Gott schütze Amerika

51TT9+AMhgL._BO2,204,203,200_PIsitb-sticker-arrow-click,TopRight,35,-76_AA300_SH20_OU03_Warren Ellis führt seinen Helden, Privatdetektiv Mike McGill tief ins Herz und die Abgründe Amerikas. Mc Gill, der sich selbst den Ehrentitel “Pech-Magnet” gab, erhält unvermutet vom Stabschef des weißen Hauses den Auftrag, ein seltenes Buch zu finden. Die alternative Verfassung der Vereinigten Staaten, dareinst unterzeichnet von der Gründungsvätern Amerikas. Wie geschaffen dafür, dem wahnsinnigen Treiben einer dekadenten Gesellschaft Einhalt zu gebieten. Ausgestattet mit einer halben Million Dollar und einem Palmtop hetzen McGill und Partnerin quer durch die USA. Begegnen redseligen Serienkillern, salzwasser-gespritzten Bodybuildern, Anwälten, die sich an letalen Sexualpraktiken delektieren, um nur eine kleine Auswahl zu nennen.

Soweit die vordergründige Handlung. Die Detektivgeschichte ist jedoch mehr Rahmen und Tarnung. Ellis eigentliches Thema ist die Reise durch die perversen Abgründe Amerikas und darüberhinaus das world wide web als neue Wiege des Mainstream. Eine simple, doch geniale Idee, im Netz geortete Absurditäten als Roman zu verarbeiten. Warren Ellis ist ein anerkannter britischer Graphic Novelist, berüchtigt dafür, das Superhelden-Genre zu parodieren und modernisieren. Sich selbst nennt er einen aktiven Online Bürger und nutzt den Roman als Mahnung, dass auch die groteskeste Handlung nur ein müder Abglanz dessen ist, was das Internet bereits morgen entfesseln kann. Logisch, dass es auch nur ein besessener Wissenschaftler und Netz-Messias sein kann, der McGill die Kurve zum korrekt aufgelösten Plot bringt.

Wer immer schon einmal lustvoll schaudernd in Amerikas Abgründe schauen wollte, ist mit diesem zum Buch gewordenen Comic bestens bedient. Wer dagegen gepflegte Krimi-Unterhaltung sucht, lässt besser die Finger davon.

Fazit: schnell, oft trashig geschrieben ist “Gott schütze Amerika” das freche, witzige Werk eines Engländers, der die Welt mit dem stoischen Blick desjenigen betrachtet, dessen Land dem Glanz eines verblichenen Weltruhms nachtrauert.

(Anm. d.Red.: Erstveröffentlichung dieser Rezension im zwischenzeitlich eingestellten Kulturmagazin Westropolis 20. Januar 2010. Aufgrund der derzeitig offen zutage tretenden und öffentlich diskutierten Abgründe Amerikas sowie der Nachricht, dass das gelobte Land adeligen gutten Zuwachs bekommt und demnächst zu allem Überfluss auch noch dem Freiherrn Karl Theodor von und zu war mal deutsche Nachwuchshoffnung Zuflucht bieten muss, fand ich es so angemessen wie selten “Gott schütze Amerika” in Erinnerung zu rufen. )

Diskussion dieser Rezension im Blog der Literaturzeitschrift


Genre: Kriminalliteratur
Illustrated by Heyne München

So viel Zeit

51l+gGmt2XL._SX314_BO1,204,203,200_Sagen, wie die Dinge sind. Klartext reden. Gerader Blick und offene Worte. Dafür sind wir berühmt berüchtigt. Wir hier im Ruhrgebiet. Geliebt, lange auch schon über die Grenzen des Ruhrgebiets hinaus ist dafür “unser” Autor Frank Goosen.
Sein nach meinem Dafürhalten bestes Buch legte er vor zwei Jahren vor: “So viel Zeit”. Vor einigen Wochen nun legte ich dieses Buch dem geschätzten Mit-Rezensenten Ulrich Kretzler mit innigen Worten an sein Herz. Zu meiner Freude empfand er es genauso.

Bei Frank Goosen ist Fünf die magische Zahl, um Gefühle und Erinnerungen in den Griff zu bekommen.
Bei uns ist es die Zwei. Denn nun folgt: unsere gemeinsame Rezension zu diesem wunderbaren Buch. So viel Zeit muss jetzt einfach sein.

(Britta Langhoff in ruhrigem Schwarz, Ulrich Kretzler in bayerisch blau)
Konni, Bulle, Rainer und Thomas sind alte Bochumer Schulfreunde, die sich als inzwischen gestandene Mittvierziger mehr oder weniger eingerichtet haben in ihrem alltäglichen Leben, ohne jedoch selbst so richtig von dem überzeugt zu sein, was sie da tun. Allerlei Beziehungs- und andere Krisen tun ein Übriges, um nagende Zweifel zu schüren und so bleiben die regelmäßigen Doppelkopf-Abende einzige Konstante der gemeinsamen Freundschaft. Während einer dieser nicht immer harmonisch verlaufenden Veranstaltungen beschließen die vier – auch im Hinblick auf das bevorstehende 25-jährige Abiturtreffen – zu vorgerückter und feuchtfröhlicher Stunde eine Rockband zu gründen und sich so einen vermeintlichen Traum der verlorenen (?) Jugend zu erfüllen.

Gesagt, getan: Zügig werden die nötigen Instrumente (samt Roadie) erworben und allen Widerständen im jeweiligen persönlichen Umfeld zum Trotz die unvermeidlichen Übungen und Vorbereitungen aufgenommen. Die handwerklichen Grundlagen eignen sie sich vergleichsweise rasch an, aber dennoch müssen die Freunde feststellen, dass ihnen das gewisse Etwas fehlt und so erinnert man sich an den Schulfreund Ole, der früher genau dieses kreative Element verkörperte und damals direkt nach dem Abitur unter nie ganz geklärten Umständen nach Berlin geflohen ist. Man bricht also spontan auf in die Hauptstadt und setzt damit eine Kette von Ereignissen in Gang, die das Leben aller Beteiligten vom Kopf auf die Füße stellen werden…

Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass mir der Autor bis vor nicht allzu langer Zeit lediglich als Kabarettist, Hardcore-Fan des VfL Bochum und Kicker-Kolumnist ein Begriff war und so bin ich wieder einmal froh und dankbar, dass es hier in Blogsdorf Leute gibt, die wesentlich belesener sind als ich, denn sonst hätte ich definitiv etwas verpasst: Frank Goosen hat mit seinem vierten Roman nichts weniger als ein echtes Meisterwerk geschrieben.

Man spürt in seinem Buch viel Herzblut, was ja ein durchaus riskantes Unterfangen ist, denn allzu oft triefen solche Erzeugnisse von Pathos oder Wehleidigkeit. Der Autor vermeidet derartige Peinlichkeiten geschickt, indem er mit feinem Sprachwitz, ironischer Distanz und trockenem Humor bisweilen zwar Melancholie oder Nostalgie aufkommen lässt, sich dabei aber niemals in Sentimentalität oder falscher Verklärung der Vergangenheit verliert.

Es ist ein Buch, geschrieben von einem Mann über Männer, bei weitem aber kein Buch nur für Männer. Auch mich hat dieses Buch mitten ins Herz getroffen und von der ersten Seite tief in seinen Bann gezogen. Die Macht der Vergangenheit, beziehungsweise die Erinnerung an diese, treibt ja nun nicht nur die in einer Doppelkopfrunde konservierten Goosen’schen Protagonisten. Beruf erlernt, mehr oder minder Karriere gemacht, Ehepartner gefunden (und verloren), Kinder gezeugt und (v)erzogen, Eigenheim angeschafft, tolles Auto… – alles erreicht, was vor langer Zeit als “Lebensziele” angepeilt war. Jetzt kommt die Ernüchterung und die Wehmut. Geht es nicht allen Forty-somethings so? Im Buch ist die wiederauferstandene Band ein demonstrativer Akt, dem Gefühl entgegenzuwirken, alt und verbraucht zu sein und damit zu der doch allgemeingültigen Gewissheit führt, “dass man immer noch Kontakt aufnehmen kann zu seinem früheren Ich”.

Ohne seine anderen alle von mir aufrichtig gemochten Bücher schmälern zu wollen: “So viel Zeit” ist ein großartiger Roman mit hohem Unterhaltungs- und Wiedererkennungswert (nein, ich werde hier nicht verraten, in wem ich mich wiedererkannt habe), der neben Witz und ironischer Distanz auch Trauer und Gebrochenheit ohne Kitsch und Mitleidgedöns überzeugend zum Ausdruck zu bringen vermag.

Und so ist das Ergebnis rundum gelungen: Eine Hymne auf die Freundschaft, ein Plädoyer für die Verwirklichung von Träumen, eine Ode an die Musik, die Leben retten kann und last but not least eine Liebeserklärung an das Leben und die Menschen im Ruhrpott.

Ulrich Kretzler/ Britta Langhoff


Genre: Romane
Illustrated by Eichborn Verlag

Wasser für die Elefanten

Wasser für die Elefanten

Jacok Jankowski ist irgendwas über die Neunzig, so ganz genau weiß er das nicht mehr. Eben noch mitten im turbulenten Trubel seines Familienlebens steckend, findet er sich in den Niederungen eines Seniorenheimes wieder. Hauptsächlich damit beschäftigt, etwas für seine Würde zu tun. Als ein Wanderzirkus seine Zelte auf dem Parkplatz vor dem Seniorenheim aufschlägt, träumt er sich zurück in seine Vergangenheit. In die Zeit, welche die schönste und zugleich auch die schlimmste seines Lebens war. Im Amerika der 30er-Jahre-Depression steht er – Student einer Elite Universität – nach einem Schicksalschlag plötzlich vor dem Nichts. Verzweifelt springt er auf den nächstbesten Zug auf und findet sich als Tierarzt bei “Benzinis spektakulärster Show der Welt” , einem der legendären Eisenbahn-Zirkusse dieser Zeit wieder. Rasch findet er unter den Zirkusleuten Freunde und Feinde gleichermaßen, Leidenschaften, Hoffnung,Existenzkämpfe – und die Liebe. Die Liebe zu Marlena, der geheimnisvollen Dressurreiterin und zu Rosie, der sturen, klugen und treuen Elefantendame. Sara Gruen erzählt Jacobs Geschichte auf beiden Zeitebenen so zart und liebevoll wie leidenschaftlich und bildgewaltig. Auch wenn man kein ausgewiesener Freund des Zirkus ist,schnell ist man mitten in der Manege, schliesst Jacob und Marlena ins Herz, leidet, hofft und bangt mit ihnen.

In diesem Sommer kam der Film ins Kino, die DVD dazu wird in Kürze erwartet. Es heißt, Sara Gruen sei begeistert gewesen. Ihre Leser werden ihr größtenteils zustimmen. Der Film folgt der vorgegebenen bescheidenen Linie, verzichtet auf Effekthascherei und Sensationsgier. Darstellerisch überzeugte er mich nur bedingt. Es fragt sich, ob Robert Pattinson mehr als zwei Gesichtsausdrücke zu bieten hat, Reese Witherspoon kann eigentlich auch anders als nur unterkühlt. Ihre Marlena ist in der Buchvorlage nur vordergründig kühl, ihre besondere Gabe zur Zärtlichkeit kommt deutlich zum Tragen. Böse Zungen behaupten, der Elefant sei der beste Darsteller gewesen, aber es gab ja auch noch Christoph Waltz. Seine Rolle ist eine ambivalente, was ihm bekanntermaßen liegt. Folgerichtig ist sein August die Rolle, welche dem Zuschauer am endrucksvollsten in Erinnerung bleibt. Die Film-Adaption erinnert an das gefühlige Kino der 80er Jahre. Heute wirkt sie altmodisch. Im guten Sinne. Die nostalgische Atmosphäre des Films, seine wehmütige Dichte bieten Kino zum Träumen und zum Eintauchen in eine fremde Welt.

Wer sich in trüben Tagen nach einer seelenvollen Geschichte sehnt, nach einer Geschichte mit einem ebenso überraschenden wie befriedigendem Ende, dem seien Buch und Film ans Herz gelegt.

Diskussion dieser Rezension im Blog der Literaturzeitschrift.


Genre: Romane
Illustrated by Rowohlt

Wie veröffentliche ich ein E-Book auf amazon.de?

Das E-Book ist nicht nur die Zukunft der Literatur, sondern längst in der Gegenwart angekommen und bietet besonders denen völlig neue Chancen, die schon immer davon geträumt haben, ihren Namen auf einem Buch-Cover prangen zu sehen. Es ist also mehr als folgerichtig, dass ein echter Kenner des Verlagswesens und alter Hase im Literaturbetrieb wie W.R. Frieling, der selbst viele Jahre damit verbracht hat, hoffnungsfrohen Neu-Autoren eine Bühne für ihre Ambitionen (oder einen Jahrmarkt für ihre Eitelkeiten) zu bieten, sich nun seinerseits per E-Book des Themas annimmt und kompetent alle brennenden Fragen beantwortet.

Zunächst gibt es einen Überblick über den Siegeszug des neuen Mediums inklusive schier unglaublicher success stories von E-Book-Millionären jenseits des großen Teiches, bevor der Autor in medias res geht, den interessierten Leser (und potenziellen Schreiber) an die Hand nimmt und Schritt für Schritt zum Ziel seiner Träume führt. Dabei gibt er nicht nur wertvolle Tipps aus seinem persönlichen Erfahrungsschatz preis, sondern warnt auch vor rechtlichen und steuerlichen Fallen, die besonders in der regulierungswütigen BRD an mancher Ecke lauern.

War es früher oft schwieriger, ein Buch zu veröffentlichen als zu schreiben, haben sich heute die Vorzeichen umgekehrt, dank Amazon ist es kindle-leicht. Dieser Ratgeber ist für Nachwuchs-Autoren unverzichtbar, wenn man sich daran hält, kann eigentlich nichts mehr schiefgehen. Als Sachbuch ist er naturgemäß mit Fakten gefüllt, aber nicht überfrachtet und dank Frielings gewohntem Wortwitz niemals trocken; immer wieder blitzt zwischen den Zeilen der Schalk, der dem Verfasser im Nacken sitzt.

Die Lektüre des vorliegenden Werks (und aller anderen Amazon E-Books) ist übrigens keineswegs auf den Amazon Kindle beschränkt, sondern mit entsprechenden Gratis-Apps auch auf PC, Tablet, Smartphone etc. jederzeit möglich.

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Illustrated by Internet-Buchverlag Berlin

Bomb it, Miss.Tic!

MissTic Paris, St. Germain
“Les actes gratuits ont ils un prix?” etwa: “Haben kostenfreie Handlungen/Akte einen Preis?” _ Typische Graffiti-Schablone von Miss.Tic in St. Germain, Paris. Foto: ©Ruprecht Frieling

Wer die Arbeiten des Londoner Graffiti-Künstler Banksy kennt und schätzt, der wird bei einem Paris-Bummel sicherlich auch schon auf Arbeiten von Miss.Tic gestoßen sein. Die Künstlerin mit dem doppelbödigen Namen besprüht Mauern und Häuserwände mit schwarz-roten Schablonen und verbindet bevorzugt klischeehafte Frauenbilder und poetische Wortspiele.

Die plakativen Arbeiten von Miss.Tic sind von rauer Herzlichkeit und sprühen ein Lokalkolorit, das durchaus als „Pariser Charme“ bezeichnet werden kann. Ihre Frauenbilder entstammen Frauenzeitschriften, die sie verfremdet. Sie selbst sagt dazu: „Ich entwerfe aus ihnen ein bestimmtes Image der Frau, nicht um es zu bewerben, sondern um es zu befragen. Ich unterziehe weibliche Positionen einer Art Inventur. Welche Haltung wählen wir, um zu existieren?“

Miss.Tic bezieht als Künstlerin und als Frau in der Stadt und in der kreativen Welt Stellung. Kreieren heißt für die 1956 in Paris geborene Graffiti-Poetin, Widerstand zu leisten. Sie meint, allem widerstanden zu haben, „nur manchmal der Liebe nicht und niemals dem Humor.“

Die Tochter eines Tunesiers und einer Normannin verlor im Alter von zehn Jahren ihre Mutter durch einen Autounfall. Früh floh sie aus dem derart zerstörten Elternhaus und trieb sich in den Cafés und Cabarets von St. Germain und St. Michel herum. Im „Georges“ in der Rue de Canettes und im „Bâteau ivre“ in der Rue Contrescarpe rezitierte sie Gedichte von Jules Supervielle, René Char, Jean Cocteau und Jacques Prévert. Die Wirklichkeit um sie herum zerfetzte ihr romantisches Bild von St. Germain: Sie traf auf versoffene Genies und Künstler, die sich maßlos überschätzten.

Mit einem Freund verließ sie 1980 Frankreich und zog nach Los Angeles. Dort kamen gerade Hip-Hop und Street Art auf. Im Zuge der Bewegung entstanden bemalte Häuserwände, die schon aus der mexikanischen Revolutionskunst bekannt waren. 1983 kehrte Miss.Tic wieder nach Paris zurück. In jeder Zeit verließen die ersten Künstler ihre Ateliers, übermalten Werbeplakate, bemalten Bauzäune und Wände. 1985 trat sie selbst mit Schablonenbildern in Erscheinung. Im 14. Arrondissement sprühte sie ihre ersten Wortbilder auf Häuserwände. Sie verband von Anfang an ihre Motive mit Textzeile und Signatur.

Miss.Tic erklärt sich weder politisch noch will sie Feministin sein. Sie hat ihre eigene Sicht auf die Dinge. Ihre Arbeiten wurden mal von links, mal von rechts angegriffen, bisweilen sogar von Hardcorefeministinnen, denen ihre Arbeiten zu glamourös und sexy sind, übersprüht und überklebt. Lakonisch sagt sie dazu: „Es ist nicht die Rolle des Künstlers, von allen geliebt zu werden“. Bewusst überlässt sie die Interpretation ihrer Arbeiten auch dem Betrachter und hat keine Lust, irgendetwas zu erklären, zumal ihre Graffiti oft in direktem Bezug zur Umgebung steht.

1999 wurde die Künstlerin in einem Aufsehen erregenden Prozess wegen Sachbeschädigung zu 22.000 Franc Strafe verurteilt. Ausgerechnet dieser Prozess verschaffte ihr einen Karrieresprung. Sie wurde vom Status einer Straffälligen, die mit der Spraydose (französisch: la bombe) hantierte, zu einer anerkannten Künstlerin befördert, deren Genehmigungsgesuche seitdem akzeptiert werden. So sind ihre Arbeiten heute weniger als nächtliche Überraschungsangriffe à la Banksy zu sehen sondern als geplante Kunstaktionen im öffentlichen Raum, die viele Kunstfreunde nach Paris lockt.

Jorinde Reznikoff und KP Flügel haben Miss.Tic in einem wundervollen kleinen Büchlein zu Wort kommen lassen, das in der Edition Nautilus erschienen ist. Wer sich ausführlicher mit der Pariser Graffiti-Künstlerin befassen möchte, der wird mit diesem autobiographisch angelegten schlanken Werk ausgezeichnet bedient.

Diskussion dieser Rezension im KunstBlog


Genre: Kunst, Musik und Literatur
Illustrated by Edition Nautilus Hamburg

Das Wunder von Treviso

Im verschlafenen norditalienischen Winzdorf Treviso besteht das Leben vorwiegend aus Essen und Langeweile, touristische Hektik ist hier gänzlich unbekannt. Das alles ändert sich jedoch, als der findige Pfarrer Don Antonio mit Hilfe eines befreundeten Künstlers eine Madonnenfigur in der Kirche dazu bringt, blutige (Rotwein-)Tränen zu vergießen. Ein neues Wunder ist geboren, die Pilger strömen aus aller Welt und der Ort erlebt eine Blütezeit. Allerdings regt sich in der Nachbargemeinde schnell Neid ob des unverhofften Reichtums der Treviser und als auch noch der Vatikan ankündigt, einen Experten zur Untersuchung des Phänomens zu entsenden, steht Don Antonio vor einem echten Problem…

Die Germanistin Susanne Falk weiß mit ihrem Romanerstling durchaus zu gefallen; ihr ist ein Buch mit viel Humor (aber ohne Klamauk) gelungen. Die Sprache ist ungekünstelt und vergleichsweise einfach, überzeugt jedoch mit sauberen Formulierungen. Für die interessanten und liebenswürdigen Protagonisten hätte man sich etwas mehr Tiefgang gewünscht, so handeln sie mitunter ein bisschen unmotiviert. Der Fluch und Segen des Tourismus mit all seinen Licht- und Schattenseiten wird lediglich gestreift und das ist schade, denn aus diesem Thema hätte man mehr herausholen können. Auch das Ende des Romans wirkt ein wenig leblos; eine überraschende Wendung wäre hier reizvoll gewesen.

Trotz der genannten Kritikpunkte bietet “Das Wunder von Treviso” sehr gute Unterhaltung auf gehobenem Niveau und der Autorin ist zu wünschen, dass sie den eingeschlagenen Weg fortsetzt und entsprechende Aufmerksamkeit erhält; verdient hätte sie es allemal.


Genre: Humor und Satire
Illustrated by Kindler Berlin

Der Hypnotiseur

Unter dem Pseudonym Lars Kepler hat das Autorenduo Alexandra und Alexander Ahndoril ihr Krimidebüt gegeben. Das Resultat? Zumindest der Titel wirkt spannend und vielversprechend.

Erik Maria Bark, Experte für Traumata-Behandlungen, der seinen Beruf aus guten Gründen nicht mehr ausüben möchte, wird zu einem bewusstlosen Jungen gerufen. Der 15jährige ist schwer verletzt und soll Zeuge eines brutalen Doppelmordes gewesen sein, bei dem nahezu seine gesamte Familie ausgelöscht wurde. Unter Hypnose gesteht der Junge, selbst der Täter gewesen zu sein. Er entflieht aus dem Krankenhaus und hinterlässt eine grausige Blutspur. In der Nacht darauf wird Barks Sohn Benjamin entführt. Der ist Bluter und dringend auf Medikamente angewiesen, um zu überleben. Barks Frau Simone bittet ihren Vater Kenneth, einen Kripomann im Ruhestand, um Hilfe. Auch Erik geht auf die Suche und erinnert sich dabei an eine frühere Patientin, die ihn attackierte und mit dem Geschehen in Verbindung steht …

Lars Kepler schreiben trocken und schildern emotionslos sachlich. Mit distanzierter Kühle, bisweilen hölzern und seltsam stimmungslos schildern sie das Geschehen. Hinzu kommen wiederholte Wechsel der Erzählperspektive, die der Lektüre Spannung nimmt.


Genre: Kriminalromane
Illustrated by Bastei Lübbe Bergisch Gladbach

Andre Zeiten, andre Drachen

Als treuer Harry-Potter-Leser ist mir das spannende Thema Drachen ebenso geläufig wie durch Richard Wagners Oper „Der Ring des Nibelungen“, in dem sich ein allzu gieriger Riese in einen zänkischen Drachen verwandelt, der schließlich getötet wird. Dass es auch eine wissenschaftliche Drachenforschung gibt, habe ich erst durch die Lektüre dieses faszinierenden Führers durch die Kulturgeschichte der Drachen erfahren. Autor Wolfgang Schwerdt ist ein solcher Forscher, ein Dracologe, der es versteht, seinen Leser auf den Rücken eines feuerspeienden Ungeheuers zu locken und mit ihm die Jahrtausende zu durchbrausen.

Die Reise beginnt bei uralten Mythen und Legenden, die Drachen furchterregend darstellen und von ihrem besonderen Appetit auf Jungfrauen erzählen. Sie führt von den Babylonieren über die Welt der Griechen, die Drachen als Abkömmlinge der Götter verehrten, hin zu den mittelalterlichen Heldensagen vom Drachen Fafnir (vom dem Richard Wagner musikalisch erzählt) und vom Leviathan. Die Entdeckung der Erde und das damit verbundene Interesse an exotischen Tieren (erwähnt sei nur der Komodo-Waran, dem Douglas Adams seine Reportage „Die Letzten ihrer Art“ widmete) bescherte den Drachen auch in der Neuzeit ein starkes Interesse des Publikums, das durch die zeitgenössische Fantasyliteratur phantasievoll beflügelt wird.

„Andre Zeiten – Andre Drachen“ ist alles andere als eine staubtrockene Abhandlung versunkener Kulturgeschichte. Es handelt sich um ein leicht geschriebenes Werk, das auf eine erfrischend unakademische Art rund zehntausend Jahre Kulturgeschichte Europas und Vorderasiens klammert.


Genre: Kulturgeschichte
Illustrated by Vergangenheitsverlag Berlin

Leon und Louise

Leon und LouiseSchuld war Christine Westermann. Denn mein erster Gedanke war “Och nö, nicht schon wieder”, als ich das erste Mal von Leon und Louise hörte. Une affaire d’amour en France. Eine Liebe gelebt gegen die ganze Welt. Ein Mann, eine Frau, die eine ganz besondere Liebe erkennen, sie aber nicht leben können. Über die Weltgeschehnisse hinweg immer mal wieder gestohlene Stunden miteinander verbringend. Och nö, hatten wir das nicht schon mal? Benoite Groult. Salz auf unserer Haut. George und Gauvain. Ein unbestritten schönes Buch. Mich nachhaltig beeindruckend und lange begleitend. Wohl auch daraus resultierend mein Zögern ob der vermuteten Neuauflage. Doch der Radiomoderatorin meines Vertrauens sei Dank. Selten hat Christine Westermann ein Buch so innig, mit soviel Herzblut empfohlen. Frau Westermann schrieb “Eine wunderschöne Geschichte, bei der man nach 314 Seiten zutiefst bedauert, dass sie schon zu Ende ist. Und sich heimlich wünscht, dass einem im nächsten Leben einer wie Léon begegnen möge. Oder eine wie Louise” und ich wurde doch neugierig. Als ich das Buch dann las, erlebte ich mehr als eine kleine Überraschung. So begeistert war ich selten. Nicht so sehr von der Handlung. Die – wie gesagt – hatten wir so ähnlich schon mal. Wobei die Geschichte von Leon und Louise der Geschichte von George und Gauvain an bittersüßer Romantik, Tragik und letztendlich Versöhnung in nichts nachsteht. Was das Buch des Schweizer Autors Alex Capus so kostbar macht, ist seine Sprache. Ein märchenhafter Erzählstil, lakonisch durch die Weltgeschichte mäandernd, sprachgewaltig und zart zugleich, schenkt er dem Leser Sätze von einfacher Klarheit und berührender Poesie. Es liest sich, als hätten Edith Piaf und ZAZ zusammen ein Album aufgenommen.

Leon und Louise lernen einander gegen Ende des ersten Weltkrieges kennen. Die beiden verbringen einen wunderbaren Tag und eine ebensolche Nacht miteinander – und werden doch kein Paar. Granaten reißen sie tragisch auseinander. In der Folge halten sie sich gegenseitig für tot. Erst Jahre später sehen sie sich zufällig in der Pariser Metro wieder, gestatten ihrer Liebe einen weiteren Tag und eine weitere Nacht. Mehr nicht, denn Leon ist inzwischen verheiratet und Vater. Und ein Mann wie Leon tut, was er tun muss und was er bleiben lassen soll, lässt er bleiben. Dennoch verbindet die beiden über die Jahrzehnte eine ganz besondere Liebe, die auch den zweiten Weltkrieg, die Besetzung von Paris, das Exil Louises und Léons Ehe überdauert.

Erzählt wird die Geschichte aus Leons Sicht von seinem Enkel. Alex Capus gelingt es jedoch, nicht nur Leons Gefühle einfühlsam darzustellen. Mithilfe berührender Briefe aus ihrem Exil leiden, freuen und lächeln wir auch mit Louise. Und nicht nur mit ihr. Auch Yvonne, Leons Gattin, lernen wir schätzen und respektieren. Sie, die von der unerfüllten Liebe weiß und damit ihren Frieden macht. Sie, die mit diplomatischer Klugheit, agentenwürdiger Schlauheit und der Rücksichtslosigkeit einer Gotteskriegerin ihre Familie durch die Fährnisse der bewegten Zeit dirigiert und dadurch nicht zur bedauernswerten Betrogenen, sondern zur zweiten Heldin der Geschichte wird.

So schwer und traurig eine solche Liebesgeschichte in einem Jahrhundert der Kriege anmutet, so leicht schafft es Capus, Alex Capus, offizielles Autorenfot schon auf den ersten Seiten eine bezaubernd einfache Stimmung heraufzubeschwören. Die Stimmung unbeschwerter Jugend, die Stimmung eines leichten Sommerwinds, die den Roman nie ganz verlässt und im allerletzten Absatz unvermittelt wieder über den Leser hereinbricht. Den Leser, der dieses Buch danach mit einem warmen Gefühl, aber auch wehmütig zur Seite legt. Tatsächlich traurig. Darüber, dass es schon vorbei ist.

Mehr über den (die Bemerkung kann ich mir jetzt nicht verkneifen) sehr attraktiven Autor, von dem bedauerlicherweise noch nicht allzu viel auf Deutsch erschienen ist, auf seiner Homepage und in den Zehnseiten der Zeit.

Quellen: Autorenfoto www.alexcapus.de
und www.christine-westermann.de

Diskussion dieser Rezension im Blog der Literaturzeitschrift


Genre: Romane
Illustrated by Carl Hanser München

Einsiedlerkrebse

\"Das\"einsiedlerkrebse\"\"Hitzewelle\"

Kurz vor dem Urlaub fiel es mir in die Hände. \”Das Lügenhaus\” von Anne B. Ragde. Lange ist es her, dass mich ein Buch so unvermittelt und so tief in seinen Bann zog. Selten genug passiert es, dass ich Geld für Hardcover ausgebe, aber in diesem Fall kein Moment des Zögerns. Teil 2, \”Einsiedlerkrebse\” und Teil 3, \”Hitzewelle\”, zu meinem grossen Glück soeben auf dem deutschen Buchmarkt erschienen, mussten unverzüglich her, damit ich ohne Unterbrechung im Bann der Geschichte der Familie Neshov bleiben konnte. Die drei Bücher sind Familienromane im besten, traditionellen Sinn. Manchmal witzig, meistens jedoch schwermütig, oft genug auch sehr dunkel und öfter, als einem lieb ist, von hohem Wiedererkennungswert. Mich hat die Geschichte sehr betroffen und auch traurig gemacht. Monate ist es her, dass ich die \”Hitzewelle\” beendete und noch immer habe ich mich nicht ganz dem Bann der Trilogie entzogen.

Das Lügenhaus ist zunächst die Geschichte dreier Brüder, dreier sehr ungleicher Brüder. Der Älteste, Tor, als Schweinezüchter auf dem elterlichen Hof geblieben. Der Mittlere, Margido, alleinstehend, katholisch und Bestatter aus Leidenschaft. Der Jüngste Erlend, ein exaltierter schwuler Schaufensterdekorateur, der mit seinem Lebenspartner Krumme in Kopenhagen ein schwules Leben im Wohlstand führt. Stilmittel aller drei Bücher ist es, jedes Kapitel aus einer anderen Sichtweise zu erzählen. Mal erleben wir die Neshov\’sche Welt aus der Perspektive Tors, mal aus der Erlends usw. Die drei Brüder sind seit Jahren ohne Kontakt miteinander und schnell will man wissen, was dazu geführt hat, dass diese Familie so zerrüttet, so zerstört ist und welche Last die drei Brüder mit sich tragen. Das Lügenhaus, welches die alte Bäuerin Anna Neshov um sich herum errichtet hat, bekommt mit ihrem bevorstehenden Tod erste Risse. Am Sterbebett der Mutter begegnen sich die drei Brüder erstmals wieder. Bei ihnen und ihrem teilnahmslosen, von allen verachteten Vater ist Torunn, die uneheliche Tochter des Schweinezüchters, von deren Existenz die anderen erst jetzt erfahren. Torunn, anfänglich noch eine Randfigur, wird nach und nach ins Zentrum der Erzählungen rücken und sie ist es auch, deren Figur und Geschichte am tiefsten betroffen machen. Nach dem Tod der Mutter entscheidet sich die zwanghaft wiedervereinte Familie für ein gemeinsames Weihnachtsfest auf dem düsteren, heruntergekommenen Hof nahe Trondheim. Am heiligen Abend gibt ausgerechnet der bis dato nicht groß in Erscheinung getretene Vater ein Geheimnis preis, dessen verheerende Folgen unabsehbar scheinen. An dieser Stelle endet das Lügenhaus, quasi mitten im Satz, und die Einsiedlerkrebse schliessen nahtlos an. Diese Technik, die noch viel krasser in den Einsiedlerkrebsen zum Tragen kommt, macht es meines Erachtens im übrigen so gut wie aussichtslos, Band 2 und Band 3 losgelöst von den anderen zu lesen. Die Einsiedlerkrebse lassen zunächst und über einen längeren Zeitraum Hoffnung aufkommen. Hoffnung, die Familie wachse wieder zueinander. Hoffnung, die Brüder und Torunn würden jeder für sich einen Weg zu einem glücklichen, erfüllenden Leben finden. Margido erweitert sein Bestattungsunternehmen, durchlebt eine kurze, für ihn verwirrende Beziehung, aber gelegentlich findet er nun den Weg zum Hof und zu seiner Familie. Torunn erlebt eine heftige Liebe, ist aber seit dem Weihnachtsfest nicht mehr diesselbe und mit einem Teil ihres Herzens immer auf Neshov. Als Tor verunglückt und zunächst ausser Gefecht gesetzt ist, verlässt Torunn kurzentschlossen ihr eigenes Leben und eilt dem Vater zu Hilfe. Erlend und Krumme durchleben eine kurze Krise, die darin endet, dass die beiden beschliessen, gemeinsam mit zwei lesbischen Freundinnen Kinder zu bekommen und eine neue, aussergewöhnliche, aber glückliche Familie zu gründen. Alle sind also mit sich selber beschäftigt, keiner bemerkt, welche Tragödie sich auf dem Hof anbahnt. Das Finale der Einsiedlerkrebse ist verwirrend, bestürzend und völlig unerwartet, auch für den Leser. Im dritten, nahtlos anknüpfenden Teil, legt sich eine Hitzewelle über das Land und den Hof, dessen Bewohner in depressiver Stagnation verharren. \”Hitzewelle\” handelt vordergründig davon, dass man in seinem Leben und seiner Familie zu Entscheidungen gezwungen wird und davon, wie schwer diese Entscheidungen manchmal zu treffen sind. Wenn man sich als Leser aber auf die Figur der Torunn konzentriert, erzählt das Buch noch von sehr viel mehr. Es erzählt von Schuld, von der Schuld der Lebenden und aber auch von der Schuld der Toten. Es erzählt vom Egoismus der Überlebenden, in diesem Fall Erlend, dessen Figur in Hitzewelle viel Sympathie einbüsst. Es erzählt von der Gedankenlosigkeit, von der Unbekümmertheit, mit der Menschen andere für ihr Leben verantwortlich machen und ihnen ein Schicksal, ein Leben aufzuzwingen suchen, eben aus dem einfachen Grunde, weil es in ihren eigenen Lebensentwurf besser passt. Margido sieht dies in Anfängen und versucht, diesen halbherzig zu wehren. Darüberhinaus erzählt uns die Hitzewelle aber auch, was geschehen kann, wenn die Lebenden, in diesem Fall Torunn, eben jene Schuld und jene Verantwortung auf sich nehmen und wiedergutmachen wollen. Das Buch zeigt uns keinen guten Ausweg und es hinterlässt in uns das Gefühl, dass es aus eben dieser Falle keinen Ausweg und auch keinen wirklichen Neubeginn mehr geben kann.

Ich empfehle diese drei klugen Bücher uneingeschränkt. Ich empfehle aber auch, sich vor der Lektüre genau zu überlegen, ob man sich der Thematik gewachsen fühlt. Die Geschichte der Familie Neshov bietet kaum eine Lösung, kaum einen Ausweg und sehr wenig Hoffnung.

Aber – und diese Bemerkung erlaube ich mir jetzt einfach: Würde Anne.B.Ragde den Literaturnobelpreis bekommen, ich würde die Vergabe vehement verteidigen. In Norwegen wird Anne B. Ragde für ihre Trilogie gefeiert. Die liebevolle Beschreibung der schwulen, glücklichen Partnerschaft zwischen Erlend und Krumme hat die Schriftstellerin überdies in Skandinavien zu einer Ikone der Schwulenbewegung werden lassen.
Unter dem Titel \”Berlinerpoplene\” wurde die Geschichte mit riesengroßem Erfolg für das norwegische Fernsehen verfilmt

Anne B. Ragde
Das Lügenhaus, Roman
Verlag btb HC
ISBN-13: 978-3442751938
auch als Taschenbuch
Einsiedlerkrebse
Verlag btb
ISBN-13: 978-3442751679
Hitzewelle
Verlag btb
ISBN-13: 978-3442752256

Diskussion dieser Rezension im Blog der Literaturzeitschrift


Genre: Romane
Illustrated by btb München