Die Sehnsucht der Atome

Ein äußerst ungewöhnlicher Kriminalroman ist „Die Sehnsucht der Atome“ von Linus Reichlin. Denn bei der im Titel erwähnten Sehnsucht der Atome geht es um einen Lehrsatz der Physik, der als Grundlage für die Existenz von Leben gilt. Danach treiben Atome, die stets aus einem Kern und Elektronen, die diesen Kern umgeben, bestehen, einen Zustand an, in dem ihre Schalen voll sind. Lediglich das Heliumatom wird nicht getrieben von dieser Sehnsucht, sich zu binden und geht mit keinem anderen Atom eine Symbiose ein.

So wie das in sich ruhende Heliumatom fühlt sich auch Inspektor Hannes Jensen aus Brügge, der nach dem Tod seiner Frau keine neue Bindung eingegangen ist. Doch der Autor spielt Schicksal und führt ihm eine wunderschöne Frau zu, die ihn nicht nur vollkommen verwirrt, weil sie blind und herrisch ist, sondern zusätzlich noch über intuitive seherische Fähigkeiten verfügt, die ihm rätselhaft bleiben. Und das geschieht so:

Eine Morddrohung, die ein amerikanischer Tourist erhält, ruft Inspektor Jensen auf den Plan. Da er den Mann als paranoiden Alkoholiker einschätzt, nimmt er dessen Hilferuf nicht ernst und hinterlässt lediglich seine Visitenkarte bei den Zwillingskindern, die im Gefolge des Mannes eine Weltreise unternehmen. Doch schon am nächsten Tag ist der Tourist ohne erkennbare Spuren von Fremdeinwirkungen tot, und die Zwillinge sind verschwunden. Jensen, der sich schuldig fühlt, die Drohung nicht ernst genommen zu haben, macht sich auf die Suche nach den Kindern und will den Fall klären. Dabei wird er von einer geheimnisvollen Blinden begleitet, die offenbar mehr über den Fall weiß, als sie dem Kriminalbeamten mitteilt. Als die beiden feststellen, dass auch die Mutter der Zwillinge urplötzlich verstirbt, wird Ihre Reise zum Wettlauf gegen die Zeit. Denn parallel zu ihnen ist ein weiterer Mann, der sich gewalttätig seinen Weg bahnt, auf der Suche nach den beiden Kindern.

Die Irrfahrt führt sie schließlich in das Innere von Mexiko, wo eine legendäre Heilerin in einem abgelegenen Bergdorf Hof hält und auch die Zwillinge beherbergt. Hier laufen nun alle Fäden aus erklärbaren und unerklärbaren, aus rationalen und spirituellen Welten zusammen, und selbst der sich vermeintlich für einen mit der Struktur eines Heliumatoms ausgestattete Jensen sehnt sich in einer alkoholschweren Nacht nach Verschmelzung und nähert sich der schönen Blinden.

Reichlin präsentiert einen intelligenten Kriminalroman, der die klassischen Grenzen des Genres überschreitet und sich auch einer klassischen Lösung entzieht. Der Titel des Buches hatte mich lange davon abgehalten, es trotz Empfehlungen zu lesen, zumal meine Physikkenntnisse unterirdisch sind, und ich auch nach der Lektüre des Buches nicht verstanden habe, wie denn die Verschmelzung der Atome nun eigentlich funktioniert. Dabei war mir indes vorher klar, dass der Mensch kaum dem Heliumatom ähnelt und schon aufgrund seiner Struktur Partnerschaft sucht. Deshalb überraschte es mich auch nicht, als der Inspektor nach Genuss diverser Flaschen Rotwein und Tequila auf Verschmelzung drängte …

Diskussion dieser Rezension im Blog der Literaturzeitschrift


Genre: Kriminalliteratur
Illustrated by Eichborn Verlag

Der Fotograf der Wahrheit

Jürgen Henschel stand in der Tradition der Arbeiterfotografen der Zwanziger Jahre. Stets begleitete »der Mann mit der Leiter« die Proteste der jungen Westberliner Generation, die sich 1968/69 in schweren Auseinandersetzungen entluden. Er war Chronist der APO und der anschließenden Protestbewegungen »von unten«.

Henschel interessierte sich nicht für Kaiser und Könige, Stars und Sternchen, Präsidenten und Politgrößen – er blieb in wahrsten Sinne des Wortes der alltäglichen »Wahrheit« (russisch: »Prawda«) verpflichtet, wie das Zentralorgan der SEW, bei dem er angestellt war, programmatisch hieß.

Unsterblich geworden ist der stets freundliche, bescheidene und von seinen schreibenden Kollegen verehrte Bildberichterstatter durch sein Foto des ermordeten Benno Ohnesorg, dessen Kopf von einer fassungslosen Passantin gehalten wird. Der Student war am 2. Juni 1967 durch einen gezielten Schuss des Westberliner Polizisten Kurras hinterrücks ermordet worden. Das Henschel-Foto ging um den Erdball und wurde zur Legende.

Dieser Bildband setzt Jürgen Henschel ein verdientes Denkmal. Wer sich für das Westberlin der Studentenunruhen interessiert, findet hier umfangreiches Material.

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Genre: Dokumentation, Fotografie
Illustrated by Berlin Story

Wer rezensiert E-Books?

Wer rezensiert eigentlich E-Books? – Was auf den ersten Blick wie ein soziologisches Werk über die Struktur von Rezensenten und ihrer Medien wirkt, entpuppt sich bei näherem Hinsehen als nützliches Kompendium von Blog-Adressen, die der Autor mittels eines Fragebogens zusammen getragen hat.

Sebastian Brück geht von der These aus, dass verlagsunabhängig auftretende Indie-Autoren in den traditionellen Medien selten über den Lokalteil hinauskommen und dort eher eine Nebenrolle spielen. Öffentliche Aufmerksamkeit und damit Leser könnten sie vor allem über Blogs erzielen, die sich mit den Werken von E-Bookern und diesen selbst beschäftigen. Dies hinge mit dem verbreiteten Vorurteil zusammen, »was auf eigene Faust und ohne Qualitätscheck durch einen Verlag veröffentlicht würde, könne nicht gut sein«.

Leider unterzieht der Autor diese These keiner weiteren Prüfung. Gerade im einzigen von ihm erwähnten Beispiel aus Deutschland, Jonas Winner, wäre er dann zu der Erkenntnis gekommen, dass der Kindle-Erfolgsautor des Jahres 2011 zwar anfangs Blogs wegen Rezensionen angeschrieben hat, dann aber bevorzugt auf traditionelle Medien setzte, wie er in Interviews ausführte. Sein enormer Erfolg fußte also (leider) nicht auf dem Support des Web 2.0, sondern auf SPIEGEL & Co.

Unabhängig davon stehen Literatur-Blogger den Self-Publishern grundsätzlich sicherlich offener gegenüber und bieten ihnen auch in viel stärkerem Maße ein Forum. Das hängt schon mit der identischen Web-Affinität und hohen Überschneidungsdichte der beiden Gruppen zusammen.

Um nun Blogs zu finden, die offen für Indie-Autoren sind und dabei auch deutlich machen, für welche Genres sie sich interessieren, ist das vorliegende Buch eine Fundgrube mit Adressen und konkreten Ansprechpartnern.

Dabei weist Brück darauf hin, dass ein Buch unbedingt auch „rezensionsreif“ sein sollte – also gut geschrieben, lektoriert und rechtschreibfehlerfrei. »Mit zahlreichen Fehlern gespickte Manuskripte« schaden »nicht nur dem persönlichen Ruf eines Schreibers, sondern auch dem Image von Indie-Autoren allgemein«. Einige der für den Wegweiser angesprochenen Blogs hätten ihre Teilnahme abgesagt, weil sie wiederholt schlechte Erfahrungen mit Selbstverlegern gemacht haben.

Wer diese Hürde nimmt und auch mit einer Absage oder negativen Kritik leben kann, ohne aus dem virtuellen Fenster zu springen, der findet auf die Frage, wer E-Books rezensiert, konkrete Antworten in Form von Adressen und Ansprechpartnern.


Genre: Ratgeber
Illustrated by Kindle Edition

Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand

Der Hundertjaehrige der aus dem Fenster stieg und verschwand von Jonas Jonasson

Der skandinavischen Literatur wird gern eine depressive Schwere nachgesagt. Je nördlicher die Erzähler angesiedelt sind, desto lichtloser seien ihre Werke, hört man immer wieder. Jonas Jonasson, ein gebürtiger Schwede, brach nach 20 Jahren seine Zelte im Norden ab und zugvogelte gen Süden in den Schweizer Kanton Tessin. Vielleicht war das der entscheidende Grund, dass er mit »Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand« ein federleicht geschriebenes Roadmovie zu Papier brachte, das völlig verdient als Münchhausiade erster Ordnung in luftige Höhen der Hitparaden fliegt.

Hauptheld Allan Karlsson ist ein Aussteiger wie er im Buche steht: An seinem 100. Geburtstag entkommt der rüstige Senior aus dem Altenheim, während der Stadtrat samt Presse und Heimleitung zur Feierstunde wartet, um ihn wie ein Tier im Käfig zu begaffen, für ihn zu singen und ihn mit Torte zu füttern. Ohne Hut und in Pantoffeln schafft es Allan bis zum Bahnhof, wo er einen großen Koffer mitgehen lässt, der sich später als Depot eines Räuberschatzes offenbart.

Gejagt von einer Motorradgang, die den wertvollen Koffer wieder zurückhaben will, sowie von einem ehrgeizigen Staatsanwalt und der Polizei, die glaubt, der alte Herr sei entführt worden, gerät der Protagonist in immer neue wundervolle Situationen und lernt dabei Typen können, die allesamt aus eigenen Romanen entstiegen sein könnten. Denn jeder Einzelne von ihnen ist eben solch ein Sonderling, wie Allan einer ist. Deshalb ziehen sich die Figuren auch magisch an, stehen einander bei und erzeugen gemeinsam ein Tohuwabohu, dass an Spaß und Genussfreude nichts zu wünschen übrig lässt.

Geschickt eingeflochten in die absurde, sich orgiastisch steigernde Spielhandlung ist die Biografie des Hundertjährigen, die ebenso fantastisch und märchenhaft ist wie seine Flucht aus dem Siechenheim. Dabei schraubt sich auch diese Lebensgeschichte in immer groteskere Höhen: Aus einem Knaben, der gern mit Knallfröschen spielt, wird ein Sprengstoffexperte, der im spanischen Bürgerkrieg versehentlich dem Faschistengeneral Franco das Leben rettet, darauf unter dessen Schutz nach Amerika reist und erneut durch Zufall – stets verbunden mit einem Saufgelage und einer opulenten Mahlzeit – den entscheidenden Hinweis für den Bau der Atombombe gibt und damit Duzfreund von US-Präsident Truman wird, Stalin ärgert, Maos Geliebte rettet, Kim Il Sung trifft und sich mit vielen anderen Potentaten und Staatschefs betrinkt …

Im Ergebnis treffen der Hundertjährige, ein für unschuldig erklärter Gelegenheitsdieb, ein ewiger Student, seine schöne Verlobte und deren Haustiere, ein Elefant und ein Schäferhund, ein religiös gewordener Lebensmittelgroßhändler, ein einstmals einsamer Kriminalkommissar sowie ein ehemaliger Gangsterboss mitsamt Mutter aufeinander. Mittels Schnaps, vertrackter Zufälle und einem Lerneifer, der ihnen ein gemeinsames Überleben sichert, findet sich diese herrliche Truppe und beschert dem Leser, der an ihren Abenteuern teilhaben darf, ein Meisterwerk literarischer Hochkomik, das seinesgleichen sucht.

Ein wundervolles leichtes Stück Literatur, das Regenwolken vom Himmel bläst und die Sonne wieder scheinen lässt.

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Genre: Romane
Illustrated by Carl´s Books

Sieben wilde Tage hab ich dir geschenkt

Mit den elegischen Texten, die sie in diesem kurzen Lyrik-Prosa-Mix versammelt, spannt Elsa Rieger einen weiten Bogen von der Kindheit ins Altwerden.

Der Titel des Bandes „Sieben wilde Tage hab ich dir geschenkt“ spielt auf die ungezügelte Jugend der Dichterin an, in der Jim Morrison und die „Doors“ den Mond von Alabama besangen und den Weg zum nächsten Whiskey und dem nächsten Mädchen suchten.

Jahrzehnte später sind die wilden Geschichten Vergangenheit. Liebesangelegenheiten, die einst tief erschütterten, sind zum Hauch verblasst. Die Zeit wird knapp. Jedes Aufbrezeln gegen die zunehmende Geschlechtslosigkeit ist sinnlos geworden, wenngleich der Geist im tiefsten Inneren siebzehn, vielleicht achtzehn, höchstens zwanzig Lenze jung denkt. Aus einem jungen Ding ist eine ältere Dame geworden, deren Räume mit Erinnerungen und Vergangenem so verstopft sind, dass ihre Türen klemmen.

Elsa Riegers Texte sind voll Schwermut. Wehmütig beschreibt sie die zerrinnende Zeit, die immer wieder in Bildern aufsteigt und innere Saiten zum Klingen bringen.


Genre: Lyrik
Illustrated by Kindle Edition

A Picnic For Perverts

Der in Berlin lebende Brite Adam Fletcher schwelgt in Worten und Begriffen. Bereits beim Titel seines Buches „A Picnic For Perverts“ fragt sich der Rezensent, ob damit wohl ein gemeinsames Mahl von Perversen beschrieben wird oder der Autor den Begriff der Pervertierung verwendet und damit im übertragenen Sinne ein Picknick von Entstellten, Missbrauchten, Verdrehten, Verhunzten, Verstümmelten und Verkorksten meint. Um sicher zu gehen, befragt er den Verfasser. Der antwortet, sein Titel habe keinen Bezug zum Buch und wäre lediglich ein Hinweis auf sein ungewöhnliches Verständnis von Humor.

Dabei greift schon der erste der Texte in dem Band den Begriff „Picnic For Perverts“ auf. Es ist ein Brief an Tom Six, den Regisseur des niederländischen Horrorfilms „Der Menschliche Tausendfüßler“. In diesem unter Horrorfans heiß diskutierten Streifen näht ein verrückter deutscher Chirurg zwei Amerikanerinnen und einen Japaner, die er gefangen hält, zusammen, indem jeweils die Nase des einen in das Arschloch des anderen gesteckt wird.

Nachdem er sich während der Vorführung in eine Tüte seines Lieblings-Popcorns mit Käsegeschmack, das er bei der Gelegenheit wärmstens empfiehlt, übergeben hat, fragt Fletcher in seiner in den Brief eines begeisterten Studenten gekleideten Rezension, warum jemand ein derartig ekelhaftes und unnützes Werk in eine Welt setzt, die bestenfalls „A Picnic For Perverts“ sei. Und er ergründet den Sinn des Films, dem er unterstellt, er müsse einfach einen tieferen Sinn haben. Schließlich entdeckt er ihn in der Erkenntnis, dass wir doch alle irgendwie in die Münder unserer Mitmenschen scheißen. Wie die Charaktere des Films unlösbar aneinander geschmiedet sind, so sei die gesamte Menschheit in ihrem Schicksal miteinander verwoben.

In „Quadrup“, der umfangreichsten Geschichte des Bandes, wird der Leser auf einen weit entfernten Planeten gleichen Namens entführt. Er begegnet dem Propagandisten eines Managementprogramms gegen die Bevölkerungsexplosion, denn die Quadruper vermehren sich rasend und sollen deshalb überredet werden, auf den Planeten Erde umzusiedeln, auf dem es vergleichsweise ausreichend Raum gibt.

Nun stellt sich diese Werbeaktion für Umsiedlungswillige äußerst schwierig da, denn auf der Erde ist alles anders als auf Quadrup – und es ist vor allem aus der Sicht der lebenslustigen Planetenbewohner wesentlich schlechter. Man lebt auf der Erde eingepfercht in ein System, das sowohl die Arbeit – als auch die Freizeit reglementiert. Es ist verboten, abgesehen von den Hochburgen einiger Spezialreligionen, mehr als eine Frau zu haben. Kurz, es gibt keinen vernünftigen Grund, Quadrup zu verlassen.

So liest sich der Dialog zwischen dem Umsiedlungswerber und seinem „Opfer“ wie eine karnevalistische Büttenrede über die Unzulänglichkeit des Daseins auf dem Planeten Erde. Doch schließlich wandert wie von Zauberhand ein irdischer Schokoladenriegel in den Mund des umworbenen Bewohners von Quadrup. Und siehe da: Der Mann wechselt für den zu erwartenden Genuss der Süßigkeit in Permanenz vom Paradies in die Hölle und unterschreibt. (Hat der Autor beim Verfassen dieser Geschichte gar das Beispiel mancher DDRler vor Augen, die ihre Seele für ein Bündel Bananen verkauften?)

Auf diese Parodie folgt eine Parabel, die im dreiaktigen Bauprinzip der aristotelischen Dramatik verfasst wurde: Das Schaf Trudy, wer möchte es im verwehren, macht sich nach zehn Jahren gedankenlosem Grasen Sorgen um seine Zukunft. Es macht sich auf den Weg zu Periwinkels Farm, um sich einem Vorstellungsgespräch zu stellen. In modernen Zeiten einen Job als Schaf in einer Schafherde zu finden, ist schwer, und Trudy zittert vor dem Bewerbungsausschuss, dem sie sich stellen muss. Zusätzlich verunsichert wird sie durch Jimmy, einen Gorilla, der ebenfalls den Job haben möchte, weil Gorillas aus der Mode gekommen sind und ihr Habitat weitgehend vernichtet wurde.

Vor dem unerbittlichen Prüfungsausschuss hinterlässt Trudy keinen besonders günstigen Eindruck. Sie kann zwar enorm viel Gras fressen und Wolle produzieren und entspricht damit den formalen Anforderungen der Stelle. Leider weiß sie jedoch weder etwas über die Geschichte und Bedeutung der Farm noch hat sie als Herdentier je zuvor spezielle Führungseigenschaften bewiesen. Auch als Teammitglied hat sie nie ein anderes Ziel verfolgt, als mit den anderen gemeinsam Gras zu vertilgen.

Sammy, der Gorilla, hat sich hingegen zuvor im Internet über die Farm informiert und kann einen ausführlichen Vortrag halten, der in einem verlogenen Lobgesang auf die dort produzierten Eier mündet. Er kann ein wichtiges Zertifikat in Schafkunde vorweisen, wenngleich er eingestehen muss, dass er keine Wolle auf seinen Körper wachsen lassen kann, obwohl er über das Thema des Wachstums von Schafwolle auf Körpern promoviert hat. Zusätzlich kann er hervorragende Führungseigenschaften vorweisen und beantwortet die Frage der Kommission nach seinen Schwächen mit „Übereifer“ und „Arbeitswut“.

Keine Frage. Der Job als Schaf geht an Jimmy, den Gorilla. Trudy, das Schaf, sucht sich darauf einen Job in einem Wolfsrudel, dem sie als Lockvogel dient. Als das Rudel erfährt, dass auf Periwinkels Farm ein besonders riesiges Schaf weidet, wird der Bauernhof überfallen und Trudy trifft ihren einstigen Mitbewerber wieder, der in einem übergroßen weißen Wollmantel versucht, einen guten Job als Schaf zu machen. Als Trudy ihm von ihrer Mission erzählt, weist Jimmy sie fassungslos darauf hin, dass er ein Gorilla sei, den Wölfe nicht mögen. Sie verspricht ihm, sein Geheimnis zu wahren und gibt ihr Bestes, in ein Geheul einzustimmen, das die Meute zum Festmahl ruft …

Mal absurd, mal philosophisch geht es auf diese Weise weiter in Fletchers kruder Zusammenstellung. Er liefert Hochgenuss für den, der schwarzen Humor liebt und Freude am akrobatischen Spiel mit Worten hat. Mir hat die Lektüre enorm viel Spaß geschenkt, es ist eines der abwechslungsreichsten Bücher, die mir in jüngerer Zeit vor die Füße gefallen sind, wenn auch mein Englisch dem Sprachwitz des Autors nicht immer standgehalten hat.

Diskussion dieser Rezension im Blog der Literaturzeitschrift


Genre: Humor und Satire
Illustrated by nicht-soooooooooo-schlecht–verlag Berlin

Handbuch für Autorinnen und Autoren

Zugegeben, ich bin ein klein wenig befangen, da ich selbst einen Artikel zu dem Handbuch beigesteuert habe. Doch davon einmal abgesehen, habe ich erst im Ergebnis gesehen, was Sandra Uschtrin Wertvolles zusammengetragen hat: Entstanden ist ein Handbuch von hohem Nutzwert für jeden, der schreibt und auf der Suche nach einem Verlag oder einer Verwertungsmöglichkeit ist.

Bei der nächsten Auflage, die hoffentlich nicht allzu lange auf sich warten lässt, wird wohl das Self-Publishing im E-Book-Bereich eine große Rolle spielen dürfen. Dieses Thema wird in der vorliegenden 7. Auflage allenfalls gestreift. Vollkommen vernachlässigt werden Autoren-Plattformen, Literaturzeitschriften und Rezensionsportale im Web, die gerade für Anfänger eine wichtige Rolle spielen.

Unter dem zuletzt genannten Aspekt ist mir der Wälzer allzu einseitig papierorientiert. Schon deshalb hoffe ich auf die nächste Ausgabe.


Genre: Lexika und Nachschlagewerke
Illustrated by Uschtrin München

Nachricht von Dir

Nachricht MussoFlughäfen sind hektische Orte. Am New Yorker Flughafen haben Madeline aus Paris und Jonathan aus San Fransico einen folgenschweren Zusammenstoß. Sie liefern sich einen kurzen, aber heftigen verbalen Schlagabtausch, sammeln ihre fallengelassenen Habseligkeiten ein und gehen jeder wieder ihres eigenen Weges.

Denken sie.  Dummerweise haben sie in der Aufregung des Getümmels ihre Smartphones identischer Bauart vertauscht, was sie aber erst nach ihren jeweiligen Flügen verärgert bemerken. Sie nehmen Kontakt auf und vereinbaren, die Smartphones per Post zu tauschen. Natürlich kann keiner der beiden widerstehen und beginnt, in den Untiefen des Smartphones des anderen zu stöbern. Es kommt, wie es kommen muss und schon Galileo wusste: Neugier steht immer an erster Stelle des zu lösenden Problems. Sie entdecken nämlich nicht nur die Geheimnisse des anderen, sie entdecken auch eine schier unwahrscheinliche Verbindung zwischen ihnen beiden. Eine Verbindung, die tief in ihre Vergangenheit reicht und schlussendlich zur Lösung ihrer beider Probleme führt. Mehr sei hier über den Inhalt nicht verraten, es würde den Spaß an den originellen Wendungen und Irrungen, die der blühenden, überbordenden Phantasie des Autor entspringen, erheblich schmälern.

Nachricht von Dir beginnt im Stil einer amerikanischen Screwball-Komödie und wechselt völlig unerwartet zu einem spannungsgeladenen Thriller samt Verfolgungsjagden, Entführungen und was sonst noch so alles in das Genre Thriller gehört. Die romantische Grundidee bleibt erhalten, auch der rasant beschleunigte Roman hat noch Platz genug für eine Liebesgeschichte. Madeline und Jonathan verbindet nicht nur das Geheimnis, sie verbindet auch ein ähnliches Schicksal. Beider Leben haben sich völlig anders entwickelt als geplant, beide haben einen Schock zu überwinden, beide haben sich ein zweites Leben völlig verschieden von ihrem ersten aufgebaut. Aber es ist noch nicht das Leben, was sie wirklich ersehnen. Wird der Krimi, in den sie unversehens geraten und der sie zunächst  zu Komplizen macht, die Wendung bringen? Nachricht von Dir trägt im französischen Original den Titel L’appel del’ange (der Ruf des Engels) und bietet auch die Chance zur Reflexion über Schicksal und die Gnade einer zweiten Chance.

Der französische Bestsellerautor Guillaume Musso wird seinem Ruf gerecht und hat mit seinem neuen Roman in erster Line eine unterhaltsame Geschichte abgeliefert. Eine Geschichte, die so vor 10 Jahren noch nicht möglich gewesen wäre und am Rande auch den Zeigefinger für den technikaffinen Leser hebt, dessen Smartphone für ihn die Welt bedeutet. Denn die Liste der Dinge, die Smartphones können und für die sie verantwortlich sind, wird schliesslich immer länger.

Mussos Sprachstil bewegt sich in gekonnter Erzählkunst, hohe Literatur ist es gleichwohl nicht. Er ist sich nicht zu fein, ausgelutschte Formulierungen zu bemühen, manche Wendungen sind an den Haaren herbeigezogen, manchmal schrammt er haarscharf an Übertreibungen vorbei, manche Parallelen gar sind arg überkonstruiert, die finsteren Mächte des Schicksals werden mehr als einmal zu oft beschworen. Störend auch, dass so mancher Faden kommentarlos fallen gelassen wird – einige klärende Sätze zum Schicksal von Madelines Verlobtem z.B. wären nett gewesen. Es scheint, als hätte der Autor diesen schlicht und ergreifend vergessen.

Was dem Buch ebenfalls gar nicht gut tut und beim aufmerksamen Leser das Gefühl der Flüchtigkeit erweckt, sind kleine Fehler, die sich möglicherweise aber auch bei der Übersetzung eingeschlichen haben. So gibt es keine Fernsehserie namens Bob, der Schwamm (sie heißt Spongebob Schwammkopf ) und es tut auch wirklich nicht not, Star Trek mit Star Treck zu übersetzen. Während so manche Ausdrücke zum Teil kleinlich wortgetreu übersetzt oder umschrieben werden, bleibt der da Vinci Code auch in der deutschen Übersetzung der da Vinci Code, obwohl er dem deutschen Leser und Kinogänger wohl eher als Sakrileg bekannt sein dürfte. Auch wenn ich als Übersetzer eher dem geschriebenen als dem bewegten Medium zugetan bin, ein wenig Recherche könnte nicht schaden. Diese Kritik mag kleinlich erscheinen, aber es sind solche Dinge, die einen Roman unrund und hingehuddelt wirken lassen. Denn das hat er eigentlich nicht verdient. Der Roman ist originell und schlägt jede Menge unerwarteter Finten und Volten, die Spaß machen. Dem unterhaltungssuchenden Leser bietet dieses Buch eine wunderbare Pause vom Alltag sowie Anregungen für weitere Pausen. Denn Musso ist ein Sätzesammler, jedem Kapitel stellt er einen Satz aus einem anderen Werk voran, welcher die Stimmung des jeweiligen Kapitels gut einfängt.

Musso ist ein Autor mit einem erkennbaren Spaß am Gschichtenerzählen. Mit einer Gesamtauflage von 1,5 Mio Exemplaren ist er DER Bestseller Autor in Frankreich und hat sogar den Branchenprimus Mark Levy deutlich überholt.
Nach eigener Aussage ist es ihm ein Anliegen, Geschichten für ein breites Publikum zu schreiben. Der Erfolg gibt ihm bisher Recht. Möglicherweise unterschätzt er allerdings das Risiko, dass ein Autor, der allen wohl und keinem wehe will, irgendwann Gefahr läuft, sich zu verzetteln. Hoffentlich erliegt er zumindest nicht der Versuchung, den Erfolg von Jonathan und Madeline zu wiederholen und die beiden zum neuen Ermittlerpäarchen in Fortsetzung zu stilisieren.

In Nachricht von Dir entlässt Musso seine Leser mit einem optimitischen Ende und gibt ihm Hoffnung mit auf den Weg: “Die schönsten Jahre eines Lebens sind die, die man noch nicht gelebt hat”.  Auch wenn ich an Nachricht von Dir durchaus Spaß hatte, gebe ich die Hoffnung an Musso zurück: Mögen die schönsten Bücher seines Lebens die sein, die er noch nicht geschrieben hat.

Diskussion dieser Rezension im Blog der Literaturzeitschrift


Genre: Romane
Illustrated by Pendo

Agnes

Luxus-Eisenbahnwagen sind auf Dauer nicht das ergiebigste Thema, dem man sich widmen kann. Ein Schweizer Autor, der sich mit Sachbüchern über abseitige Themen einen Namen gemacht hat, recherchiert über eben diese und ist dabei dankbar für jede Ablenkung. Zu Studienzwecken hält er sich in den USA auf und lernt im Lesesaal der Public Library Chicago die junge Agnes kennen. Agnes, eine Physikerin, fasziniert ihn durch ihre Rätselhaftigkeit und ihr elfenhaftes Wesen gleichermaßen. Zu seinem Erstaunen geht Agnes schnell auf sein Werben ein und die beiden werden ein Paar. Agnes zieht zu ihm, doch sie kommen sich nicht wirklich näher. Nicht so nahe, nicht so verschmelzend, wie der Sachbuchautor, dessen Name der Leser nie erfährt, es gerne hätte. Er versucht zu ergründen, was außer Agnes morbider, fast zwanghafter Beschäftigung mit dem Tod noch zwischen ihnen steht. Agnes Profession als Physikerin scheint nicht zufällig. Obsessiv will sie alles über das Leben und seine Begrenzungen wissen. Ihre Grundlagenforschung über atomare Kristallgitter wird ebenso von einem unerbittlichem Entschlüsselungswunsch getrieben, wie ihr Wunsch, ihre eigene Geschichte am besten schon vorab zu überblicken.

Die Liebe ist ihr unheimlich, sie ist ihr nicht begrifflich genug. Auch der Erzähler kann ihre Zweifel nicht zerstreuen, zumal er sich im Laufe der Erzählung auch immer wieder der burschikoseren Louise, dem exakten Gegenpart von Agnes, zuwendet. Agnes wird schwanger und verliert das Kind. Diese Tragödie bringt sie vollends um ihr subtiles Gleichgewicht. Sie drängt ihren Geliebten, ein mehr aus Spaß begonnenes Beziehungstagebuch wieder aufzunehmen und die Geschichte/ihre Geschichte fortzuschreiben. Sie wünscht sich von ihm, dass er ihr ein Leben aus Punkten male, wie die Bilder impressionistischer Künstler. “Glück malt man mit Punkten, Unglück mit Strichen.” Durch das Schreiben soll er es schaffen, “das Kind für sie zu machen”. Sie habe es ja nicht geschafft. Die Geschichte als Ersatz für das Leben, das ihr abhanden kam. So wird der Ich-Erzähler zum Erfinder, der Report zum Roman: “Jetzt war Agnes mein Geschöpf” – damit nimmt das Unheil seinen Lauf. Halbherzig wehrt er sich zunächst, doch bald schon erliegt er dem Reiz, nicht nur eine Geschichte, sondern auch Agnes nach seinem Willen und Wunsch zu formen. Was nicht gelebt werden kann, soll wenigstens geschrieben werden. Artig bemüht er sich um eine Wendung hin zu einem Happy End. In der Geschichte darf das Kind leben, sie werden eine glückliche Familie.

Doch diese Geschichte ist nicht authentisch, das spürt der Erzähler, das spürt auch Agnes. Er schreibt heimlich den Schluß 2.  Agnes, von einer manischen Suche getrieben, findet diesen schließlich auf der Festplatte: den folgerichtigen, wahrhaften Schluss der Geschichte und es ist an ihr, ob dieser Schluss wirklich der Schluss ihrer/dieser Geschichte werden wird.  “Agnes ist tot, eine Geschichte hat sie getötet”. So beginnt der Roman. Ist sie tot, ist sie nur innerlich tot, ist sie für den Erzähler tot, ist der Erzähler für sie tot? Im Buch wird es nicht entschieden, diese Entscheidung wird jedem Leser neu überlassen.

Das vorherrschende Thema des Romans ist Identität. Peter Stamms Roman zieht den Leser trotz seiner gleichwohl distanzierten und unterkühlten Sprache in einen Sog unerbittlicher Trauer. Die Grenzen zwischen Realität und Fiktion zerfließen, bis einer der beiden Protagonisten daran zerbricht. Es sind zwei im Grunde gleiche Fragen, die zu unterschiedlichen Motiven werden: Agnes, die wissen will, was von ihr bleibt und der Ich-Erzähler, der der Verlockung, sich des Anderen zu bemächtigen, nicht widerstehen kann. Im Spiel der Charaktere läuft alles auf die Frage hinaus: Können wir ohne ein selbst gefertigtes Bild des Anderen auskommen?

Es geht aber nicht nur um die Identität einzelner Personen, elegant beleuchtet Peter Stamm auch die Frage nach der Identität eines Buches. Wie viel Erfahrung, wie viel Wahrheit muss einem Roman zugrunde liegen? Kann ein Roman ein Ersatz sein für ein nicht gelebtes oder ein nicht mehr lebbares Leben? Das Reale verwandelt sich ins Mediale, der Roman wird zum Sammelbecken. Es ist dies ein immer wiederkehrendes Dilemma in der Literatur, welches Stamm hier begreifbar vermittelt.


Genre: Romane
Illustrated by Fischer Taschenbuch Frankfurt am Main

Meine Preise

Wer Thomas Bernhard von seiner witzigen Seite kennenlernen möchte, der ist mit dieser Persiflage auf Verleihungen diverser Literaturpreise an den schreibenden Genius aus Gmunden bestens bedient.

25 Jahre seines Lebens stiefelte Bernhard in denselben Klamotten durch die Gegend. Er trug sie daheim, unterwegs und auch bei gesellschaftlichen Ereignissen: Dies waren ein knallroter Schafswollpullover, den ihm ein gut gelaunter Amerikaner nach dem Krieg geschenkt und der schon fast alle Städte der Welt gesehen hatte sowie eine graue Hose aus Wolle. Doch am Tag, an dem ihm in der Akademie der Wissenschaften der Grillparzer-Preis verliehen werden soll, entschließt sich der Meister wenige Stunden vor Beginn der Veranstaltung, seine Lieblingsboutique „Sir Anthony“ aufzusuchen und einen Reinwollanzug in anthrazit anzuschaffen. Er wählt dazu passende Socken, ein graublau gestreiftes Hemd und eine Krawatte und behält die Neuerwerbungen gleich an. Die dienstbaren Geister der Kleiderstube packen seine alten Klamotten in eine Tüte mit Werbeaufdruck und Bernhard zieht fein ausgestattet von dannen.

Im Foyer der Akademie, in der ihm der Preis verliehen werden soll, hält er Ausschau nach einer Persönlichkeit, die ihn begrüßt – doch niemand beachtet ihn. Er geht in Begleitung seiner Tante in den Festsaal, in dem die Musiker bereits ihre Instrumente stimmen. Niemand kommt, ihn in Empfang zu nehmen und zu seinem Platz zu begleiten. Schließlich quetscht er sich in eine hintere Sitzreihe und beobachtet amüsiert die wachsende Unruhe, die Festkomitee und Veranstalter befallen. Alle scheinen jemand zu suchen. Bernhard weiß auch, wer das ist.

Endlich wird man auf ihn aufmerksam, stürzt herbei und bittet ihn in die erste Reihe. Bernhard besteht nun darauf, vom Festpräsidenten persönlich gebeten zu werden. Der platziert ihn neben die Kultusministerin, die ob der folgenden Elogen auf Grillparzer bald einschläft und „das bekannte Ministerschnarchen“ anstimmt. Bernhard nimmt die Auszeichnung entgegen, sagt aber einfach nur „Danke“ statt große Reden zu schwingen und verlässt die Veranstaltung, ohne dass es jemand bemerkt. Selbstbewusst geht der frisch gekürte Preisträger zu „Sir Anthony“ zurück und gibt den Anzug, der ihm plötzlich viel zu klein zu sein scheint, wieder zurück.

Andere Preisverleihungen an Thomas Bernhard gingen weniger glimpflich ab und motivierten ihn zu Schmähreden über die österreichische Ministerialbürokratie, unfähige Kulturbeamte und großkopferte Literaturfunktionäre. Er schaffte es mit seiner unvergleichlich trockenen Art, Preise und Auszeichnungen abzuräumen und gleichzeitig mit seinen Reden die offiziellen Gäste zum fluchtartigen Verlassen der Feststätten zu bewegen. In seiner Prosa liest sich das alles wie eine große Posse, wie Realsatire, die einem phantasiebegabten Hirn entspringt. Doch weit gefehlt: Bernhard erzählt nur unbekümmert, wie es zu dem ein oder anderen Eklat kam und stellt gerade damit sein unvergleichliches Talent unter Beweis. Spannend ist es schließlich, zu den Prosatexten die zugehörigen Festreden zu lesen, die dem Bändchen beigefügt sind.


Genre: Kurzgeschichten und Erzählungen
Illustrated by Suhrkamp Frankfurt am Main

Durch ein Jahrhundert geweht

Elf Gedichte hat Elsa Rieger versammelt, die sie zum Familienbuch anordnet. Beginnend anno 1909 mit ihrer Großmutter, einer Gutsverwaltertochter aus dem Lande Rübezahls, ordnet sie anhand von markanten Jahreszahlen lyrische Blitzlichter.

Die Autorin erzählt von der wilden Zwanziger Jahren, in denen ihre Mutter aufwuchs, die dann 1939 dem zweiten Weltkrieg ins Auge blicken musste. Der endete für sie mit dem Einzug der russischen Befreier in Wien und der großen Lüge, auch nur einer habe für den Gröfaz aus Österreich den Arm ausgestreckt.

Zwischen „Heil“ und „Shalom“ erblickte die Autorin 1950 selbst das Licht der Welt, halb jüdisch, halb arisch. Mit 16 sieht sie in Gestalt von Jimi Hendrix die vermeintlich große Freiheit, um dann in den Iden des März 1974 ein Kind des Rock´n´Roll zur Welt zu bringen.

1985 stirbt der Papa – nur seine Brille erinnert noch an ihn. Fünf Jahre später hat sich der gewaltsam geteilte Himmel wieder geschlossen. Berlin tanzt auf den Resten der Mauer, und es beginnt eine vermeintlich bessere Zeit.

1999 zieht die Autorin ein Resümee ihrer Betrachtung von Großmutter, Mutter und Tochter: Drei Frauen haben sich behauptet. Mit einem Lächeln schaut die Dichterin zurück.

Elsa Rieger ist mit ihrem kleinen, nachdenklich stimmenden Gedichtband Großes angegangen. Wo andere Autoren ein dreibändiges Prosawerk schreiben, um Familiengeschichte generationenübergreifend schildern zu können, greift sie auf die gebundene, rhythmische Sprache zurück und belichtet Momentaufnahmen. – Ein interessantes Experiment!


Genre: Lyrik
Illustrated by Kindle Edition

Elisabeth II. Keine Komödie

Die Queen kommt nach Wien. Gegen Mittag wird die britische Königin Elisabeth II. in der Wiener Innenstadt erwartet. Vom Balkon des 87jährigen greisen Großindustriellen Herrenstein möchten sich auf Einladung seines Neffen Victors rund 40 Gäste das Ereignis ansehen.

Rudolph Herrenstein, durch einen Autounfall an den Rollstuhl gefesselt, ist ein Grantler und Menschenfeind. Der Waffenhändler lebt mit seinen Diener Richard und seiner Hausangestellten in einer riesigen Wohnung, in deren Musikzimmer auch ein Bösendorfer steht und ist jedem Besuch abgeneigt. In einer gewaltigen, sich ständig steigernden Schimpfkanonade zieht er über seine Gäste, über Wien, Österreich, Musik, Literatur und Kunst her.

Als endlich die Königin mit Verspätung naht, stürzen die inzwischen 90 Gäste auf den Balkon und winken mit dem Union Jack. Unter ihrer Last kracht der gesamte Balkon drei Stockwerke tief zu Boden und verschwindet in einer Staubwolke. Lediglich der Alte und sein Diener überleben.

Thomas Bernhard hat dieses tragikomische Stück zwei Jahre vor seinem Tod veröffentlicht und seine Aufführung nicht mehr erlebt. Monologartig kotzt die zentrale Figur Herrenstein seinen gesamten Abscheu über Gott und die Welt aus sich heraus. Der Protagonist nimmt unter anderem auch Bezug auf verschiedene Komponisten und erklärt, Mozarts Oper „Cosi fan tutte“ sei die einzig genießbare Musik, während er bei der Aufführung von Johannes Brahms traditionell die „schwarze Fahne“ hisst. Goethe und Kleist zählen zu den wenigen Literaten, die ihm etwas gelten. Schopenhauer und Nietzsche seien Philosophen, mit denen er „in Urlaub“ fahren könne.

„Elisabeth II.“ ist ein großes Stück Bernhardscher Rhetorik, eine prächtige Suada, welche die Wortgewalt des Gmundener Dichters belegt.


Genre: Theater
Illustrated by Suhrkamp Frankfurt am Main

Landschaften einer fernen Mutter

Said LandschaftenIn einem sehr persönlichen Kontext gab mir eine junge deutsche Frau mit Migrationshintergrund die “Landschaften einer fernen Mutter”, einen autobiographischer Text des iranischstämmigen Autors Said.

Darin beschreibt und verarbeitet er die wenige Tage nach seiner Geburt vollzogenen Trennung von seiner Mutter. Die Scheidung der Eltern vollzog sich bereits während der Schwangerschaft und es war beschlossene Sache, dass das Kind ausschließlich bei seinem Vater leben sollte. Ein einziges Mal durfte er als Zwölfjähriger die Mutter sehen.

Jahrzehnte später: Said ist inzwischen 43 Jahre alt und lebt schon seit langem im deutschen Exil. Überraschend erhält er einen Telefonanruf: die Mutter sei auf dem Weg nach Kanada und möchte ihn, Said, treffen. Nach umständlichen Pass- und Visaverhandlungen begegnen sich die beiden Fremden in Toronto in der Wohnung des ebenfalls unbekannten Halbbruders zum ersten Mal. Drei Wochen verbringen sie gemeinsam in einer Wohnung, drei Wochen, um sich zu begrüßen, kennenzulernen und sich wieder voneinander zu verabschieden.

Die Landschaften sind viel mehr als nur eine Erzählung über die allgemeine Erfahrung des Fremdseins. Ausschließlich in Kleinbuchstaben geschrieben fällt der Text den Leser ungedämpft mit all seinem Schmerz und seinen Ressentiments an, der Leser schwankt zwischen Befremden und Betroffenheit. Das zerrissene Verhältnis zur Mutter spiegelt der Autor in der Romankonstruktion wider, sich der Stilmittel des Fragmentarischen, Lückenhaften und eingefügter, scheinbar willkürlich in der Zeit springender Passagen bedienend. Über weite Strecken schafft Said eine beeindruckende Sachlichkeit, eine unterdrückte, beherrschte Traurigkeit, doch spätestens im Epilog zeigt sich seine große Verbitterung über die zweimal verlorene Mutter, die ihn nicht mehr loslässt und auch den Leser noch länger begleitet.

Die “Landschaften einer fernen Mutter” sind ein bis zur Exhibition persönliches Buch, über weite Strecken zwar pragmatisch und aus selbstauferlegter Distanz geschrieben, im Epilog dann so undiplomatisch, so radikal von der Seele geschrieben wie nur möglich. Einmal nennt er Kafka, so dass der Vergleich mit dem “Brief an den Vater” sich geradezu aufdrängt. Der große Unterschied besteht darin, daß Said weiß, daß seine Mutter den Abschiedsbrief nie lesen wird.

Das Buch an sich ist so eigenartig wie die Erfahrung, die es beschreibt. Streckenweise gerät der Leser zwischen die Fronten, fühlt sich fast zum Schöffen ernannt. Aber wünscht Said die Zustimmung seiner Leser oder die Widerrede? Entscheiden will man hier nicht. Befremden und Betroffenheit mischen sich zu einer seltsamen Leseerfahrung.

SAID ist ein im deutschen Exil lebender iranischer Schriftsteller. Er kam 1965 als Student nach München, wo sich seine literarischen Ambitionen schnell mit einem politischen Engagenment und einem Bekenntnis zur Demokratie verbanden, welches eine Rückkehr in den Iran bis heute verhindert. Seit längerem deutscher Staatsbürger schreibt er Lyrik und Prosa in deutscher Sprache mit all ihren Nuancen. Auszeichnungen erhielt er nicht nur für sein literarisches Werk, sondern auch für sein Engagement für politisch Verfolgte, u.a. im  “Writers in Prison Committee” .

Ich muss gestehen, dass mir der Schriftsteller bisher unbekannt war. Ich war von dem Buch aber tief berührt, werde sicher noch mehr von ihm lesen und empfehle das auch gerne  – schon alleine, weil es sich die intellektuelle, gebildete Schicht der Muslime wünscht.

Diskussion dieser Rezension im Blog der Literaturzeitschrift


Genre: Biographien, Memoiren, Briefe
Illustrated by dtv München

Mit der E-Zigarette zum Nichtraucher

Dank reiner Willenskraft bin ich vor Jahrzehnten vom Rauchen losgekommen und habe mich im Laufe der Jahre zu einem passionierten Nichtraucher entwickelt. Ich freue mich heute, nicht mehr in stinkigen Restaurants sitzen und meine Klamotten nach einem Lokalbesuch von kaltem Rauch befreien zu müssen. Meine Finger sind nicht mehr gelb, meine Kondition hat sich wesentlich verbessert, das Rasseln in den Atemwegen ist verschwunden. Dennoch gestehe ich, das Thema E-Zigarette anziehend zu finden!

Die E-Zigarette ist ja eigentlich keine Zigarette im klassischen Sinne. Sie ist ein Lifestyle-Spielzeug und wird mittlerweile auf jeder besseren Party vorgeführt. Deshalb war ich neugierig auf das Buch von Boris Maggioni zum Thema und habe es in einem Schluck »verdampft«.

Der Autor versteht es auf unterhaltsame Art, seinem Leser das Thema näher zu bringen. Gleich zu Beginn seines Sachbuches weist er auf die eigentlichen Gefahren der neumodischen Dampfmaschine hin: Das sind die kleinen Fläschchen mit der konzentrierten Flüssigkeit, mit denen die Geräte befüllt werden. Das Zeug ist, wird es pur genossen, aufgrund der extrem hohen Nikotinkonzentration absolut tödlich, und ich sehe schon die Kriminalliteraten der nahen Zukunft, die Morde durch »Liquids« (so der Fachbegriff) ausführen lassen.

Boris beschreibt ausgehend von der Warnung vor dem puren Genuss dieser Tinktur sehr genau alles, was man beim Umstieg in das E-Rauchen beachten muss: die unterschiedlichen Gerätschaften von der Einwegzigarette bis zum komplizierten Verbrennungskolben mit Ansaugautomatik und Bedienknöpfchen. Er listet ausführlich Vorteile, Nachteile und Risiken der verschiedenen Techniken auf und kommt dann wieder zum eigentlichen Problem der E-Zigarette. Das sind die Tinkturen, von denen keiner genau weiß, auf welchen chinesischen Giftmülldeponien sie von geldgierigen Pfuschern zusammen gepantscht werden.

Insofern ist dieses Buch eine sachlich-kritische Einführung in das Thema. Es sollte von jedem gelesen werden, der sich vom Raucher zum »Dampfmann« umschulen will.


Genre: Gesundheit
Illustrated by Kindle Edition