Der Crash ist die Lösung

Lenin, einer der wohl größten Kapitalismus-Kritiker, hat in seiner Schrift »Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus« anschaulich den Prozess des verfaulenden Kapitalismus beschrieben: »Monopole, Oligarchie, das Streben nach Herrschaft statt nach Freiheit, die Ausbeutung einer immer größeren Anzahl kleiner oder schwacher Nationen durch ganz wenige reiche oder mächtige Nationen – all das erzeugte jene Merkmale des Imperialismus, die uns veranlassen, ihn als parasitären oder in Fäulnis begriffenen Kapitalismus zu kennzeichnen. Immer plastischer tritt als eine Tendenz des Imperialismus die Bildung des „Rentnerstaates“, des Wucherstaates hervor, dessen Bourgeoisie in steigendem Maße von Kapitalexport und „Kuponschneiden“ lebt. Es wäre ein Fehler, zu glauben, dass diese Fäulnistendenz ein rasches Wachstum des Kapitalismus ausschließt; durchaus nicht, einzelne Industriezweige, einzelne Schichten der Bourgeoisie und einzelne Länder offenbaren in der Epoche des Imperialismus mehr oder minder stark bald die eine, bald die andere dieser Tendenzen. Im großen und ganzen wächst der Kapitalismus bedeutend schneller als früher, aber dieses Wachstum wird nicht nur im allgemeinen immer ungleichmäßiger, sondern die Ungleichmäßigkeit äußert sich auch im besonderen in der Fäulnis der kapitalkräftigsten Länder.«

Dieses Buch bestätigt Lenin. Auf den ersten zweihundert Seiten legen die Autroen Weik und Friedrich mittels Zahlen qualifiziert dar, dass die Wirtschaftsordnung, in der wir leben, keine Zukunft hat und vom Untergang bedroht ist. Dies entspricht dem Eindruck weiter gesellschaftlicher Schichten, die auch ohne analytische Fähigkeiten ahnen, dass die guten Jahre gezählt sind und eine Periode des Heulens und Zähneknirschens bevorsteht. Und wie einst Jesus in seiner Sterbestunde am Ölberg beten sie heimlich »Lass diesen Kelch an mir vorüber gehen …«.

Die Autoren halten dem Stillstand ein fundiertes »Watt kütt, dat kütt« entgegen und zeigen auf, dass auch Deutschlands Fundamente bröckeln, die Zeit der Rendite vorbei ist und wir alle Wohlstand verlieren werden oder an andere abgeben müssen. Längst gehe es ausschließlich um Vermögenserhalt und Vermögenssicherung. Der Staat, diese große, gierige Räuberbande, bereite sich längst auf einen Generalangriff auf unser Geld und unser Vermögen vor. Schließlich ginge nicht der Staat pleite, sondern seine Bürger. Inflation, Deflation und Hyperinflation seien längst gängige Szenarien. Der Chrash, so die Autoren, sei unausweichlich. Ausgelassen wird dabei die historische Erfahrung, dass die imperialistische Staatengemeinschaft ihren Hals mehrfach mit dem Anzetteln verheerender Weltkriege aus der Schlinge zog. Es ist ein Mangel der Veröffentlichung, diesen Aspekt ausser Acht zu lassen.

Nach umfangreicher Analyse und langer Vorrede kommen die Autoren schließlich auf ihre eigentliche Fragestellung, wie Otto Normalverbraucher denn sein Vermögen schützen könne. Dass dabei jemand, der schuldenfrei ist, freier agieren kann als eine Melkkuh der Banken, wird vorausgesetzt. Kapitallebens- und Rentenversicherungen seien ebenso wie Bausparverträge Auslaufmodelle. Bargeld – ob unter der Matratze oder im Schließfach – hingegen bedeute »Freiheit, Unabhängigkeit, Flexibilität und Mündigkeit«. Investitionen in Sachwerte, die man anfassen könne, seien ebenso sinnvoll. Aktien hingegen seien kein Instrument, um sein Vermögen effektiv vor dem Zugriff des Staates zu schützen. Silber und das mehrwertsteuerfreie Gold hingegen seien global akzeptierte Sachwerte zur Vermögenssicherung. Auch hochwertiger Whisky vom Originalabfüller sei ein langfristiges Investment.

Ob diese Tipps ausreichen, dem Big Bang vorzubeugen und damit möglichst zu denjenigen zu zählen, die nicht alles verlieren, sei dahingestellt. »Der Crash ist die Lösung« gibt jedenfalls Anregungen, sich mit dem Thema zu befassen, und das ist auf jeden Fall besser, als wie das Kaninchen auf die Schlange zu starren. Der Rezensent empfiehlt zum Thema das Schreiben von Ratgebern. Dies kann in Krisenzeiten eine ausgezeichnete Investition sein, um sein Geld zu retten und zu mehren. Quod erat demonstrandum.


Genre: Wirtschaft

Felders Traum

Felders Traum Elmar BereuterElmar Bereuter, der Verfasser von »Felders Traum«, der Lebensgeschichte des »schreibenden Bauern« Franz Michael Felder, genießt einen unschätzbaren Vorteil: Er entstammt selbst dem Bregenzerwald, jeder Gegend im österreichischen Voralberg, in der diese Tatsachengeschichte spielt.

Bereuter kennt die Welt der Berge, den Dialekt der Wälder, ihre Bräuche und Gewohnheiten und hat insofern beste Voraussetzungen, den Lebensweg des »Sonderlings« zu beschreiben. Mit entsprechendem Einfühlungsvemögen schildert der Autor die Bedingungen, unter denen der halbblinde Junge auf- und heranwuchs und zum geschriebenen Wort fand.

Im Dorf Schoppernau, zu Füßen der Kanisfluh, einem sagenumwobenen Bergmassiv, erblickte Franz Michael Felder am 13.05.1839 das Licht der Bergwelt. Der rebellische Bergbauernbub wurde keine 30 Jahre alt, er schuftete zeitlebends als Kleinbauer und fristete mit den Seinen ein kärgliches Dasein.

Die öffentliche Meinung, bestehend aus dem Willen von Großbauern, Käsebaronen, Vorstehern sowie dem ultrakatholischen Klerus bestimmte das Leben der Heuer, Küher, Sennen und ihrer Angehörigen bis in den kleinsten Bereich, und alle richteten sich danach. Unter diesem Druck, in dem jeder beobachtete, selbst beobachtet und beurteilt wurde, bedeutete schon allein die Infragestellung althergebrachter Sitten eine unerhörte Störung der allgemeinen Ruhe und des dörflichen Friedens.

Bereuter beschreibt, gegen welche enormen Widerstände der junge Felder seinen Lesehunger stillte, Zeitungen und Bücher besorgte, sich literarisch bildete und schließlich selbst zur Feder griff. Aufgrund der Armut seiner Zeitgenossen elektrisierten ihn sozialreformerische Ideen, die er mit der Lektüre aufsog und in Vereinen und durch Parteiengründung umzusetzen suchte.

Dass er dabei vor allem auf den Hass der Amtskirche stieß, die ihn offen von der Kanzel herab verleumdete und zum Teufel wünschte, ist ein Schwerpunkt dieses stets dicht an den bekannten biografischen Fakten, Briefen und Unterlagen orientierten Romans. Der schreibende Freigeist Felder musste aufgrund von Morddrohungen sogar zeitweise aus seinem Heimatdorf fliehen. Erst aufgrund der Aufmerksamkeit der Presse und dem großen und positiven Echo auf seine Veröffentlichungen wurde er halbwegs respektiert und in Frieden gelassen. Am 26. April 1869, kurz vor seinem 30. Geburtstag, starb der Verfasser von Romanen wie »Reich und Arm« an Lungentuberkulose.

Elmar Bereuter setzt mit seinem 500-seitigen Werk nicht nur Franz Michael Felder ein mehr als verdientes Denkmal. Er verfasste zugleich einen ungemein spannenden, in einem mächtigen Rutsch zu lesenden historischen Roman, der ein Signal gegen Ignoranz und Kleingeisterei setzt. Diese Biographie wird jedem gefallen, der sich für die Lebenswege von Außenseitern, die dem eigenen Stern folgen, interessiert.


Genre: Biographien, Briefe, Memoiren
Illustrated by LangenMüller

Soap

Einer meiner Bekannten hat sämtliche Folgen der »Lindenstraße« gesehen – und zwar von der ersten Sendung im Dezember 1985 an – und er schaltet immer noch ein. Es scheint da einen Suchtfaktor zu geben, der mich bislang verschonte, obwohl mir Süchte alles andere als fremd sind. Bislang habe ich jedenfalls noch keine Episode dieser Endlos-Reihe, die unter ihren Fans Kult-Status genießt, gewidmet. Schlimmer noch: Ich schaue mit gewisser Hochnäsigkeit auf diejenigen, die keine Tele Novela auslassen. Weiterlesen


Genre: Fortsetzungsgeschichten, Romane
Illustrated by Kindle Edition

Wörterbuch des Wienerischen

Drei Wiener schenken einem Berliner dieses Wörterbuch, damit er sie besser versteht. Der schlägt es auf und macht die Probe aufs Exempel: Was bitte ist ein »Kruspelspitz« (ein spezielles Stück Rindfleich) fragt er das Burli. Der Junge weiß es nicht. Wer oder was ist denn wohl ein »Halawachel« (ein unzuverlässiger Mensch) fragt er dessen Mame. Die Mutter weiß es nicht. Ob der Opschi denn den Begriff »Buserant« (Schwuler) kennt? Sorry, auch der Großvater aus der Josefstadt bleibt stumm.

Was sagt uns das?

Verfasser Robert Sedlaczek hat in seinem Wörterbuch wesentlich mehr Begriffe gesammelt, als dem gemeinen Wiener geläufig sind. Obwohl der Autor auf dem Titel behauptet, aufzuzeigen, woher die Wörter kommen, weist er leider nur bei einigen Begriffen deren Herkunft nach. – Der »Buserant« ist beispielsweise in Robert Musils «Mann ohne Eigenschaften« belegt.

Das tut dem Spaß, den dieses Nachschlagewerk schenkt, aber keinen Abbruch. Es schenkt jedenfalls viel Freude, in den mehr als 3.000 Wörter und Wendungen zu blättern.


Genre: Wörterbücher
Illustrated by Haymon Innsbruck

Vor dem Gesetz

Im Mittelpunkt dieser kleinen Kunstsammlung steht Franz Kafkas Parabel \”Vor dem Gesetz\”, die seinem Roman \”Der Process\” entstammt. Wie so oft bei Werken dieses Autors lässt der Text den Leser zunächst einigermaßen ratlos zurück, denn er bekommt keine einfachen Lösungen geboten, sondern muss schon selbst das Gehirn einschalten und dann lohnt sich das auch.

Passend zum Thema findet man 21 kritische Karikaturen des französischen Illustrators Honoré Daumier, allesamt gelungen, wenn auch wenig schmeichelhaft für die Jurisprudenz.

Der Herausgeber Rupi Frieling höchstselbst hat ebenfalls eine Geschichte beigesteuert; \”Die Sprengung\”, ein reichlich kafkaesker Text, der somit natürlich perfekt in den Rahmen passt.

Abgerundet wird diese anspruchsvoll gelungene Zusammenstellung von Kleinodien durch interessante Kurzbiografien der Beteiligten; es bleiben also keine Wünsche offen.


Genre: Kurzprosa
Illustrated by Internet-Buchverlag Berlin

Der Distelfink

“Ich nehme an, es gab eine Zeit in meinem Leben, da hätte ich eine beliebige Anzahl von Geschichten gewußt, aber jetzt gibt es keine andere mehr. Dies ist die einzige Geschichte, die ich je werde erzählen können.” Zwanzig Jahre ist es her, dass dieser Satz den Prolog von Donna Tartts geheimer Geschichte beendete,  zwanzig Jahre, in denen von der Autorin außer einem kleinen, schmalen Band nichts zu lesen war und man zu fürchten begann, dieser Satz wäre zur sich selbst erfüllenden Prophezeiung geworden.

Die geheime Geschichte. Viele werden sich erinnern, als Anfang der 90er Jahre dieses wortgewaltige Debüt wie aus dem Nichts auftauchte und unzählige Leser in seinen Bann zog. Es war eines der nachdrücklichsten Werke des ausgehenden 20. Jahrhunderts, ein Buch, das auch Jahrzehnte später unvergessen und präsent im Gedächtnis seiner Leser ist. Immer verbunden mit dem Wunsch, diese Autorin möge noch einmal so ein monumentales, berührendes, verstörendes Werk schreiben. Zwanzig Jahre Zeit hat sie sich dafür gelassen, zehn Jahre davon verbrachte sie damit, das so sehnlich erwartete zweite Meisterwerk zu verfassen. Zehn Jahre nicht nur für die Entstehung des Buches, zehn Jahre ist auch genau die Zeitspanne, den das Buch umfasst. Spannend, sich vorzustellen, wie die Autorin zehn Jahre in genau diesem Zeitraum mit ihrer Geschichte gelebt hat.

Der Distelfink. Genauso verstörend, genauso begeisternd, genauso meisterhaft und monumental wie die geheime Geschichte. Noch bevor ich die erste Seite aufschlug, hatte ich meine ganz eigene Geschichte mit diesem Buch. Die geheime Geschichte gehört ganz sicher zu den “Büchern meines Lebens”, meine Erwartungshaltung an ein nachfolgendes Werk war enorm und meine Aufregung groß, als ich vor 2 Jahren in einer holländischen Buchhandlung “het puttertje” sah. Mein Wunsch nach einem zweiten, ebenso epochalen Werk schien endlich erhört zu werden, doch ich musste mich noch lange gedulden, bis das Werk endlich auch dem deutschen Markt zugänglich war. Der Distelfink wurde zeitgleich in den USA und den Niederlanden veröffentlicht, was schon nach kurzer Lektüre nicht mehr verwundert. Ein entscheidender Teil des Buches spielt in Amsterdam, der Ich-Erzähler bezeichnet die Stadt als sein persönliches Damaskus und noch vor der Lektüre schien es mir eine gute Wahl. Das Bild, das ich mir von der Autorin und ihren Geschichten gemacht hatte, passt außerordentlich gut in diese Stadt.

Der titelgebende Distelfink ist ein kleines, auf den ersten Blick unscheinbares Bild des holländischen Malers Carel Fabritius. Fabritius war ein Rembrand-Schüler, der 1654 bei einer Explosion der Delfter Pulvermühle ums Leben kam. Bei dieser Explosion ging auch ein Großteil seiner Werke verloren. Der bis heute erhaltene Distelfink ist ein Kunstwerk von unschätzbarem Wert und im den Haager Mauritshuis zu besichtigen. In Donna Tartts Roman wird dieses Bild wiederum durch eine Explosion bedroht. Im Roman ist das Bild eine Leihgabe im New Yorker Metropolitan Museum of Art. Der junge Theo Decker besichtigt es mit seiner Mutter, als sich die (fiktive) Explosion ereignet. Die Mutter verliert ihr Leben, das Kind Theo überlebt und nimmt im Chaos und der Panik der Explosion das Bild von der Wand und flieht mit diesem in eine ungewisse Zukunft. Das verstörte Kind wird von einem Ort zum anderen gereicht, seine einzige Konstante ist der Distelfink. Das kleine Bild ist Millionen wert, was ihm aber (noch) nicht klar ist. Für ihn ist es die letzte Verbindung zur Mutter, sein Trost inmitten seines von Einsamkeit und Verlassenheit geprägten Lebens.

Donna Tartt, der Distelfink

Einen Teil seiner Jugendjahre verbringt er in der surrealen Wüste unweit von Las Vegas. Dort lernt er den charismatischen, furchtlosen aber auch unzuverlässigen Ukrainer Boris kennen. Durch Boris erfährt Theo erstmals wieder ein Gefühl der Zugehörigkeit und Anerkennung, allerdings um den Preis einer nicht mehr endenden Sucht nach der Welt halluzinierender Drogen, in die Boris ihn mitnimmt. Es entwickelt sich eine Freundschaft, die Theos Leben bestimmen und überschatten wird. Boris Hang zur selbstverliebten Selbstzerstörung führt trotz mancher Wendungen, die die Handlung noch zurück ins Gute hätte führen können, zur Katastrophe. Wenn überhaupt etwas die mittlerweile erwachsenen Männer aus dieser Katastrophe herausholen kann, wird es die Liebe zur Kunst und zu Geschichten sein. Nur dieser “polychrome Rand zwischen Wahrheit und Unwahrheit” macht es ihnen “überhaupt erträglich, hier zu sein.” “Unheil und Katastrophen sind diesem Gemälde durch die Zeiten gefolgt, aber auch die Liebe.” Und so fügt Theo Decker seine Geschichte den “Geschichten der Menschen hinzu, die schöne Dinge geliebt und auf sie geachtet haben, […] die sie buchstäblich von Hand zu Hand weiterreichten, strahlend singend aus den Trümmern der Zeit zur nächsten Generation von Liebenden und zur nächsten.”

Wie schon die geheime Geschichte ist auch der Distelfink getragen von Donna Tartts einzigartigen, unverwechselbaren Art zu erzählen. Sie erzählt leichtfüßig, manchmal bewusst lakonisch, um ihrer Erzählung das Schwere, die Tiefe zu nehmen. Doch so leicht man das Buch auch liest, so schwer hallt es nach, so schwer ist es zu ertragen. Auf der einen Seite ist es ein trauriges Buch, das auf die so banale wie bittere Wahrheit “aus diesem Leben kommt keiner lebend raus” hinausläuft. Auf der anderen Seite vermag das Buch auch Hoffnung geben. Nie wurde schöner klar, warum die Unsterblichkeit der Kunst solch ein Trost sein kann. Die Kunst zeigt uns “dass das Schicksal grausam ist, aber nicht beliebig” und dass das unausweichliche Gewinnen des Todes nicht bedeuten muss, dass “wir um Gnade winseln müssen. Es ist unsere Aufgabe, geradewegs hindurchzuwaten, mitten durch die Jauchegrube und dabei Augen und Herz offen zu halten” damit die “Gegenwart eine strahlende Scherbe der Vergangenheit in sich tragen kann”. Schlussendlich sind es die buntesten Exzentriker aus dem Distelfinken, die den Leser mit der tröstlichen Gewissheit entlassen, “dass es zwischen der Realität auf der einen Seite und dem Punkt, an dem der Geist die Realität trifft” “eine mittlere Zone, einen Regenbogenrand”,gibt, “wo die Schönheit ins Dasein kommt, das ist der Raum, in dem alle Kunst existiert und alle Magie.” Kunst als Magie, die den Tod und allem Kummer überwindet.

Der Distelfink ist aber nicht nur eine Reflexion über den Trost der Kunst, es ist auch ein Buch über Verlust, Obsession, Lebenskraft und die gnadenlose Ironie des Schicksals und vor allem über die Freundschaften, die all das mit sich bringen. Theo Decker hat sich nie von dem frühen, seine Welt erschütternden Ereignis der Explosion im Museum erholt, und es sind seine Freundschaften gewesen, die ihn bei aller zerstörerischen Kraft überhaupt am Leben erhalten haben. Und so endet dieses Buch in einem schon fast pilosophischen Diskurs nicht nur über die Macht der Kunst und der Freundschaft, sondern auch übergeordnet in der Frage, ob aus Gutem Böses erwachsen kann und umgekehrt.

Der Distelfink ist ebenso wie die geheime Geschichte eine uralte, sich über die Jahrhunderte immer wieder wiederholende Geschichte, aber trotzdem ein klarer Gegenwarts-Roman. Der Vergleich mit einem anderen Buch der jüngeren Zeit drängt sich auf und es bleibt nur ein Schluss: Der Distelfink ist das, was Bonita Avenue gerne gewesen wäre. Anders als Peter Buwalda traut Donna Tartt ihren Lesern aber einiges zu. Risikofreudiger als sie kann man keine Bücher schreiben. Angefangen davon, wie unbeeindruckt sie sich die Zeit nimmt, die sie für ihre Bücher braucht bis hin zum Anfang des Buches, wo sich ein völlig kaputter Erzähler schon bald als Mörder entpuppt. Donna Tartt schreibt nicht, um Erwartungen zu erfüllen, sie schreibt, um ihre Geschichten zu erzählen. Man möge ihr folgen oder es lassen.

Ich empfehle dringend: Folgen und sich auf die Geschichte einlassen, auch wenn es nicht einfach ist. Und wer die geheime Geschichte noch nicht kennt: Dringend nachholen.
Sehr dringend.

Diskussion dieser Rezension im Blog der Literaturzeitschrift. 


Genre: Romane
Illustrated by Goldmann München

Albsoluter Wahnsinn

Er sitzt bei Günther Jauch auf dem heißen Stuhl, tritt beim europäischen Schlagerfest auf, lässt sich ein Buch von Boris Becker signieren, plagt sich mit marodierenden Zombie-Rentnern im Supermarkt herum, wird in Guantánamo von Elke Heidenreich gefoltert, leidet wie ein Hund im Düsseldorfer Karneval und dann steht auch noch die komplette Geissen-Family vor der Tür.

Dies sind nur einige der Widrigkeiten, die das Leben für Michael Albrecht parat hält; er hat es also wahrlich nicht leicht, aber sein Pech ist das Glück des Lesers, der so in den Genuss kommt, an diesen Events teilzunehmen. Der Autor deckt dabei ein breites Spektrum ab; neben einigen ausgewählten Albträumen (s.o.) beschäftigt er sich auch mit dem grassierenden Wahnsinn in den Bereichen Medien, Politik, Religion, Kultur, Gesellschaft, Soziales, Konsum, Technik und Philosophie.

Die Geschichten und Gedichte (ja, auch die gibt es und sie sind echte Kleinode) sind überaus witzig, der Humor ist aber dabei nicht platt, sondern intelligent; mitunter pointiert sarkastisch, aber nie zynisch formuliert. Michael Albrecht geht wachen Auges durch das Leben und schreibt über Dinge, von denen er etwas versteht; damit unterhält er den Leser nicht nur bestens sondern regt ihn auch zum Nachdenken an und das ist mehr, als man normalerweise geboten bekommt. Gerade in der Kategorie “Humor” finde ich es verdammt schwierig, deutsche Bücher zu finden, die die Messlatte eines Mario Barth oder anderen dieses Kalibers locker überqueren. Dem Autor ist nichts weniger als ein kleines Meisterwerk gelungen.


Genre: Humor und Satire
Illustrated by CreateSpace Independent Publishing Platform

Wörterbuch Schweizerdeutsch – Deutsch

Des Schweizers Deutsch, so der Zürcher Stadtpräsident a.D. Joseph Estermann im Vorwort, sei vielleicht über den Ton der Mitteilung befremdlich für den Fremden. Doch Besucher der Schweiz dürften gewiss sein: »Je grober man sie anschnauzt, um so freundlicher ist es gemeint«.

Mit diesen Worten gewappnet begibt sich der Leser in die Auswahl von Berndüütsch, Baseldüütsch und Zürichdüütsch, die das Wörterbuch präsentiert. Zaghaft nähert er sich dem Idiom, das angeblich allein 22 verschiedene Vokale kennt und versucht, jeweils auf der ersten Silbe zu betonen und das »ch« als »ach«-Laut auszusprechen.

In dem schmalen Band erfährt er nun, dass beispielsweise ein »Brockenhaus« kein berühmtes Nachschlagewerk, sondern ein Trödelladen ist. »Äa Brünneli mache« bedeutet, einem natürlichen Bedürfnis nachzukommen, was vor allem dann wichtig ist, wenn zu viel »Chlöpfmoscht« (Sekt) getrunken wurde. Und wird man auf der Heimfahrt behördlich an das »Gurtentragenobligatorium« erinnert, dann heißt dies, die Anschnallpflicht zu beachten.

Endlich weiß ich nun auch, was es bedeutet, wenn zwei Tüpflischisser nach dem Töggeliputze Tschütterlichaschte spielen. Dann treten nämlich zwei Korinthenkacker nach dem Zähneputzen zum Tischfußball an …

Ich habe jedenfalls herzlich gelacht!


Genre: Lexika und Nachschlagewerke
Illustrated by Haffmans bei Zweitausendeins

Schreiben unter Strom

Der Betrachter des missverständlichen Buchtitels mutmaßt vielleicht, der Verfasser widme sich denjenigen Autoren, die im Vollrausch, unter Alkohol, Drogen oder welchen erhellenden Substanzen auch immer ihre literarische Produktion zur Höchstform bringen. Doch da liegt er falsch.

Tatsächlich behandelt Porombka das Schreiben unter Verwendung von Elektrizität – also mittels Rechner, Tablet, Smartphone oder welchem Gerät auch immer. Und dabei geht es ihm im Besonderen um neue Formen der Literatur, die sich ob der technischen Bedingungen in Kürze üben müssen: um SMS, Twitter & Co.

Dazu stellt er – akademisch korrekt – zuerst einmal ein paar Grundprinzipien, des »Schreibens unter Strom« vor. Danach stellt er Projekte wie »Twitteratur« vor, die letztlich wieder in klassische Papierbücher münden. Schließlich befasst er sich mit Projekten, die das (Strom)Netz nicht verlassen und damit ihre eigene organische Lebensform entwickeln.

Wer also mitunter gern mal mit dem Handy dichtet, sich per Twitter ultrakurz literarisch oder lyrisch äussern möchte oder über das reine Vermitteln von Alltagsnachrichten hinaus die Möglichkeiten neuer Medien nutzen will, der bekommt in diesem Büchlein neben einigen interessanten historischen Betrachtungen durchaus praktikable Anregungen.

Dass der 160 Seiten starke Holzband als Elektrobuch freche € 10,99 kostet, zeigt (mir zumindest), dass der Dudenverlag weder echtes Interesse hat, sich neuen Medien zu öffnen noch die Zielgruppe erreichen möchte.


Illustrated by Duden

Die Reise der blauen Perle nach Kambodscha

Im dritten Band ihre fantastischen Erzählung von der blauen Perle, die von Land zu Land wandert, landet die Autorin in Kambodscha. Hier trifft ein kleiner Junge auf eine von Tierfängern bedrohte Gibbonmutter und ihr Junges. Durch die Magie der Perle versteht Heng, der Protagonist, die Affensprache, während die anderen Menschen diese natürlich nicht verstehen. Gemeinsam besuchen die Gefährten Sehenswürdigkeiten des Landes und erfahren dabei viel über Land, Leute und Kultur.

Die Abenteuerserie »Die Reise der blauen Perle« will Mädchen und Jungen die Augen für die Länder der Welt öffnen. Jeder Band der Abenteuerserie spielt in einem neuen Land mit neuen Hauptfiguren und ist eine in sich abgeschlossene Geschichte. Die geheimnisvolle blaue Perle bringt ein Mädchen oder einen Jungen mit einem landestypischen Tier zusammen. Sie freunden sich an und erleben zwei unvergessliche Tage. Die blaue Perle ist eine Metapher für unsere Erde: kostbar und geheimnisvoll. Dass die Kinder die blaue Perle immer an einen Freund senden müssen, symbolisiert, dass die Erde nicht unser Eigentum ist und dass wir zunehmend vernetzt sind. Im Anhang der jeweiligen Abenteuer gibt es Nützliches, wie einen kleinen Sprachführer und kindgerechte Links für die eigene Recherche.

Das zentrale Anliegen der Buchreihe um die blaue Perle ist lebendige Wissensvermittlung. Die dosierte Abgabe von Wissen ist eine pädagogische Aufgabe, der sich die Autorin mit Hingabe hingibt. Ob dies jüngere Leser tatsächlich interessiert oder eventuell eher abschreckt, vermag ich nicht zu beurteilen. Sicher bin ich aber, dass mehr Farbe den Geschichten gut bekommen würde. Es handelt sich bei Kambodscha schließlich um ein exotisches Land, das den allermeisten Lesern unbekannt sein dürfte, und da helfen Farbe, Geräusche und Gerüche über allzu trockene Stellen hinweg. Besonders der akademisch gebildete Autor muss mit viel Fingerspitzengefühl trockene Fakten ansprechend verpacken. Nur dann schaltet der Leser sein Kopfkino an und folgt dem Autor atemlos in dessen Welt. Ziel des Buches ist schließlich, den jungen Leser auf eine Reise einzuladen und ihm das gemeinsame Erleben derart schmackhaft zu machen, dass er sehnsüchtig die nächste Folge der magischen Weltreise erwartet. In dieser Hinsicht traue ich der Autorin noch sehr viel mehr zu.

Die Idee zu der Länder-Abenteuerserie kam Mo Anders übrigens auf Maui. Mangels Kinderbücher im Reisegepäck erfand sie die Geschichte eines Kindes, das sich mit einem Delfin anfreundet. Jeden Abend folgte ein weiteres spannendes Abenteuer, in das sie Informationen zum Ausflug des nächsten Tages schmuggelte. Die beiden Freunde tauchten wagemutig nach einem versunkenen Schatz, bestiegen mühsam den Vulkan Haleakala, beobachteten gebannt die imposanten Buckelwale in der Bucht und kosteten beim Luau neugierig hawaiianische Spezialitäten. Eines Tages tappte ihre jüngste Tochter mitten in der Nacht barfuß ans Bett und weckte die Mutter mit der Forderung, die Geschichte sofort weiterzuerzählen. Damit war die Idee für eine Abenteuerserie, in der Kinder Besonderheiten von Ländern entdecken können, geboren.


Genre: Kinder- und Jugendbuch
Illustrated by Kindle Edition

Zwölf Jahre als Sklave – 12 Years A Slave

Durch den mit einem Oscar als bester Film des Jahres 2014 ausgezeichneten Film »12 Years a Slave« des britischen Regisseurs Steve McQueen ist ein 1853 erschienener autobiographischer Text wieder ans Licht der Öffentlichkeit gekommen, der in seiner Eindringlichkeit das Blut in den Adern gefrieren lässt.

Es handelt sich dabei um »Zwölf Jahre als Sklave« von Solomon Northup, die bewegende Autobiographie eines frei geborenen schwarzen Amerikaners, der entführt und versklavt wurde, ehe er endlich befreit wurde. Dieser Augenzeugenbericht schildert aus erster Hand die barbarischen Bedingungen, unter denen viele Schwarze in den Südstaaten arbeiten und vegetieren mussten.

Northup, den Sklavenhändler betäubten und seiner Familie entrissen, beschreibt eindringlich seine Erlebnisse als herrenloses Tier, das von seinen jeweiligen Besitzern nach Gutdünken herumgestoßen, misshandelt und verkauft werden konnte. Er bezeugt zugleich, dass es unter den Sklavenhaltern sowohl menschliche als auch grausame Männer gab.

Regisseur Steve McQueen hatte schon länger den Wunsch, einen Film über Sklaverei zu machen und über einen Schwarzen zu erzählen, der in die Sklaverei verschleppt wird. Aber er wusste nicht, wie sich so etwas tatsächlich abgespielt hatte. Seine Frau riet ihm, sich an einem historisch verbürgten Fall zu orientieren. So entdeckten sie das Buch von Solomon Northup. Steve McQueen im Interview: »Als ich es las, war ich fertig … Es war, als hätte ich das Tagebuch der Anne Frank in die Hände bekommen.«

Die Historikerin Petra Foede legte gemeinsam mit dem Buchgestalter und Setzer Rainer Zenz parallel zum Film eine Übersetzung der Erinnerungen Northups vor. Ihr E-Book brilliert (im Unterschied zu zeitgleich vorgelegten Ausgaben) mit Originalillustrationen, umfangreichen Anmerkungen, einem Nachwort zum weiteren Leben der Autors, zur Rezeptionsgeschichte des Buches sowie einer historischen Fotodokumentation.

Die Übersetzerin erläutert den Erfolg des Buches, der an »Onkel Toms Hütte« von Harriert Beecher Stowe anknüpfte, das ein Jahr (1852) früher erschienen war. Sie ordnet das Werk in einen Kreis von rund 80 ähnlichen Autobiographien ein, die seinerzeit eine neue Literaturgattung, die »Sklavenerzählung« (slave narrative), begründeten. Northups Werk erreichte Auflagenzahlen wie kein anderes Werk des Genres, deren Autoren sich der Antisklaverei-Bewegung verpflichtet sahen.

Die Lektüre der Lebensschilderung von Solomon Northup hinterlässt einen nachhaltigen Eindruck über das Martyrium eines frei geborenen Amerikaners, der lediglich aufgrund seiner Hautfarbe in die Sklaverei verschleppt wurde. Es handelt sich um die ergreifende Schilderung eines der vielen traurigen Kapitel der amerikanischen Geschichte, die ohne Schwarzweißmalerei auskommt.


Genre: Biographien, Briefe, Memoiren
Illustrated by Kindle Edition

Tausche Zement gegen Hemingway

In den frühen 80er Jahren war es für unabhängige westdeutsche Journalisten nicht einfach, Einreisegenehmigungen für die DDR zu erhalten und über dort Erlebtes zu berichten. Einer der wenigen, dem dies gelang ist Rupi Frieling, der nun seine damaligen Reportagen in einem hochinteressanten Band veröffentlicht.

Im Vorwort erzählt er über die damaligen Arbeitsbedingungen, die sicherlich nicht einfach waren für den Freigeist Frieling, aber er machte das Beste daraus und nahm trotzdem kein Blatt vor den Mund.

Es folgt ein fundiert wertvoller Überblick über die Geschichte der DDR-Literatur; dabei lassen sich so manche Perlen finden oder erneut entdecken.

Die Reisereportagen schildern eindrucksvoll ein Land der Leselust, in dem die Einwohner Schwierigkeiten haben, ihren literarischen Hunger zu stillen, besonders natürlich den nach exotischen Köstlichkeiten, die nicht unbedingt im Kulturkaufhaus des sozialistischen Realismus zu finden sind.

Mitunter amüsant fand ich die beschriebenen Bemühungen der DDR-Oberen, bei den von ihnen vereinnahmten großen Denkern wie Goethe, Luther oder Karl May möglichst nur das herauszupicken, was ins sozialistische Weltbild passt; mich erinnert das frappierend an die politische Korrektheit unserer Tage, in denen Klassiker und Schulbücher umgeschrieben werden müssen, um vermeintliche Diskriminierungen zu vermeiden.

Trotz solch aberwitziger Versuche war die DDR wahrlich kein Volk von Literaturbanausen, sondern im Gegenteil ein Land der Leselust, wie Frieling auch im Vorwort resümiert. Ich erinnere mich noch gut an meinen ersten Besuch in Ostberlin, als ich keinerlei Schwierigkeiten hatte, das unfreiwillig erhaltene Begrüßungsgeld in Literatur zu investieren; beeindruckend dort die Vielzahl anspruchsvoller politischer Bücher (auch aus der BRD), die im Westen ein Schattendasein fristeten, wenn sie denn überhaupt erhältlich waren.

Frieling legt mit diesem Buch ein wichtiges Stück Zeit- und Kulturgeschichte aus einem Land vor, von dem man heute leider immer weniger weiß und das ist schade.


Genre: Kulturgeschichte
Illustrated by Internet-Buchverlag Berlin

Tausche Zement gegen Hemingway

Lust auf DDR-Leselust?

Ich muss gestehn: Zu DDR-Zeiten hat mich der Literaturbetrieb „drüben“ überhaupt nicht interessiert. Sicher, Namen wie Johannes R. Becher, Anna Seghers, Stephan Hermlin, Christa Wolf hab’ ich als westdeutscher Literaturbeflissener schon zur Kenntnis genommen und das eine oder andere davon auch gelesen. Doch dass sich die DDR-Bürger auch beim Buch in einer Mangelsituation befanden – ich hätte es mir denken können, hab’ darauf aber keinen Gedanken verschwendet. Waren mir und meiner Frau, die mit ihren Eltern der CSSR republikflüchtig den Rücken gekehrt hatte, ja ohnehin der ganze Ostblock verschlossen. Sollten die in der DDR doch, wie gewollt, ihren eigenen Staat aufmachen – und lesen, was ihnen die marxistisch-leninistische Ideologie erlaubte …

Doch stopp! Fast hätte ich’s vergessen. Ich muss noch etwas gestehn: dass ich als Schüler und Student nur zu gerne die Möglichkeit wahrgenommen habe, günstig an die Brecht-Ausgabe und die Romane der großen Russen Dostojewski und Tolstoi aus dem Aufbau-Verlag ranzukommen. Ja, da gab’s nämlich auch bei mir so was wie „Tausche Zement gegen Hemingway“ – allerdings anders gewichtet, gerichtet und grenzüberschreitend im Sinne von „Tausche Hemingway gegen Zement“ – eine Freundin (Ost) meiner Großmutter (West) besorgte mir die begehrte Literatur und bekam dafür die benötigten Naturalien-Pakete …

Fast mit schlechtem Gewissen nehme ich also das Büchlein von Ruprecht Frieling in die Hände. Ich sag mir: „Nun befass dich doch nach 25 Jahren endlich mal mit dem Literaturbetrieb ‚drüben’! Wie war das denn?“ Ich hätt’s nicht gedacht, aber ich lege das Büchlein nicht eher aus der Hand, bis ich’s durchgelesen habe! Schon der zweite Untertitel macht mich neugierig: „Berichte aus dem untergegangenen Land der Leselust“. Die ehemalige DDR ein „Land der Leselust“? Wie denn das?

Schon bald kriege ich Lust zu lesen, was der Autor in einer Reihe von einzelnen Studien vor mir ausbreitet, übrigens, wie schon angedeutet, mit z.T. meine Neugier weckenden Überschriften wie bereits dem Cover-Titel („Kurze Geschichte der DDR-Literatur“), „Stumpfe Klingen, scharfe Pfeile“ (u.a. „Was ist ein politisches Buch?“, „Politische Ladenhüter, heimliche Bestseller“), „Wer ist der wahre Erbe? Diskussionen um Herrn Goethe …“, „Straßen nach Weimar sind Straßen zu Goethe“, „Am Lagerfeuer in Radebeul. Auf den Spuren Karl Mays in der DDR“, „Zu Gast bei Martin Luther“, „Der Verleger und das schöne Buch“ etc. etc.

Es sind in diesem Sammelbändchen übrigens lauter Artikel vereint, die Frieling in den Jahren 1982/83 an verschiedenen Orten veröffentlicht hat, wie z.B. bei dtv, Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt, Westermanns Monatshefte, Börsenblatt des deutschen Buchhandels. Er hatte als einer von ganz wenigen West-Journalisten die Chance, in dieser Zeit die DDR bereisen und dort recherchieren zu dürfen, wenngleich unter scharfen Auflagen. Seine Karriere als DDR-Reisekorrespondent endete allerdings mit einem Einreiseverbot, als sich der Staat durch Frielings Hotel- und Gaststättenführer und eine Bemerkung über wenig schmackhafte Pommes frites beleidigt fühlte!

Ich will hier nicht en detail auf Frielings Beobachtungen im „Land der Leselust“ eingehen. Ich will die Spannung eigener Lektüre nicht nehmen, sondern dazu anstacheln, das Büchlein selbst in die Hand zu nehmen. Es hält nämlich ein Lesevergnügen bereit, wenn man „vergnüglich“ findet zu lesen, welch seltsame Blüten der DDR-Literatur-, Lektüre- und Kulturbetrieb aus westlicher Sicht trieb. Deshalb nur ein paar Andeutungen, zugegebenermaßen willkürlich-subjektiv und von einem Leser, der nicht die Gelegenheit hatte, die sozialistisch geprägte Lesekultur selbst in Augenschein zu nehmen:
• Man lächle: Plaste-Körbe als Zugangsberechtigung beim Besuch einer mäßig bestückten Buchhandlung, in der selbst (ost-)inländisch Interessantes nur mit viel Glück unter dem Ladentisch und West-Lektüre bloß mit guten Beziehungen oder einer Ware (eben: „Zement gegen Hemingway“) zu bekommen ist.
• Man bedenke: Bücher als Mangelware als Folge von Papierkontingentierung und die DDR bezüglich Titelvielfalt als Schlusslicht in Europa.
• Man staune: Goethe als Vorreiter der Arbeiter- und Bauernmacht in einem touristisch höchst langweiligen, aber klassisch verschnörkelten Weimar.
• Man frage sich: Ein geschäftstüchtig vermarkteter Karl May, aber ganz ohne seine Romane, ohne Winnetou und Old Shatterhand?
• Man stelle sich vor: Das Großreinemachen in Halle, Eisleben, Wittenberg und Eisenach auf dem Weg zum 500. Geburtstag Martin Luthers, dem vom DDR-Staat vereinnahmten, auf marxistisch-leninistischen Forschungsstand getrimmten Reformator und Rebell.

All dies und noch viel mehr bekommen wir präsentiert in Form von Studien, Zeitschriftenartikeln und Interviews von einem Autor, der, wie wir längst wissen, so leserfreundlich, so klar, so prägnant zu formulieren versteht, dass man, ohne stecken zu bleiben, auch dieses Büchlein in einer Rutsche durchliest.

Eberhard Kleinschmidt


Genre: Kulturgeschichte
Illustrated by Internet-Buchverlag Berlin

Das Allerletzte

Der Bildungsbürger weiß es genau: »Mors certa hora incerta« (»Der Tod ist sicher, die Stunde ungewiss«). Sicher ist, dass wir eines Tages dem Tod gegenübertreten, ohne den Zeitpunkt zu kennen. Vor diesem Hintergrund kann es nützlich sein, sich mit all dem zu befassen, was man schon immer über den Tod wissen wollte.

Abgesehen von der rein theoretischen Wahrheit, dass es ohne den Tod kein Leben gibt, nehmen wir den individuellen Tod von Angehörigen, Freunden und Bekannten mit Bestürzung auf und versuchen darüber hinaus, den Gedanken an das eigene Ende möglichst weit von uns zu schieben. Folglich findet immer seltener eine rechtzeitige Auseinandersetzung mit dem Tema Tod statt. Diese Lücke will das Buch schließen, das sich als lesenswerte Fleißarbeit zum Thema Tod in thematischen Komplexen wie Geist, Körper, Recht, Glaube, Geschäft, Gesellschaft und Leben darstellt.

Ausgehend von Berichten über Nahtoderfahrungen spiegeln die Autoren den aktuellen Stand der Forschung auch in Hinsicht auf Transplantationen von Köpfen auf ganze Körper von Verstorbenen, um dem Gehirn auf diese Weise ein quasi ewiges Leben zu ermöglichen. In wenigen Jahrzehnten werden Chips ausreichend leistungsstark sein, um unser Denkorgan komplett zu spiegeln und damit eine gewisse Unsterblichkeit zu ermöglichen. Spannend sind die daraus resultierenden Fragen, welche Rechte, Pflichten und Verantwortlichkeiten beispielsweise Gehirne ohne Körper haben.

Die beiden Autoren reisen durch alle Themengebiete – von Techniken des Einbalsamierens über Kryotechnik zu Darstellungen des Todes in der bildenden Kunst. Sie befassen sich mit tödlichen Giften, mit Seuchen und Killerkrankheiten; sie informieren über die notwendigen Schritte beim Ableben eines geliebten Menschen ebenso wie über die »Leichenbesiedelung« durch Fliegen zur Bestimmung des Todeszeitpunktes. Es gibt Synonymlisten, Preistabellen von Bestattern, Friedhofsordnungen … kaum zu glauben, wie viel das Thema hergibt.

Mark Twain riet: »Ein Mann, der etwas auf sich hält, sollte seine letzten Worte beizeiten auf einen Zettel schreiben«. Wer dies in einer Weise tun möchte, die auch nachhaltig wirkt, hat nach der Lektüre des lesenswerten Sachbuches beste Voraussetzungen.


Genre: Dokumentation
Illustrated by Riemann

Ein Geräusch klopft an die Tür

Werner Vogel beweist, dass auch ein Deutschlehrer nach 25 Jahren Fron im Schuldienst seine Freude am Spiel mit der Sprache nicht zwingend verlieren muss. Dem Schulmann aus Wien sagen seine Schüler nach, er habe »Augen, die öfters strahlen und zwei abstechende Ohren«, und »Er hat zwei lange normale Arme und zwei normal lange Beine«. Diese strahlenden Augen und normalen Arme pflückten nun in hunderten Schulaufsätzen allerlei Sprachpannen, die in gesammelter Form verewigt wurden.

Vogel trug wundervolle Sprachminiaturen zusammen. Diese entstanden meist im Stress von Prüfungen und Tests und bilden in ihrer Zusammenstellung einen bunt schillernden, exotisch anmutenden Blütenstrauß. Dabei wird unter andrem Dramatik pur geboten: »Anne verlor das Übergewicht und flog in die Tiefe«. Doch zum Glück geht (meist) alles gut aus: »Die ganze Schule brannte ab, nur der 2. und 3. Stock blieben unversehrt«.

Seien es Themen aus der Welt der wilden Kreaturen (»Er fragte den Hund, warum er das gemacht hätte, aber der antwortete nicht«), aus Liebe & Erotik (»Sie war nackt und hatte ein blaues Kleid an«) oder dem Märchenreigen (»Ich rettete mich auf einen Stein, der mich glücklicherweise auf eine einsame Insel trieb«), in dem vorliegenden Bändchen finden sich strahlende Perlen des unfreiwilligen Sprachwitzes der Schülerschaft.

Gemeinsam ist den aufgelisteten »Fehlern«, dass ihnen ein wesentlich längeres Leben beschieden ist als dem korrekten Rest der Texte. Denn gerade die sprachlichen Stolpersteine sind es, die dem Leser Freude schenken an unserer »funkelnden, eigensinnigen, stets aufs Neue überraschenden Sprache«, wie Vogel meint. Er überlegt aus diesem Grunde, ob diese sogenannten »Fehler« »nicht das Schönste in unserem Leben« sind. – Der Mann könnte Recht haben, zumindest stilsicherer kann es einem Schulmeister kaum ins Stammbuch geschrieben werden: »Der Bub öffnete die Schultasche und gab seinen Kopf hinein«.


Genre: Humor und Satire
Illustrated by Holzbaum Wien