West-östlicher Divan
Als «Anti-Houellebecq» hat der französische Schriftsteller Mathias Énard seinen mit dem Prix Goncourt prämierten Roman «Kompass» bezeichnet. Damit auf Houellebecqs Roman «Unterwerfung» anspielend, stellt er dessen Islamtrauma seine eigene, geradezu ehrfürchtige Perspektive auf Orient und Islam gegenüber. «In diesem Preis steckt eine Botschaft des Friedens» war Énards begeisterter Kommentar zur Preisverleihung. Und tatsächlich ist sein 2015 erschienener Roman geeignet, unser von Horrornachrichten geprägtes Bild vom Orient neu zu justieren, auch ohne dass wir dazu des titelgebenden Scherzartikels bedürfen, jenen Kompass nämlich, der dem Protagonisten von seiner Angebeteten geschenkt wurde und der durch seine trickreiche Konstruktion immer nach Osten weist.
Held des Romans ist der Musikwissenschaftler Franz Ritter aus Wien, den eine noch nicht endgültig bestätigte Diagnose seines Arztes in eine tiefe Krise stürzt. Quasi in Echtzeit erleben wir als Leser eine schlaflose Nacht des Ich-Erzählers, der sinnierend zurückblickt auf sein womöglich bald endendes Leben. Dabei rekapituliert er seine Forschungen über den Einfluss des Orients auf europäische Komponisten und die dabei gewonnenen Erkenntnisse. Seine obsessiv betriebenen Studien erfahren eine kulturelle Erweiterung in Richtung Literatur, Malerei und Architektur, als er die französische Orientalistin Sarah aus Paris kennen lernt. Immer wieder trifft er sie auf seinen Forschungsreisen, begleitet die geradezu besessene, brillante Forscherin auf Exkursionen an abgelegene historische Stätten, begegnet ihr auf Konferenzen und Kolloquien rund um den Erdball. Obwohl er die schöne Französin begehrt, bleiben seine zaghaften Annäherungsversuche erfolglos, ihre überaus innige Beziehung ist rein freundschaftlich geprägt, sie basiert auf dem gemeinsamen Faible für alles Orientalische. Erst gegen Ende des Romans kommt es in Teheran endlich doch zu einer Liebesnacht, bei diesem einen Mal bleibt es dann allerdings auch. Immer wieder bedauert Ritter bei seiner nächtlichen Grübelei seine Zaghaftigkeit ihr gegenüber, er hat es vermasselt, war nicht beherzt genug. Sarah wendet sich mit ihren Studien dem Buddhismus zu und verschwindet schließlich in ein Lamakloster, er hat sie seit Jahren nicht mehr gesehen, erkehrt nur noch schriftlich mit ihr.
Diese nur im Hintergrund des Erzählten zuweilen durchscheinende Liebesgeschichte sowie die Ungewissheit über Ritters Krankheit verleihen dem ansonsten fast handlungslosen Roman eine gewisse Spannung. Im Wesentlichen lebt der Roman von einer unglaublichen Fülle von Berichten, Erkenntnissen, Fakten, Anekdoten, Reiseerlebnissen, Inspirationen und Reflexionen über die Beeinflussung westlicher Kultur durch den Orient, wobei die Studierstube des Wissenschaftlers in Wien durchaus symbolträchtig als Tor zum Orient fungiert. Énards Material ist so umfangreich und tiefgründig, dass er viele Leser damit eindeutig überfordern dürfte. Sein Studienobjekt ist zudem derart speziell, dass man seinen fragmentarisch aneinander gereihten Erzählungen unmöglich in all die vielen Verästelungen folgen könnte. Trotz unvermeidlicher Verständnislücken also ist die Lektüre gleichwohl sehr bereichernd, nicht nur weil man, neben kaum bekannten Künstlern und Geistesgrößen des Orients, auch vielen berühmten Europäern aus Kultur und Politik begegnet und dabei unvermutet Querverbindungen entdecken kann, sondern auch, weil man en passant seinen Horizont beträchtlich erweitert, viele neue Einsichten gewinnt.
Dem Autor geht es mit seinem Roman nicht um das aktuelle Trauma im Verhältnis zum Islam, sondern um die verschiedenartigen Kräfte, die vom Okzident aus den Orient beeinflusst haben, sowie vice versa um die Rolle als Inspirationsquelle, die der Orient für den Westen gespielt hat und noch immer spielt. Insoweit ist Wien als kulturelles west-östliches Tor in beide Richtungen offen, der Roman endet denn auch beziehungsreich mit dem Wort «Hoffnung».
Fazit: erfreulich
Meine Website: http://ortaia.de
Skeptische Gelehrtensatire
»Wolfsland – erlebe das Abenteuer deines Lebens«, steht auf dem Werbeprospekt des Schullandheims, in das die 14-jährige Lou mit ihrer Klasse fährt. Der Slogan verspricht nicht zu viel, wie sich bald erweist. Im Grenzland zu Polen wird aus einer harmlosen Exkursion zu Bildungszwecken unversehens ein Kampf gegen gewissenlose Machenschaften. Und Lou ist mittendrin. Die Ereignisse überstürzen sich, als die Waise sich gegen Mobbing zur Wehr setzt und vorzeitig nach Hause geschickt werden soll. Lou reißt aus. In den einsamen Wäldern trifft sie nicht nur auf Wölfe, sondern auch auf den rätselhaften Lupo, der sich hier versteckt hält. Plötzlich befinden sie sich beide auf der Flucht – vor den Suchtrupps auf der Spur der vermissten Schülerin und vor den Wilderern, die hinter den Wölfen her sind. Wenige Tage und Nächte stellen Lous Leben auf den Kopf. Am Ende erkennt sie: Ich bin nicht allein.
2049. Die Erde ist unbewohnbar. Nur wenige haben überlebt. Ihre letzte Hoffnung liegt tief unter der Oberfläche. Im einzigen Ort, an dem sie noch sicher sind. Im Silo. Doch ihre Sicherheit hat einen hohen Preis: In den Silos wird das Leben autoritär organisiert und streng reglementiert. Und es fordert Opfer. Als ein Aufstand ausbricht, muss der Wärter Troy alle Bewohner in den sicheren Tod schicken. Doch Troy weiß mehr über die Silos, als alle vermuten …
Sam war gerade mal 13 Jahre alt, als die Wehrmacht in Polen einmarschierte. Mit der Familie lebte er in einem oberschlesischen Städtchen, der Vater war Schneider und stopfte den Leuten die Hosen. Da wurde aus dem Städtchen ein Ghetto, und Sam, der damals noch »Szlamek« hieß, war mittendrin. Er überlebte, auch den Todesmarsch nach Auschwitz, die Selektion durch Mengele, die Zwangsarbeit, den Schiffbruch auf der Cap Arcona. All das erlebte Sam in den kurzen Jahren seiner Kindheit und Jugend. Vierzehn Mal entging er dem Tod. Der Krieg ließ keine Möglichkeit, an ein Morgen zu denken. Und wen interessierte nach dem Krieg das Gestern? Am Ende seines unglaublichen Lebens gelingt es Sam Pivnik, einem der letzten Überlebenden von Auschwitz, darüber zu sprechen.
Laurent Binet gelingt mit diesem abgedrehten Wissenschaftskrimi über die siebte Sprachfunktion etwas Einzigartiges: Er führt seinen Leser mit vergnüglicher Leichtigkeit durch die hoch intellektualisierte Welt philosophischer und semantischer Theorien und entfaltet gleichzeitig einen faszinierenden Kriminalroman, in dem er raffiniert Fiktion, berühmte Zeitgenossen, Wissenschaftstheorie und Wirklichkeit vermengt. Wer glaubt, aus diesen Komponenten ließe sich kein schmackhaftes Gericht komponieren, darf sich bei der Lektüre eines Besseren belehren lassen: Der Autor beschert mit seinem witzig-satirischen Krimi ein farbenfrohes Lesevergnügen.
»Man darf als Kulturwissenschaftler nicht vor scheinbar niederen Themen und Phänomenen zurückschrecken, weil sich ein Müllmann auch nicht vor dem Müll fürchten darf.«
In einer feindlichen, zerstörten Umwelt gibt es nicht mehr viele Menschen. Sie haben sich in ein riesiges Silo unter der Erde geflüchtet. Um zu überleben, müssen sie die strengen Regeln des Silos befolgen. Aber einige Wenige tun das nicht. Sie sind gefährlich. Sie wagen es zu hoffen und zu träumen und stecken andere mit ihrer Hoffnung an. Ihre Strafe ist einfach und tödlich. Sie müssen nach draußen. Raus aus dem Silo. Juliette ist eine von ihnen. Vielleicht ist sie die Letzte.

Leuten zusammenhängt, die ein Stück Geschichte gemeinsam haben, als Katalog einer schrittweisen Ansammlung der Dinge ihres Lebens: die Arbeitsplätze und Wohnungen, die One-Night-Stands und Freundschaften und Groll, die Möbel und Kleidung, Liebhaber und Ehepartner und Häuser. Yanagihara folgt den Spuren von vier talentierten und künstlerischen Freunden von ihren gemeinsamen Collegetagen bis sie jetzt, als sie sich mit Anfang dreißig in und um New York City zu etablieren beginnen. Folgt ihrem Sex und Essen und Schlaf und Freunde und Geld und Ruhm. Es ist wie eine Studie über eine geschlossene Gesellschaft, ihre Sprache, ihre Rituale und ihre geheimen Codes.
Der deutschstämmige US–Kultautor 
Das Buch startet auf einer Freilichtbühne. „Ich weiß nicht, wie lange ich schon auf dieser Bank sitze. Seit Stunden fährt kein Zug mehr ab, kommt keiner mehr an. Ein regloser Bahnhof. Eisige Stille bis ins Mark meiner Knochen.“ (Seite 7) So beginnt die Erzählerin ihren vielschichtigen Monolog. An diesem Abend kehrt sie nicht nach Hause zurück, sondern verbringt die ganze Nacht auf dieser Bank am gare d l’est. Sie ist in einem Vakuum gelandet, aber ihr Gehirn ist in vollem Gange, bereit zur Explosion. Sie beginnt Wer ist diese Frau?
Ach was muss man oft von bösen Schlägern hören oder lesen, wie zuletzt als streitbare Anhänger des BVB Dortmund auf die Fans des Bayern-Jägers RB Leipzig losgingen. Mit seinem Romandebüt liefert Philipp Winkler nun prosaische Innenansichten dazu ab.
Martin Suter erzählt eine bezaubernde Geschichte um einen kleinen rosa Elefanten, der im Dunkeln phosphoreszierend schimmert. Dieses klitzekleine Wesen, das mit Holzscheiten statt Baumstämmen jongliert und das Herz jedes Kindes hochschlagen lassen würde, ist keine Schöpfung der Spielwarenindustrie. Es handelt sich um das Produkt geldgieriger Genmanipulateure, die an der Produktion von »glowing animals« (glühenden Tieren) arbeiten und dabei jeden Tier- und Artenschutz außer Acht lassen.