehen, sondern auch auf putzige kleine Hunde. Und das ruft wiederum erst recht Bubba auf den Plan, das komödiantische Pendant zu Kenzie. Oder sollte man hier eher von einem alter ego sprechen? Denn alles was Kenzie offiziell nicht darf resp. was “illegal” ist, erledigt Bubba für ihn. Am Ende sogar das mit Vanessa.

“Niemand liebt.” Außer Bubba

“Sie war untergegangen und ich war beschäftigt gewesen”, plagt Kenzie das schlechte Gewissen. Doch selbst in seinen kühnsten Träumen hätte er es nie erahnen können, auf was für einen Psychopath, den Drahtzieher von Karen Nichols’ Selbstmord, er sich in diesem Fall einlässt. Gut, dass er dabei auch auf Ruprecht Rogowski aka Bubba und seine Angie zählen kann. Denn die Verbindungen ihres Großvaters, Vincent Patios, zur italienische Mafia, der “Familie” und Stevie Zambuca kann zumindest deren Einmischung in den knackigen Fall verhindern. Die eigentlichen Bösewichte finden sich aber zumeist in der eigenen “Familie” und nicht bei der Mafia. Denn im Mittelpunkt von “Kalt wie dein Herz” steht das Ehepaar Dawe, die eine Tochter mit Turnus arteriosus communis hatten und eine weitere Tochter plus einen Sohn. Was es damit auf sich hat, erfährt man auf 512 spannenden Seiten eines Krimis, der sich wie eine Offenbarung liest. Denn es geht wie immer um Vergebung. Liebe und Loyalität. Referenzen an Magnum, Burt Lancaster, Nirvana und den “Dritten Mann” (Holly Martens Inn) inklusive. Zudem erfährt man trotz der knallharten Macho-Rhetorik (Kenzie fährt Porsche und liebt Magnum, die Serie, nicht die Waffe!) und einiger flotten Sprüche, warum Männer nie weinen: “Ich fürchte, wenn ich erst mal damit anfangen, kann ich nicht wieder aufhören.”, meint Patrick Kenzie.

Dennis Lehane hat einen Krimi geschrieben, der sich nicht nur über das Genre amüsiert, sondern auch seine Protagonisten. Zum großen Gefallen es Publikums: Applaus!

Dennis Lehane
Kalt wie dein Herz
Ein Fall für Kenzie & Gennaro
Aus dem Amerikanischen von Peter Torberg
2022, Paperback, 512 Seiten
ISBN: 978-3-257-30046-8
€ (D) 18.00 / sFr 24.00* / € (A) 18.50
Diogenes Verlag


Genre: Hard-boiled Krimi
Illustrated by Diogenes

Der Silberfuchs meiner Mutter

Wahrheit gibt es ja sowieso nicht

In seinem neuen Roman «Der Silberfuchs meiner Mutter» erzählt der österreichische Schriftsteller Alois Hotschnig eine berührende Geschichte. «Dieses Buch gäbe es nicht ohne die Begegnung mit dem Schauspieler Heinz Fitz, der es mir erlaubt hat, entlang seiner Lebensgeschichte diesen Roman frei zu entwickeln», erklärt er in seiner Danksagung. Ich-Erzähler des Romans ist, wenig originell, Heinz Fritz, ebenfalls Schauspieler, der erst als Sechzigjähriger seinen richtigen Vater kennengelernt hat und zeitlebens auf den äußerst dürftigen Spuren seiner Herkunft das Schicksal seiner Mutter Gerda aufzuklären sucht.

Der einzige konkrete Beleg ist ein Dokument der Lebensborn-Organisation der SS, die in ihrem Arierwahn seine norwegische Mutter mit ihrem Sohn über Oslo, Kopenhagen, Berlin, München nach Hohenems in Vorarlberg geschickt hat, zur Familie seines Vaters. Der war Anfang 1942 als Obergefreiter verwundet nach Kirkenes im Norden Norwegens gekommen, sie war Krankenschwester dort und hatte sich mit dem Feind eingelassen. Das äußere Symbol ihrer Verbundenheit war der Silberfuchs, den Anton ihr dort geschenkt hat. Als sie dann schwanger wurde, hat ein Teil ihrer Familie sie als «Nazi-Hure» brüsk verstoßen. Aber auch in Hohenems ging es ihr nicht besser, die schöne Frau wurde von der österreichischen Familie ihres Geliebten als «Norweger-Hure» zunehmend abgelehnt, teils spielten allerdings auch religiöse Gründe eine Rolle dabei. Und sogar der leibliche Vater distanzierte sich plötzlich von ihr. Das Kind sei nicht von ihm, behauptete er, sondern von einem Russen, der ertrunken sei. Sie musste sich also allein durchschlagen, ein Zurück nach Norwegen gab es für sie als Kollaborateurin nun nicht mehr. Ende 1942 kam dann Heinz zu Welt, aus gesundheitlichen Gründen brachte sie ihn bei einem Bauern unter und sah ihn erst 4 Jahre später wieder. Als seine Mutter wieder heiratet, leidet Heinz sehr unter dem übergriffigen, sadistischen Stiefvater. Seinen leiblichen Vater aber hat er nur zweimal im Leben kurz gesehen, er hat jeden Kontakt abgelehnt.

Dieser Roman ist der breit angelegt Versuch des Ich-Erzählers, aus den offensichtlichen Lügen, ungeheuren Begebenheiten und aus den allerkleinsten Erinnerungs-Fetzen seine eigene Biografie zu rekonstruieren. Nicht nur seine Mutter, auch er selbst kommt in seelische Abgründe, begeht sogar unbeholfene Suizid-Versuche. Gleichwohl verbinden sie die Bücher, die Mutter liest ihm aus «Peer Gynt» vor, später auch aus «Andorra», und weckt damit sein Interesse an Literatur. Begeistert spielen sie einzelne Szenen nach, womit der berufliche Lebensweg von Heinz bereits vorgezeichnet ist. Er strebt eine Laufbahn als Schauspieler an und bereitet sich mit Hilfe seiner diversen Brot- und Butter-Jobs auf die Schauspiel-Schule vor.

«Bis ich mit sechzig Jahren, erst mit sechzig meinen richtigen Vater kennengelernt habe, diesen Anton Halbsleben in Hohenems, durch einen Theaterportier, der auch aus Hohenems war.» Unbekümmert um Grammatik verwendet Alois Hotschnig schon im ersten Satz eine holperige, häufig stockende, monologische Sprache. Die ist dazu angetan, dem Denken seines wurzellosen Helden einen Möglichkeits-Raum zu schaffen, um moralische und ethische Grenzen zu überwinden. «Wen lässt der Autor sprechen und wie» ist für Hotschnig die entscheidende stilistische Frage. In diesem düsteren und beklemmenden Psychogram geht es um die verzweifelte Suche eines zutiefst zerrissenen Menschen nach Liebe. Das Einzige übrigens, was zählt, denn Wahrheit gibt es ja sowieso nicht. Prompt wird das dann bestätigt, wenn ganz am Ende mit dem plötzlichen Auftauchen von Briefen der Mutter einige der bisherigen Gewissheiten ins Wanken kommen. Neben dem sperrigen Stil stören auch die seltsam blutleer bleibenden Figuren bei der Lektüre, was übrigens auch für beide Protagonisten gilt, vor allem aber ist ein nur rudimentäres Handlungsgerüst das größte Manko für den enttäuschten Leser.

Fazit: mäßig

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Kiepenheuer & Witsch Köln