Irgendwann werden wir uns alles erzählen

DanielaKrienSommer 1990 in der DDR.Der letzte Sommer in einem Land, welches bald keines mehr sein wird. Maria wird bald siebzehn. Sie wohnt mit ihrem Freund Johannes auf dem Hof seiner Eltern nahe der deutsch-deutschen Grenze, die bald keine mehr sein wird. Maria ist ein zartes verträumtes Mädchen. Zwar beteiligt sie sich tatkräftig an der Hofarbeit, verweigert jedoch die Schule. Ihr Liebstes sind zu dieser Zeit die Gebrüder Karamasov, deren Fragen nach Schuld und Sühne, Leid und Mitleid, Liebe und Versöhnung.

Der Brendel-Hof, auf dem Maria lebt, ist neben dem Henner-Hof der größte des Ortes. Beim Henner ist alles noch wie vor dem Krieg, der eigenbrödlerische Mann lebt dort alleine. Sein einsames Leben und seine harsche Art erregen Argwohn im Dorf. Dass sein eigenwilliges Charisma auf Frauen attraktiv wirkt, macht es nicht gerade einfacher. Die junge Maria begegnet Henner eines Tages zufällig, eine einzige Berührung reicht aus, damit eine ebenso unausweichliche wie unmögliche Liebe beginnt. Maria “fällt in einen tiefen Rausch, nichts verwehrt sie diesem Mann.” Ihre Liebe grenzt bisweilen an Hörigkeit, schon nach kurzer Zeit sagt sie den einen Satz zu ihm, den sie – das weiß sie jetzt schon – in ihrem Leben nur einmal sagen wird “mach mit mir, was Du willst”. Und das tut er dann auch. “Sein Wollen hatte etwas Tierisches, Unberechenbares, etwas , das mich an Dinge erinnerte, die lang vor meiner Zeit geschehen sind, die ich nicht wissen kann und dennoch zu kennen glaube, als wäre mein Gedächtnis nur Teil eines größeren.” Doch Henner will eher ihr Herz als ihren Stolz und so wird Maria an dieser Beziehung wachsen und nicht zerbrechen. Den ganzen Sommer leben sie ihre Liebe heimlich, atmen “den scharfen Geruch der Lüge”. Auch wenn Maria Johannes und dessen Familie sowohl mit Respekt als auch mit Zuneigung begegnet, sind sie nicht in der Lage, voneinander zu lassen und treiben die Lüge weiter, als sie je geglaubt haben, eine Lüge treiben zu können. Das Ende sehen sie dennoch kommen. Das Ende des Sommers, das Ende der DDR, das Ende des Lebens, das sie kannten, das Ende ihrer Liebe.

In ihrem Roman-Debüt läßt Daniela Krien ihre Ich-Erzählerin Maria mit der verträumten Sprache einer 17-jährigen von obsessiven Leidenschaften und historischen Zeitenwenden erzählen. Die Welt, von der sie berichtet, ist heute eine vergangene. Durch die besondere Sprache des Romans ermöglicht sie es dem Leser, mitzuleiden und mitzuerleben. Alle Charaktere, von der jungen Maria bis zur alten Bäuerin erscheinen ihm echt und unverfälscht. Man kann Marias Tun gutheißen, muss es aber nicht. Durch ihre ehrlichen Berichte über zerstörte Kindheitsträume und Zwänge in der Pionierrepublik versteht man sie als Leser jederzeit. Der Autorin gelingt das schwierige Kunststück, eine obsessive Sinnlichkeit so zu vermitteln, dass man sie als Leser fast körperlich spüren kann. Von Anfang an versteht man die magische Anziehungskraft des unpassenden Mannes und Marias leidenschaftliche Unterwerfung. Die Familie, bei der Maria lebt, lernen wir als Menschen mit Ecken und Kanten kennen und wertschätzen. Die Geschichte dieser Familie umspannt die schwierige Liebesgeschichte wie ein schützender Rahmen und bringt dem Leser lebendig die Zeit und die Gedankenwelt der DDR-Bürger in diesem Sommer des Umbruchs näher. Fast schon nostalgisch liest man über die Pläne und Hoffnungen der Menschen, auch wenn die Bauern damals schon ahnen, was wir heute wissen: “Wir können nicht holterdipolter in Monaten das schaffen, was die drüben in Jahrzehnten entwickelt haben.” Siegfried, das tatkräftige Familienoberhaupt will sich an den im Westen der Neunziger so erfolgreichen Demeterhöfe orientieren, allerdings “ohne den anthroposopischen Überbau”, das ist ihnen zu verschroben.

Dieser Roman lebt nicht von Spannung oder großer Romantik, das wirklich Besondere an ihm ist neben der Achtsamkeit, mit der die Autorin Sprache als ein kostbares Gut behandelt, seine Authenzität und Ehrlichkeit. Denn: Auch so kann man ein Buch zur Zeitenwende in Deutschland Ost und West schreiben, auch so kann man das Anliegen, Erinnerungen an einen zerbrochenen Staat, seine Menschen und sein Lebensgefühl zu bewahren, vermitteln.

Am Ende des Sommers ist alles anders. Dem Höhenflug der Leidenschaft folgt tiefster Kummer, auch dieser elementar und vorweggenommen. Maria geht mit Johannes weg vom Brendelhof, die Zukunft ist offen. Aber auch verheißungsvoll? Trost geben ihr die Brüder Karamasov, die Worte Alexejs und wie er sagte “irgendwann würden wir alle auferstehen und uns wiedersehen und alles erzählen. Wirklich alles.” Am Ende des Buches ist auch für den Leser einiges anders. Er betrachtet die Welt, von der er gelesen hat, neu und er hofft, dass Daniela Krien ihm, dem Leser noch einiges zu erzählen hat.
Wenn auch wohl niemals alles.

Die Leipzigerin Daniela Krien, studierte Kulturwissenschaftlerin, arbeitete als Drehbuchautorin und Cutterin. “Irgendwann werden wir uns alles erzählen” ist ihr erster Roman.

Diskussion dieser Rezension im Blog der Literaturzeitschrift


Genre: Romane
Illustrated by Graf-Verlag München

Ein Gedanke zu „Irgendwann werden wir uns alles erzählen

  1. “und alles erzählen. Wirklich alles.”
    ich weiß ich bin ein Spießer, aber Marie ist ja nicht mal zu Johannes ehrlich, sondern betrügt ihn monatelang heftigst, will doch, auch als Mensch, gar nicht von ihm, aber geht ganz opportunistisch “mit ihm nach München”.

    Johannes kann einem Leid tun, jede Wette in München findet Marie dann einen neuen Spielgefährten und irgendwann wird Johannes feststellen, dass er etliche seiner Jahre in eine Lüge statt eine echte Liebesbeziehung investiert hat.

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