Das Teubner Handbuch Saucen

Wie schön, wenn man ein wirklich gutes Kochbuch in den Händen hält. Im „Handbuch Saucen“ aus dem Teubner Verlag stimmen nicht nur die Fotographien und die Texte, sie harmonieren auch noch wunderbar miteinander. Die Texte sind verständlich und hilfreich und die Fotos unterstützen deren Aussagen. Eine Wohltat.

Das Buch erklärt die Grundlagen der Saucenherstellung. Es erzählt von Kräutern, Gewürzen und den anderen Zutaten, die für eine gute Sauce wichtig sind. Wie Fonds, Jus und Glace gemacht werden, bleibt ebenso wenig unbeantwortet wie die Frage nach den Rezepten für wichtige Grundsaucen. Auf den 448 Seiten wird die Welt der Saucen in Verbindung zum eigentlichen Gericht dargestellt: Welche Saucen passen zu Geflügel? Was schmeckt gut zu Fleisch und Wild? Was verlangt guter Fisch, was Salat, Gemüse, Teigwaren und womit „rückt“ man Süßwaren zu Leibe?
Die Antworten sind so formuliert, dass man das Buch nicht sehr lange in Händen hält. Aber nicht etwa, weil es etwas zu kritisieren gäbe, sondern weil der Inhalt im Gegenteil derart appetitlich ist, dass man sich zwangläufig und möglichst schnell in die eigene Küche begeben will, um etwas aus diesem wirklich hilfreichen Buch zuzubereiten. Wie wäre es beispielsweise mit einer Holundersauce zur gefüllten Wildhasenkeule? Oder kennen Sie Safran-Aioli? Schmeckt sehr gut zu Kartoffel-Lamm-Spießen.

Um an den Anfang dieser Buchbesprechung zurückzukehren: Ein gutes Kochbuch in den Händen zu halten, ist leider eher selten. Bei der Unmenge an Kochbüchern, die in den Buchhandlungen einen nicht unwesentlichen Teil der Regale bevölkern, klingt dies merkwürdig.
Was also macht ein gutes Kochbuch aus? Bevor wir einen Glaubenskrieg auslösen, bekennen wir: Auf diese Frage gibt es mehr als eine Antwort. Fangen wir also neu an: Was kann jedes gute Kochbuch entbehren? Vorworte der blumigen Art, die seitenlang nichts über die Materie, dafür umso mehr über die Autorin oder den Autor des Vorwortes verraten. Ebenso sinnlos sind Bilderstrecken, die mit den sie umgebenden Rezepten nichts gemein haben und allenfalls dazu dienen, der geneigten Betrachterin und dem staunenden Betrachter (Leserin bzw. Leser kann man in diesem Zusammenhang nicht schreiben, da es bei gemeinten Werken praktisch nichts zu lesen gibt) vor allem eines zu verdeutlichen: „Strengt Euch gar nicht erst an, so schön, wie unser Food-Fotograph bekommt ihr das sowieso niemals hin!“
Leider lässt sich solcherlei Kritik mittlerweile auf die Mehrzahl der auf dem Büchermarkt befindlichen Werke anwenden. Dies alles gilt ausdrücklich nicht für das hier vorgestellte Buch. Im „Handbuch Sausen“ sind die Fotographien tatsächlich in der Lage Zusammenhänge deutlich zu machen und notwendige Arbeitsschritte in der Küche zu illustrieren. Die Texte erklären Zusammenhänge und sind hilfreich.
In der Unterzeile zum Titel verspricht der Verlag: „Von Aioli bis Zitronensauce“. Natürlich stimmt das erst einmal – da das Alphabet ganz durchdekliniert wird. Der enzyklopädische Anspruch, den ein solcher Titel evoziert, ist vielleicht noch das kritikwürdigste an diesem Buch. Wer glaubt schon ernsthaft, er könne die kulinarische Welt – und sei es, die der Saucen – in einem Buch abbilden? Ein gutes Stück davon haben die Leute von Teubner aber doch eingefangen. Und das haben sie wirklich gut gemacht.


Genre: Lexika und Nachschlagewerke
Illustrated by Teubner Hamburg

Der Reiher

Dieser Roman schildert den letzten Tag im Leben von Edgardo Limentani, einem jüdischen Rechtsanwalt und Landbesitzer aus der oberitalienischen Stadt Ferrara. Limentani beschließt an diesem Tag endlich einmal wieder in die Valle, einer südlich des Po-Deltas gelegenen Sumpflandschaft, auf Jagd zu gehen. Limentani fährt in die Sümpfe, legt dabei einen Stopp ein, führt ein Gespräch mit dem Gasthauswirt Bellagamba und unternimmt einen Versuch, sich mit seinem Cousin Ulderico zu verabreden. Auf der Rückfahrt verschenkt Limentani die gesamte Jagdbeute, die obendrein gänzlich von seinem Jagdhelfer erlegt wurde. Er ruht sich im Gasthaus von Bellagamba aus, bevor er in sein Haus zurückkehrt, um sich dort in sein Zimmer zurückzuziehen. Für immer.

So wenig in „Der Reiher“ äußerlich geschieht, so intensiv wird die Lektüre durch das, was sich in Edgardo Limentani und durch das, was mit ihm geschieht. An das Ende dieses 152 Seiten umfassenden Romans angelangt, weiß der Leser, dass Edgardo Limentani beschlossen hat, seinem Leben ein Ende zu setzen. Im Alter von 45 Jahren. So wenig, wie offensichtlich an diesem Tag geschehen ist und den der Autor Giorgio Bassani so eindringlich zu schildern vermag, so schwer wiegt für Limentani diese Gleichförmigkeit und von Banalitäten strotzende Handlung. Neben der Hauptfigur Limentani wird Bassanis Geschichte von wenigen Personen bevölkert. Der Inhaber eines Gasthauses mit Zimmern, namens Bellagamba, der Jagdhelfer, der in den Sümpfen Edgardo Limentani nicht nur führt und hilft, sondern eigentlich allein für die Jagdausbeute sorgt sowie Ulderico, der Cousin des Landbesitzers spielen eine Rolle. Und die Zeit, in der diese Geschichte spielt: Wenige Monate nach dem Ende des italienischen Faschismus und der Kapitulation Nazi-Deutschlands.
Bellagamba ist ein Faschist der ersten Stunde und begegnet Limentani fast unbefangen. Sein Cousin hatte Mussolini ebenso begeistert zugejubelt, wie er sich nun mit dem neuen, demokratischen System, arrangiert. Sein Jagdhelfer zeigt ihm eine Zielstrebigkeit in der Jagd, die ihm vor lauter grüblerischer Selbstbefragung abgeht. Kurz nach dem Ende des Faschismus, nach Krieg und Holocaust kann ein Tag so banal sein, als ob eigentlich nichts geschehen wäre. Giorgio Bassani, einer der Großen der italienischen Literatur des 20. Jahrhunderts, wurde oft als einer der „leisesten Schriftsteller Europas“ bezeichnet. Tatsächlich erzählt Bassani in seinen Romanen und Erzählungen in einer Beiläufigkeit vom Leben der Menschen in seiner Heimatstadt Ferrara, die durchaus etwas atemberaubendes hat. Bassani beschreibt eine über jahrhunderte entstandene, einmalige, scheinbar voll assimilierte Kultur des Judentums in Ferrara. Das Wissen darüber, dass es wenig bedurfte, um das zu Negieren und dass diese Kultur mit dem Holocaust unwiederbringlich untergegangen ist, bewirkt eine Intensität dieser Erzählungen, die literarisch ihresgleichen sucht.
Alfred Andersch formulierte schon 1968: „Die Größe Bassanis kann daran erkannt werden, dass der Leser seiner Bücher sich der Stadt Ferrara nicht mehr als Tourist nähern kann, weder als naiver noch als kenntnisreicher. Ferrara wird ihn in erster Linie als Schauplatz der Erzählungen Bassanis interessieren.“


Genre: Belletristik
Illustrated by Klaus Wagenbach Berlin

Die Aprilhexe

Ihre Schwestern können alles – laufen, sprechen, schreiben, singen, arbeiten, streicheln -, sie kann nichts davon. Desirée ist schwer behindert, ans Bett gefesselt, abgeschoben. Und doch ist sie freier als ihre Stiefschwestern, von denen sie erst spät erfährt. Sie kann das Universum und die Menschen durchschauen. Sie kann sie sogar manipulieren, kann in den Köpfen von Tieren und Menschen spazierengehen und so das Leben erleben. Freilich ist der Preis hoch. Desirée büßt weitere Funktionen ihres gepeinigten Körpers ein. Doch sie erreicht, daß ihre drei ungleichen Schwestern aufmerken und innehalten müssen in ihrem ausgefüllten Alltag. Christina, die einst so verängstigt und brav war und sich nun für ihre Familie und ihre Patienten aufopfert und doch weiter auf ihr eigenes Quäntchen Glück hofft. Margareta, das fröhliche, lesesüchtige Mädchen, das zu einer liebeshungrigen, nach außen starken Frau und wegen eines überwältigenden Sonnenaufgangs in einsamer Natur Physikerin geworden ist. Und Birgitta, die wilde, ungebärdige, weißblonde Schönheit, die den gefährlichsten Jungen der Stadt bezirzt hat und jetzt nur noch eine alte, kranke Alkoholikerin ist. Was ist geschehen? Drei Briefe bringen die Schwestern zusammen und in Aufruhr, rufen das Leben bei Ellen in Erinnerung, die für alle gesorgt hat.
Desirée will es wissen. Wie haben die anderen gelebt? Wer hat ihr Leben weggenommen? Sie befreit sich aus ihrem beengten Leib und taucht ein in des Dasein der anderen. Und: Sie gibt sich der Liebe hin, ihrer einzigen, ein einziges Mal.
Majgull Axelsson hat einen eindringlichen Roman voller Beklemmung und Überschwang geschrieben. Mit ihrer Kunst des Erzählens läßt sie magische Geschichten entstehen, die zwischen gestern und heute, Dichtung und Wahrheit schwingen. Sie zeichnet ein präzises und kritisches Bild ihrer schwedischen Heimat und geht doch weit über ein modernes Sittengemälde hinaus. Sie hebt die Grenzen zwischen Individuum und Gesellschaft auf und eröffnet ihren Lesern neue Räume jenseits der Realität.


Genre: Romane
Illustrated by C. Bertelsmann München

Häuptling Eigener Herd Nr. 36

Lärm & Gestank. Das ist zwar nicht Programm, wohl aber Titel und Thema der neuen Ausgabe der vierteljährlich erscheinenden Zeitschrift „Häuptling Eigener Herd“. Diese Sammlung von Texten und Zeichnungen zu allen wesentlichen kulturell-kulinarischen Themen, die die Menschheit bewegen, wird seit nunmehr 36 Quartalen von Vincent Klink und Wiglaf Droste herausgegeben. Und die Kombination der beiden Herausgeber ist dann doch Programm für diese mehr als nur vergnügliche Zeitschrift. Professionell in Küche und an der Tastatur oder dem Schreibstift sind sie, der Musik- und Textbegabte Profikoch aus Stuttgart und der genusssüchtige Wortkünstler aus Ostwestfalen.

In der neuen Ausgabe beschäftigen sich wieder eine ganze Reihe bekannter Autoren, wie beispielsweise Fritz Eckenga und noch nicht so bekannte, gleichwohl begabte Autorinnen und Autoren mit der Themenvorgabe der beiden Herausgeber. „Lärm & Gestank“ sind natürlich etwas, was in allen Küchen so oder so schon mal seinen Platz “findet”. Dass aus der literarischen Beschäftigung damit im “Häuptling” keine wissenschaftliche Abhandlung wird, dürfte klar sein.

In seinem Beitrag mit dem Titel „Milch, Käse und Köttel. Ansichtskarte aus der Tessiner Bergwelt“ beweist Eckenga einmal mehr Meisterschaft, wenn er fast romantisch anmutende Naturbeschreibungen für den Einstieg wählt, um dann aber – gar nicht im Widerspruch dazu – das beschreibt, was auf einer Alm geschehen kann, aber auf ähnlichen Ansichtskarten fehlt: „(…)Eine Ziege geht auch nicht weg, wenn ich versuche, sie zu verscheuchen. Hebt entweder kurz den Kopf, aus dem mich ein Paar gelber Augen mit mitleidloser Verachtung ankuckt, oder dreht mir gleich das Hinterteil zu, um mir einen weiteren Haufen stinkendes Elend vor die Fuße zu legen. Gleich werde ich mit brettharter Lässigkeit den kurzen Weg zur Alphütte gehen. Ich werde nicht versuchen, den herumliegenden Hindernissen auszuweichen. Das geht gar nicht. Ganz gleich, wo man hergeht, die Ziegen waren schon alle da. (…)

Zu guter Letzt wird das vorliegende Heft mit einem Special „NAPOLI“ abgerundet und abgeschlossen. Ganz unpassend zum Heftthema jedenfalls berichtet Vincent Klink aus der Metropole Kampaniens. Von Ruhe und Duft Neapels, natürlich von Pizza aber auch ganz anderen kulinarischen Freuden und Besonderheiten.

Wer den „Häuptling Eigener Herd“ noch nicht kennt, sollte dies ändern – die Lektüre bereitet einfach zu viel Freude, um auf sie zu verzichten.

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Genre: Humor und Satire
Illustrated by Unbekannter Verlag

Die Loge der Unschuldigen

Der Leiter der Mordkommission von Florenz, Kommissar Ferrare, ermittelt im zweiten Band der mittlerweile auf drei Bücher angewachsenen Krimireihe von Michele Giuttari parallel an zwei Fällen. Der erste Fall scheint zunächst nicht auf ein Verbrechen hinzudeuten. Ein sechzehn Jahre altes Mädchen wird von der Polizei am Straßenrand außerhalb Florenz aufgefunden. Sie liegt im Koma und stirbt wenige Stunden später in der Klinik der Arnometropole, wohin sie die Polizisten bringen lassen. Kommissar Ferrara allerdings traut der Diagnose der Krankenhausärzte nicht, die von einem Selbstmord oder einem Tod durch eine Überdosis Heroin ausgehen. Er lässt weiter ermitteln und sticht damit in ein Wespennest. Als dann im Verlaufe der Geschichte in einem zweiten Fall sein bester Freund als mutmaßlicher Mörder auf die Fahndungsliste der Carabinieri gesetzt wird, gerät die Welt des Commissario Ferrara fast aus den Fugen.

Die Ermittlungen bringen Ferrara erst in Konflikt mit dem Chefarzt, der den Totenschein für die junge Herointote ausgestellt hat und in Folge mit einem nicht unbedeutenden Teil des Establishment von Polizei und Justiz. Ein Zusammenhang mit Freimaurerlogen deutet sich im Verlaufe der Ermittlungen an. Diese stehen spätestens seit dem italienischen Korruptionsskandal, der das gesamte politische System Italiens aus den Angeln gehoben hat, in keinem besonders rosigen Licht: Die Loge P2 stand im Mittelpunkt von Ermittlungen, die bis hin zum Verdacht von Vorbereitungen für einen Staatsstreich reichten.
Ferrara aber bohrt. weiter Als er im zweiten Fall, in dem sein bester Freund als Mörder gesucht wird, dessen Unschuld beweisen will und auf Mafiaverbindungen stößt, wird er vom Dienst suspendiert. Alles scheint darauf hinzudeuten, dass diese Geschichte in einer beruflichen und persönlichen Katastrophe endet.


Genre: Kriminalliteratur
Illustrated by Bastei Lübbe Bergisch Gladbach

Wir schnallen den Gürtel weiter

Wiglaf Droste & Vincent Klink: Das ist mal ein Gespann. Der eine führt eine der schärfsten und bösesten Federn im deutschen Literaturgestrüpp. Der andere führt ein formidables Restaurant und thront über den Hügeln Stuttgarts. Beide zusammen geben seit 1999 eine Zeitschrift mit dem eingängigen Titel „Häuptling Eigener Herd“ heraus. Nun ist im Reclam Verlag „Eine Essenz aus Häuptling Eigener Herd“ unter dem Titel erschienen, der zugleich das Motto jener Zeitschrift ist: „Wir schnallen den Gürtel weiter“. Weiterlesen


Genre: Humor und Satire
Illustrated by Reclam Stuttgart/Dietzenbach

Die schwarze Seele des Sommers

Commissario Salvo Montalbano erlebt einen Sommer, der nicht nur ihn zermürbt. Seine Verlobte kommt, samt bester Freundin, deren Mann und Kind, nach Sizilien. Montalbano muss ein Ferienhaus besorgen, womit allerdings nach kurzer Zeit überraschend der Ärger beginnt. Eine Invasion von Küchenschaben löst ein Chaos aus, das sich bis zum Auffinden einer Leiche steigert. Auf den ersten 100 Seiten ist alles dabei, was normale Menschen in den Wahnsinn treibt und Krimileser in gute Laune versetzt.

Dabei fängt die Geschichte so harmlos an. Es ist August, Salvo Montalbano liegt in seinem Häuschen am Strand von Marinella ,als ihn seine Verlobteanruft, die bekanntlich in Genua lebt. Da in der Beziehung der beiden so entfernt Lebenden nichts einfach ist, wird auch aus diesem Wiedersehen nichts Normales. Livia bringt ihre beste Freundin mit, die ihrerseits Mann und Kind im Gepäck hat. Die Folge: Montalbano muss sich um ein Haus am Meer kümmern. Und das bei Gluthitze. Leserinnen und Leser, denen der sizilianische Kommissar kein Fremder mehr ist, können sich dessen Gemütsverfassung ob einer solchen Aufgabe ausmalen. Natürlich löst die Hauptfigur der Krimireihe von Andrea Camilleri auch diese Aufgabe, wenn schon nicht im Handumdrehen, dafür aber bravourös – denkt Montalbano jedenfalls. Dumm nur, dass sich im Keller des Ferienhauses eine Leiche befindet – und das ist nicht im übertragenen Sinne gemeint.

Das Ferienhaus liegt oberhalb eines Strandes und hat ein Untergeschoss, das illegal errichtet wurde. Was nichts Besonderes ist, stellt doch das Bauen ohne Genehmigung in Sizilien offensichtlich eine lässliche Sünde dar, die praktisch nicht verfolgt wird. Wenn allerdings seit sechs Jahren in diesem Untergeschoss unentdeckt eine Leiche liegt, dann stellen sich auch sizilianische Behörden dieser Aufgabe. Montalbano ermittelt und lernt u.a. einen Bauunternehmer kennen, der den Prototypen des korrupten Fieslings abgibt und prompt unter Verdacht gerät.
Noch mehr als der für ihn alltägliche Umgang mit Korruption, macht Montalbano allerdings sein Alter zu schaffen. Nicht dass der Kriminalpolizist gebrechlich würde. Körperlich ist der Mann fit, schwimmt jeden Tag und scheint auch durchaus ansehnlich geblieben zu sein. Aber gerade seine Anziehungskraft auf jüngere Frauen ist es, die ihm zu schaffen macht. Während seine Verlobte, gemeinsam mit bester Freundin nebst Familie, nach dem Fund der Leiche empört die Insel verlässt und Montalbano konsterniert zurücklässt, begegnet ihm die Zwillingsschwester der Toten. Und die ist „molto bella“….

Wie immer in dieser Krimireihe ist der Plot hinreichend spannend, man kann tatsächlich von einer Kriminalgeschichte reden. Das eigentlich Interessante sind aber die Protagonisten der Geschichten, ihre Landsleute und die Umgebung. Mit einem Wort: Sizilien. Andrea Camilleri, selbst Sizilianer, versteht es meisterhaft eine Ahnung von der Widersprüchlichkeit des Lebens auf der größten Mittelmeerinsel zu vermitteln. Und da eine weitere Zutat der Geschichten von Camilleri ein manchmal überbordender und zugleich grimmiger Humor ist, trainiert die Lektüre nicht nur die Gehirnzellen sondern auch gleich das Zwerchfell.


Genre: Kriminalromane
Illustrated by Bastei Lübbe Bergisch Gladbach

Venedig unter vier Augen

Noch ein Buch über Venedig? Nicht, dass sich der amerikanische Romancier Louis Begley und seine Frau, die Biographin Anka Muhlstein nicht auch diese Frage gestellt hätten. Glücklicherweise hat sie das aber nicht davon abgehalten, „Venedig unter vier Augen“ zu schreiben. Begley eröffnet den Band mit einer Erzählung, nach deren Lektüre die Koffer gedanklich schon gepackt sind. Anka Muhlstein schließt sich mit der Beschreibung ihrer Lieblingsorte und Lieblingsrestaurants in der Lagunenstadt an. Danach möchte man den Rest des Buches nur noch auf der Reise in die Serenissima lesen. Dieses Buch ist nichts mehr und nichts weniger als eine überaus gelungene Liebeserklärung an Venedig.

Das im Mare-Buchverlag schon 2003 erschienene Buch, nun auch als Taschenbuch bei Fischer zu haben, besteht aus vier Teilen. Den Reigen eröffnet Louis Begley mit einer Erzählung, die von der erotischen Initiationsgeschichte eines amerikanischen Studenten und natürlich in Venedig handelt. Lilly, einer Mitstudentin aus vermögendem Hause nach Venedig nachreisend, hat er nach seinem Aufenthalt in der Lagunenstadt ebensoviel über Lilly erfahren, wie von der Topographie, von Kunst und Kultur in Venedig. Die Liebe zu dieser außergewöhnlichen Stadt überdauert die Begierde nach Lilly, die ihm zu Beginn der Erzählung erklärte, wie man am besten nach Venedig komme: „Der Königsweg nach Venedig, sagte Lilly, ist in einer Gondel. Alles andere wäre Frevel.“ Diesem Ratschlag, das schreibt uns Begley mit einem Zitat hinter die Ohren, wäre Thomas Mann nicht gefolgt. Dieser nämlich meinte, dass auf dem Bahnhof in Venedig anzukommen, einen Palast durch die Hintertür betreten hieße. Welche Wege die Begleys in Venedig betraten, davon handelt der zweite Teil des Buches.

Anka Muhlsteins beschreibt in „Die Schlüssel zu Venedig die Lieblingsorte und die Restaurants in Venedig, „die Begegnungen mit ihren Padroni und dem Bedienungspersonal“, die den Begleys die Stadt und ihre Einwohner auf besondere Weise näher gebracht habe. Kulinarisch darf man dabei nicht allzu viel erwarten. Im Gegenteil wird eingangs über eines der Lokale lobend berichtet: „Louis erklärte, er habe noch nie einen so guten Hamburger gegessen“. Die Orte und Lokale, von denen Anka Muhlstein erzählt, werden durch die Menschen lebendig, die sie bevölkern und die in ihnen arbeiten. So wird Muhlsteins Beschreibung vor allem eine Hommage an das Venedig der Venezianer und nicht das der Touristen.

Diesen beiden Texten folgt ein Fotoalbum mit Fotografien der Begleys, ihrer Kinder und Enkel in Venedig. Eine Abhandlung von Luois Begley über Venedig und die Literatur beschließt das Buch. Begley schreibt über den Ort und seine Schriftsteller und über die Frage, wie sich die Lektüre eines Buches verändert, hat man Venedig erst einmal kennengelernt.

Und um die Frage noch einmal aufzugreifen, die wir am Anfang dieses Literaturtipps gestellt haben, sei hier Louis Begley zitiert, der widerrum einen berühmten Kollegen zitiert:
„Venedig: es ist eine Freude, das Wort zu schreiben, aber ich weiß nicht, ob es nicht eine gewisse Anmaßung wäre, wollte man so tun, als sei dem noch etwas hinzuzufügen. Venedig ist tausendfach gemalt und beschrieben worden und von allen Städten der Welt am leichtesten zu besichtigen, ohne dass man eigens dorthin reist…“ Dieses Zitat stammt von Henry James, der zu seinem Ruhm und unserem Glück – gegen den eigenen Rat wieder und wieder über „la Serenissima“ schrieb.


Genre: Belletristik
Illustrated by marebuch-verlag Hamburg

Führer in die Innere Mongolei

Der Ich-Erzähler erbt von einem Freund, der sich aus dem Leben verabschiedet, einen Job: Er soll eine Reportage über die Volksrepublik Mongolei verfassen. Dieser Auftrag wurde von einer Zeitschrift vergeben, deren erste Nummer allerdings erst in ein paar Jahren erscheinen soll, sofern sich Geldgeber finden, die das Erscheinen des Blattes finanzieren. Da eine Arbeit aber nun einmal erledigt werden muss, so sinnlos sie auch scheint, reist der Autor aus Berufsethos nach Ulan Bator. Dort strandet er im Hotel »Dschingis Khan«, bleibt an der Bar kleben und pendelt zwischen Hotel und dem Bistro »Stern des Ostens«.

Absurde Typen kreuzen seinen Weg: ein holländischer Bischof, der trotz vieler Glaubenszweifel im nahe gelegenen Bordell missioniert; ein amerikanischer Korrespondent, der für ein längst eingestelltes Bostoner Abendblatt schreibt, ein Lama, der als Spitzel zum KGB übergewechselt ist, und ein angeblicher Doktor, der zu Seancen auf sein Hotelzimmer einlädt. Und während der Chefmeteorologe des Landes wegen einer falschen Voraussage hingerichtet werden soll, sitzt die britische Schauspielerin Charlotte Rampling in der Lobby, blättert in der »Times« und trinkt Cappuccino. Schließlich stößt noch ein gewisser Herr Mercier hinzu, jener alte Wüstling, der Sylvia Kristel in den Softpornoreihe »Emmanuelle« gegen dickes Honorar in die orientalischen Finessen der Fleischeslust einführte. Der Kerl war in Wirklichkeit schon über fünf Jahre tot, doch das kümmert wenig in der Mongolei, wo man selbst Kadavern mit ausgesuchter Höflichkeit begegnet.

Der Autor des geplanten Reiseführers würdigt ausführlich die Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit, die ihm bereits in den ersten Augenblicken seiner Mongolei-Visite fasziniert. Dabei erkennt er, dass das Fiktive grundsätzlich dadurch begünstigt ist, dass es überzeugender und in jedem Sinne der Wahrheit näher ist. So wird sein Bericht zu einer Parodie über die Auswüchse des Sozialismus bei den Erben Dschingis Khans, die sich so oder ähnlich auch in Basaras Heimat Jugoslawien abspielten. Dabei nähert er sich unvermeidlich auch der eigenen Biographie und stößt inmitten der dicken Schlammablagerungen seiner Seele auf ein paar Goldkörner.

Aber ist der Autor überhaupt in der Mongolei oder hält er sich lediglich in seinem Wohnzimmer auf und träumt ein wenig, während er sich betrinkt? Denn im Alkohol erkennt er das günstigste Mittel, um auszuschwärmen und die dunkelsten Winkel übel riechender Seelen zu erforschen, Schmutz ans Tageslicht zu fördern und die Vernunft vollends zu zerstören. Oder aber, um die Zeit anzuhalten. Denn Basara ist vom Phänomen der Zeit fasziniert. Immer wieder wirft er einen Blick auf die nächste Uhr, um zu sehen, ob die Zeit stehen bleibt, ob sie langsamer wird und allmählich ihre wahre Geschwindigkeit erreicht, ob sie ein kontinuierlicher Fluss oder ein wilder Sturzbach ist, und ob man vielleicht sogar durch sie hindurch gehen kann.

Der bereits 1992 entstandene Text des serbischen Autors ist absurd, verrückt, anarchistisch und genial zugleich. Idee und Anlage des Romans entspricht den Prinzipien des Gonzo-Journalismus. Basara ergeht sich in Aus- und Abschweifungen aller Art und taucht zugleich in philosophische Tiefen: denn der inneren Mongolei in uns entkommen wir nur schwer, es sei denn in Kunst und Literatur.


Genre: Romane
Illustrated by Unbekannter Verlag

Todesrosen

Dieser Island-Krimi von Arnaldur Indridason beginnt einigermaßen makaber. Eine Frau schleppt einen Arbeitskollegen nach einer Party ab. Das wäre ja noch nichts Besonderes. Der Ort, zu dem sie ihn führt ist allerdings durchaus ungewöhnlich, zumindest als Schauplatz amouröser Abenteuer: Der Alte Friedhof in der Innenstadt der Hauptstadt Islands, Reykjavik. Womit das Pärchen nicht gerechnet hatte: In unmittelbarer Nähe entdeckt es eine Leiche. Nun mangelt es naturgemäß auf einem Friedhof nicht an Toten. Allerdings liegen diese normalerweise nicht auf, sondern in ihren Gräbern.

Womit es Kommissar Erlendur und seine Kollegen von der Mordkommission Reykjavik zu tun bekommen ist eine tote junge Frau, die nackt inmitten der Blumen auf dem Grab des isländischen Freiheitskämpfers und Nationalhelden Jón Sigurdsson liegt. Und was den isländischen Kriminalpolizisten lange Zeit zu schaffen macht, ist die Tatsache, dass es ihnen nicht gelingen will, die Identität der Toten herauszufinden. So tappen Erlendur, seine Kollegen Sigurdur Óli und Elinborg im Dunkeln, rätseln über das mögliche Motiv für diesen Mord und den exponierten Ort, an dem die Tote gefunden wurde. Die Ermittlungen führen sie in den Westen Islands, zu den Westfjorden und in mehr als nur unappetitliche Zusammenhänge zwischen Immobilienspekulationen, Fischfangquoten und Prostitution.
In der edition lübbe sind mittlerweile neun Bücher des isländischen Autors Arnaldur Indridason erschienen. „Todesrosen“ erscheint als neunter Band und ist doch in Wirklichkeit der zweite Roman aus der Reihe rund um den Leiter der Mordkommission von Reykjavik, Erlendur und seine Kollegen. Wer die anderen, hochspannenden, Kriminalromane schon kennt, wird hier noch einmal in der Chronologie zurückgeworfen und wird einige Selbstverständlichkeiten, die man aus den bisher gelesenen Roman schon kennt, in ihrer Entstehung nachvollziehen können.
Dieser nun in deutscher Übersetzung vorliegende Fall hat gleichwohl schon alle Ingredienzien, die auch die später geschriebenen Krimis von Indridason ausmachen: So klein Island sein mag und so gering die Einwohnerzahl dieser Insel im Nordatlantik ist, so brutal fallen die Morde in diesen Krimis aus. Die Aufklärung der Verbrechen führt lesend in die Tiefen der isländischen Gesellschaft und scheut nicht vor ausführlichen Ausflügen in die Geschichte der Insel und seiner Bewohner zurück. Das Personal, dass die Romane von Indridason „bevölkert“ ist nicht minder realistisch und widersprüchlich gezeichnet. Eine besondere Spezialität des Autors ist aber, die Spannung bis zu den letzten Seiten seiner Geschichten aufrechtzuerhalten. Wer im Verlaufe der Lektüre sich der Aufklärung sicher glaubt, wird regelmäßig auf den letzten Seiten der Romane eines besseren belehrt. Prädikat: Hochspannend.


Genre: Kriminalliteratur
Illustrated by Bastei Lübbe Bergisch Gladbach

Lasset die Kinder zu mir kommen

Kindersegen auf Abruf

Carabinieri dringen mitten in der Nacht in das Schlafzimmer eines Ehepaars ein, durchsuchen die Wohnung, nehmen das Baby des Paares mit, schlagen den sich wehrenden Mann krankenhausreif und lassen die Frau schockiert zurück.
Pech nur für die Carabinieri, dass der Zusammengeschlagene der Leiter der Pädiatrie des Krankenhauses ist, in das ihn die Carabinieri einliefern. Da muss die Polizei ermitteln, auch wenn die Täter ebenfalls vom Staat bezahlt werden. Und weil das alles in Venedig stattfindet, reißt ein nächtlicher Anruf Commissario Brunetti aus dem Schlaf.
In ihrem sechzehnten Brunetti-Roman ermitteln Carabinieri hinter einem organisiertem Kinderhändlerring her und denjenigen, die sich aus ihrem Angebot bedienen. Dabei geht es aber nicht um Kinder, die als Arbeitssklaven enden, sondern um die Vermittlung von Babys an Paare, die sich ihren Kinderwunsch nicht selbst erfüllen, aber für ihren „Kindersegen“ zahlen können.
Die Ermittlungen des venezianischen Commissarios öffnen den Blick nicht nur auf kriminelle Machenschaften in Medizinerkreisen, sondern auch auf das gesellschaftliche Umfeld, das diesen Fall begünstigt. Ist das Baby des Ehepaars Pedrolli nicht doch das leibliche Kind des Arztes, aber aus einem Seitensprung? Wer hat Anzeige erstattet oder wie kamen die Carabinieri dahinter? Ist die Vermittlung von elternlosen Babys an reiche Kinderlose ein Segen für die Kinder oder zu verurteilen? Und ist das alles überhaupt ein Fall für die Polizei oder eher für die Politik oder gar reine Privatangelegenheit?
Donna Leon bedient mit „Lasset die Kinder zu mir kommen“ nicht die Erwartung, mit Hilfe eines konstruierten Falles, könne die politische und moralische Grenzziehung in diesen Fragen gelingen. Alle Fragen bleiben letztlich offen, das Personal dieses Romanes mit seinen Zweifeln ist auf sich gestellt. Nach 355 Seiten Lektüre bleibt ein Gefühl von Unzufriedenheit übrig: In diesem Fall, nicht das schlechteste Ende.


Genre: Kriminalromane
Illustrated by Diogenes Zürich

Die Stimmen des Flusses

Herrschende Geschichte und Geschichte der Herrschenden

Was der Mensch auch braucht, ist, dass man ihm gute Geschichten erzählt. Dieses Buch enthält eine solche und ihr katalanischer Autor Jaume Cabré erzählt sie uns auf fast 700 Seiten. Sie beginnt im spanischen Bürgerkrieg und findet in den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts noch nicht ihr Ende. Erzählt werden mehrere Handlungen, die ineinander verwoben sind. Cabrés Roman startet damit, dass eine Lehrerin im Jahre 2004 hinter der Tafel eines Klassenraumes einer zum Abriss bestimmen Dorfschule in den Pyrenäen, die Tagebuchaufzeichnungen des ehemaligen Dorflehrers Oriol Fontelles findet. Fontelles ist im Dorf als Faschist bekannt, der 1944, in jungen Jahren, von Antifaschisten ermordet worden sein soll.
In seinen Tagebuchaufzeichnungen lernt die Lehrerin Tina Bros einen gänzlich anderen Oriol Fontelles kennen, und sie erfährt viel über die Zeit zu Beginn der Franco-Herrschaft.

Historischer Ausgangspunkt von Cabrés Geschichte ist aber das Jahr 1936. Vater und Bruder von Elisenda Vilabrú, Sprössling der reichsten und mächtigsten Familie im Dorf, werden während des spanischen Bürgerkrieges von Anarchisten erschossen. Dieser Mord treibt die junge Frau ihr gesamtes Leben lang um. Alles zu tun, um diese Tat zu rächen, wird zu ihrem Lebensinhalt. Und diese Rache will sie durch den von ihr durch Bestechung als Bürgermeister eingesetzten Falangisten Valenti Targa erreichen. Er soll für sie die Mörder ihrer Angehörigen töten. Einmal im Amt, richtet Bürgermeister Targa, nicht nur zu diesem Zweck, ein Schreckensregime ein. Grausamer Höhepunkt seiner Schreckensherrschaft ist die Ermordung eines vierzehnjährigen Jungen, nur weil dessen Vater im antifaschistischen Widerstand aktiv ist.
Der Dorfschullehrer Oriol Fontelles wird Zeuge dieses Verbrechens, aber er unternimmt nichts dagegen. Von der Familie des Jungen und den anderen Dorfbewohnern wird er deshalb beschuldigt, seinen Schüler an die Faschisten ausgeliefert zu haben, selbst ein Faschist zu sein. Die Gewaltherrschaft verändert das Leben im Dorf verändert nach und nach. Hass, Unterdrückung, Widerstand und Unterwerfung: Die Widersprüche im Alltag der spanischen Gesellschaft unter Franco, die sich in diesen Jahren erst bildet, können im Mikrokosmos dieser Geschichte beobachtet werden. Mittendrin das Leben des Dorfschullehrers: Wir lernen es in der Version kennen, die die faschistischen Machthaber verbreiten. Oriol Fontelles der Märtyrer für Franco, Kirche und Vaterland. Wir lesen aber auch seine Tagebuchaufzeichnungen. In ihnen lernen wir einen ängstlichen Mann kennen, der als Doppelagent des antifaschistischen Widerstandes agierte. Der seine Schule zu einem Zentrum des Maquis umfunktionierte.

Cabré erzählt seine Geschichte mit waghalsigen Schnitten, die den Leser wiederholt auf ein und derselben Seite aus den 1940er Jahren in das Jahr 2004 und zurück befördern. Dialoge zwischen den Protagonisten des vergangenen Jahrhunderts werden nicht selten von Personen im 21. Jahrhundert weitergeführt. Damit gelingt es ihm, den Leser unaufhaltsam in die Welt dieses katalanischen Dorfes, in die beginnende faschistische Herrschaft einzubeziehen, aber auch in die nur mit angezogener Handbremse stattfindende Auseinandersetzung des neuen, demokratischen Spanien mit seiner faschistischen Vergangenheit.

Jaume Cabré hat mehr als sieben Jahre an diesem Roman geschrieben. “Die Stimmen des Flusses” ist das bisher einzige ins Deutsche übersetzte Buch des 1947 geborenen katalanischen Autors. Die Tatsache, dass es glücklicherweise auch in Deutschland zum Bestseller geworden ist, beschert uns hoffentlich noch die eine oder andere Übersetzung aus seinem Werk.


Genre: Romane
Illustrated by Insel Frankfurt am Main

In 80 Tagen um die Welt

»Le tour du monde en quatre-vingts jours«, »Reise um die Erde in 80 Tagen« nannte Jules Verne seinen 1873 veröffentlichten Erfolgsroman. Darin beschreibt er die höchst abenteuerliche Weltreise eines reichen englischen Exzentrikers namens Phileas Fogg sowie seinen Dieners Passepartout. Der Journalist Helge Timmerberg reist 135 Jahre nach Vernes großem Wurf ebenfalls »In 80 Tagen um die Welt«, wobei ihm wesentlich schnellere Verkehrsmittel zur Verfügung standen als dem leidenschaftlichen Whist-Spieler Phileas Fogg. Während Fogg noch sein halbes Vermögen in bar mit sich führte, wurde Timmerbergs Reise durch ein gut gefülltes Spesenkonto abgefedert, das weltweit verfügbar ist.

Der Autor zischt per ICE mit 230 Stundenkilometern von Berlin nach München, wo er in einer Wohnzimmer-Kneipe im Bahnhofsviertel landet, in der sich einsame Männer beim Weizen trösten. Er reist weiter nach Venedig und begegnet bereits am Bahnhof einer Prozession von tausenden Touristen mit Masken, spitzen Nasen und schwarzen Umhängen. Venedig feiert Karneval, und wer so bescheuert ist, ausgerechnet in diesem Trubel den Canale Grande sehen zu wollen, der zahlt für das einzige freie Zimmer im »Marco Polo« eben 330 Euronen, selbstverständlich ohne Frühstück. Irgendwie fällt unserem Weltreisenden auch hier nichts Besseres ein, als die nächste Trinkhalle aufzusuchen, um sich die Kante zu geben. Ihm geht es dabei um »das disziplinierte, konzentrierte, mathematische Besaufen«.

Die dritte Nacht seiner Weltreise verbringt Timmerberg in Triest, und – raten Sie mal – wo er landet? Na klar, in einem kleinen Weinlokal, an den Stehtischen für Raucher. Die Welt in achtzig Tagen zu umreisen verlangt nicht, wie zu Jules Vernes Zeiten, permanentes, pausenloses und zielstrebiges Voraneilen. Heute braucht es das glatte Gegenteil: Trinkfestigkeit, Drogenerfahrung und ein gewisses Klebenbleiben, eine gewisse Unentschlossenheit. Als unentschlossen erweist sich der Autor immer wieder, dies ist sein deutlichster Charakterzug. Später, denn hier soll nicht jede Station erwähnt werden, als er in Bombay, das heute Mumbai heißt, weilt, überlegt er beispielsweise, mit welchem Verkehrsmittel er sich weiter bewegen will. Jules Verne ließ seinen Helden mit dem Zug von Bombay nach Kalkutta reisen, und der hat während dieser Fahrt die Frau seines Lebens getroffen. Die Frau des Lebens, sinniert Timmerberg, ist keine schlechte Vision, aber dafür zweiunddreißig Stunden mit dem indischen Zug?

Nun geht eine Weltreise in heutiger Zeit dank moderner Verkehrsmittel sehr viel unkomplizierter als anno Verne. Und dennoch hat Helge immer wieder Entscheidungsschwierigkeiten, die sein Wesen auszumachen scheinen. Der Reisende, der noch die Nachwehen der Hippie-Zeit in sich spürt, wendet sich an einen Guru um Rat. Schließlich bereiste Timmerberg bereits in der Blütezeit der Gurus Indien und kennt sich nach eigenem Bekunden auf diesem Gebiet aus. Jedoch fehlt die Antwort des Meisters nicht zur Zufriedenheit des Reisenden aus, denn letztlich empfiehlt er ihm, eine Münze zu werfen. So kann es Weltreisenden ergehen! – In dem Augenblick fällt dem Rezensenten ein, dass er selbst eine solche Entscheidermünze in seinem Schreibtisch in Griffnähe hat. Diese Münze, ein Geschenk einstiger Kollegen, sollte ihm helfen, grundsätzliche Entscheidungen seines Lebens zu fällen, da er zu jener Spezies gehört, und hier entsteht eine Gemeinsamkeit mit Timmerberg, die unfähig sind, sich zu entschließen.

Ansonsten erweist sich Timmerberg als arrivierter Althippie, der mit gefülltem Säckel nicht mehr in Hauseingängen oder der Bahnhofsmission kampieren und per Anhalter durch die Galaxis trampen muss. Er genießt den Luxus der Sterne-Hotels und lässt sich vor Ort gern mit dem Taxi chauffieren. Bedrängt ihn ausnahmsweise das nackte Leben, wie beispielsweise in Shanghai in Gestalt besonders aggressiver Bettler, rettet er sich vor dem Mob in eine Droschke und braust davon. Sozialkritik ist nicht das Thema des Buches.

Immerhin schafft es der Autor, seiner Weltreise eine gewisse Leichtigkeit zu verleihen, die den Leser in Bann schlägt. Er unterstützt dies durch eine flotte Sprache sowie milieudichte Schilderungen über Drogenexzesse. Hier spürt der Leser, dass Timmerberg life dabei war und sein Wagemut ihn bevorzugt ins Land der Kopfreisen führte. Er kennt die Illusionsromantik des Reisens, er predigt Toleranz und fühlt sich schließlich doch am wohlsten dort, wo er startete und wieder ankommt: im multikulturell gefärbten Berlin.

»In 80 Tagen um die Welt« ist lesenswert für den gestandenen Reisenden, der sich an dies oder jenes erinnern möchte. Es ist kein Reiseführer, und es sucht auch nicht Erkenntnisse in Slums und Absteigen, wie sie von einem Journalisten vielleicht erwartet werden. Das Buch ist amüsant, und der Autor ist fraglos weit herumgekommen. Die Freude am Reisen, mit Ausnahme des Abstechers nach Mexiko-Stadt, scheint ihm dabei jedoch mit den Jahren verloren gegangen zu sein.


Genre: Reportagen
Illustrated by Rowohlt

Der zerbrochene Himmel

Ein Lachen, das im Halse stecken bleibt

Im Jahr 1935 überfiel das faschistische Italien Abessinien, das heutige Äthiopien. Mussolinis Hybris und das seiner faschistischen Partei samt dem italienischen Militär und Königshaus, an das Römische Reich zu Zeiten Augustus anzuknüpfen und sich ein Reich rund um das Mittelmeer, dem römischen „mare nostrum“ zu erobern, sollte mit diesem Feldzug beginnen. Waren zuvor schon italienische Waffen am faschistischen Putsch in Spanien beteiligt, so diente der „Abessinien-Feldzug“ auch zur Mobilisierung des nicht besonders auf Krieg erpichten italienischen Volkes. Dieser Feldzug endete rasch mit einer militärischen Katastrophe für das vermeintlich überlegene italienische Heer und aus dem faschistischen „mare nostrum“ wurde bekanntlich und glücklicherweise auch nichts.
1935 allerdings konnten die italienischen Schwarzhemden (die italienischen Faschisten trugen ein schwarzes Hemd zur Parteiuniform) auch in dem sizilianischen Städtchen Vigata ihre Propaganda verbreiten. Mussolinis Stimme tönte hier, wie in allen Orten Italiens, durch die öffentlichen Lautsprecher und erreichte nicht nur Anhänger und Gegner des faschistischen Regimes, sondern auch deren Kinder.
Eines davon ist der kleine Michilino, ein sechsjähriger Junge, Sohn eines faschistischen Parteifunktionärs von Vigata. Michilino wird nicht nur auf der Piazza von Vigata mit dem Loblied auf den Duce und der Herabwürdigung und der Hetze gegen Antifaschisten, „Rote“ und gegen die barbarischen „Abessinier“ penetriert. Zu Hause geht diese Propaganda lupenrein weiter und während eines von seinem Vater arrangierten Privatunterrichts bei einem politisch stramm auf Linie liegenden Alt-Griechisch und Geschichtslehrer werden die faschistischen Propagandabrocken noch mit sexuellen Übergriffen verbunden. Kein Wunder, dass Michilino ständig in Konflikte gerät mit der Realität, die sich mehr als häufig so gar nicht mit der Parteipropaganda übereins bringen lässt. Noch komplizierter wird es für den kleinen Sizilianer, wenn er in der Kirche für die Vorbereitung auf seine Kommunion lernt, dass die Gebote Gottes das Töten verbieten, das Töten von Abessiniern aber völlig in Ordnung sein soll. Auch die Tatsache, dass Abessinier eine schwarze Hautfarbe haben, folglich den italienischen Herrenmenschen also unterlegen sein müssen, hilft Michilino nicht wirklich weiter, ist doch der Schutzpatron seiner Heimatstadt Vigata, der heilige Caloghero auch ein Schwarzer.
Andrea Camilleri hat mit seinem Roman „Der zerbrochene Himmel“ ein berührendes Buch über den Einfluss der faschistischen Propaganda vor allem auf die Kinder seiner Zeit geschrieben. Er hat dies mit den ihm eigenen literarischen Mitteln getan. Er beschreibt auf eine sehr sinnliche Art die Zeit und die Umstände, unter denen Michilino aufwächst. Das Politische wird als etwas dargestellt, das nicht allein Ideologie und Propaganda bleibt, sondern sich tief in das Leben der Menschen eingräbt. Im Falle des kleinen Michilino mehr als das. Camilleri wäre nicht der Autor, der mittlerweile so sehr nicht nur in Italien, sondern in ganz Europa für seine Geschichten geliebt wird, gelänge es ihm nicht auch in einer Geschichte über den faschistischen Alltag auf Sizilien die Skurilitären und die schrillen Widersprüche so zu beschreiben, dass man häufig genug gar nicht anders kann, als während der Lektüre laut loszulachen. Allerdings ist dies ein Lachen, das einem im Halse stecken bleibt.


Genre: Romane
Illustrated by Piper Malik Kabel München

Die Entdeckung der Langsamkeit

Sten Nadolny
Die Entdeckung der Langsamkeit (Hörbuch)
marebuch-verlag,Hamburg 2004, ISBN 3-936384-54-1

Wer bereit ist, sich dieser Entdeckung zu öffnen, hat schon den ersten Schritt getan, um sich der Schnelligkeit unserer heutigen Zeit zu entziehen.
Die Biographie von John Franklin,dem Seefahrer und Entdecker, kann nicht mal schnell quergelesen oder quergehört werden… Dazu braucht der Zuhörer einfach Zeit – Zeit zum Zuhören!
Zuhören können, hinschauen können, nachdenken können- nicht oberflächlich- diesen Prinzipien blieb John Franklin bis an sein Lebensende treu.
Dass er schon zu seiner Zeit (1786-1847) damit auf heftigen Widerstand stieß, mag der Zuhörer kaum glauben…
Der Autor, Sten Nadolny, liest seinen Roman, der 1983 erstveröffentlicht wurde, selbst und nimmt uns mit auf eine Lebensreise in eine scheinbar schon längst vergangene Zeit… Wer möchte, kann aber ganz schnell Parallelen zu unserer heutigen ziehen.

Persönlich musste ich feststellen, dass mir der Autor manche Textpassage zu schnell vorgelesen hat und deshalb werde ich mir bei der nächsten Gelegenheit die Zeit nehmen, um im Buch alles noch einmal selbst nachzulesen – und zwar schön langsam!


Genre: Hörbücher
Illustrated by marebuch-verlag Hamburg