Die Roma von Oberwart

„Die Roma von Oberwart“ lautet der Titel eines in der edition lex liszt herausgegebenen Buches von Helmut Samer, das mit Unterstützung des Nationalfonds der Republik Österreich für die Opfer des Nationalsozialismus und der Kulturabteilung beim Amt der Burgenländischen Landesregierung erschienen ist und zur Geschichte und aktuellen Situation der Roma in Oberwart Stellung bezieht.

In einzelnen Kapiteln, die wiederum in thematische Gruppierungen unterteilt sind, wird sehr übersichtlich und anschaulich einerseits im Rückblick die Geschichte der burgenländischen Roma dargelegt, im anderen Teil, der sich mit der gegenwärtigen Situation – vorallem nach dem Attentat vom 4. Februar 1995 – beschäftigt, das aufgezeigt, was die burgenländischen Roma durch eigene Initiative und engagierte Tätigkeit für sich selbst erreicht haben; denn die nach dem Attentat von österreichischen Spitzenpolitikern versprochene Hilfe von außen war weder sehr groß, noch wirklich engagiert. Das war mehr ein Lippenbekenntnis und einmal mehr ein Akt der politischen PR-Selbstdarstellung denn eine Korrektur der eigenen Versäumnisse und Defizite. Anerkannt wurden die Roma in Österreich als Volksgruppe ja ohnedies erst 1993, also erst ein halbes Jahrhundert nach dem Holocaust, dem ein Großteil der Volksgruppe, ja des Roma-Volkes in Europa überhaupt zum Opfer fiel.

Die Geschichte der burgenländischen Roma wie auch der Roma und Sinti anderswo war und ist eine Geschichte der Unterdrückung, der Verfolgung, der Verweigerung und Verletzung von Menschenrechten. Ausgrenzung war das Mildeste, was den „Zigeunern“ passierte und noch immer passiert; hier und anderswo. Und sprach man von Integration, von „Assimilierung“, dann bedeutete dies – seit den Zeiten Kaiserin Maria Theresia’s – Zwangsmaßnahmen mit dem Ziel, die „Zigeuner“ zu disziplinieren, zu „zivilisieren“, d.h. ihnen die Kultur und Sprache des Mehrheitsvolkes aufzuzwingen und ihnen ihre eigene zu verbieten, zu nehmen, auszurotten.

Dabei handelte es sich bei den Roma um keine Immigranten im heutigen Sinn; denn sie waren bereits vor Jahrhunderten in ihre Siedlungsgebiete eingewandert und lebten schon lange Zeit mit – besser gesagt neben – dem Mehrheitsvolk und seiner Kultur; hatten sich auch weitgehend angepaßt, was die Umgangssprache in der Öffentlichkeit betraf, sprachen diese und auch andere Sprachen; denn sie reisten viel herum, über die Grenzen hinweg. Sie begriffen sich nicht als Staatsbürger, sondern als Zugehörige zu ihrem Volk und ihrer eigenen jahrhundertealten Tradition und Kultur. Vor langer Zeit waren sie aus Indien nach Europa gekommen, was man ihnen auch heute noch ansieht. Denn wenn man zum Beispiel einen burgenländischen Roma in Wien sieht, der den breitesten Dialekt spricht und vielleicht gar nicht mehr so gut sein Romanes, so schaut der vielleicht so aus, als wäre er gerade aus Kalkutta oder Bombay gekommen, so dunkel kann seine Hautfarbe sein. Vielleicht ist es allein das – dieses äußerliche Anderssein – daß er von vielen als Fremder, als Außenstehender angesehen und als solcher behandelt wird, weil er und seinesgleichen – „überhaupt solche Leute“, wie manche aus dem Mehrheitsvolk oft sagen – „mit uns eigentlich nichts zu tun haben“.

Schon ab dem 16. Jahrhundert sind die burgenländischen Roma aus Zentralungarn ins Gebiet des heutigen Burgenlandes eingewandert; genauso wie die Burgenlandkroaten vom kroatischen und dalmatinischen Küstenland, vom Norden Bosniens sowie vom Donaugebiet Slawoniens, die man ebenfalls gerne aufgenommen hat, weil viele Dörfer nach dem Dreißigjährigen Krieg und nach den Türkeneinfällen ausgestorben waren. Aber kaum hatten sich die Roma niedergelassen, auf ihre Weise mit ihren Pferdewagen, wurden sie auch schon wieder da und dort vertrieben. So ordnete zum Beispiel Kaiser Karl VI an, daß „die Zigeuner und jegliches liederliche Gesindel in Österreich“ ausgerottet werden sollten und daß aufgegriffene Roma mit Brandmalen auf dem Rücken zu kennzeichnen seien und sie geköpft werden sollten, wenn sie wieder zurückkämen. Wenig später (1726) steigerte er sich sogar noch, indem er eine Verordnung erließ, derzufolge alle männlichen Zigeuner hingerichtet sowie Frauen und Kindern ein Ohr abgeschnitten werden sollte, so man ihrer habhaft würde. Kaiserin Maria Theresia hingegen verfolgte eine andere , eine „humanere“ Politik. Sie wollte aus den Zigeunern „ordentliche“ und „nützliche“ Bürger machen; dies natürlich mit Zwangsmaßnahmen. So verfügte sie durch Verordnungen zwischen 1758 und 1773 eine „Zivilisierung“ und „Domicilierung“ der Zigeuner – sie sollten ihre alte Lebensweise aufgeben, sich (als „Neocoloni“/“Neubauern“) niederlassen und ein Handwerk lernen – was mittels eines repressiven Umerziehungsprogrammes erreicht werden sollte. In der Praxis bedeutete dies ein Verbot der eigenen Sprache und Kultur, Kindeswegnahme, Heiratsverbot unter Zigeunern, Zwangsansiedlung.

Nach der Regentschaft Josef II, der die zwanghafte Assimilierungspolitik seiner Mutter noch verschärft fortführte, gab es eine längere Periode der Beruhigung, während der sich die Roma innerhalb einer begrenzten Duldung erholen konnten, was zu einem Anwachsen ihrer Population, zur Seßhaftigkeit und zur Vergrößerung der „Zigeunerkolonien“ am Rande der Dörfer beitrug. Nachdem die erwachsenen männlichen Roma im Ersten Weltkrieg patriotisch ihr Leben für Gott, Kaiser und Vaterland eingesetzt und in vielen Fällen auch verloren hatten – „geopfert“ nannte man das – und sich in feindlichen Heeren auch gegenübergestanden waren, begann eine Phase neuer Repressalien durch behördliche Reglementierungen, welche die begrenzte Freiheit der Roma wiederum weiter einschränkte. Man sprach im Amtsdeutsch nun von „Zigeunerbanden“, derer man Herr werden müsse. Mit der Angliederung des Burgenlandes an Österreich kamen 1921 auch einige tausend Roma zu Österreich. Man versuchte nun, alle Roma personaldatenmäßig zu erfassen, sie mußten sich fotografieren und registrieren lassen. Seit 1928 führte das Bundespolizeikommissariat Eisenstadt eine „Zigeunerkartei“, in der rund achttausend Roma namentlich und mit Fingerabdrücken verzeichnet waren. Eine perfekte Vorarbeit war also damit geleistet für den Zugriff der späteren NS-Schergen und den rassistischen Massenmord an den Roma im Holocaust. Massive Propaganda und der aufblühende Nationalismus, die Begeisterung für das völkische Deutschtum taten das Ihre, um die Romafeindlichkeit weiter zu schüren und zu etablieren. Man sprach wiederum von der Asozialität der Roma, von ihnen als einer „Landplage“, einer „Kulturschande“.

Der spätere Gauleiter des Burgenlandes, Dr. Tobias Portschy, bediente sich bei der Formulierung seines Programmes zur Lösung der „Zigeunerfrage“ auch schon relativ früh des Begriffes „Ausmerzung“ und schlug als Mittel dafür Zwangsarbeit, Deportation, Sterilisation der Roma vor und forderte, dieses Problem einer „nationalsozialistischen Lösung“ zuzuführen; was später dann ja auch geschah, durch massenhafte systematische Ermordung im KZ. Nach dem Krieg und dem Ende der NS-Terrorherrschaft wurde dieser Mann etwa nicht als Propagandist und Wegbereiter für den Holocaust und die Ermordnung burgenländischer Roma-Mitbürger behandelt; nein, der Herr war dann sogar in einem Sparkassenvorstand und bewegte sich in der Nähe einer Regierungspartei, war ein geachteter Bürger. Gerade, daß man ihm nicht einen Orden für Verdienste um das Land Burgenland verliehen und umgehängt hat. Österreichische Vergangenheitsbewältigung! Alle hatten sowieso nur ihre Pflicht getan! Manche eben ein bißchen mehr. Aber alle waren nur Opfer vergleichbarer Gewalt. So das abstruse „persönliche Geschichtsbild“ eines österreichischen Volksanwaltes zur Zeit, das er über die Massenmedien kolportiert; ohne daß er konsequenterweise sofort abtreten müßte.

Gleich nach dem „Anschluß“ und der Errichtung der NS-Herrschaft setzten weitere Diskriminierungen und Repressionsmaßnahmen gegen die „Zigeuner“ ein. Den Roma-Kindern wurde der Schulbesuch verboten. Mischehen waren nicht erlaubt. Beziehungen fielen unter den Begriff „Rassenschande“ und unter die strengen Sanktionen dafür. Die Forderung, das Burgenland „zigeunerfrei“ zu machen, erfüllte man dadurch, daß man die Roma in Arbeitslager (Lackenbach) sperrte oder sie gleich in die KZ deportierte; so schon dreitausend Roma im Juni 1939 als „Asoziale“ und „kriminell Anfällige“. Die Bedingungen und Zustände im Anhalte- und Arbeitslager Lackenbach bei Oberpullendorf, wo heute ein bescheidenes Denkmal an die Leidenszeit der Roma erinnert und mahnt, waren unmenschlich und katastrophal. Mehr als zweitausend Personen waren dort auf engstem Raum zusammengepfercht. Die schlechten sanitären und hygienischen Verhältnisse begünstigten den Ausbruch von Krankheiten und Epidemien (Flecktyphus) und steigerten die Mortalität der geschundenen „Häftlinge“. Trotzdem erhöhte sich der Lagerbestand durch Neuzugänge. Um ihn zu verringern, wurden am 4. und 8. November 1941 tausend Personen in das Ghetto von Lodz (Litzmannstadt) gebracht und von dort später nach Chelmo (Kulmhof), wo sie der Vergasung zum Opfer fielen. Dann kam 1943 der „Auschwitz-Erlaß“; und mit ihm der Massenmord an den Roma und Sinti auf der Grundlage der NS-Rassenideologie und entsprechend den Maßnahmen zur „Endlösung“. Insgesamt kamen etwa zwanzigtausend Roma und Sinti in das dreißig Barackenlager umfassende „Zigeunerfamilienlager“ nach Auschwitz-Birkenau; ab Februar 1943 auch ca. 2760 österreichische Roma und Sinti. Im Sommer 1944 wurde dieses „Zigeunerfamilienlager“ aufgelöst. Nach der Selektierung der noch arbeitsfähigen Männer und Frauen und deren Abtransport in die KZ Buchenwald und Ravensbrück wurden die Verbliebenen in der Nacht vom 2. auf den 3. August durch Vergasung liquidiert. Es waren 2897 Menschen. Von den zwanzigtausend nach Auschwitz-Birkenau deportierten Roma überlebten nur 1408, von den ca. 8000 burgenländischen Roma nur etwa 500-600. Damit war das „Zigeunerproblem“ gelöst; durch rassistischen Völkermord.

Nach der Befreiung – dem „Zusammenbruch“, wie der Volksmund sagt, dem Wechsel unter eine andere Gewaltherrschaft, wie das ein hoher österreichischer FPÖ-Staatsspitzenfunktionär, ein „Volksanwalt“ der Republik Österreich, seinem „persönlichen Geschichtsbild“ entsprechend unbegreiflicherweise und unter Berufung auf die verfassungsgemäße „Meinungsfreiheit“ bezeichnet – also nach der Befreiung Österreichs und somit auch der noch lebenden KZ-Insassen, darunter die wenigen Roma und Sinti, kehrten die KZ-ler in ihre Heimatorte zurück. Sie fanden aber dort nichts mehr vor, was einst Heimat gewesen war. Die Roma-Siedlungen waren zerstört, dem Erdboden gleichgemacht worden. Die Heimatgemeinden stellten den ehemaligen Roma-KZ-Insassen – meist nur widerwillig und gezwungenerweise – irgendwelche Notunterkünfte zur Verfügung. So entstanden neue Roma-Siedlungen am Rande der Orte und der Gesellschaft. Da viele ehemalige Roma-KZ-“Häftlinge“ keine Personaldokumente mehr hatten, dachte sich die Behörde einen Ausweg aus: Man erklärte die ausweislosen Roma als staatenlos, womit sie diskriminiert und jeder Willkür ausgesetzt waren. Und bald gab es – wie es jetzt zwar nicht mehr rassenideologisch, sondern nur amtlich hieß – wieder ein „Zigeunerproblem“. Das Rad begann sich von neuem zu drehen. Nicht, daß man den Überlebenden nun Hilfe oder gar „Wiedergutmachung“ angedeihen hätte lassen, ihnen Respekt erwiesen, Mitgefühl entgegengebracht hätte, vielleicht auch in Reue und Sühne; nein, ganz im Gegenteil: Sie wurden wieder genauso schikaniert, gedemütigt und ausgegrenzt wie vor der NS-Verfolgung und so als ob es diese nicht gegeben hätte. Und den (ehemaligen) Tätern ging es wieder einmal besser als den Opfern. Der sogenannte „Zigeunererlaß“ aus dem Jahr 1948 an die österreichische Gendarmerie, der die Außerlandesschaffung von „staatenlosen“ Roma, anordnete, stammte dieses Mal nicht aus Berlin oder von der GESTAPO, sondern kam aus dem Innenministerium (SPÖ/Helmer) der Republik Österreich.

„Wir leben im Verborgenen“ (Ceija Stojka, Picus-Verlag, Wien 1988) könnte die Devise der zurückgekehrten KZ-Überlebenden-Roma nach 1945 gewesen sein, der auch die Realität einer Roma-Existenz entsprach. Die Lackenbach-“Häftlinge“ waren von jeder Opferfürsorge gänzlich ausgeschlossen. Erst im Jahr 1961 bekamen sie auf Drängen der Opferverbände als Entschädigung für ihre „Freiheitsbeschränkung“ 350 Schilling pro Haftmonat zuerkannt. Bei der sogenannten „Wiedergutmachung“ wurden die Roma massiv benachteiligt, wo es nur ging. Niemand kümmerte sich um sie. Wieder einmal war niemand in diesem Land für sie und überhaupt verantwortlich. Kein Wunder bei der weit verbreiteten und selbstverständlich gewordenen Haltung und Praxis, jede Verantwortung für das, was geschehen war und bei dem man nicht nur als Opfer, sondern auch als Täter und Mitläufer beteiligt gewesen war, von sich zu weisen. Die Öffentlichkeit und die Gesellschaft interessierten sich weder für die sozialen noch für die kulturellen Probleme dieser bedrohten österreichischen „Minderheit“, die erst nach langer Zeit und gegen den passiven Widerstand von Seiten der Politik und Behörde nur aufgrund des zielstrebigen Engagements ihrer Vertreter und einiger weniger Mitstreiter bei gleichzeitigem Erwachen eines neuen Selbstbewußtseins und nach der Gründung wichtiger Interessensvertretungen und Organisationen („Verein Roma“, Oberwart 1989/1993; „Kulturverein österreichischer Roma“, Wien 1991; „Romano Centro“, Wien 1991) als Volksgruppe anerkannt wurde (24.12.1993). Damit hörte dann „das Leben im Verborgenen“ endlich auf; die Diskriminierung im Alltag und die Gleichgültigkeit seitens der Öffentlichkeit den Roma-Problemen gegenüber allerdings nicht.

Am 4. Februar 1995 ereignete sich dann das rassistisch motivierte Attentat eines psychopathischen Kriminellen, dem vier Roma aus der Oberwarter Siedlung zum Opfer fielen. Die österreichische Öffentlichkeit schreckte auf. Medienberichte informierten, interpretierten, beleuchteten den rassistisch-nationalistischen Hintergrund dieses Attentats, spekulierten über die „Bajuwarische Befreiungsfront“ und deren mögliche Querverbindungen zur Neonaziszene in Österreich und im Ausland. Plötzlich waren die Roma im Gerede, wiederum gab es ein „Roma-Problem“; dazu aber auch Zeichen der Erschütterung, der Empörung, des Mitgefühls, der Trauer um die Opfer; begleitet von Solidaritätskundgebungen, Politikeransprachen, Beteuerungen, Versprechungen. Das Begräbnis der Toten als ein Staatsakt. Und dann das Vergessen. Man hatte seine Schuldigkeit getan. Die Republik hatte sich vor den Opfern verneigt, sie betrauert, gewürdigt. Nach den Hintergründen, nach dem geistigen Umfeld, in dem solche Wahnsinnstaten (Rohrbomben/Briefbomben) von politisch verblendeten Verbrechern und Psychopathen angesiedelt sind, fragte nach einiger Zeit niemand mehr. Einige Jahre später demonstrierten Alt- und Neonazis polizeigeschützt auf dem Wiener Heldenplatz und zogen später mit „Sieg Heil!“-Rufen und zum Hitlergruß erhobenen Armen unbehelligt durch die Wiener Innenstadt. Ein wenig Empörung, die da und dort aufflackerte, sonst nichts.

Im Rückblick gesehen erweist sich die Siedlungs- und Kulturgeschichte der Roma von Oberwart seit der Gründung der „Zigeunerkolonie“ (1857) bis heute als die einer höchstens nur am Rande geduldeten, in der NS-Zeit verfolgten und ermordeten Außenseitergruppe, die nie wirklich akzeptiert und ins kommunale Zusammenleben integriert worden ist. Von den über 300 Roma, die bis 1938 in Oberwart gelebt hatten, kamen nach der Nazidiktatur und dem Holocaust nur etwa 20 Roma nach Oberwart zurück. Die Gemeinde siedelte sie wieder als Außenseiter weit draußen am Ortsrand an. Die Roma verblieben in diesem Ghetto unter sich. Die Gemeinde, die Behörden, die Ämter, die Kirchen, die Mehrheitsbevölkerung verweigerten eine wirkliche Integration. Dementsprechend war dann auch der soziale und bildungsmäßige Status der Roma. Die „Zigeunerkinder“ gingen zwar in die hiesige Volksschule – ganz wenige schafften es sogar bis in die Hauptschule und noch weiter – aber in der Regel wurden sie zurückgestuft und in die Sonderschule abgeschoben. Viele mußten einige Klassen mehrmals wiederholen, blieben bildungs- und ausbildungsmäßig zurück; was bedeutete, daß sie dann später – wenn überhaupt – nur als HilfsarbeiterInnen unterkommen konnten. Zu diesem Defizit im Bildungs- und Sozialbereich kam angesichts der Aussichtslosigkeit auf gesellschaftliche Integration in das Mehrheitsvolk auch eine psychologische Identitätskrise, ein Identitätsverlust aufgrund einer Identitätsverweigerung. Einfach gesagt: Viele Roma schämten sich, „Zigeuner“ zu sein; wollten diese ihre Identität verschleiern, verstecken, ablegen, verleugnen, vergessen.

Zu Beginn der Achtzigerjahre aber war dann plötzlich eine Gegenbewegung da. Zunächst kam diese von außen. Wie so oft können Einzelereignisse wichtige Impulsgeber sein, die schon vorhandene, aber noch nicht wirksame Bereitschaftskonstellationen und Handlungsansätze bündeln, indem sie eine Entwicklungsdynamik erzeugen. Um einen solchen Fall könnte es sich bei der „Aktion Zigeunerdenkmal“ handeln. Eine Künstlergruppe hatte im Rahmen des Kulturfestivals „ausnahmsweise oberwart“ am 20. Juni 1980 vor dem Kriegerdenkmal in Oberwart ein anderes Denkmal – eigentlich nur eine Denkmalattrappe – aufgestellt, mit dem sie als einem Mahnmal an die in den NS-Konzentrationslagern ermordeten und umgekommenen Roma-Mitbürger aus Oberwart erinnerte und dieses Holocaust-Schicksal der Roma den Nichtroma-Mitbürgern dadurch wieder ins Gedächtnis rief. Die Reaktion von Behörde und Bevölkerung war typisch-österreichisch: Man fühlte sich gestört, man wollte an die eigene Tabuisierung und Verdrängung nicht erinnert werden. Der Bürgermeister forderte die Urheber des Denkmals auf, dieses zu entfernen. Nachts wurde das Denkmal beschmiert, das Andenken an die Toten geschändet. Eine Anzeige gab es, Täter wurden nicht gefunden, weil vielleicht auch gar nicht wirklich entschieden gesucht. Im Sommer 1983 wurde im Jugendhaus in Oberwart eine „Zigeunerausstellung“ gezeigt, in der zum ersten Mal konkret auf die Diskriminierungen der Roma in Oberwart hingewiesen und diese angeprangert wurden. Die Roma begannen sich zu wehren. Widerstand erwachte und wurde organisiert.

Am 13. März 1987 sprachen Roma-Repräsentanten beim Bundespräsidenten vor. In diesem Gespräch kam es zu einer Einmahnung des in der österreichischen Verfassung verankerten Gleichheitsgrundsatzes. Die Präsidentschaftskanzlei reagierte. Die Roma handelten nun nicht mehr unter der lähmenden Akzeptanz ihrer Opferrolle, sondern forderten konkret und zukunftsorientiert Gleichstellung und Gleichberechtigung; im Schulbereich, im Sozialbereich, im Arbeitsprozeß. Kulturelle Roma-Identität entwickelte sich. Vereine wurden gegründet, Interessensvertretungen; Aktivgruppen formierten sich. Zielvorgaben wurden formuliert, deklariert, propagiert. Konkrete Projekte zur Verbesserung der Lebenssituation der Roma wurden gestartet und durchgeführt. Zum ersten Mal solidarisierten sich Nicht-Roma mit ihren Roma-Mitbürgern. Eine „Roma-Nichtroma-Initiative“ wurde gestartet. Die Situation veränderte sich. Daraus resultierte Hoffnung, Selbstbewußtsein, Handlungsenergie; Schaffung von Organisationsstrukturen. Und das brachte Erfolg.

Heute kann man das Erreichte bilanzieren. Seit 15. Juli 1989 gibt es den „Verein Roma“ in Oberwart, der sich engagiert und effizient sowohl für die Roma selbst, als auch für das Zusammenleben zwischen Roma und Nicht-Roma einsetzt. Konkret geht es um die Verbesserung der gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, sozialen und rechtlichen Stellung der Roma; um die Stärkung des Selbstbewußtseins, um die Aufrechterhaltung und Wiederbelebung der Roma-Identität. Neue Strukturen und Organisationsformen wurden geschaffen, Netzwerke zu anderen österreichischen Volksgruppen aufgebaut, Kontakte zu Repräsentanten aus Politik und Gesellschaft geknüpft und vertieft. Heute gibt es in Oberwart eine Roma-Beratungsstelle, außerschulische Lernbetreuung für Roma-Kinder, eine Roma-Volkshochschule, Roman-Sprachkurse, Zeitschriften, Kulturveranstaltungen, Theatergruppen, Feste, Musik und anderes. Auch in Wien sowie im gesamten Bundesgebiet wirkte die positive Entwicklung der Gesamtsituation – vorallem die Anerkennung der Roma als österreichische Volksgruppe und die Errichtung des Volksgruppenbeirates – befreiend und befruchtend. Auch in Wien gibt es seit den Neunzigerjahren zwei Roma-Kulturvereine. Eine Wiederbelebung der traditionellen Roma-Kultur und ein vorher nicht da gewesenes Identitätsbewußtsein, mit dem auch ein neues Selbstbewußtsein einhergeht, ist feststellbar. Und über die Staatsgrenzen hinaus gibt es die Zusammenarbeit mit anderen Roma-Organisationen und Volksgruppen.

Trotzdem sind Ressentiments und teilweise auch offene Ablehnung in der Bevölkerung, im deutschsprachigen österreichischen Mehrheitsvolk geblieben; vorallem wenn es um zugewanderte „Zigeuner“ aus dem Balkan geht, um diese „Tschuschen“, wie viele noch oder schon wieder sagen. Das Anderssein, das Fremde scheint für viele ein unüberbrückbarer Gegensatz, eine unüberwindbare Barriere zu sein, wenn es um Gleichwertigkeit und um Gleichberechtigung, um soziale und kulturelle Anerkennung geht. Und es gibt in letzter Zeit schon wieder häufiger und lauter diese „Zurufe an das Volk“, aus dem Untergrund oder aus einer Ecke einer bestimmten Partei, deren Ideologen von „Überfremdung“ reden und von „Umvolkung“. Das läßt erschrecken. Das sollte alle zur Wachsamkeit aufrufen, zum Widerspruch, zum Widerstand. Denn das ist ein Gefahren- und Warnzeichen; vor einer Wegstrecke, wo es steil abwärts geht – mit der politischen Kultur eines Staates, mit seiner Demokratie.

Es ist ein wichtiges, ein notwendiges Buch, das hier vorliegt. Ein Buch, das das Leben der burgenländischen Roma und deren Schicksal durch Jahrhunderte hindurch aufzeigt und eindringlich beschreibt; eine Dokumentation, die auf präzisen Daten und Fakten aufgebaut ist und durch einen genauen Literatur- und Quellennachweis sowie durch anschauliche Statistiken und eine umfassende Chronologie der Ereignisse wissenschaftlichen Maßstäben gerecht wird. Es ist ein Buch, das sich auch mit den dunklen Seiten der österreichischen Geschichte befaßt; einer Geschichte, die lange Zeit entweder verdrängt oder zur eigenen Entschuldigung umgeschrieben worden ist. Der Autor hat hier Bilanz gezogen; auch darüber, was die österreichische Politik und Öffentlichkeit verleugnet, versäumt, verdrängt, verschwiegen hat; und was im Gegensatz dazu die burgenländischen, die österreichischen Roma und ihre Organisationen sowie engagierte Nicht-Roma-Mitstreiter zur Schaffung ihres jetzigen Status selber geleistet haben. Und dies ist beachtens- und bewundernswert.


Genre: Dokumentation
Illustrated by edition lex liszt 12

Das Kind, das ich war

Kinderschicksal – Kindheitstrauma
Der kärntner-slowenische Dichter Andrej Kokot auf den Spuren seiner Kindheit

Der 14. April 1942 ist ein bedeutender Tag im Leben des damals kleinen Buben und heutigen Schriftstellers Andrej Kokot. Denn da wird er mit seiner Familie, seinen Eltern und den zehn Geschwistern, so wie viele andere kärntner-slowenische Familien, vom elterlichen Hof in Oberdorf/Zgornja vas, in der Gemeinde Köstenberg/Kostanje, an der Südseite der Ossiacher Tauern gelegen, vertrieben. Grund: Sie sind Kärntner Slowenen; zu wenig deutsch, eigentlich gar nicht; sprechen eine andere Sprache, die zu sprechen verboten ist, für Volksgenossen, auf deutschem Reichsgebiet, das Österreich, das Kärnten jetzt ist.

Erst 1946 kehrt die Familie – nach langen und bitteren Jahren in der Fremde: in den Lagern Rehnitz, Rastatt und Gerlachsheim in Deutschland, nach Jahren der Freiheitsberaubung, der Erniedrigung, der ständigen Bedrohung, des Hungers und der Zwangsarbeit – wieder in das neuerstandene Österreich und nach Kärnten zurück; allerdings ohne den geliebten, ältesten Sohn und Bruder Josef/Jožek. Der war – wie die Familie erst sehr viel später erfährt – bereits am 24. September 1944 in KZ Mauthausen ermordet worden; durch Erhängen. Erst 1953, also neun Jahre später, erfährt dies die Familie durch einen per Boten des Gemeindeamtes Köstenberg überbrachten Brief, der die Sterbeurkunde von Josef Kokot enthält. „Jožek, unser Jožek ist tot“, stammelt die Mutter Magdalena Kokot. Dann bricht sie zusammen. Niemand von der Gemeinde kondoliert, spricht sein Beileid aus.

Im Gegenteil: Man gibt – so wie dem zurückgekehrten Buben Andrej Kokot in der Schule der Nachkriegszeit – den Rat „die Sache zu vergessen“. Schon längst hat im Nachkriegsösterreich die Tabuisierung der NS-Vergangenheit, die Verdrängung des eigenen Beteiligtseins, die große kollektive Verleugnung des getanen Unrechts, der eigenen Schuld und Verantwortung eingesetzt, hat alle Gesellschaftsbereiche erfaßt und durchzogen. Die Ausrede, die Verharmlosung, oder ganz einfach das Verleugnen sind die Instrumentarien der Verdrängung.

Mehr als fünfzig Jahre lang nach den Geschehnissen und der NS-Diktatur hört man in Kärnten, in Österreich kaum etwas von der Slowenenvertreibung; setzt man sich nicht mit diesem Kapitel der österreichischen Geschichte auseinander. Im Gegenteil: Die Kärntner-Slowenen werden nur als Problem begriffen, sowohl von der Politik, von verschiedenen Parteien und Organisationen (Kärntner Heimatdienst), als auch von der Gesellschaft überhaupt, der Bevölkerung; besonders der deutschsprachigen in Kärnten. Dies kommt am deutlichsten und beschämendsten beim sogenannten Ortstafelsturm 1972 in Kärnten zum Ausdruck; und darin, wie die Landes- und Bundespolitik damit umgeht, nämlich durch Beugung des Rechtsstaates, durch politischen Pragmatismus, durch letztendliche Kapitulation vor Raudis und Antidemokraten, den Slowenenhassern; durch Kapitulation vor der Gewalt.

Auch die Opfer unterliegen einer Verdrängung ihrer traumatischen Erfahrungen: Ihrer Erfahrung des Ausgesetztseins, der Bedrohung und der Gewalt, ihrer existenziellen Gefährdung, der Angst und Hilflosigkeit, ihrer Stigmatisierung durch das Anderssein – durch eine andere ethnische Zugehörigkeit; und somit auch der zu einer anderen Sprache. Dies ist und bleibt bedeutsam; vorallem für einen kleinen Buben, der sich plötzlich vertrieben in der Fremde wiederfindet, gewaltsam hinausgeworfen aus dem schützenden Nest und der Geborgenheit seiner Kindheit und Heimat. Dies gilt auch für den späteren kärntner-slowenischen Dichter und österreichischen Schriftsteller Andrej Kokot. Er verbleibt in seiner inneren Abkapselung, so wie viele seiner Volksgruppe, er bleibt in einem Ghetto, das er nur
mit seinem Schreiben und in seiner Sprache durchbricht.

Erst ein halbes Jahrhundert später begibt er sich auf die Suche nach seiner Kindheit, nach den Spuren in den Aussiedlungslagern Nazideutschlands. Er fährt mit seiner Frau und zwei seiner Schwestern an diese Orte der Vergangenheit und Verschwiegenheit. Viele Spuren sind getilgt; auch aus dem Bewußtsein der Menschen. Viele wollen sich nicht mehr erinnern, auch nicht an die eigene Geschichte; oder verleugnen sie; schreiben sie um; nennen NS-Konzentrationslager sogar Straflager (der jetzige Kärntner Landeshauptmann Dr. Jörg Haider). – Strafe wofür? – muß man ob der Ungeheuerlichkeit eines solchen Ausspruches (nicht Ausrutschers!) fragen; angesichts der Ermordung von Josef/Jožek Kokot durch Erhängen in Mauthausen.

Das Ergebnis der Spurensuche von Andrej Kokot ist dieses Buch „ Das Kind, das ich war“.

Ein berührendes, ein ernstes Buch, das nachdenklich macht und machen soll. Das Ergebnis einer Erinnerungsarbeit durch Wiedervergegenwärtigung traumatischer Kindheitserlebnisse, auch wenn diese damals nicht so sehr den Buben Andreas Kokot, sondern erst viel später den Erwachsenen Andrej Kokot geprägt haben. Darüber hinaus ist dieses Buch ein Stück österreichische Gegenwartsliteratur, die sich mit Vergangenheitsbewältigung befaßt; wenn es so etwas überhaupt gibt. Vorallem aber ist es eine Mahnung, ein Warnzeichen, das wir – auch aufgrund neuer Umstände in unserem Land, in unserem Staat – dringend brauchen.


Genre: Erinnerungen
Illustrated by Drava Verlag Klagenfurt/Celovec in Kärnten / Österreich

Für das Leben und gegen den Tod

Kärntner Partisan

„Für das Leben, gegen den Tod“ lautet der parolenhafte Bekenntnistitel eines Buches des kärntner-slowenischen Autors und ehemaligen Widerstandskämpfers Lipej Kolenik, in dem er seine sehr persönlichen Erinnerungen an die Zeit des Nationalsozialismus und seinen Kampf dagegen mit dem Ziel der Befreiung Österreichs vom Faschismus zusammengefaßt hat.

Lipej Kolenik wurde 1925 in St. Margarethen bei Bleiburg/Šmarjeta pri Pliberku geboren und wuchs dort am elterlichen Bauernhof auf. 1943 wird er zur deutschen Wehrmacht einberufen, aus der er desertiert und sich den Partisanen anschließt. Im März 1945 wird er schwer verwundet. Nach Kriegsende ist er lange Zeit arbeitslos, wird – so wie viele andere österreichische Partisanen – diffamiert, wiederholt verhaftet, eingesperrt, als Verräter angesehen. Er bleibt politisch aktiv, ist heute im Vorstand des Kärntner Partisanenverbandes.

In seinen tagebuchartigen Aufzeichnungen ist er ein Chronist der Ereignisse, darüber hinaus aber ordnet er diese auch – seinem Welt- und Geschichtsbild entsprechend – zu einem Gesamtbild, sodaß ein facettenreiches Kaleidoskop der damaligen Zeit vor Augen geführt wird. Kindheit in ärmlichen Verhältnissen als Angehöriger einer in „Deutsch-Kärnten“ nicht geliebten und diffamierten Minderheit. Repressalien der nationalsozialistischen Machthaber. Vertreibung vieler kärntner-slowenischer Familien von ihren Höfen, Aussiedlung in Internierungslager in Deutschland, dort Zwangsarbeit. Unvorsichtige, Widerspenstige und Widerständler kommen gleich ins Konzentrationslager, zum Beispiel nach Mauthausen. Die wehrfähigen Männer werden zur deutschen Wehrmacht eingezogen, müssen dort in einer ihnen fremden und feindlichen Armee gegen andere Fremde und Feinde kämpfen. Manche desertieren, wenn sie auf Heimaturlaub sind, gehen zu den Partisanen; so auch Lipej Kolenik mit erfrorenem Fuß.

Er und seine Familie wissen um das lebensgefährliche Risiko. Trotzdem das Wagnis, die Entscheidung, gegen Hitler und die nationalsozialistischen Unterdrücker. Zu diesen gehören auch die fanatischen Ortsnazis aus Bleiburg, Völkermarkt, Klagenfurt. Partisanengebiet ist „Bandengebiet“. Gendarmerie und militärische Sondereinheiten durchkämmen die Wälder; durchsuchen die Höfe. Übergriffe, Massaker. Trotzdem Solidarität vieler Kärntner-Slowenen mit den Ihren, den Partisanen; aber auch Ablehnung und Verrat. Dann endlich Befreiung, Sieg.

Nach 1945 die große Enttäuschung. Die Engländer als Besatzungsmacht drängen die Partisanen zurück, paktieren sogar mit ehemaligen Nazis. Diese sind bald wieder oben auf, gesellschaftlich voll integriert. Die Partisanen sind es, die – weil viele von ihnen im Nationalen Befreiungskampf für der Anschluß an „Tito-Jugoslawien“ plädiert und auch dafür gekämpft haben und nun der „Osvobodilna fronta“, der politischen Organisation der slowenischen Partisanenbewegung angehören, die auch der KPÖ nahesteht – nun als Verräter und Nicht-Patrioten diffamiert und angefeindet werden; auch vom offiziellen Österreich.

Auf diesem Terrain vollzog sich das kämpferische, sozial-politische Leben des Lipej Kolenik. Er ist ein patriotischer Slowene, ein engagierter Mensch, ein Kämpfer gegen jede Form des Faschismus; ein Kämpfer für Gerechtigkeit und Freiheit.

Lipej Kolenik: „Für das Leben und gegen den Tod. Mein Weg in den Widerstand“. Mit einem Vorwort von Janko Messner. Drava Verlag, Klagenfurt, 2001. 256 Seiten, EUR 19,50. Slowenische Erstausgabe im Drava Verlag, 1997.


Genre: Erinnerungen
Illustrated by Drava Verlag Klagenfurt/Celovec, Kärnten, Österreich

Im Moos

Jenisch wird nuvos mehr tibert
Jenisch wird nicht mehr gesprochen

„Im Moos“ – so auch der Titel des Romans – auf einem abgelegenen Flecken am Rande einer Kleinstadt im Süden Kärntens lebt eine Sippschaft der Jenischen. Angehörige des einst im Alltag da und dort noch sichtbaren Fahrenden Volkes der Hausierer und Händler, der Kesselflicker, der Scheren- und Messerschleifer, die sich von den Gatschi (den Nicht-Jenischen) abgrenzten, durch ihre Sprache, besser gesagt: durch den von ihnen verwendeten reichen Wortschatz, den keiner verstand und versteht außer sie selber, der jedoch nur untereinander verwendet wird und nicht im Gespräch nach außen, weil man sein Jenisch-Sein wie ein Geheimnis, für manche wie eine Schande hütet und verbirgt.

Sie sind nicht mehr verfolgt wie in den Zeiten des Nationalsozialismus, da sie als „Asoziale“ sogar in den KZ landeten. Ihre Kinder werden nicht mehr dem Familienverband entrissen und in Heimen weggesperrt. Aber sie sind nach wie vor Ausgegrenzte, auch aus der Geschichte der Verfolgung. Sie werden nie irgendwo erwähnt, nicht als Volksgruppe angeführt und anerkannt. „Jenisch wird nuvos mehr tibert“: Jenisch wird nicht mehr gesprochen, wie sie selbst sagen. Der Beruf des Hausierers ist in Zeiten der Selbstbedienungsmärkte auch auf dem Lande und der Versandkatalog-Einkäufe nicht mehr gefragt; ist unmöglich geworden, ein Anachronismus. Und so wie diese Berufe der Hausierer und Messerschleifer ausgestorben sind, so stirbt damit auch die Sprache und Kultur der Jenischen aus. Und es ist nur mehr eine Frage der Zeit und der Assimilation, wann das Jenische endgültig gepegert (gestorben) sein wird.

Eine junge Jenische hat die Geschichte ihrer Großfamilie aufgeschrieben, als Debutroman vorgelegt; und vorher mit dem Manuskript den ersten Preis bei dem schon sehr bekannten österreichischen Literaturwettbewerb (Amerlinghaus Wien) „Schreiben zwischen den Kulturen“ gemacht. In diesem Buch zeichnet sie sich selbst als Jenische und als Angehörige dieses großen Familienclans. Da ist zunächst der Patrus (der Vater), Janas Großvater, das Familienoberhaupt, früher ein Mordskerl, jetzt ein alter, kranker Mann. Dann seine Frau Josefine, die ewig mit dem Patrus Konratio in Streit ist, die mit der traditionellen Berufs- und Lebensform, ja mit dem Jenischen überhaupt nichts mehr zu tun haben will; die sich davon emanzipieren und ein „normales Leben“ leben möchte, von dem sie glaubt, daß dies auch für ihre Kinder und Kindeskinder besser wäre.

Es ist Weihnachten. Die Großfamilie hat sich versammelt. Alle sind da. Dreizehn Personen sitzen um den gedeckten Tisch; warten darauf, daß die Kerzen auf dem Christbaum angezündet werden. Alles in einem etwas chaotischen Durcheinander. So sind sie eben: alle ein wenig verrückt; aber jeder eine Persönlichkeit. Ein jeder hat seine Eigenheiten, auch seinen Dickkopf. Und jeder und jede hat ihre Geschichte. Und alle Geschichten zusammen ergeben die Familiengeschichte, die sich überschaubar über die letzten hundert Jahre erstreckt. Ein Familienstammbaum mit weit verzweigten Ästen und tiefen Wurzeln ist aufgezeichnet in diesem Buch. Man weiß nicht immer genau – vorallem am Anfang – wer nun wirklich wer ist. Die vielen Namen und Verwandtschaftsgrade sowie Zugehörigkeiten purzeln durcheinander, bis sie sich im Lauf der erzählten Geschichten klären. Hauptpersonen gibt es und Nebenakteure, auch Gatschi, die in die Familie eingeheiratet haben, wie der Mann von Jana, Pawel, der Kärntner-Slowene, der aber kein Slowenisch mehr kann, dafür aber ein Schriftsteller ist oder ein solcher werden will. Janas Bruder, Igor, wiederum ist musikalisch talentiert, er hat sogar die Musikschule abgeschlossen und gibt Unterricht. Er taugt aber – ebenso wie Jana – nicht zum Hausieren, hat nicht das Talent, an fremde Türen zu klopfen und fremden Leuten was aufzuschwätzen, ihnen die Ware anzudrehen. Jana selbst hat sich nach Reisen und Aufenthalten in anderen Ländern und einigem Herumprobieren – auch bei Männern – der Malerei zugewandt und in Pawel einen fixen Partner und mit dem gemeinsamen Kind Nana einen Ruhepunkt in ihrem unruhigen Leben gefunden. Die Unruhe ist es überhaupt, welche diese Personen treibt – in Abenteuer, in Liebschaften, ins Anderssein; so als würde diese Unruhe und dieses In-Bewegung-sein eben zum Jenischen gehören, als Wesensmerkmal und Charakterzug aufgrund einer jahrhundertelangen Prägung.

Alle haben sie aber nun doch in den einfachen, selbstgebauten Häusern, die nahe beisammen auf dem moosigen Grund stehen, den der Großvater von Josefine, also der Ur-Ur-Großvater von Jana mütterlicherseits, um 1900 beim Kartenspielen gewonnen hat, ein Zuhause, so etwas wie eine Heimat gefunden; eine Heimat unter sich. Die einen leben dort, Generationen übergreifend in der Familiengemeinschaft, die anderen, die auswärts arbeiten oder anderswohin gezogen sind, kehren immer wieder dorthin zurück, wo ihre Wurzeln liegen: im Moos. Alle haben sie eine enge Verbindung zueinander, auch wenn es oft turbulent und chaotisch zugeht, der eine schweigsam ist, die andere etwas hysterisch. Alle kennen einander und wissen, wie sie miteinander umzugehen haben. Denn das richtet sich nach so etwas wie einem Gesetz.

Ereignisse werden erzählt von dem und jenem, von der und einer anderen. Lebensgeschichten. Charaktere werden gezeichnet. Menschenbilder. So werden Zusammenhänge sichtbar und nachvollziehbar. Jana geht allem nach, spürt alles auf, hinterfragt das Geschehen und diese Menschen, ihre Leute, setzt sich damit auseinander, warum etwas so ist, wie es ist; und was dieses So-Sein begründet, begründet hat. Und sie tut das manchmal behutsam, dann wieder ungestüm, immer aber respektvoll und mit Liebe. Sie kommt diesen Menschen, sie kommt ihrer Familie – und damit auch sich selber – auf die Spur. Beziehungen und Bindungen über das bloß Familiäre und Persönlich-Emotionale hinaus entstehen, und damit ein anderes, tieferes Gefühl für das Leben; und ein Wissen und ein Verständnis.

Am Ende der erzählten Geschichte stirbt der Großvater. Man findet ihn, mit dem man kurz zuvor noch im Auto gefahren ist und geredet hat, vom Schlag getroffen im Vorhaus liegen. „Der Patrus ist gepegert“ (Der Vater ist gestorben) schreit seine Tochter ins Telefon. Und alle kommen. Halten Totenwache. Schwächen Gfunkten (trinken Schnaps). Beten. Verabschieden sich vom Toten mit Berührung, Kuß, Tränen, Worten, Schweigen. Dann wird der Tote aus dem Haus geschafft. Und plötzlich ist es so, als seien mit ihm als Familienoberhaupt, der alles ein Leben lang zusammengehalten hat, auch alle Familiengeschichten und mit ihnen zugleich die Substanz dieser Sippschaft gestorben. Jedenfalls gibt es wieder einen Jenischen weniger. Und alle wissen, was das bedeutet.

Es ist ein berührendes Buch; vielleicht gerade deshalb so sehr, weil hier ohne Pathos, sondern mit Humor, mit einem gewissen selbstironischen „Augenzwinkern“ erzählt wird. Alles in diesem Buch ist turbulent; und das bedeutet lebendig. Auch wenn hier von einer aussterbenden Kultur, von einem Volk, das im Verborgenem lebt (Ceija Stojka) erzählt wird. Dieser Debutroman ist keine Talentprobe einer Jungautorin, nein, das ist spannende und ausgezeichnet geschriebene österreichische Literatur.

„Im Moos“ von Simone Schönett. Roman. Publikation PN1/Bibliothek der Provinz.
Weitra, 2001. 123 Seiten. EUR 14,40,-


Genre: Erinnerungen
Illustrated by Verlag Bibliothek der Provinz Großwolfgers/Weitra in Niederösterreich

Bündel – Budzo

Heimatlosigkeit

In zerrissenen Kleidern und schmutzigen Hosen
ziehe ich schon tausend Jahre durch die Welt…

„Budžo/Bündel“ heißt der in Deutsch und Romanes erschienene Gedichtband des serbisch-österreichischen Roma-Dichters Ilija Jovanović. Dieser, 1950 in Rumska in der Nähe von Belgrad geboren, lebt seit dreißig Jahren in Wien; in der Fremde, wie aus seinen Gedichten hervorgeht. Denn die Heimatlosigkeit ist das Thema seiner Gedichte, sowohl die persönliche als auch die seines Volkes, das seit Jahrhunderten fern der angestammten Heimat Indien durch viele Länder Europas und der übrigen Welt zieht; wo sich die „Zigeuner“ zeitweilig auch niedergelassen haben, dann wieder verfolgt und vertrieben oder zwangsassimiliert wurden, und ein Großteil schließlich auch der NS-Rassenideologie zum Opfer gefallen ist. Mehr als eine halbe Million Roma und Sinti wurden ermordet, kamen in den Konzentrationslagern um.

Immer ist das Bündel gepackt als Zeichen der ständigen Bereitschaft zum Aufbruch; in der Gewißheit der gemachten Erfahrung, nirgendwo willkommen, höchstens für eine begrenzte Zeit geduldet zu sein; und dann auch nur als ein Außenseiter, manchmal auch als ein Ausgestoßener. Unauslöschlich die Sehnsucht nach „einem fernen Ort, wo Menschen einander lieben…sich im Anderen suchen und finden“, wie es im Gedicht mit dem bezeichnenden Titel „Suche nach Frieden“ heißt. „Wir sind stets an Händen und Füßen gebunden“ – das ist die dichterische Metapher für Gefangenschaft, für ein Leben ohne Entfaltung und Entwicklungsmöglichkeit in einem identitätslosen, kulturlosen Getto mitten in unserer konsumorientierten Zivilisationsgesellschaft, an der „Zigeuner“ stranden und oft auch zerbrechen. „Wie ein Getreidekorn bin ich zwischen Mühlsteine geraten“ bekennt Jovanović.

Gott und die Liebe sind fern; unerreichbar. Das Erleben des Ausgestoßenseins wird zum Grundgefühl der eigenen Existenz. Ausweglosigkeit. Hoffnungslosigkeit. Dazwischen das Leben; zerrieben zwischen diesen beiden Mühlsteinen. Todesgedanken flackern auf, Todessehnsucht wird spürbar; vorallem in der Zeit, da auch die Natur abstirbt. „Der Herbst läßt Trauerfahnen über uns wegen. Der Tod freut sich…Alles, was mir lieb und teuer, ist von der Farbe des Todes befallen.“ Das ist kein psychopathologischer Ich-Befund. Hier geht es um mehr. Das individuelle Schicksal ist stets untrennbar mit dem seines Volkes verbunden. Von dorther leitet sich das individuelle existenzielle Grundgefühl ab. Und er kommt zu folgendem Resümee: „Verstummt sind wir. Zerstört ist unsere Welt, wir sind am Ende…Wir wissen nicht mehr, wohin.“ Aus der Sicht der unauflösbaren Ich-Zugehörigkeit zu seinem Volk lokalisiert er seine Existenz mit folgenden Worten: „Ich habe keine Heimat. Jahrhunderte lang schon habe ich keine. Armut, Hunger und Gewalt treiben mich von Ort zu Ort. Ich habe nichts, außer dem Wind im Rücken und das Grab vor mir.“ Nur die Liebe könnte retten; aber sie zerbricht oder bleibt in der Ferne – unerreichbar, unerreicht.

Das sind Gedichte als Lebensäußerung eines in Österreich lebenden „Zigeuners“ – jenseits aller operettenhaften „Zigeunerbaron“-Schablone mit ihrer diskriminierender Verlogenheit. Denn so „lustig ist das Zigeunerleben“ weder hier noch dort. Davon zeugt dieser Aufschrei einer verwundeten Seele, eines gequälten Menschen, der auch Zeugnis gibt für sein Volk.

Ilija Jovanovic 1950-2010
Nachruf von Peter Paul Wiplinger

Magazintext | erschienen in Wienzeile 59

Ein bedeutender, aber weithin unbekannter Dichter ist tot: der serbisch-österreichische Roma-Dichter Ilija Jovanovic. Verfasser von zwei Gedichtbänden: „Budzo / das Bündel“ (EYE Literaturverlag, 2000) und „Dromese rigatar / Vom Wegrand“ (Drava Verlag, 2006).

Keines der beiden Bücher hat mehr als 100 Seiten zweisprachiger Lyrik. Und doch ist in den Gedichten dieser beiden Bücher das ganze Leben des Dichters Ilija Jovanovic erfaßt, festgehalten und ausgedrückt: Die unerfüllte Sehnsucht des heimatlosen Rom Ilija Jovanovic nach dem, was es für ihn nie gegeben hat: Heimat. Dokumentation des ausgesetzten Einzelnen als Paradigma für sein Volk; das Volk – ich sage es jetzt bewußt so – der Zigeuner. Das Heimatlossein im Ausgesetztsein, in einem Grenzland, nein mehr noch, in einem Land jenseits der sie oftmals umgebenden luxuriösen und umso brutaleren „Zivilisation“. Und die Beschimpfung als „dreckiger Zigeuner“, „Asozialer“, als „Gesindel. Man siedelt sie aus, an den Rand der Städte und Orte; man treibt sie wieder zurück in ihre Herkunftsländer. Die Juden wollte man als menschliche Lösung einmal nach Madagaskar oder Uganda aussiedelten, sie landeten aber dann im Gas von Auschwitz-Birkenau, Bergen-Belsen und anderswo; ebenso die Zigeuner. Aber „das ist längst vorbei“, sagen die Kultivierten, die Zivilisierten. So denken die Mächtigen, die Politiker; sagen: „Wir haben ein Roma-Problem!“. Und schicken die Menschen mit ihren Bündeln irgendwohin wieder zurück; in ihre „Heimat“, in ihr „Herkunftsland“; in ihr Elend, in ihre Chancenlosigkeit, in ihr Verstoßensein, in ihre Würdelosigkeit, in ihr „Zigeunersein“.

Das ist die Wahrheit und zugleich die Realität. Und das war in meinem Freund Ilija, das hat auch er erfahren, erlebt, durchlitten, aufgezeichnet, literarisch festgehalten. Das hat ihn in seiner Grundstimmung so traurig, so voller Wehmut und Melancholie gemacht, die ihn oft niederdrückte. Das hat ihm als lebenslange Begleiterscheinung neben seiner Krankheit so früh das Leben gekostet.

„Vom Landarbeiter zum Dichter“. So könnte man seinen Lebensweg betiteln. Geboren wurde Ilija Jovanovic am 25. Februar 1950 in Rumska nahe Belgrad in Serbien, als einziges Kind einer sehr armen Roma-Familie. Schon als Kind arbeitete er als Erntehelfer und dann überhaupt in der Landwirtschaft. Diese Kindheitsprägung findet sich Jahrzehnte später spurenhaft in seinen Gedichten wieder. Das reifende Korn, die schwarze Erde, der Gesang der Vögel u.a. sind immer wiederkehrende Metaphern in seinen Gedichten. Er besuchte in Rumska einige Klassen der Grund- und anschließend sogar die Hauptschule. Also war sein Bildungsstreben bereits damals vorhanden. Dann der Pflicht-Militärdienst in der Jugoslawischen Volksarmee. Tito-Patriotismuskult und Geschundensein; jahrelang, irgendwo. Vielleicht trieb ihn das schon damals in seine innere Emigration. Mit 20 Jahren hatte er bereits eine Familie mit drei Kindern. Einfach nur üblich bei einer Zigeunerfamilie; oder glaubte er, die Familie sei seine Rettung, ein Ort der Geborgenheit, den er nie und nirgendwo, auch nicht in seiner eigenen Familie, gefunden hat? 1971 erfolgte seine Übersiedlung nach Wien. Die Frau kommt später nach. Die Kinder bleiben bei den Großeltern. Er hofft, sich eine „anständige Existenz“ aufbauen und der Armut entrinnen zu können? Ilija arbeitet zuerst zwei Jahre lang in einer Metallfabrik und anschließend 25 Jahre als Apothekengehilfe in den Wiener Spitälern AKH und Rudolfstiftung. Das Medikamentendepot lag im Keller. Ich fragte ihn einmal, ob das nicht unerträglich sei, jahrzehntelang die meiste Zeit kein Tageslicht zu sehen und unter der Erde zu leben. Er antwortete darauf: „Nein, das ist für mich richtig, dort gehöre ich hin, dort bin ich ja: unter der Erde.“

Schon früh (1975) begann Ilija, der in Wien in einer Abendschule seinen Hauptschulabschluß gemacht hatte, sich mit Literatur zu beschäftigen; in drei Sprachen: in Romanes, Serbisch und Deutsch. Er las viel. Er liebte das Lesen, die Literatur. Dann begann er, selbst zu schreiben. Er wandte sich von Anfang an der Lyrik zu, machte eigene Gedichte, tat dies auch mit Erfolg. Bald schon kam es zu Publikationen, sogar zur Auszeichnung eines Gedichtes von ihm, später zu Buchpublikationen und Lesungen, zu Stipendien und Preisen (Theodor-Körner-Preis 2000, Exil-Lyrik-Preis 2010). Im Jahr 2008 erhielt er das Bundes-Ehrenzeichen für Verdienste um den interkulturellen Gedichte.
Und: „Wir gehen und gehen /
wissen nicht, /
wie lange und wohin“ in einem
anderen.
Bezeichnend und erschütternd zugleich die Aussage:
„Ich habe keine Heimat /
…ich habe nichts, /
außer den Wind im Rücken /
und das Grab / vor mir.“
Ilija war aber auch ein Glaubender und Hoffender, der sowohl an den ihn erlösenden Gott als auch an die Möglichkeit des Menschen zur Humanität glaubte. Beides gab ihm Halt und in beidem stellte er sich selbst doch zugleich immer wieder in Frage. Ilija war ein Suchender; manches fand er mit und in seinen Gedichten, in seinem Dichten. Er war aber vor allem ein Liebender, einer der liebte und gleichzeitig in diesem Lieben litt.

„Ich liebe die Liebe / weiß aber nicht, / was das ist…“
So sein Bekenntnis.

Wir haben ihn am 7. Dezember zu Grabe getragen, am Wiener Zentralfriedhof wurde er in die Erde gebettet; in die Erde, in der er ein Leben lang verwurzelt war. Kalt war es und weiß verschneit war alles rundum. Ilija hat das Grün geliebt, das Grün der Wiesen und Wälder; und das wogende Korn. Er hat seine Kindheit geliebt, die Erinnerung daran. Ein Kreis hat sich nun geschlossen mit und in seinem Tod. Hinterlassen hat er uns seine Gedichte; in denen wir ihn wiederfinden können, weil er in ihnen lebt.

Wien, 7.-10. Dezember 2010


Genre: Lyrik
Illustrated by EYE-Verlag Landeck in Tirol

Atsinganos (Die Unberührbaren)

Ein wichtiges Buch, ein berührendes Buch, ein großartiges Buch, ein gut geschriebenes Buch. Gerade durch seine Einfachheit und Schlichtheit; ohne jedes Pathos, obwohl es vom Leiden handelt, von der Stigmatisierung einer Menschengruppe, von Menschen, die vom nationalsozialistischen Rassenwahn zu „Untermenschen“, ja zu „Ungeziefer“ erklärt wurden, von burgenländischen Österreichern, von seit Jahrhunderten im Burgenland ansässigen Roma.

Ein Buch, in dem die schrecklichen Leidenstragödien bei den wenigen Überlebenden des auch an den Roma und Sinti verübten nationalsozialistischen Völkermordes, streiflichtartig erhellt, für kurze Zeit aufleuchten. Sie werden anhand von Einzelschicksalen der Überlebenden (von ca. 360 Personen nur ein Dutzend) aus der ehemaligen Oberwarter Roma-Siedlung geschildert, deren Familien systematisch ermordet worden waren. Dennoch sind diese Überlebenden in ihre Heimat zurückgekehrt, wo sie dann wiederum jahrzehntelang so wie vorher „ausgegrenzt“, d.h. gedemütigt, verachtet, entwertet, unerwünscht abgeschoben wurden, an den Stadtrand. Neben der rauchenden und stinkenden Mülldeponie, in miserablen Unterkünften mußten sie hausen, im sozialen Ghetto, im Elendsquartier, im Niemandsland; in einem neuerlichen harten und demütigenden Überlebenskampf. Das ist die Schuld des Mehrheitsvolkes, der Bevölkerung, der Stadt Oberwart, des Burgenlandes, der Regierung, überhaupt jene der Republik Österreich.

Ein Erinnerungsbuch, ein Gedenkbuch; in liebevollem Verbundensein mit dem eigenen Volk geschrieben. Das Buch eines zutiefst Betroffenen, auch durch den gewaltsamen Tod seines Sohnes infolge des Bombenattentats vom 4. Februar 1995. Die Großeltern samt ihren Geschwistern, Verwandten, Freunden waren in den Konzentrationslagern ermordet worden, der Vater hatte sechs Jahre in verschiedenen KZ überlebt. Alle Zurückgekehrten waren lebenslang Opfer der rassistischen Unmenschlichkeit und der erlittenen Leiden. Sie waren von schwersten Traumata aus ihrer KZ-Zeit stigmatisiert. Und das bestimmte ihr weiteres Leben. Da ist das, was mit dem Wort „Wiedergutmachung“ alles an Verlogenheit abdeckt wird, eine einzige Verhöhnung. Und jene, die einst beim Abtransport der etwa 360 Roma aus der Oberwarter Roma-Siedlung unter fanatischen „Heil-Hitler!-Rufen“ geklatscht und die Roma angespuckt hatten, die saßen „nachher“ noch immer genauso wohlbestallt und unbehelligt in ihren Häusern, in ihren Ämtern, an ihren Schreibtischen, an ihrem Arbeitsplatz; sie alle waren hochangesehene Bürger dieser Stadt. So wie das überall war. Der Krieg war zwar verloren, Millionen waren in den KZ umgebracht worden, aber das Nazi-Gedankengut und der Rassismus hatten überlebt und verbreiteten sich weiterhin wieder. Nein, ein neues Österreich wurde nicht aufgebaut, ein neues Österreich ist nicht entstanden, das gibt es bis heute nicht.

Das sind jetzt meine Gedanken, das ist mein Urteil. Der Buchautor spricht nicht direkt davon, er klagt nicht an, nein, er läßt diese Bitterkeit nur zwischen den Zeilen durchschimmern, sie kommt aber hoch, sie ist da in ihm, auch als Verstörung. Aber er rechnet nicht ab und keine Schuld auf. Er zeigt jedoch an den Einzelschicksalen und deshalb umso eindringlicher und berührender auf, wie dieses Ineinanderverwobensein von NS-Ideologie und gewöhnlichem Alltagsrassismus – im konkreten Fall gegen “die dreckigen Zigeuner, die der Hitler vergessen hat zu vergasen“ (so eine Stimme aus der Nachkriegszeit) – weiter bestand; und den Nährboden aufbereitete, auf dem dann die Briefbombenattentate eines Franz Fuchs geschehen konnten. Und doch erstarrt der Autor nicht in Verbitterung, sondern schreibt dieses Buch und ruft darin auf zur Versöhnung, weil er selbst ein bewundernswerter Versöhnungsmensch ist.


Genre: Erinnerungen

Der private Abendtisch

Mari, eine Frau um die Vierzig, als Einzelkind aus einer ordentlichen, bürgerlichen Familie – Vater Lehrer, Mutter Hausfrau, stammend, eigensinnig, eigenwillig, eigenbestimmt, extravagant, außergewöhnlich, geht ihren eigenen Weg, ihren Lebensweg. Der wird an einem dramatischen Wendepunkt ausschnitthaft in einzelnen Sequenzen, schlaglichtartig beleuchtet, in achtunddreißig kurzen Kapiteln erzählt.

Mit siebzehn Jahren Schulabbruch. Sie reist ihrem ersten, älteren Geliebten, für den sie nur ein Stück Jugend ist, nach Rom nach. Dort lernt sie kochen, wie eine römische Mamma, das heißt: Einfaches köstlich und raffiniert. Das ist das Einzige, was sie wirklich gelernt hat und kann, das wird zu ihrer Lebensgrundlage. Sie betreibt mit ihrer Freundin Vera den „Privaten Abendtisch“, dreimal die Woche. Mari kocht, Vera kümmert sich um die Getränke. So hat sie es sich eingerichtet im Leben; nach jahrelangem Herumziehen mit ihrem Mann Björn, einem egomanischen Musiker. Man lebt getrennt. Sie mit ihren halberwachsenen Kindern, den beiden Zwillingen Max und Mimi im Haus von Björn. Der zieht weiter herum, mit seiner Band und seinen Weibergeschichten. Auch Mari hat (gerne) ihre wechselnden Liebhaber als Abwechslung im stets gleichen und doch so aufreibenden Alltag. Das Leben verläuft so dahin.

Bis plötzlich eines Tages die Würgeanfälle kommen, unerklärbar woher und warum; und mit ihnen die unerträgliche Angst davor. Und die Angst vor dem Ersticken dabei. Nein, sie gehen nicht einfach so vorbei, im Gegenteil, sie werden häufiger, intensiver, bringen das gewohnte Leben aus dem (scheinbaren) Gleichgewicht. Eine Psychoanalytikerin und Psychotherapeutin geht der Sache nach und ihr auf den Grund. Ergebnis: Kindesmißbrauch im frühesten Alter, im Babyalter, durch den eigenen Vater, für den Mari eine Totalversagerin ist. Unglaublich: ein solcher Inzest. Babyfick-Oralbefriedigung am eigenen Kind. Eine Ungeheuerlichkeit. Davon gibt es auch kein Kindheitserinnerungsbild; nein, noch zu früh geschah „das/es“. Aber der Körper hat sich eben aus irgend einem Grund plötzlich oder sich an den Abgrund annähernd, erinnert; und darauf reagiert: mit den unerträglichen Würgeanfällen. Nun ist alles aufgedeckt. Wie lebt man weiter? Die Kinder sind beim Großvater auf Urlaub. Kommen heim. Wie sagt man ihnen, was los ist; muß/soll man es ihnen sagen? Der eigene Vater! Ihr Großvater! Den man trotz seiner unerträglichen Überheblichkeit und Schulmeisterhaftigkeit doch irgendwie geliebt hat. Liebe schlägt in Haß um. Nein: Gleichgültigkeit. Dieser Vater ist jetzt für sie gestorben; die Mutter sowieso schon wirklich. Ich spucke auf ihr Grab, denkt Mari, tut es aber doch nicht. Frage am Grab: Hast du was davon bemerkt, etwa gar weggeschaut? Wer fickt noch alles seine Babys? Alles Babyficker, die da herumstehen, am Busbahnhof, in Kaufhäusern, sonstwo. Eine verfickte Babyfickerwelt Und da soll man denen noch ihr Essen kochen und servieren, damit man irgendwie Geld verdient und über die Runden kommt. Wie konfrontiert man den Vater damit, daß man es nun weiß, sein Geheimnis, das was einen fürs ganze Leben stigmatisiert hat, von dessen Stigmatisierung der Körper wußte und das man nun als erwachsene Frau mit Gewißheit weiß? Nein, Reden kommt nicht mehr infrage. Mari schreibt einen Brief, kurz, knapp: Ich weiß nun, was Du getan und mir angetan hast. Vom Vater keine Antwort. Weder Abstreiten noch Entschuldigung. Auf eine solche wartet Mari. Oder doch nicht wirklich. Denn sie kennt ihren Vater, den Herrn Lehrer. Nein, keine Konfrontation, keine Aussprache, Versöhnung ist sowieso nicht möglich. Nur: Überleben!

Aber auch das wäre nicht möglich, wenn es nicht Anton gäbe in ihrem Leben , jetzt, gerade zur richtigen Zeit. Anton, der kein Liebhaber ist, sondern ein liebevoller Freund, der zum Lebensgefährten wird, schon geworden ist. Anton, der sich wirklich um sie kümmert, sie nicht sexuell ausbeutet als Gelegenheitsfick. Nein, Anton ist endlich der Mann, der sie liebt. Und dann gibt es natürlich noch die beiden Kinder, die jetzt aber schon – sie haben sogar beide gerade maturiert – ihr eigenes Leben leben. Aber kaum daß man überlebt hat, geschieht eine weitere Katastrophe: Vera, die einzige wirkliche Freundin, mit der Mari jahrelang gearbeitet und die an ihrem Leben teilgenommen hat, bringt sich um, einfach so, unbegreiflicherweise. Immer war sie für Mari da, aufgeschlossen, in sich selber verschlossen; daß sie einen Sohn hatte, blieb ihr Geheimnis; von wem bleibt ungewiß. Und da stehen sie nun zur Verabschiedung vor dem Sarg, bevor der abfährt in den Verbrennungsofen. Alle stumm. Acht Menschen, die nichts zu sagen haben, nicht sagen können in einer solchen Abschiedssituation. Was sollte man einem toten Menschen, einem Leichnam denn auch sagen können, ohne daß es abgeschmackt klingt, Bruchstück einer nicht zelebrierter Zeremonie. Dann geht man zum Leichenschmaus. Niemand ißt was. Alle trinken nur, zu viel. Auf Vera! So endet dieser Lebensabschnitt in Maris Leben, in Trauer und Tod. Aber doch auch mit einem hoffnungsvollen Lichtblick: Anton und Mari brechen auf in ein neues Leben, in ihr Leben, lassen alles Bisherige hinter sich, beginnen ein neues Leben, irgendwie, aber jedenfalls zusammen, in einem kleinen Haus. „Für mich klingt das eher nach Bruchbude“, meint Mimi. „Keine Bruchbude“ erwidert Mari; und fügt hinzu: „ganz und gar nicht, die innere Architektur ist intakt“. „Und darin willst du leben?“ – fragt Mimi. Und Marie sagt lächelnd: „Ja“.

So endet der Text in diesem Buch, das Tabuisiertes aufzeigt, nichts verschweigt, das ergreift, berührt, provoziert, das unsentimental und unromantisch ist, die Dinge beim Namen nennt, das schonungslos ist, stellenweise erschüttert, gerade durch die lapidare aber präzise Darstellung des Abgründigen. Ein Buch, das von der Wirklichkeit spricht, in der die Wahrheit, die Wirklichkeit stets hinterfragend und sie sezierend, gesucht und in ihr gefunden wird. Ein Buch, das als ein wichtiges und hervorragend geschriebenes in die österreichische Literaturlandschaft gehört; so wie die eigenwillige jenische Autorin Simone Schönett.


Genre: Frauenliteratur
Illustrated by Verlag Johannes Heyn Klagenfurt / Österreich

Adieu Atlantis

Valentina Freimane führte ein Leben, in dem es keinen Mangel an historischen Katastrophen gab. Die Theater-,Film- und Kunstwissenschaftlerin wurde 1922 in Riga in eine lettisch-jüdische Familie hineingeboren und ist heute eine der letzten Überlebenden des Holocaust im Baltikum.
Adieu Atlantis  
 Ihre Familie war eine der Kunst und Kultur zugeneigte kosmopolitische, wie es sie heute kaum mehr gibt. In ihrer frühen Kindheit pendelte sie mit ihren Eltern zwischen Riga, Paris und Berlin, in der über ganz Europa verteilten Großfamilie werden die verschiedensten Sprachen gesprochen. In Berlin bekleidete ihr Vater die exponierte Stelle des Rechtsberaters der UFA, man residierte nahe des Kurfürstendamms, frühe Stars der erwachenden Leinwandkunst, Regisseure und Schriftsteller waren ständige Gäste der Familie. Das große Vorbild der damals kleinen Valentina war der Filmstar Anny Ondra.

Mit diesen unbeschwerten Erinnerungen beginnen ihre Memoiren. In Adieu Atlantis blickt Valentina Freimane zurück auf den ersten Teil ihres Lebens. Auf die unbeschwerten, von kultureller Großzügigkeit geprägten Jahre folgten Jugendjahre in Riga, in denen sie die dreifache Okkupation des Baltikums – zunächst durch die noch junge Sowjetunion, dann durch den Einzug der deutschen Wehrmacht und schließlich wieder durch die Rückkehr der Sowjets – durchlitt. Sie verlor ihre Eltern, ihren Ehemann und fast alle weiteren Verwandten. Valentina Freimane selbst fand an verschiedenen Orten Unterschlupf, unter anderem beim Minderheitenpolitiker und Journalisten Paul Schiemann, der im Gegensatz zu den meisten Deutschbalten nicht umgesiedelt war und der ihr während dieser Zeit seine Memoiren diktierte.

Zunächst aus der Perspektive des unbeschwerten, von allen Seiten geliebten Kindes, später dann aus der Sicht der jungen Frau läßt sie für den Leser in Adieu Atlantis ein spannendes Zeitgemälde entstehen. Ihre Erinnerungen sind ein Zeugnis einer untergegangen Welt, eines versunkenen Atlantis, das bisher in den Geschichtsbüchern wenig Würdigung erfuhr und gerade in unseren Breiten weitgehend unbekannt ist. Daneben sind es auch die Erinnerungen an die ihr Schutz gewährenden Menschen, die einen breiten Raum in ihren Erinnerungen einnehmen und denen sie damit eindrucksvoll Reminiszenz erweist.

Die Lebensgeschichte Valent?na Freimanes ist eng mit der Geschichte nicht nur Europas, sondern vor allem auch mit der Lettlands verknüpft und eröffnet einen vielschichtigen Blick auf diese Zeit. In der Tat ist es ja so, dass nicht nur immer weniger Zeitzeugen unter uns leben, die noch authentisch von dieser Zeit erzählen können, sondern gerade auch die damaligen Lebenswirklichkeiten im Baltikum und vor allem die der dort lebenden Juden hierzulande weitgehend unerzählt sind. Valentina Freimane schließt eine Lücke und macht nicht zuletzt dadurch Adieu Atlantis so lesenswert.

Zu Beginn ihrer Erzählungen meint man, ein osteuropäisches Pendant zu den Buddenbrooks vor Augen zu haben. Lebhaft und bildgewaltig erzählt sie vom Glanz vergangener Zeiten, von einem der klassischen Bildung verpflichteten Haushalt. Später dann ändert sich das Bild, wenn sie von der sich unerwartet schnell verändernden Lebenswelt der baltischen Juden, von ihrem lange gehegten Irrtum, durch die lettische Staatsbürgerschaft geschützt zu sein und schließlich vom Untergang einer Hochkultur erzählt. Darüber hinaus aber zeigt das Buch auch – losgelöst vom historischen Kontext – die Wichtigkeit einer Erziehung, in der Kindern Selbstvertrauen und Möglichkeiten zur freien Entfaltung gegeben wird.

Ihr Buch ist wie ein direktes Gespräch mit einem Zeitzeugen. Freimane ist nicht die größte Schriftstellerin, das gibt sie selbst unumwunden zu. Manchmal strengen ihre Erinnerungen arg an, es fehlt ein wenig an Stringenz und Struktur. Andererseits ist es gerade dies, was ihre Erzählungen so authentisch und wertvoll macht. Es ist, als höre man einer alten Dame zu, die in ihrem Sessel sitzend plaudernd vom Einen zum Nächsten kommt. Es ist wahrhaftig, auch charmant, aber es ist auch streckenweise schwer zu lesen.

Ihre Erinnerungen sind geprägt von Selbstvertrauen, dazu bemüht sie sich sichtlich, ohne Bitterkeit zurückzuschauen. Auch wenn sie aus der Perspektive des Kindes erzählt, Sachlichkeit, dem Leser die Möglichkeit eigener Urteilsfindung zu geben, ist ihr wichtig. Dabei ist ihr allerdings auch jederzeit bewußt, dass sie ihr Leben sehr privilegiert begonnen hat und ihr das auch so anerzogen wurde. Bei allem durchlebten Leid hat sie diese Attitude bis heute nicht abstreifen können. Sie weiß, dass sie kein Durchschnittsleben gelebt hat und ist stolz darauf. Ab und an kommt es dem Leser so vor, dass sie diese Besonderheit einmal zu oft und zu gerne herausstellt. Aber sei es drum. Es wurde Zeit, dass auch dieser Teil des Holocaust einmal erzählt wurde. Er ist es ebenso wie alle anderen, wesentlich besser dokumentierten Teilbereiche, wert erzählt zu werden. Freimanes Memoiren sind spät erschienen, aber sicher nicht zu spät.

Man kommt während der Lektüre nicht umhin zu denken, wie traurig es ist, dass diese Welt versunken ist. Was könnte Lettland heute für ein einzigartiges Land sein, wie sehr war es damals multikulturell geprägt! Auf ihre Art nimmt Valentina Freimanes Buch eine Art Vermittlerposition ein. Zu oft werden die Erinnungen an diese Zeit von strikter antifaschistischer Erinnungskultur auf der einen und antibolschewistischer auf der anderer Seite geprägt. Adieu Atlantis ist auch ein Aufruf für Toleranz und Demokratie auf allen Seiten. In der gegenwärtigen Zeit wiederaufkeimender Verfeindung der Ideologien, namentlich in der Debatte über die Ukraine-Krise, könnten ihre Erinnerungen, so sie denn gehört werden, eine Brücke zwischen gegensätzlichen Weltanschauungen bauen. Und schon alleine deshalb sei dem Buch seine kleinen Schwächen verziehen und das Fazit gezogen: lesenswert und aller Ehren wert.

Adieu Atlantis endet 1945. Aber auch nach dem Zweiten Weltkrieg hatte Valentina Freimane es als überlebende Jüdin großbürgerlicher Herkunft nicht leicht in der Sowjetunion. Dennoch machte sie eine bemerkenswerte Karriere. Als promovierte Kunstgeschichtlerin arbeitete sie an der Lettischen Akadiemie der Wissenschaften. Ihre Verbindungen und Beziehungen ermöglichten es ihr, eine ihrer großen Leidenschaften, das Kino, mit ihren Studenten zu teilen und Filme aus den Teilen der Welt zu beschaffen, die sonst in der Sowjetunion nicht gezeigt wurden. Viele verehren sie bis heute für das von ihr so geschaffene Fenster zu einer ansonsten abgeschnittenen Welt. Bis heute lebt sie sowohl in Riga als auch immer wieder in Berlin.

Diskussion dieser Rezension im Blog der Literaturzeitschrift.de 


Genre: Biographien, Memoiren, Briefe
Illustrated by Wallstein Göttingen

Labyrinth Tokio

Wer Japans Hauptstadt Tokio bereits im Titel seines Führers ein »Labyrinth« nennt, weiß, wovon er spricht. Tatsächlich gilt es immer noch als Abenteuer, sich individuell und ohne Sprachkenntnisse in der 13-Millionen-Metropole zu bewegen. Häufig fehlen Straßennamen, das Hausnummern-System gleicht höherer Mathematik und ist oft in der Reihenfolge der Bauanträge geordnet. Taxifahrer kennen sich nur grob aus, und zu allem Überfluss ist Englisch für viele Japaner ein Buch mit sieben Siegeln.

Dennoch wagt es Axel Schwab, seinen Leser in das Tokio zwischen Mythos und Moderne zu locken. Er liefert dazu keinen Reiseführer im klassischen Gewand. Der Autor schlägt vielmehr 29 Touren im Zentrum und weitere neun in der näheren Umgebung vor, die auch die Sehenswürdigkeiten umfassen.

Besonderer Pfiff des Buches sind zweisprachig gehaltene Kartenausschnitte von den jeweiligen Routen. Einige davon sind mit QR-Codes ausgestattet. Mit einem Smartphone lassen sich diese Pixelkästchen entschlüsseln und führen zu detaillierten Online-Straßenkarten.

Axel Schwab hat jahrelang in Tokio gelebt und als Ingenieur für einen Automobilhersteller gearbeitet. Er arbeitet ständig an der Weiterentwicklung seines sorgfältig erstellten Vademecums, das mit 90 Fotos, 42 Karten, 260 Internet-Links und 20 Online-Karten lockt. Darüber hinaus ist der Verfasser für interessierte Leser per E-Mail erreichbar.

Derart gut ausgerüstet verfügt der Leser mit dem Buch über einen Ariadnefaden, mit der er das Layrinth Tokio betreten und sicher wieder herausfinden kann.


Genre: Reisen
Illustrated by BoD Norderstedt

Rotbartsaga. Die Abenteuer eines legendären Schiffskaters

Im Mittelpunkt des literarischen Schaffens von Journalist, Online-Redakteur, Buchautor und Blogger Wolfgang Schwerdt steht seine ausgeprägte Vorliebe für Samtpfoten. Gern gelesen habe ich Schwerdts Bücher »Die Schwarzbärflotte. Wahre Geschichten über seefahrende Katzen« und »Die Abenteuer des legendären Schiffskaters Rotbart«. Doch wer hätte geahnt, dass gerade aus letzterem Werk ein umfangreiches literarisches Projekt erwächst, das die Kraft des Autors inzwischen in vollem Umfang fordert?

Schwerdt arbeitet nämlich daran, sämtliche Reisen von Rotbart aufzuzeichnen und taucht dazu tief in die oft ereignisreiche Geschichte der Seefahrt ein. Die Abenteuer des legendären Schiffskaters spielen in einer Zeit, als die noch kaum richtig entdeckte »neue« Welt bereits zwischen den europäischen Handelsmächten hart umkämpft war.

Geplant sind fünf Bände über die Seereisen des Schnurrbärtigen, der vorliegende erste Band bezieht sich sowohl auf die Story, wie Rotbart zum Schiffskater wurde, als auch auf die Entdeckung der Rotbartgeschichte selbst. Dieser Einstieg in die Geschichte macht – in der klassischen Papierausgabe – zugleich deutlich, was der eigentliche Pfiff des Projekts ist: Der Autor baute zahlreiche QR-Codes in den laufenden Text ein, mit dem der Leser mit seinem Smartphone sofort auf verlinktes Hintergrundwissen im Internet zugreifen kann.

Diese zusätzlichen Möglichkeiten sind für den Lauf der Handlung keinesfalls zwingend. Sie erlauben aber, sich bei Interesse sehr viel tiefer in den Hintergrund und die Welt der Seefahrt einzuarbeiten. Hinter den Pixelkästchen verbergen sich Links zu sorgfältig ausgesuchten Sachartikeln, Museumsvideos oder unterhaltsamen und informativen Geschichtsmagazinen seriöser wissenschaftlicher Institutionen, die als eine Art hochwertiger Zusatznutzen abgerufen werden können.

Neben einer spannenden Geschichte, die in einem kleinen Gasthof in Hessen beginnt, wo eine geheimnisvolle Karte auftaucht, erhält der Leser damit Zugriff auf eine Datenbank des Wissens, die ihn umfassend in die Welt entführt, die Schiffskater Robert bereist. SmartConEnt-Konzept nennt Wolfgang Schwerdt diese Art des neuen Lesens, die das reine Lesevergnügen keinen Augenblick lang beschwert. Denn die Rotbartsaga ist in erster Linie ein historischer Katzenroman, der voller humoriger wie abenteuerlicher Ereignisse steckt, die das Lesen zum Vergnügen machen.


Genre: Historischer Roman
Illustrated by CreateSpace Independent Publishing Platform

Handbuch für Autorinnen und Autoren

Sandra Uschtrin ist ein Urgestein in der deutschen Verlagslandschaft. Seit 30 Jahren hat sie sich die Fort- und Weiterbildung von Autoren auf die Fahnen geschrieben. 1985 erschien – damals noch im Grafenstein-Verlag – ihr erstes Handbuch, das sich dem Berufsfeld des Autors widmete. Damals stand sie ganz allein auf weiter Flur. Von einigen Zuschussverlagen abgesehen gab es niemanden, der sich für den Nachwuchs interessierte und ihn als Zielgruppe erkannte.

Drei Jahrzehnte später legt die agile Publizistin, die außerdem noch das zweimonatliche, 1998 von Titus Müller gegründete Fachmagazin »Federwelt« herausgibt, die inzwischen achte Ausgabe ihres viel gerühmten Handbuchs vor. Inzwischen steht sie längst nicht mehr allein auf dem Markt der Ratgeber für Autoren. Es herrscht vielmehr ein reger Wettbewerb zwischen Verfassern mehr oder weniger nützlicher Nachschlagewerke und Ratgeber für jeden, der schreibt. Außerdem hat sich der Markt vollkommen geändert. Denn mit der Einführung der E-Book-Plattform Kindle Desktop Publishing (KDP) durch die Firma Amazon ist eine Heerschar Self-Publisher an den Start gegangen, die hungrig nach Hilfestellungen für die Vermarktung der eigenen Bücher sucht und jede greifbare Information aufsaugt.

Tief in das Dickicht der geheimnisvollen Verlagswelt schlägt die nunmehr achte völlig überarbeitete und erweiterte Auflage des »Handbuch für Autorinnen und Autoren« eine Schneise und bietet Orientierung. Dabei entspricht der Aufbau der 700 Seiten starken Bibel den Veränderungen des Marktes. Der Band startet mit dem Thema »Self-Publishing und Marketing« und kommt erst ganz zum Schluss zu dem Bereich, der früher den Einstieg ins Handbuch darstellte: den Verlagen. Das ist konsequent, schließlich lautet heute nicht mehr die entscheidende Frage, wie ein Neueinsteiger einen Verlag für sein Manuskript findet. Die Frage ist vielmehr, ob das Werk selbst herausgegeben oder in die Hände Dritter gelegt wird. Die Torhüterfunktion der Verlage alter Prägung ist Geschichte. Autoren entscheiden inzwischen selbst, wann, wo und in welcher Form sie ihre Werke publizieren.

Um diese Veröffentlichung möglichst professionell im Buchmarkt zu positionieren, spielt das Marketing eine entscheidende Rolle. Vom Lektorat über die Umschlaggestaltung, von der Bedeutung der eigenen Online-Aktivitäten über das Autorenporträt, von der Entscheidung, eine PR-Agentur zu beauftragen und dem richtigen Umgang mit Rezensenten, Bloggern und Literaturagenten – es gibt kein Thema, das in dem Handbuch nicht ausführlich behandelt wird. Aber auch Spezialgebiete wie das Verfassen von Heftromanen, das Schreiben fürs Theater, die Produktion von Hörspielen und das Drehbuchschreiben für TV-Serien werden in eigenen Kapiteln ausführlich dargestellt.

Herzstück der der neuen Ausgabe aber ist ein umfangreicher Kommentar zum neuen Normvertrag für den Abschluss von Verlagsverträgen. Ein Anwalt erklärt, worauf geachtet werden sollte, wenn ein Verlagsvertrag abgeschlossen wird und welche Verhandlungsspielräume es gibt. Allein diese Ausführungen lohnen die Anschaffung des Standardwerkes, gilt es doch, bereits im Vorfeld von Entscheidungen mögliche Fehler zu vermeiden.

Sandra Uschtrin weiß, dass es eine Gratwanderung ist, ein Handbuch für Autoren zu schreiben. Dabei ist sie zuversichtlich und erhöht, nachdem die letzte Ausgabe nahezu vergriffen ist, die Auflage für die vorliegende Ausgabe auf 8.000 Exemplare. Inhaltliche Qualität, sorgfältigste redaktionelle Aufbereitung und eine gediegene Aufmachung werden dafür sorgen, dass der Band geschwinde Verbreitung in den Kreisen der Wortschaffenden finden wird.


Genre: Ratgeber
Illustrated by Uschtrin München

ABC der Verlagssprache

Der Titel dieses großartigen Nachschlagewerks ist vornehmes Understatement pur, denn es wird weit mehr geboten als das mitunter etwas trockene Fachchinesisch der Verlagssprache und damit ist die Lektüre nicht nur lehrreich, sondern zudem durchaus unterhaltsam; dafür bürgt der Name des Autors.

Erklärt werden neben der Geheimsprache der Verlage Begriffe aus dem Handwerk des Buchdruckens und –bindens, unterschiedliche Papierarten, Feinheiten der Sprache und Grammatik, diverse Lyrik- und Prosaformen und natürlich alles aus den Bereichen Elektronik und E-Publishing, Frielings aktuell bevorzugte Tummelplätze. Wer also neugierig ist, was sich z.B. hinter »Drelfie«, »Ebarbieren« und »Elefantenrüssel« verbirgt, wird hier rasch fündig.

Das Werk ist als Taschenbuch und E-Book verfügbar, letzteres bietet neben dem geringeren Preis den weiteren Vorteil, dass man dank der komfortablen Verlinkung zielsicher zwischen den verschiedenen Begriffen hin- und herspringen kann; die Möglichkeiten moderner Technik sind hier voll ausgeschöpft.

Kaum jemand ist wohl kompetenter und prädestinierter für die Veröffentlichung eines solchen Lexikons als Rupi Frieling, der sämtliche Formen des Schreibens und Publizierens nicht nur von der Pike auf gelernt, sondern während seines gesamten Berufslebens auch praktiziert hat. Das Werk reiht sich nahtlos ein in die lange Linie seiner Bücher für Autoren und ist nicht nur für Self Publisher unverzichtbar.


Genre: Lexika und Nachschlagewerke
Illustrated by Internet-Buchverlag Berlin

Lady Cardington und ihr Gärtner

Der Titel »Lady Carington und ihr Gärtner« erinnerte mich anfangs an »Lady Chatterley’s Lover« aus dem Jahre 1928. Der Roman von D. H. Lawrence wurde vor allem wegen seiner erotischen Szenen berühmt, in den USA als »obszön« verboten und auch von Deutschlands Katholiken unterdrückt. Kolars Roman ist jedoch anders. Weiterlesen


Genre: Liebesroman, Romane
Illustrated by Kindle Edition

Nie ohne Geister

Die Kneipe, die Renate Hupfeld in der ersten Geschichte dieses Bandes schildert, kommt mir bekannt vor: In jungen Jahren besuchte ich gern den »Star-Club« in Bielefelds Jöllenbecker Straße. Dessen Eigenheit bestand daran, dass direkt neben dem Lokal ein Friedhof lag, auf den sich der eine oder andere Zecher verirrte, um alsbald schreckensbleich und ernüchtert wieder zurückzukehren. Nun weiß ich nicht, ob die Autorin eben diesen Ort vor Augen hatte, als sie ihre Erzählung zu Papier brachte, aber es wäre durchaus möglich. Denn auch Jimmys Kneipe mit dem eindrucksvollen Namen »Totenschlucht« ist ein Tanzschuppen, der am Ende eines Gottesackers liegt. Hier treffen sich die Herren der Umgebung, um die kleinen schnuckeligen Tanzgeister abzuschießen, die sich zum Schwofen einfinden.

Siggi ist einer von ihnen, der sich von einer Frau mit pechschwarzen Haaren magisch angezogen fühlt. Doch als sie dann zur Geisterstunde miteinander tanzen, möchte er am liebsten fliehen. Sie quatscht ihn voll, sei ihm angeblich schon in einem früheren Leben begegnet. Außerdem ist die grell geschminkte Dame recht dürr, Siggi hat gar den Eindruck, mit einem Gerippe zu tanzen. Er ist froh, sie endlich wieder an ihren Tisch bringen zu können und stürzt ins Freie, um frische Luft zu schnappen. Dabei landet er auf dem benachbarten Friedhof. Ein unheimlicher Gesang lockt ihn an, und plötzlich schwebt ihm auch schon seine kuriose Tanzpartnerin zwischen den Gräbern entgegen …

Die unheimliche Tänzerin und andere Gespenster geistern durch die Geschichten, die Renate Hupfeld erzählt. Da ist von Wiedergängern, Trollen und Feen die Rede, die ihr Unwesen treiben und die Lebenden irritieren.

In der Erzählung »Eispalast« geht es beispielsweise um die Nahtoderfahrung einer Abfahrtsläuferin, die mit ihrem Sohn in eine Nebelbank gerät und in das Reich der Eismonster eintritt. Mit letzter Willenskraft kann sie sich aus der Finsternis, die sie umfängt, losreißen und mit ihrem Jungen ins Leben zurückkehren.

Dass die Autorin ein Faible für Zwischenwesen hat, weiß ich bereits aus ihrer Story-Sammlung »Hammfiction«. Hier las ich erstmals vom »Hammamunga«, einem Geschöpf, das sich das westfälische Hamm als Lebensraum gewählt hat. Auch diese Geschichte ist in diesem Band zu finden, so dass »Nie ohne Geister« Lust macht, auch die anderen Bücher von Renate Hupfeld zu durchstöbern.


Genre: Kurzgeschichten und Erzählungen
Illustrated by Kindle Edition

Und Johnny zog in den Krieg

Nach den ersten Seiten blättere ich irritiert zurück, das Lesen fällt mir aufgrund fehlender Satzzeichen im ersten Moment schwer. Ist dieses Buch vielleicht keinem Korrektor begegnet? Hasst der Verlag Kommata? Oder hat der Verzicht auf Interpunktion, von Satzschlußzeichen einmal abgesehen, Methode?

Eine Rückfrage beim Verlag klärt auf: Dalton Trumbo, der Verfasser des Werkes, setzte in seinem Original die fehlende Interpunktion als bewusstes Stilmittel ein, und die Herausgeber der deutschen Übersetzung wollen diesem entsprechen. Und tatsächlich geht es recht schnell, bis ich in einen permanenten Gedankenfluss eintauche, der von dem US-Autor ausgebreitet wird. Wie ein Mahlstrom zieht mich der ungewöhnliche Text tief in das unheimliche Grauen, das seinen Er-Erzähler umgibt.

Aus dieser ungewöhnlichen literarischen Erzählperspektive belichtet Trumbo nämlich einen grausigen Film: Johnny Bonham, ein blutjunger amerikanischer Soldat, der in den Krieg gelockt wurde, erwacht in einem Krankenhaus. Nach und nach realisiert er, dass ihm Arme und Beine amputiert wurde, dass er taub ist und sein halber Kopf weggesprengt wurde. Er vegitiert als Torso und fühlt sich bald wie ein Embryo im Mutterleib – Felix Gebhart hat es anschaulich in der Titelvignette gezeichnet. Der Mann, der bewegungsunfähig auf seinem Krankenbett liegt, kommt sich vor, als sei er als ausgewachsener Mensch wieder in den Mutterleib zurückgestopft worden. Doch anders als ein Kind, das ins Leben wächst und eines Tages den Kokon in die Freiheit verlassen darf, wird ihm diese Freiheit nie mehr vergönnt sein. Er ist für den Rest seines Lebens ans Bett gekettet!

Lediglich Erinnerungen sind ihm geblieben, und so blendet er in Analepsen nach und nach Szenen aus dem Leben eines glücklichen jungen Mannes ein, der in den Krieg zog, um zweifelhafte Werte und Freiheiten zu verteidigen, die nicht die eigenen waren. Als hätte er einen zweifelhaften Lotteriegewinn gezogen, zählt er jedoch nicht zu den Millionen Opfern, die auf dem Schlachtfeld blieben. Er hat überlebt, und doch ist sein Leben vorüber. Irgendwo in seinem Bauch steckt ein Schlauch, der ihn mit Nahrung versorgt. Lediglich sein Bewusstsein ist noch vorhanden und aktiv, obwohl das niemand registriert. Sein Körper ist unfähig, mit seiner Umwelt zu kommunizieren, und er spürt nur am Vibirieren des Bettes, wann sich eine Pflegerin nähert, um seinen jämmerlichen Rest zu waschen und seine Stümpfe zu versorgen.

Drei Jahre oder noch länger versucht er, anhand der wenigen Möglichkeiten, die ihm seine eingeschränkte Wahrnehmung erlaubt, die Nacht vom Tag zu unterscheiden, den Stand der Sonne zu erkunden, die unterschiedlichen Schwestern zu erkennen. Er spürt, dass ihm im Nebel seines Zustandes ein schwerer Orden an die Brust geheftet wird und möchte am liebsten laut herausschreien, dass ihm nicht einmal die Freiheit der Entscheidung zugebilligt wird, das Blech aus dem Fenster zu werfen.

Als er schließlich eine besonders feinfühlige Schwester erspürt, nimmt er mit ihr Kontakt auf, indem er mit seinem Hinterkopf Morsezeichen auf das Kopfkissen klopft. Tatsächlich versteht sie sein Bemühen und mit Hilfe eines Funkers kann er sich mühsam äussern. Johnny schlägt den Ärzten im Funkkontakt vor, seinen verstümmelten Körper als Mahnmal gegen den Krieg auszustellen. So gewänne sein Leben einen Sinn. Doch das verstößt gegen die »Vorschriften« und sicherlich auch gegen alles, was Kriegstreiber und Militärs für wertig halten. Sein Vorschlag wird abgelehnt.

Dalton Trumbos Anti-Kriegsroman ist neben seiner stilistischen Kunstfertigkeit schon aus dem Grund wichtig, weil die Generationen, die den letzten Krieg überleben durften, inzwischen nahezu ausgestorben sind. Dies mag auch einer der Gründe sein, warum in der jüngsten Geschichte wieder viel von Krieg und Völkerschlacht die Rede ist. Dass dabei die USA, die den bekennenden Kommunisten Trumbo wegen »unamerikanischer Umtriebe« ins Gefängnis warf und ihn als gefragten Hollywood-Regisseur mit Berufsverbot belegte, wieder einmal die führende Rolle spielt, wundert wenig.

Während also die Amis A-10-Thunderbolt-Kriegs»Warzenschweine« über meinem Kopf nach Deutschland einschweben lassen, lese ich diesen Roman und schaue betroffen in die Zukunft …


Genre: Romane
Illustrated by Onkel und Onkel