Harold

Besorgt Euch bloß das beste Buch der Welt. Harold. Von Einzlkind.
Einsam hängt eine Schlinge vor dunklem englischem Pepita auf dem Umschlag.
Eine einsame Stuhllehne lässt böses ahnen. Und es bestätigt sich:
Harold, 49 Jahre alt, lebt in London, hat seine Anstellung als Wurstfachverkäufer verloren. Hier tappt der geneigte Leser in die Falle, die Einzlkind ausgelegt hat, denn Harold ist eine Null, ein Nichts, ein Antiheld, einer der bestimmt keine Geschichte von 222 Seiten zu erzählen weiß, denn der eigentliche Held ist Melvin und der ist ein „Savant“.

Harold dagegen ist ein typischer, missmutiger Engländer, der seine Aufgabe darin sieht, sich einmal im Monat aufzuhängen. Als geborener Verlierer glaubt er nicht mehr an den Erfolg seiner Aktionen, sondern er versucht die Eleganz seiner Misserfolge zu perfektionieren. In dem Moment kommt Melvin, ein „neunmalkluges“, elfjähriges Genie, auf die Bühne. In seinem Gedächtnis hat er 1238 Bücher abgespeichert. Er kann sämtliche Beethoven-Sonaten auswendig, er ist sozusagen ein Roger Willemsen en miniature. Dafür leidet er an den typischen Hochbegabten Problemen: „Ich habe 4,5 Dioptrien plus auf dem linken und 5,5Dioptrien auf dem rechten Auge. Meine Hobbys sind mir nicht bekannt.“

Mit diesen Vorzeichen soll Harold Babysitter für Melvin sein. Eine Woche. Denn Melvins Mutter, alleinerziehend, hat ihre vollständige Präsenz für ihre Firma angeboten und die schickt sie eine Woche in eine andere Stadt.

Melvin kennt sich bei Pferdewetten aus und schleift Harold auf den Rennplatz. Mit Kennerblick untersucht er Pferd und Jockey und weiß, Orpheus gewinnt, ganz klar. Harold setzt seine letzten 20 Pfund. Und Orpheus wird – haushoch – letzter.
Das sind Harold und Melvin: Ein arbeitsloser Wurstfachverkäufer und ein Genie, wie man es seit Hegel nicht mehr gesehen hat.
In dieser einen Woche mit Melvin beginnt nun für Harold ein Roadmovie. Einzlkind hat dafür in die Trickkiste der großen Literatur gegriffen: Er bemüht Harold und Maude, schielt zu Capotes Frühstück bei Tiffany. John Irving steht Pate und eine Comedy Anleihe bei Monty Python lässt grüßen. Und im Ulysses hat er 800 Pfund versteckt, die Melvin im Portemonnaie der Mutter gefunden hat. Melvin will in dieser einen Woche seinen Vater suchen….

Harold: Lesevergnügen pur. Ich habe mich riesig amüsiert trotz der Versatzstücke aus dem großen Topf der Weltliteratur. Wer dann noch Spaß an Wortschöpfungen hat, wie „Mevin strohhalmt Cola, pimaldaumen u.a. ist diesem Kleinod schon verfallen.
Wer immer dieser Einzlkind ist und wer diesen Roman geschrieben hat, es muß ihm teuflischen Spaß gemacht haben und dieser Funke Spaß springt sofort auf den Leser.

Das Schlußwort von Jim, dem Tankwart: „Lieber Einzlkind als gar keine Geschwister.“


Genre: Romane
Illustrated by Heyne München

Je schneller ich gehe, desto klener bin ich

skomsvold“Ich habe schon immer gern Dinge zu Ende gebracht. Ohrenwärmer. Sommer. Herbst. Frühling. Winter. Epsilons Berufsleben. Die Sachen erledigt.”

So beginnt ein kleiner, feiner, außergewöhnlicher Roman der jungen Norwegerin Kjersti A. Skomsvold. Ihre Heldin Mathea Martinsen ist fast hundert Jahre alt und am liebsten würde sie sich einfrieren. Solange, bis sie sich überlegt hat, wie sie den Rest ihrer Lebenszeit am besten nutzen kann. Epsilon – so nannte sie ihren vor kurzem verstorbenen Mann und so wie er lebenslang ihr Maßstab, ihre Orientierungsmarke war, so orientiert sie sich nun am Epsilon als statistische Einheit. Sie resümiert ihr Leben, ihre Ehe und wird gewahr, dass nichts von ihr überdauern wird, dass sie ihre Lebenszeit nicht genutzt hat. Sei es aus Überdruss, aus Schüchternheit, aus Bequemlichkeit. So ganz kann sie das selber nicht mehr klären. Gerne würde sie etwas hinterlassen, damit die Nachwelt weiß, dass sie überhaupt gelebt hat. Schliesslich leben momentan mehr Menschen auf der Welt, als jemals gestorben sind. Und da wäre es doch “fein, das Zünglein an der Waage zu sein”. Aber ist eine vergrabene Kiste, ihr Brautkleid und Legionen von für Epsilon gestrickte Ohrenwärmern enthaltend, dafür ein probates Mittel? Obwohl sie in ihrem (Ehe-)leben nur ein einziges Mal Besuch erhielten, versucht sie nun eine zaghafte Annäherung an ihre Mitmenschen. Eigentlich geht sie nur aus dem Haus, bevor sie sich durch ihren Türspion versichert hat, dass ausser ihr niemand im Treppenhaus ist. Nun grüßt sie mutig den Mann ohne Namen im Wald, sogar dem Nachbarn, den sie ihr Leben lang nur von oben herab gesehen hat, leiht sie Zucker. Mutig geworden geht sie gar zu einem Senioren-Kaffeeklatsch mit Bingo “Vergnügen” – und scheitert. Wieder einmal an ihrer eigenen Unsichtbarkeit, in langen Jahren zur Perfektion ausgebildet. Sie gehört nicht zu der Spezies, die Kuchen bekommen und ihre Jacke wird als Kuriosität versteigert.

Kjersti A. Skomsvold erzählt mehr ein versponnenes Märchen denn eine Handlung oder gar eine Biographie. Anrührend, bisweilen recht vergnüglich erzählt sie von der Kunst des Lebens und Sterbens und dem Scheitern an diesen Künsten. Noch vor dem bittersüßen Ende kommt Mathea zu der Erkenntnis “so muss es sein, wenn man tot ist, wie als man noch nicht geboren war, und das war ja nicht die schlechteste Zeit.”
Die junge norwegische Autorin hat ein ganz beachtenswertes Debüt geschrieben, in Norwegen viel bejubelt – und ja, zumindest dort schon mit Preisen dekoriert. In diesem Bücherherbst ist viel von gescheiterten Lebensentwürfen zu lesen. So auch in diesem. Dennoch ist es nicht ein weiteres zu dieser Thematik, denn es ist gleichzeitig auch ein Buch, welches Hoffnung mitgibt – zudem so einige Wahrheiten und Erkenntnisse über das Leben.

In Presseberichten wurde Mathea eine rührende alte Dame voller Weisheit genannt. Das kann ich so nicht sehen. Es ist nicht rührend, eigentlich ist es erschütternd. Man liest das Buch mit einem Schmunzeln, kann sich aber des traurigen Mitleidens für die des Lebens so unfähige Mathea und ihres dadurch sehr eingeschränkten Epsilon nicht erwehren.
Jeder Leser wird nach der Lektüre seine eigene Interpretationsmöglichkeit des sperrigen Titels finden, jeder Leser wird die Geschichte auch auf seine eigene, auf ihn selbst gemünzte Art interpretieren. Und das ist sicher die eigentliche Kunst des Buches. Es regt zum Nachdenken an – und zu eigener Entscheidungsfindung.

Ich hatte in diesem Portal schon eindringlich die Bücher der norwegischen Ausnahme-Autorin Anne B. Ragde empfohlen. Die junge Osloerin schickt sich an, in ihre Fußstapfen zu treten. Kjersti A. Skomsvold beweist in meinen Augen einmal mehr, dass es sich lohnt, die skandinavische Literatur jenseits der Krimis und Thriller für sich zu entdecken. Ich bin mir sicher, von ihr wird noch viel zu lesen sein.

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Genre: Romane
Illustrated by Hoffmann und Campe

Die romantischen Jahre

Ingendaay“Und ist ihm sonst auch nichts gelungen, dann macht er in Versicherungen”. Hätte Marko Theunissen eine mit ähnlich klugen Lebensweisheiten gesegnete Omma gehabt wie ich, wäre ihm sicher das ein oder andere erspart geblieben. Ganz recht. Marko Theunissen. Der Held aus “Warum Du mich verlassen hast” begegnet uns in seinen romantischen Jahren wieder. Noch lange nicht erwachsen geworden, aber ins Erwachsenenleben integriert. Der Literaturstudent mit reichlich Flausen im Kopf ist nun Versicherungsvertreter. Oder auch Agent. Weil sich das besser anhört, befindet Joe, seine kleine Freundin aus der Nachbarschaft.

Paul Ingendaay erzählt in seinem zweiten Roman die Lebensgeschichte eines Mannes weiter, der nicht so genau weiß, was sein Lebenstraum ist und sich vielleicht genau deswegen nachgerade trotzig dazu entschließt, die Lebensträume und Risiken anderer zu versichern. Denn wie um alles in der Welt kann man Romantiker sein und doch Versicherungsvertreter an der gönne Kant des tiefsten Niederrheins werden? Wie kann es sein, dass einer zehn Jahre lang Literaturwissenschaften studiert, Bildungsreisen inclusive und sich plötzlich in der Ellenbogenwelt des vertriebsorientierten Kundensprechs, der Bonifikationen, der “Ich-hab-da-zwei-Leben-in-der- Anbahnung” – Abschlussgeilheit wieder findet? Während Theunissen in einer Branche, welche “hinreichend Platz für alle Gemeinheiten der Menschennatur bietet” , die Balance zwischen Überleben und Fairneß zu halten sucht, kämpft er gleichzeitig an den ältesten Fronten der Menschheit: Den Verflechtungen der Liebe und denen mit der eigenen Familie. Gewonnene Einsichten sowohl aus dem “Haifischbecken” der Versicherungsbranche als auch aus dem nicht minder bissigen Umfeld des Literaturbetriebs helfen ihm dabei..”Menschen neigen dazu, sich selbst als Einzelfall zu sehen und deshalb vom Schicksal eine Einzelfallsbehandlung zu erwarten.”

Ingendaay erzählt fabulierfreudig, mit der Sprache spielend, eine ganz normale Geschichte. Eine Geschichte, wie sie heutzutage wohl eher die Regel denn die Ausnahme ist. Eine Geschichte von Unentschlossenheit, von zerplatzten Lebensentwürfen, von verratenen Idealen und Selbstbetrug. Er erzählt sie liebevoll, von viel Verständnis für die sich so schnell in Schubladen stecken lassenden Menschen getragen. Er weiß, dass “je mehr Entscheidungen wir dann aber treffen, umso kleiner werden die Chancen auf einen ganz anderen Lebensentwurf”. Mit einem guten Gespür für Würde und Würdelosigkeit mischt der Erzähler sich mit feiner Ironie ein und lenkt die Dinge in eine zwar von Kompromissen getragene, aber durchaus befriedigende Richtung. Denn “das Schicksal schlägt auch nicht zu. Es hat ja keine Arme. Das Schicksal ist, was wir sind. Unser Schicksal ist die Summe unserer wechselnden Zustände in einem gegebenen zeitlichen Rahmen.”

Der Autor selbst nennt sein Buch “den Roman der verpassten Möglichkeiten”. Kennen wir das nicht alle? Der Klappentext verspricht “den Sieg der Möglicheit über die graue Realität”. Wünschen wir uns das nicht alle? Und tatsächlich schafft es unser Held, sein Leben nicht zum emotionalen Schadensfall werden zu lasen und es gelingt ihm mit etwas Glück und viel Chuzpe einem äußerst widerwärtigen Exemplar von Kollegen (kennen wir den nicht auch alle?) das Handwerk mit Hilfe von “Rosinenschnecken” zu legen. Sehr gelungenes Ende!

Marko Theunissen ist die meiste Zeit “glücklich immer nur gewesen ” und rettet sein Motto “Ich bin liebenswürdig, sinnenfroh, grausam und einsam” in eine Zukunft, von der hoffentlich weiter zu lesen sein wird. Ich für meinen Teil werde einige der ebenso klugen wie verqueren Einsichten des Herrn Versicherungsagenten behalten und ganz besonders das schöne spanische Sprichwort “Dar tiempo al tiempo” (Der Zeit muss man Zeit geben) zu beherzigen suchen.

Der Autor: Paul Ingendaay lebt seit 1998 mit seiner Familie in Madrid als Kulturkorrespondent der FAZ. Einem breiteren Publikum ist er nicht nur als Herausgeber der Gesamtausgabe von Patricia Highsmith bekannt, sondern auch als Autor der beliebten “Gebrauchsanweisung für Spanien”. Mit dem Alfred-Kern-Preis ausgezeichnet, hat er sich auch als Literaturkritiker einen Namen gemacht. Insofern freut es ganz besonders, dass Ingendaay mit den romantischen Jahren schon den zweiten exzeptionell guten Roman vorgelegt hat.

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Genre: Romane
Illustrated by Piper München, Zürich

In Zeiten des abnehmenden Lichts

RugeBereits 2009 bekam Eugen Ruge für sein Prosa-Manuskript den renommierten Alfred-Döblin-Preis. Nun liegt der fertiger Roman vor, bereits mit dem Aspekte Literaturpreis ausgezeichnet und auf der Shortlist des deutschen Buchpreises. Von Kritikern einhellig bejubelt, vom Otto Normal-Leser – zumindest von denen, die es sorgsam lesen und sich nicht nur ins Regal stellen, weil es ja das Must-have des Buch-Herbstes ist – eher zwiespältig beurteilt.

“In Zeiten des abnehmenden Lichts” erzählt Ruge anhand einer sich über 4 Generationen erstreckenden ostdeutschen Familiengeschichte das Epos vom allmählichen Untergang der DDR und der sozialistischen Ideologie. Kaleidoskopartig erzählt er in wechselnden Perspektiven von bröckelnden Mauern sowie vom bröckelnden Familienzusammenhalt. Es darf vermutet werden, dass Ruge mit der Geschichte des Powileit/Umnitzer-Clans weite Teile der Geschichte seiner eigenen Familie bewahrt. Eine Familie, die zum mit der Mauer untergegangenen intellektuellen DDR- Establishment gehörte, dem heutzutage keine größere historische Relevanz mehr zugebilligt wird.

Der 1.Oktober 1989 ist die Klammer, die dieses Buch zusammenhält. Es ist der Geburtstag des Patriarchen Wilhelm – überzeugter Kommunist, der durch die Machtergreifung Hitlers einst mit seiner Frau Charlotte ins russische Exil, später in unbedeutende Geheimdienstmissionen gezwungen wurde. Dieser Tag wird aus der Perspektive jedes einzelnen Familienmitglieds erzählt – immer unterbrochen von szenischen Momentaufnahmen beginnend mit den frühen Fünfzigern bis hin zum September 2001. Wir erleben die Geschichte von Kurt, der als einziger Sohn überlebte – sowohl den zweiten Weltkrieg als auch den sowjetischen Gulag. Kurt, der zwar an die Veränderbarkeit der Welt unvermindert glauben möchte, der aber eher ein sich arrangierender Mitläufer denn überzeugter Parteifunktionär ist. Die Strahlkraft der politischen Utopie nimmt von Generation zu Generation weiter ab, über den unglücklichen, sich aber nicht engagierenden Enkel Sascha bis hin zum schließlich aufbegehrenden Ur-Enkel Markus.

Ruge setzt in seiner Erzählung ganz auf präzise Beobachtung, es ist ihm wichtig, seinen Figuren Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Obwohl von einem melancholischen Unterton getragen, kommt seine Sprache unprätentiös, fast nüchtern daher. Seltsam distanziert bleibt dementsprechend der Leser, zumal die ständigen Zeitsprünge und Perspektivwechsel ihm einiges abverlangen. Dazu kommt, dass Ruge sich des öfteren in kleinlichen Hakeleien verliert, die seinen Hass auf den realen Sozialismus klar zutage treten lassen und den Leser ohne detailliertes Hintergrundwissen leicht überfordern. Die Geschichte verliert in seinem Lauf viel vom furiosen Schwung der Anfangskapitel, zum Ende hin wird es gar mühsam. Man hat das Gefühl: Es reicht. Wir haben es jetzt verstanden. Wir brauchen nicht noch eine Drogenabhängigkeit, nicht noch eine tödliche Krankheit, nicht noch einen Streit, nicht noch eine demente Götterdämmerung, um die Botschaft des Buches entziffern zu können. Denn bei allem Verständnis bleibt doch die unbeantwortete Frage zurück: Wäre die Familie in einem anderem System glücklicher geworden?

Natürlich werden nur wenige dieses Buch emotionslos lesen, sind die historischen Ereignisse doch bei fast allen auch mit privaten Erinnerungen oder Familiengeschichten verknüpft. Umso mehr hätte man sich wenigstens eine Figur gewünscht, mit der man empathisch diese Geschichte hätte miterleben und miterleiden können. Die Zeit war sicher mehr als reif für einen unverstellten Blick auf die DDR, die Nöte aber auch die Freuden des Lebens dort. Dies literarisch bewahrt zu haben, ist das große Verdienst Eugen Ruges und macht “In Zeiten des abnehmenden Lichts” trotz der Kritikpunkte ganz sicher zu einem der wichtigsten Bücher des Jahres. Definitiv kann der Autor für sich verbuchen, Geschichte als Familiengeschichte erlebbar gemacht und dem wiedervereinigten Land ein umfassendes ostdeutsches Panorama geboten zu haben.

Gleichwohl tut man meiner Meinung nach dem Autor keinen Gefallen, wenn man sich in großen Feuilletons dazu versteigt, hohe Erwartungen zu schüren und gleich die ostdeutschen Buddenbrooks heraufzubeschwören. Die Buddenbrooks (diese Bemerkung gestatte ich – die ich Thomas Manns Epos als eines meiner liebsten Bücher bezeichne – mir) sind das Maß aller Dinge und ich glaube auch in der Tat nicht, dass Eugen Ruge mit seinem Buch das ostdeutsche Komplementärwerk vorlegen wollte. Was er vorgelegt hat, ist der derzeit gültige Roman zur deutschen Einheit aus ostdeutscher Sicht.

Eugen Ruge kam 1958 mit seiner Familie zusammen nach Ost-Berlin. Sein Vater ist der bekannte Alt-Kommunist Wolfgang Ruge, der seinerzeit von den Sowjets in ein sibirisches Lager deportiert wurde. Eugen Ruge arbeitete zunächst als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentralinstitut für Physik der Akademie der Wissenschaften der DDR. Seit 1986 arbeitet er schriftstellerisch und wirkt seit 1989 hauptsächlich als Autor für Theater, Funk und Film. “In Zeiten des abnehmenden Lichts” ist sein Debütroman.

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Genre: Romane
Illustrated by Rowohlt

Aus dem Land der Affen

Der Affenregierung fehlt es zwar an Geld für Schulen oder die Pflege ihrer Kranken, aber sie errichtet gerne sinnlose Bauten und denkt auch über Waffenkäufe nach. Wie gut, dass es trotzdem einige Untertanen gibt, die nicht alles klaglos hinnehmen und sich ihre eigenen Gedanken machen. Denn schließlich sind die Affen nicht alleine auf der Welt; es gibt auch noch andere Tiere, die ihre Rechte einfordern und mit denen man sich arrangieren muss, was nicht immer einfach ist.

Rolf Gutsche ist seit der Gründung 1991 Mitglied im Potsdamer „Literatur-Club für Menschen mit und ohne Behinderung“ und da ihm durch eine spastische Lähmung die alltäglichen Dinge des Lebens nicht leicht fallen hat er sich folgendes Motto zu Eigen gemacht:

Das Sprechen fällt mir schwer.
Aber ich habe viel zu sagen.
Also schreibe ich.

Und das tut er richtig gut. Im vorliegenden Band wählt er die Kunstform der Fabel, eine Gattung die heute eher selten zu finden ist und dazu dient, philosophische und auch politische Erkenntnisse zu kommunizieren, indem man menschliche Charaktereigenschaften auf Tiere überträgt. Rolf Gutsche verarbeitet neben eigenen Erfahrungen auch gesellschaftliche Themen und schwingt bei seinen kritischen Anmerkungen keine schwere Keule; es sind feine Nadelstiche in einfacher, aber verdammt präziser Sprache, mit denen er den Leser zum Nachdenken animiert. Natürlich hat auch er nicht für alle Probleme die passende Lösung parat, aber er stellt die richtigen Fragen und das ist mehr als man von manchen Zeitgenossen behaupten kann, die das hauptberuflich machen.

Fazit: Ein äußerst intelligentes Büchlein, das nicht zuletzt durch seine solide Aufmachung überzeugt, klare Kaufempfehlung!


Genre: Märchen, Sagen und Fabeln
Illustrated by Engelsdorfer Leipzig

Grau

\"grau\"Ein Mann sieht rot. Und das ist auch gut so. Denn Eddie Russett lebt in einer Welt, in der jeder Mensch nur eine Farbe sehen kann. Wenn er Glück hat. Denn es gibt auch noch die Grauen. Die, die gar keine Farbe sehen können und ganz unten in der Hierarchie als unterwürfige Drohnen ihres Kollektivs dienen müssen. In Eddies Welt ist Farbe zu einer Ware geworden, welche die soziale Hackordnung bestimmt. Machtbefugnisse basieren ausschließlich darauf, welche Farbe man wie gut sehen kann. Eddie steht kurz vor dem gesellschaftlichen Aufstieg, durch seine exzellente Rotsicht sind seine Chancen auf dem Heiratsmarkt bis hin zur Erbin eines Bindfadenimperiums gestiegen. Er lebt in einer Welt, 500 oder 600 Jahre nach dem \”großen Ereignis\”, genau weiß man das nicht. Es herrscht Löffelknappheit, dafür gibt es zum Glück Ovomaltine im Überfluss. Das Land ist fruchtbar. Es leben dort nicht allzu viele Menschen, dafür Sprungziegen und Antilopen. Äußere Zeichen früherer Zivilisation sind von wildwuchernder Megafauna verdeckt. Was der aggressive Rhododendron nicht schafft, wird durch verordnete Rücksprünge vernichtet. Höflichkeit ist verordnet, das Leben genau geregelt. Mit geschürter Angst vor Schwanattacken, Blitzeinschlägen und der Dunkelheit wird das Volk in Schach gehalten. Eddie fühlt sich nicht unwohl in dieser Welt. Wenn er nun noch lernt, seine Neugier und seine Kreativität im Zaume zu halten, dann steht einem erfolgreichen Leben als roter Präfekt nichts mehr im Wege. Womit er nicht gerechnet hat, ist die Liebe. Wider jede Vernunft verliebt er sich in Jane. Jane ist zwar wunderbar stupsnasig, aber eben auch der verachteten grauen Unterschicht zugehörig. Das ist fast genauso schlimm, als wenn sie Grüne wäre, denn intime Verbindungen zwischen Komplementärfarben sind verboten. Plötzlich hat Eddie mächtige Feinde, erfährt unbequeme, bestürzende Wahrheiten und seine Angebetete erwidert seine Liebe nicht. Sie ist nämlich nicht nur stupsnasig und eigensinnig, sondern hütet auch noch ein explosives Geheimnis, von dem Eddie bereits viel zu viel herausgefunden hat. So bleibt ihr nichts anderes übrig, als alles zu versuchen, Eddie den fleischfressenden Yateveo Bäumen zum Fraße vorzuwerfen.

Jasper Fforde hat eine perfekt entworfene Welt gebaut, bis ins kleinste Detail durchdacht , überbordend vor Phantasie und Ideenreichtum. Anschaulich zeigt er, wie eine Diktatur funktioniert, was sie sympathisch macht und was angreifbar. Zum Beispiel die unüberschätzbare Macht der Neugier und die Wahrheit. Fforde selber sagt, dass es erschreckend einfach war. eine Hierachie zu erfinden. Er begann mit ein paar ganz einfachen Regeln, schuf eine Ordnung, die auf Farbwahrnehmung beruht und \”sobald er einen Schuß Ehrgeiz und Missgunst zugab, kam ihm alles irgendwie entsetzlich vertraut vor.\” Er fasst in seiner Dystopie so manches heiße Eisen an, bis hin zur institutionalisierten Sterbehilfe, enthält sich aber jeder Wertung. In \”Grau\” entfaltet sich eine völlig neue, andersartige Welt. Abstrus und befremdend, in ihrem Wiedererkennungswert jedoch fast schon genial. Der Handlung tut es gut, dass Fforde nie der Versuchung erliegt, das \”große Ereignis\” näher zu spezifizieren. Sein humorvoller Stil macht Spaß, besonders die versteckten Anspielungen auf unsere heutige Welt, sich z.b. manifestierend in Namen oder Buchtiteln. Die Handlung verliert nie ihren roten Faden, hat jedoch einige Längen. Gerade im letzten Drittel , wenn die chromatokologische Welt einmal hinreichend gezeichnet ist, ist es oft des Guten ein bißchen zuviel. Da wird eine Intrige nach der anderen gesponnen, Verschwörungen geplant und man wünscht sich, er würde jetzt irgendwann mal zum Punkt kommen.

Die Geschichte um Eddie Russett ist als Trilogie angelegt und trotz der erwähnten Kritikpunkte darf man gespannt und unüberschätzbar neugierig auf die Fortsetzung sein. \”Grau\” ist ganz sicher kein Sprung zurück und mehr als nur ein Hüpfer nach vorne unter den allzu oft immer gleichen Zukunftsvisionen.

Der in Wales lebende Jasper Fforde wurde 2001 weltbekannt mit dem Roman \”Der Fall Jane Eyre\” und erschrieb sich mit seiner Thursday Next Reihe eine beständige Fangemeinde. Ins Deutsche übersetzt wurde das Buch von Thomas Stegers. Bei all den von Fforde neu erfundenen Begriffen sicher kein leichtes Unterfangen, hier aber sehr gut und sorgfältig gelöst, wie im Fall des gerade im Deutschen sehr doppeldeutigen Mustermanns.

Zum Buch gibt es neben der Facebook Fanseite auch eine Microsite und einen Trailer. Diskussion dieser Rezension im Blog der Literaturzeitschrift


Genre: Science-fiction
Illustrated by Eichborn Verlag

We’ll always have Paris

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– Ein Mann revanchiert sich für erlittenes Unrecht mit Liebe und wird natürlich dafür bestraft

– Eine Frau besucht das Herz ihres Gatten in einem anderen Körper

– Nach Einbruch der Dämmerung trifft sich eine ganz besondere Golfrunde

– Zwei Freunde wetten um einen Mord

– Manchmal sind Hunde die besseren Priester

Von diesen Themen handeln einige der 22 Kurzgeschichten und wie stets bei diesem Autor ist die Sprache voller Poesie, eine einzigartige, schwer zu beschreibende Atmosphäre zieht sich durch das Buch, Momente bittersüsser Magie, oft melancholisch oder nostalgisch, mit liebevoll gezeichneten Protagonisten.

Seit meiner längst vergangenen Jugend bin ich ein Fan von Ray Bradbury, der trotz seiner mittlerweile 91 Jahre nichts vom Zauber der frühen Werke verloren hat. Vielen dürfte der Autor hauptsächlich durch den (zugegebenermaßen vortrefflichen) Roman “Fahrenheit 451” bekannt sein und das ist schade, denn sein Spektrum ist wesentlich größer, er hat so viel mehr zu bieten. Interessierten Lesern sei auch “Das Böse kommt auf leisen Sohlen” oder “Die Mars-Chroniken” empfohlen.


Genre: Kurzgeschichten und Erzählungen
Illustrated by Harper Voyager

Mile 81

Auf einem verlassenen Rastplatz am Rande eines Highways rollt ein Auto aus, ein undefinierbares Modell, mit Schlamm beschmiert. Langsam öffnet sich eine Tür, aber niemand steigt aus, im Gegenteil: Der Wagen wartet darauf, dass nichtsahnende Neugierige einsteigen…

Diese als exklusives E-Book veröffentlichte Kurzgeschichte ist typisch Stephen King: Spannend, unterhaltsam und nicht ganz unblutig. Trotz der Beschränkung auf vergleichsweise wenige Seiten sind die Charaktere treffend gezeichnet und ihr Handeln bleibt stets nachvollziehbar. Gewisse Parallelen zu “Christine” sind vorhanden und von King auch selbstironisch gewürdigt. Für den Meister eine Fingerübung, für seine Fans ein echtes Lesevergnügen.

Als Zugabe gibt es noch einen Auszug aus “11.22.63”, dem mit Spannung erwarteten 1000-Seiten-Wälzer, der im November erscheint und sich mit dem Kennedy-Attentat beschäftigt.


Genre: Kurzgeschichten und Erzählungen
Illustrated by Hodder

Der Seiltänzer

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Die Abschaffung des Zölibats und Konsequenzen aus den Missbrauchsfällen in der katholischen Kirche – das sind die Kernforderungen einer Aufsehen erregenden Predigt, die der Priester Andreas Wingert in seiner Gemeinde hält. Wochen später sieht er sich selbst mit Missbrauchsvorwürfen konfrontiert und steht unvermutet vor einem Scherbenhaufen. Klugen Rat und Hilfe erhofft er sich – wie so oft in seinem Leben – von seinem besten Freund Thomas. Doch dieser liegt ausgerechnet jetzt mit einem Herzinfarkt im Krankenhaus.

Nach einem Besuch bei Thomas in Münster begibt sich Andreas auf eine Autofahrt kreuz und quer durch Westfalen. Diese Fahrt, von mehreren Anlaufstellen unterbrochen, wird insgesamt 5 Stunden dauern. In diesen 5 Stunden erinnert sich Andreas: An eine Kindheit und Jugend in der westfälischen Provinz, an die seitdem bestehende Lebensfreundschaft mit Thomas, an die gemeinsamen Erlebnisse ihrer Studienjahre in Berlin, Köln und Bonn, Wales und München. Danach schlagen die Freunde sehr unterschiedliche Wege ein. Thomas heiratet, gründet in Münster eine Familie und macht als Geisteswissenschaftler Karriere. Andreas hingegen geht ins Paderborner Priesterseminar und wählt die Kirche als Lebenspartnerin, “viel zickiger, viel strenger, viel unberechenbarer” als ein Ehepartner sein könnte, wohl wissend “dass es kein ungefährlicher Bund für ihn” ist. Schon immer fasziniert von den Ritualen der katholischen Kirche ist er sich sicher, dass der Glaube sein Sicherheitsnetz sein kann “über dem das Seil aufgespannt ist, auf dem er geht.”

Michael Göring erzählt in einer sehr klaren, fast nüchternen Sprache von Wendepunkten, vom sich Entscheiden müssen, von den Anfechtungen des Alltags, von religiöser Berufung und von der Gratwanderung eines Priesters. Er blickt dennoch liebevoll und wohlwollend auf seine Protagonisten und bewahrt seine Erzählung so vor einem bitteren Unterton. Göring selbst betont, dass er einen Entwicklungsroman habe schreiben wollen und keine theologische Streitschrift. Die Rückblenden beginnen in den frühen Siebzigern und werden mal aus Andreas’, mal aus Thomas’ Perspektive erzählt. Thomas übernimmt dabei den Part des Skeptikers und Mahners. Die Geschehnisse in der Gegenwart – (im Roman Frühjahr 2010) werden bis auf die allerletzte Seite ausschließlich aus der Sicht von Andreas erzählt und vermitteln ein sehr eindringliches Bild von Problemen und Anfechtungen, die in unserer Zeit sehr ungut in das Leben einzelner als auch der Gemeinschaft eingreifen. Die Missbrauchsvorwürfe sind zwar das vordergründige Thema, doch Michael Göring zeigt anhand des Konfliktes anschaulich, zu welch vergifteter Atmosphäre und zu welch verhärteten Fronten übereifriges Denunziantentum, Kollektivschuld und Generalverdacht führen können. Darüber hinaus vermittelt er in seinem Buch noch eine Erkenntnis, der nicht wenige aus täglichem Erleben heraus zustimmen werden. Kirche als Institution wird heute kaum mehr gehört und akzeptiert. Auch nicht von denen, die den Wunsch, ihren Glauben zu leben, noch nicht aufgegeben haben. Kirche ist für die meisten nur noch die Gemeinde vor Ort. Nicht mehr, aber eben doch auch nicht weniger.

Als Dreingabe neben all diesen “schweren” Themen macht der Autor sich aber auch noch um etwas anderes verdient. Auch wenn die Hauptschauplätze des Romans fiktive Namen tragen, Göring zeichnet mit wenigen Worten ein Bild der alten BRD und fängt die Atmosphäre des zweigeteilten Landes unverfälscht ein. Ein Unterfangen, um das sich noch nicht allzu viele Autoren verdient gemacht haben.

Zum Ende hin verliert der Roman etwas von seinem Schwung, die Dialoge auf den letzten Seiten wirken auf einmal gestelzt und zu bemüht. Auch das Ende selbst – es hat mir so nicht gefallen. Um es westfälisch zu sagen, es war mir zu verschwurbelt und passte nicht zur klaren Sprache des Buches. Ohne zuviel verraten zu wollen – es ist völlig in Ordnung und auch folgerichtig, wenn der Autor die allgemeingültige Lösung nicht geben will. Mir als Leser wäre es jedoch wesentlich lieber gewesen, er hätte sich klar zum offenen Ende bekannt.

Mein Fazit: Der Seiltänzer ist ein mutiges Buch zu einem brandaktuellen Thema, dem Erfolg zu wünschen ist. Nicht zuletzt verbunden mit dem Wunsch, dass die überfälligen Diskussionen in der katholischen Kirche wieder aufleben – wenn möglich auf einer sachlicheren und weniger von persönlichen Eitelkeiten geprägten Ebene als zuletzt. .

Der Autor Michael Göring leitet als Vorsitzender des Vorstandes die ZEIT Stiftung Ebelin und Bucerius in Hamburg. Darüber hinaus ist er Honorarprofessor am Institut für Kultur und Medienmanagement der Hochschule für Musik und Theater in Hamburg. Der Mitte September erschienene Seiltänzer ist – nach vielen Fachpublikationen – sein erster Roman.

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Genre: Romane
Illustrated by Hoffmann und Campe

In den Augen der anderen

Jodi PicoultWas ist normal und wer entscheidet das? “In den Augen der anderen ist Jacob Hunt alles andere als normal. In den Augen seiner Mutter ist es normal, ein besonderes Kind zu haben. Jacob selbst sagt “Normal ist nur eine Einstellung an der Waschmaschine”.

Als bei Emma Hunts Sohn Jacob das Asperger Syndrom diagnostiziert wird, eine autistische Störung, ist die Wissenschaft ungefähr auf dem Stand von Rain Man. Emma kämpft, lässt ihrem Sohn jede denkbare Therapie angedeihen und integriert seine besonderen Bedürfnisse in den Familienalltag. Routinen sind für ihn überlebenswichtig. Wenn Jacob nicht als erster duscht, ist der Tag nicht mehr zu retten. Wenn Jacob kein offenes Haar erträgt, dann macht Emma sich eben einen Pferdeschwanz. Wenn jeder Wochentag eine besondere Farbe haben muss, dann gibt es am weißen Dienstag eben Kartoffelpüree mit Reis. Wenn Jacob es leichter fällt, in Filmzitaten zu antworten, dann lernt man eben, dass “geschüttelt und nicht gerührt” das Äquivalent zu “Ja” ist. Emmas unermüdlichem Einsatz ist es zu verdanken, dass Jacob am Alltagsleben teilhaben, dass er zur Schule gehen und seine außergewöhnliche Intelligenz nutzen kann. Und sei es für ein obsessives Interesse an Kriminaltechnik. Was Emma nicht beeinflussen kann, ist die Wahrnehmung Jacobs in den Augen der anderen. Freundschaften sind nicht erzwingbar und wenn Jacob ein Außenseiter ist, nimmt sie in Kauf, dass auch sie aussen steht. Was Emma nicht rechtzeitig sieht und beeinflusst, sind die Auswirkungen von Jacobs Krankheit und des gelegentlich absonderlichen Familienlebens auf ihren jüngeren Sohn Theo. Eines Tages wird die junge Pädagogikstudentin Jess tot aufgefunden. Erschlagen? Vielleicht von Jacob, den sie mehrmals in der Woche betreute und für den sie erfolgversprechende Übungen für seine soziale Kompetenz entwickelt hatte? Schnell wird Jacob verdächtigt und die mühsam erkämpfte Normalität in Emmas kleiner Familie bricht zusammen. Jacob muss vor Gericht. Doch wie soll das gehen? Emma und ihr bislang nicht gerade durch fulminante Erfolge aufgefallene Rechtsanwalt Oliver nehmen den Kampf auf. Es geht darum, Jacob vor dem Gefängnis zu bewahren – aber auch um die Rechte von Menschen, die anders sind. Wenn auch nur in den Augen der anderen.

Jodi Picoult berichtet Jacobs Geschichte wie immer sorgfältig recherchiert. Der Leser wird erschöpfend mit Fachwissen über Autismus und das Asperger Syndrom versorgt. Teils zu erschöpfend. Weniger wäre in ihrem neuen Buch etwas mehr gewesen. Ein beherztes Streichen hätte nicht geschadet. Dennoch – der ungewöhnliche Held Jacob, die tapferen Mitstreiter und die Story entfalten genug Spannung, dass man sich auch in diesem Buch dem Sog von Jodi Picoults Erzählung nicht entziehen kann. Erzählt wird aus wechselnden Perspektiven. Der Leser erfährt jede Seite der Geschichte. Er weiß um die Nöte Emmas, aber auch um die von Theo. Er erfährt Hintergründe des Verbrechens vom ermittelnden Polizisten und vom Anwalt die genaue Vorbereitung des Prozesses und seine Führung. Aber auch die Gedankenwelt Jacobs und seine eigene Sicht der Dinge kommen nicht zu kurz. Der Beleuchtung des Themas von allen Seiten, aus aller Augen sozusagen tut dies ausserordentlich gut. Klar kristalliert sich heraus, wie Jacob auf andere wirkt, wie es zu Missverständnissen und Fehleinschätzungen kommen kann.

Die US-amerikanische Autorin Jodi Picoult hat sich beidseits des Atlantiks eine riesige Fangemeinde erschrieben. Ihre Bücher erscheinen zumeist pünktlich zum Leseherbst und sind sichere Bestseller-Garanten. Ihre Bücher folgen einem immer gleichen Schema. Sie verbindet das Drama brisanter Themen mit den Auswirkungen auf eine Familie, akribische Recherche mit moralischen Grundsatzfragen. Ihre Bücher siedeln zwischen Reportage und Roman, immer nahe an ihren Protagonisten und am Thema. Ob es nun um die minutiöse Aufarbeitung eines Amoklaufs geht (19 Minuten) oder um die Frage, ob ein Kind gezeugt werden darf, welches ein Leben lang als Knochenmarkspender für die leukämiekranke Schwester dienen soll. (beim Leben meiner Schwester) – immer legt Jodi Picoult den Finger zielsicher in die Wunden unserer Gesellschaft und legt offen, wie kompliziert menschliche Verflechtungen sein können. Auch wenn man nach jedem ihrem Bücher erschöpfend informiert ist zum jeweiligen Thema – es ist nie langweilig, immer spannend wie ein Thriller, bis sie am Ende dem Leser eine eigene Position abringt – die nicht zwangsläufig mit ihrer eigenen übereinstimmen muss.
Mich erinnern ihre dokumentarischen Romane immer ein wenig an die Readers Digest früherer Jahre. Oft wird – zu Recht – geklagt, dass Qualitätsjournalismus und vernünftige Reportagen selten geworden sind. Eine Geschichte wie die von Jacob hätte ich auch gerne in einem Magazin gelesen. Es scheint, als ob Jodi Picoult in die Bresche springt und diese warum auch immer freigewordene Lücke besetzt. Vielleicht sollte man den Erfolg von Jodi Picoult zum Anlass nehmen, Journalismus im 21. Jahrhundert noch einmal zu überdenken. Der Erfolg gibt Jodi Picoult recht und der Bedarf scheint da zu sein.

Fazit: In den Augen der anderen ist ein echter Jodi Picoult. Sorgfältig recherchiert. Sorgfältig dokumentiert. Man kriegt, was man erwartet. Ihre Fans werden es lieben. Ihre Kritiker werden wieder überheblich den Zeigefinger heben, dass man solche Themen doch nicht für reißerische Romane mißbrauchen könne – um damit zu überspielen, dass sie nur kritisieren, aber davor zurückscheuen, sich brisanten Themen fundiert zu nähern.

Diskussion dieser Rezension im Blog der Literaturzeitschrift.


Genre: Romane
Illustrated by Bastei Lübbe

Die hellen Tage

Neun lange Jahre haben wir gewartet. 2002 wurde Zsuzsa Bank für ihren Debut-Roman “Der Schwimmer” gefeiert und mit Preisen überhäuft. Seit diesem Frühjahr liegt mit den “hellen Tagen” ihr zweiter Roman vor. Von den Lesern geliebt, vom Feuilleton zwiespältig bewertet.

helletage“Die hellen Tage” sind ein Buch über Freundschaft und Liebe, Verrat und Aufopferung, Heimat, über Verlust und brüchige Idyllen. Vor allem aber über die Sehnsucht nach hellen Tagen. Den hellen Tagen, mit denen alles angefangen hat.

Zsuzsa Bank erzählt die Geschichte dreier Familien und die Geschichte einer Lebensfreundschaft. Einer Freundschaft, einst zwischen drei Kindern geschlossen, die sich zum Zeitpunkt der Erzählung nicht erinnern können “an eine Zeit vor dieser Freundschaft, keine Vorstellung davon, wie sie ausgesehen haben könnten, die Tage ohne einander”.
Zsuzsa Bank erzählt von den Tagen miteinander, von dieser Freundschaft, die sie in einem Dreieck hält, aus dem sie sich nie lösen konnten und wollten. Von den Mädchen Siri und Aja, von dem Jungen Karl. Drei, die “lange aneinander gefädelte helle Kindheitstage verlebten, unbelastet von den Verschattungen, die sie doch schon ahnten.”
Sie erzählt von Ajas Mutter, der Seiltänzerin Evi. Evi, die anders war als die anderen Frauen im Dorf Kirchblüt. Deren Haus eigentlich eine Baracke war, aber ein in der Zeit schwebender Ort für die Kinder und ihre Mütter, wo die “Tage hell waren, wenn sie im Schatten der Bäume Grashalme zupften”.
Sie erzählt von Zigi, Ajas Vater, der als Trapezkünstler unter der Zirkuskuppel schwebt und nur wenige Wochen im Jahr präsent ist. Wenige Wochen, in denen sie eine ganz normale Familie sein können, in denen Zigi “mit seinen schiefen Zähnen und dem wirren Haar” Aja und Siri auf seine Schultern setzt und sie lange tragen kann, ohne müde zu werden. Sie erzählt die Geschichte von Evi und Zigi, die einst eine schmale Zeitschleuse nutzten, um über Nacht und ohne Abschied aus ihrem Zirkusleben in Ungarn zu fliehen und ihr Glück in Wanderjahren im freien Westen zu suchen.
Sie erzählt von Karl, dessen Leben von zwei Sekunden bestimmt und unabdingbar getaktet ist. Den zwei Sekunden, die sein Bruder brauchte, um in ein fremdes Auto zu steigen und für immer aus aller Leben zu verschwinden.
Sie erzählt vom gemeinsamen Aufbruch der Freunde nach Rom, der Suche nach einem Ort, an dem es nie schneite, einem Ort voller Licht und Wärme. Von den Fahrten dorthin, die sie andächtig zelebrierten, die Berge hinter sich lassend, den Süden begrüßend. Rom – ein Ort, der in Seris Vergangenheit schon einmal die Rolle der verlorenen Stadt übernahm und in dem sich auch für Seri, Aja und Karl ihre Lebenswege klären und entscheiden werden.
Sie erzählt von der sich entwickelnden Freundschaft der Mütter. Der Mütter, die das Dreieck stützen, die das trotz aller Verluste immer spürbare Glück der drei festhalten, die dafür sorgen, dass ihre Tage hell bleiben können.
Schliesslich erzählt sie die unerwarteten Wendungen in Ajas Leben. Aja, die übers Eis schwebend die Gabe hatte, den Schnee zu spüren, bevor er fiel. Aja, deren Fähigkeit zur Nähe sie eine wunderbare Ärztin werden liess. Aja, deren Idylle sich als die brüchigste erwies und die mehr noch als die anderen beiden das Freundschafts-Dreieck brauchte, um sich im Leben zu halten und den Schatten, die plötzlich über den hellen Tagen lagen, zu widerstehen

Wie in ihrem Debütroman sind auch “die hellen Tage” weitgehend ein Roman übers Erwachsenwerden. Anders ist die Sprache Zsuzsa Banks. Es kündigte sich schon in ihren zwischenzeitlich erschienenen Erzählungen an, die kurzen, klaren Sätze aus dem Schwimmer sind Vergangenheit. Von den hellen Tagen erzählt Zsuzsa Bank elegisch, fast schon poetisch, auf jeden Fall eigentümlich und unvergleichlich. Unwillkürlich fragt man sich, ob man wirklich ein Buch aus unserer Welt, aus unserer Zeit in den Händen hält. Auf jeden Fall ist es ein Buch, welches den Leser lange festhält, ihn nachhaltig begleitet.
Ein bisschen schwebt der Roman, so wie Evi über Seil und Aja übers Eis. Die Handlung wird nicht stringent erzählt, Bruchstücke aus der Vergangenheit verweben sich immer wieder mit der gegenwärtigen Erzählwelt. Zsuzsa Bank widersteht jeder Reflexion. In ihrem Buch gibt es Beziehungen, aber keine Gespräche oder Analysen darüber, es gibt Lebensgeschichten, Wahrheiten und Erkenntnisse, aber keine psychologischen Studien.
Mutig wagt sie sich an Gefühlswelten. Sie weiß, welchen schmalen Grat sie damit betritt. Sie hält ihren Stil und die Balance genau wie Evi auf dem Seil und schafft es – manchmal nur haarscharf – nie die Grenze zum Kitsch zu überschreiten.
Allen Verlusten zum Trotz, allen schmerzlichen Wahrheiten die Stirn bietend, zeugt dieser Roman vom möglichen Glück. Dem Glück, Freunde und Familie zu haben, die einen tragen und auffangen. Die es ermöglichen, die “hellen Tage zu behalten und die dunklen dem Schicksal zurückzugeben.”

Diskussion dieser Rezension im Blog der Literaturzeitschrift.


Genre: Romane
Illustrated by S.Fischer Frankfurt am Main

Geopfert

Gus Dury ist ein ehemaliger Reporter und aktueller Trinker und erklärt sich wider besseres Wissens bereit, die Ermordung des Sohnes eines Freundes aufzuklären. Dazu säuft und prügelt er sich quer durch Edinburgh und macht weder vor russischen Menschenhändlern noch vor korrupten Regierungsmitgliedern halt, denn er hat eine Mission zu erfüllen und aufgeben steht nicht auf seiner Agenda…

„Geopfert“ ist (trotz des wieder mal selten dämlichen deutschen Titels) ein herrlich erfrischendes Buch mit einem echten hard boiled Helden, der irgendwie aus der Zeit gefallen ist und sich nicht anfreunden und abfinden mag mit der schönen neuen schottischen Metropole, hinter deren glänzender Fassade jede Menge Dreck verborgen ist. Verdorbene Politiker, skrupellose neureiche Gangster und natürlich eine mysteriöse femme fatale; dieser Roman enthält alles, was das Herz begehrt.

Tony Blacks Schreibe ist frech, realistisch, machomäßig und erinnert an Mailer oder Hemingway, scottish noir at it’s best. In UK sind bereits drei weitere Bücher der Gus-Dury-Reihe erschienen, und ja, ich werde sie alle lesen, der Autor hat das mehr als verdient.


Genre: Kriminalromane
Illustrated by Zsolnay Wien

Der Besucher

Schauerroman? Gesellschaftsroman? Psychologische Studie? Die britische Autorin Sarah Waters gibt ihren Lesern einige Rätsel auf. Fest steht am Ende, der Besucher ist ein gut unterhaltender, ganz und gar nicht schauerlicher Schmöker.

Der BesucherHauptschauplatz des Geschehens ist Hundreds Hall, ein jahrhundertealtes, vom Verfall bedrohtes Herrenhaus im englischen Warwickshire. Auf der einen Seite haben wir die zum englischen Landadel gehörende Witwe Mrs. Ayres. Sie residiert mit ihren erwachsenen Kindern Roderick und Caroline auf Hundreds Hall. In den Jahren nach dem ersten Weltkrieg versuchen sie verzweifelt, den verwunschenen Familiensitz vor dem Verfall zu retten und einen einstmals als selbstständlich genommenen Lebensstil aufrecht zu erhalten. Auf der anderen Seite gibt es Dr. Faraday. Junggeselle und Landarzt, der sich mühevoll aus dem Arbeitermilieu hochgearbeitet hat. Seine Mutter war einst Kindermädchen bei den Ayres und behütete die unter ungeklärten Umständen um Leben gekommene Erstgeborene. Faraday war schon als Kind fasziniert von der prachtvollen, aber auch mystischen Erscheinung Hundreds Halls. Haus und Bewohner erschienen ihm wie aus einer anderen Welt und begründeten seine lebenslange undefinierte Leidenschaft für Hundreds Hall.
Eines Nachts wird der Arzt zum Herrenhaus gerufen. Er nutzt die Gelegenheit, den Kontakt zur Familie zu begründen. Auch wenn sie aus unterschiedlichen Schichten stammen, eine entscheidende Gemeinsamkeit haben Faraday und die Familie. Sie alle suchen ihren Platz in der veränderten Gesellschaft des Nachkriegsenglands. Dr. Faraday wird bald zum Vertrauten der Familie, fühlt sich zugehörig und übernimmt – teils ungebeten – Verantwortung für Hundreds Hall und seine Bewohner. Schon bald erfährt er von seltsamen, unerklärlichen Vorgängen. Es beginnt mit sich verschiebenden Gegenständen und Möbeln, kryptischen Zeichen, die plötzlich an den Wänden auftauchen und unerklärlichen bedrohlichen Geräuschen im Haus und endet schliesslich in Bränden, versuchten und gelungenen Selbstmorden. Der Mann der Wissenschaft versucht, immer wieder natürliche Erklärungen zu finden und drängt die Familie zu unglücklichen Konsequenzen. Der Sohn wird in die Obhut eines Irrenhauses gegeben, doch es hilft alles nichts. Die Schicksalsfäden der Familie sind gezogen und umspannen die Familienmitglieder sowie den Herrn Doktor einen nach dem anderen unerbittlich und ausweglos.

Sarah Waters ist eine preisgekrönte britische Schriftstellerin, die vor dem Besucher vor allem mit Büchern aus dem lesbischen Milieu Aufmerksamkeit erregte. Mit dem nun vorliegenden Roman, erst der zweite ins Deutsche übersetzte, wagt sie sich erstmals in Mystery Gefilde. Sie erzählt die Geschichte gekonnt, ihre flüssige Sprache verdichtet die Ereignisse und bringt dem Leser so die gesellschaftlichen Umstände jener Zeit nahe. Sie lässt sich Zeit, beschreibt detailverliebt die Schauplätze und charakterisiert ihre Protagonisten psychologisch fundiert. Zugegeben, der Spannungsbogen leidet darunter. Das dürfte aber nur denjenigen stören, der einen Horror-Roman in schnellem Tempo erwartet. Meinem Empfinden nach hebt genau dies den Besucher über das Level einer reißerischen Horrorgeschichte hinaus und bestärkt meine Vermutung, dass die Intention der Autorin eher ein Gesellschaftsroman war. Ein Roman, der die Elemente des Schauerromans verstärkend nutzt, um die Geschichte eines schauerlichen Untergangs zu erzählen.

Ich habe mich gut unterhalten, auf mehr als 500 Seiten fein geschmökert und mich anschließend beim Lesen diverser Buchbesprechungen im Netz bestens amüsiert. Da waren sie wieder alle. Die sofort schreien, wenn Fragen offen und Lösungen ungeklärt bleiben. War es nun a) Wahn oder doch b) ein Poltergeist? Es wird diskutiert, man erregt sich, die Diskussion verselbstständigt sich und übersieht das, was wirklich geschrieben steht. Ohne allzu viel verraten zu wollen, weise ich zum einen dezent daraufhin, dass dieses Buch einen Titel hat und dieser Titel mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht zufällig gewählt wurde. Des weiteren verweise ich auf das Gespräch zwischen Dr.Faraday und dem Kollegen Seeley über die Theorie des Kräfte freisetzenden Traum-Ichs und schlussendlich auf die Traumsequenz Faradays (übrigens der Name!! Nachtigall und so…. ) in der letzten Katastrophennacht sowie seine epischen selbstberuhigenden Rechtfertigungen zum Ende des Romans! Bleibt als offene Frage, ob Mrs.Waters sich nicht heimlich auf ihrer Insel amüsiert, weil keiner Lösung C diskutiert ?

Mein Fazit: Mit dem Besucher begibt man sich auf eine schaurig schöne Reise. Ein Schmöker, wie gemacht für lange Winterabende, aber auch durchaus okay für faule Urlaubstage.

Diskussion dieser Rezension im Blog der Literaturzeitschrift.


Genre: Romane
Illustrated by Bastei Lübbe

Gott bewahre

Im Himmel ist die Hölle los: Gott war gerade mal eine Woche (entspricht allerdings 450 Erdenjahren) beim Angeln und als er zurück kommt muss er feststellen, dass dort unten alles den Bach runtergeht. Also ruft er seine heiligen leitenden Angestellten und seinen Sohn (der eigentlich viel lieber mit Jimi Hendrix Joints raucht und Gitarre spielt) zur Krisensitzung zusammen. Nach einem kurzen Abstecher in die Hölle ist schnell klar: JC muss noch einmal auf die Erde und der verkommenen Menschheit Gottes einziges Gebot nahe bringen: SEID LIEB!

Jesus landet in New York City und sammelt schnell die Verlorenen um sich, Junkies und Obdachlose, denen er hilft, so gut er kann. Dem großen Ziel bringt ihn das jedoch nicht unbedingt näher und so lässt er sich von seinen Freunden einigermaßen leicht überreden, bei „American Pop Star“ teilzunehmen, einer ebenso dämlichen wie erfolgreichen Casting-Show. Im Gepäck seine Gitarre und seine neuen Jünger macht sich Jesus auf den Weg nach Los Angeles, um von dort via TV die Welt zu verändern…

John Niven ist mit diesem Buch ein veritabler Rundumschlag gegen das konservative Amerika gelungen; verschont wird niemand und Gefangene werden nicht gemacht. Alle bekommen sie ihr Fett weg: Schwulenhasser und Abtreibungsgegner, rassistische Politiker und geldgierige Fernsehproduzenten, bigotte Hinterwäldler und natürlich der Papst. Der Autor versucht zu schockieren und das gelingt ihm zweifellos, ein Gott und sein Sohn, die sich fluchend durch den Roman kiffen, dürfte ihm kaum den Segen der katholischen Kirche einbringen.

Das Buch beginnt sehr vielversprechend, besonders die Szenen in der Hölle, wo der geneigte Leser beliebte Charaktere wie Jerry Falwell, Jesse Helms und Ronald Reagan antrifft sind in ihrer extremen Überdrehtheit nur schwer zu übertreffen. Im Mittelteil zieht sich die Casting-Tingelei ein wenig, auch wenn Niven (ehemals selbst Song-Produzent) immer dann seine stärksten Momente hat, wenn er bei den Musikauftritten seine geballte Kompetenz in die Waagschale werfen kann. Und auch gegen Ende weiß der Autor zu überzeugen; Jesus’ letzter TV-Auftritt ebenso wie der darauf folgende finale Teil können mit echter Empathie vielleicht sogar den einen oder anderen Kirchgänger wieder versöhnlich stimmen.

Ich fand das Buch (das im berüchtigten Heyne Hardcore-Verlag bestens aufgehoben ist) überaus lesenswert und erfrischend witzig, auch wenn es mit der Vulgärsprache bisweilen übertrieben wird und auch mancher Logikfehler vermeidbar gewesen wäre. Dennoch ist die kontroverse Aufarbeitung dieses heiklen Themas sicherlich nicht jedermanns Sache.

P.S.: Im aktuellen (deutschen) Septemberheft des „Rolling Stone“ findet sich neben einer Leseprobe ein ausführliches Interview mit dem Autor, der sich übrigens demnächst auch hierzulande auf Lese-Tournee begibt.


Genre: Humor und Satire
Illustrated by Heyne Hardcore München

Super Sad True Love Story

Die ganz nahe Zukunft in den USA: Wirtschaftlich spielt die einstige Supermacht keine Rolle mehr, dafür stecken sie nach einer Invasion in Venezuela auch militärisch gehörig in der Bredouille. Ein Euro kostet mehr als acht Euro und Leitwährung ist längst der Yen; als mächtigster Mann der Welt gilt der chinesische Generalbanker.

Lenny Abramov, der reichlich naive Sohn jüdisch-russischer Immigranten, literarisch interessiert und wahrscheinlich der letzte Tagebuchschreiber Amerikas, kehrt nach einem einjährigen Auslandsaufenthalt in Rom zurück nach New York und muss schon bei der Einreise feststellen, dass das politische Klima rauer geworden ist: Polizei und Militär prägen das Stadtbild. Doch Lenny hat andere Dinge im Kopf; ist er doch frisch verliebt: Eunice Park heißt die Angebetete, eine wesentlich jüngere Frau koreanischer Abstammung mit familiären Problemen, die bald zu ihm zieht und das Glück zunächst perfekt macht.

Allerdings plagen Lenny auch Probleme, denn er ist 39 und gehört in einer Gesellschaft, die dem Jugendwahn frönt, längst zum alten Eisen. Seine Arbeit für einen Konzern, der den Superreichen Lebensverlängerung verspricht, konfrontiert ihn täglich mit dieser Tatsache und auch die jungen Konkurrenten im Job setzen ihm gehörig zu. Und so taumeln Lenny und Eunice in eine fragile Beziehung, während sich um sie herum die ökonomischen und politischen Krisen zuspitzen und die Ausgestoßenen der Gesellschaft zu rebellieren beginnen…

Gary Shteyngart zeichnet durchaus überzeugend ein düsteres Zukunfts(?)bild der Vereinigten Staaten, die sich als Folge der nachhaltigen Wirtschaftsturbulenzen zu einer Mischung aus Polizeistaat und Militärdiktatur entwickelt haben. Da man sich den Gläubigern aus Europa und China in strahlendem Glanz präsentieren möchte, sind Säuberungsaktionen beim unterprivilegierten Teil der Bevölkerung an der Tagesordnung, während diejenigen, die noch Arbeit haben weitgehend mit sich selbst beschäftigt sind.

Mit ihren „Äppäräts“ genannten Kleinstcomputern werden permanente Rankings erstellt, gemessen wird dabei alles Erdenkliche, neben Kreditwürdigkeit auch die wirklich wichtigen Dinge wie personality und fuckability. Weiterer unabdingbarer Bestandteil des Daseins ist das GlobalTeens-Network (eine Art überdimensioniertes Twitter), mit dem rund um die Uhr Belanglosigkeiten in alle Welt geblasen werden. So feiert der Analphabetismus fröhliche Urständ, Bücher sind verpönt und auch deshalb ist Lenny, der seine Wohnung mit Literaturklassikern gefüllt hat ein Außenseiter, ein stiller Rebell. Doch auch eher unpolitische Menschen wie er und Eunice können sich nicht entziehen der normativen Kraft des Faktischen.

Der Autor selbst begegnet diesem geschilderten Verfall der Sprache und Kultur mit sorgfältigen und präzisen Formulierungen, bisweilen poetisch, aber nie antiquiert. Der Roman ist aufgebaut aus sich abwechselnden Tagebucheinträgen (Lenny) und Textnachrichten (Eunice); ein gekonnt eingesetztes Stilmittel, das die Gegensätze des ungleichen Paares verdeutlicht, denn „Super Sad True Love Story“ ist trotz aller implizierten Kritik an den realen oder fiktiven politischen und sozialen Verhältnissen eben auch eine Liebesgeschichte. Es kommt nicht allzu oft vor, dass ich unseren Feuilletonisten uneingeschränkt zustimme, aber hier ist die Euphorie angebracht, das Buch sollte man gelesen haben.


Genre: Romane
Illustrated by Rowohlt