Schweigend steht der Wald

fleischhauer-1… und schüttelt den Kopf

Schon der an das berühmte Gedicht von Mathias Claudius erinnernde Titel «Schweigend steht der Wald» wirkt unheimlich und düster, Autor Wolfram Fleischhauer nutzt geschickt den darin enthaltenen Mythos für seinen Roman. Der Deutsche und sein Wald, eine literarisch immer wieder anzutreffende, ganz spezielle Beziehung, deren Ursprünge in den uralten Märchen und Sagen zu finden sind. Hier nun dient der deutsche Wald sowohl als Bühne wie auch als Hintergrund einer Geschichte, deren Verlauf an einen richtigen Krimi erinnert, obwohl Autor und Verlag es vermutlich ganz bewusst unterlassen haben, den Roman als solchen zu deklarieren.

Und so birgt die Parzelle im Privatwald, in der die 28jährige Studentin der Forstwirtschaft im Rahmen eines Praktikums Bodenproben entnimmt, denn auch prompt ein düsteres Geheimnis. Ihr Vater ist in just diesem Waldstück vor zwanzig Jahren spurlos verschwunden, ein Trauma, welches sowohl Anja als auch ihre Mutter nicht haben überwinden können. Beide leiden an den Folgen, die Mutter hat einen Selbstmordversuch unternommen, die Tochter wird psychologisch betreut, ihr gelegentlich auftretendes Asthma ist psychosomatisch. Anja findet eine von der Umgebung abweichende Bodenprobe, und in den hinterlassenen Unterlagen ihres Vaters entdeckt sie, dass auch er kurz vor seinem Verschwinden genau an dieser Stelle ein ihm unerklärliches, völlig untypisches Brennnesselfeld gefunden hatte, ein Anzeiger für hohen Stickstoffgehalt im Boden, wie er zum Beispiel bei Verwesung auftritt. Der Leser glaubt nun an diesem frühen Punkt natürlich, die weiteren Entdeckungen schon zu kennen, die Anja bei ihren rastlosen Nachforschungen noch machen wird. Aber was sich da wirklich abgespielt hat an jener mysteriösen Stelle im Wald, das erfährt man tatsächlich erst sehr viel später, ganz am Ende des Romans.

In mehreren Handlungssträngen erzählt Fleischhauer eine aufregende Geschichte, die sich, von Rückblenden abgesehen, innerhalb weniger Wochen im Jahre 1999 ereignet. Er tut dies in angenehm klarer, nüchterner Sprache, seine Dialoge sind recht realitätsnah und somit glaubwürdig. Die gleich zu Beginn des Romans geschilderten Details von Anjas Arbeit im Oberpfälzer Wald dürften viele Leser irritieren, gerade darin aber sehe ich eine Stärke dieses Buches. Denn neben dem zweifellos für viele Leser attraktiven, weil ereignisreichen Plot wird hier nämlich auch mal eine andere Sicht auf den Wald geboten, auf die Belange der Forstwirtschaft und auf die Intentionen der Naturschützer, auf seine ökonomischen und ökologischen Funktionen also. Und auch der detailliert geschilderte Abschuss einer Wildsau weitet den Horizont des Normallesers sicherlich ungemein, alles Fachliche ist jedenfalls sorgfältig recherchiert. Also kein reiner Krimi, man könnte das alles sehr wohl auch als historischen Roman oder als Gesellschaftsroman ansehen.

So durchdacht und voller Überraschungen der Plot auch ist, ich empfand ihn letztendlich arg konstruiert, seine Figuren klischeehaft, seine Thematik wird dem realen, grauenhaften Geschehen nicht wirklich gerecht. Und der turbulente Showdown à la Hollywood ist leider derart aufgemotzt und unrealistisch, dass er damit die gesamte Geschichte nachträglich in Misskredit bringt. Besonders ärgerlich auch eine Stelle, wo die ansonsten so clevere Heldin über den Tod ihres Vaters sinniert: »Bären und Wölfe waren zwar selten, aber man musste stets mit ihrem Auftauchen rechnen». Ist es eigentlich Zufall, dass Anja mit Nachnamen Grimm heißt? War nicht auch Rotkäppchen dem Wolf zum Opfer gefallen? Schweigend steht der Wald – und schüttelt den Kopf!

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Droemer Knaur München

Was am Ende bleibt

fox-1Die heile Welt bleibt außen vor

«Die besten Geschichten schreibt das Leben selbst», sagt eine Volksweisheit, deren Wahrheitsgehalt man mit Hilfe der US-Schriftstellerin Paula Fox und ihrem 1970 erschienenen Roman «Was am Ende bleibt» prüfen kann. Die in New York lebende Autorin wird als Klassikerin der Moderne angesehen, war lange Zeit vergessen und ist in Deutschland besonders mit dem vorliegenden Roman bekannt geworden, über den sich einst das Literarische Quartett recht löblich äußerte. Vergleicht man die ebenso wechselvolle wie tragische Biografie von Paula Fox mit der hier erzählten, blutarmen und beklemmenden Geschichte, hat die Fiktion ihres Romans eindeutig das Nachsehen gegenüber der ereignisreichen Realität eines Lebens, das im Findlingsheim begann, weil ihre irisch/kubanischen Eltern, beide aus der Filmindustrie, zu jung und unreif waren, sie aufzuziehen. Fox selbst gab ihre eigene Tochter als Dreijährige zur Adoption frei und war später dann überglücklich, sie als Erwachsene wiederzufinden.

So war nicht überraschend, dass die Heldin ihres Romans, die Übersetzerin Sophie Bentwood, kinderlos ist. Kinder kommen allenfalls als Störenfriede im Buch vor, die nur Lärm, Schmutz und Unordnung produzieren. Otto Bentwood ist ein erfolgreicher Rechtsanwalt, dessen Freund gerade die Kanzleigemeinschaft mit ihm aufgekündigt hat, worunter er sehr leidet, denn obwohl es ihm finanziell gut geht, fühlt er sich unbehaglich, so alleingelassen von seinem langjährigen Weggefährten. Es sind verschiedene äußere Faktoren, die das Leben des saturierten Mittelschichtpaares Ende Dreißig zunehmend eintrüben. Der Biss einer verwahrlosten Katze wird von Sophie nicht ernst genommen, Ottos Angst wegen einer möglichen Tollwutansteckung zieht sich wie ein Leitmotiv durch die gesamte Geschichte. Fox konterkariert damit den verlogenen «American Way of Life», stellt ihm die damals meist völlig ignorierten Schattenseiten der Wohlstandsgesellschaft gegenüber. Ein gehobenes Wohnviertel, strotzend vor Schmutz auf seinen Straßen, ein aggressiv bettelnder Neger, wie man sie damals noch ungeniert nannte, der unerwünscht in die Wohnung kommt, der Einbruch ins Ferienhaus der Bentwoods als übler Fall von Vandalismus, bei dem der starke Verdacht besteht, dass mit der Betreuung des Hauses durch einen Einheimischen der Bock zum Gärtner gemacht wurde, womit auch diese ländliche Idylle für das Paar nun allen seinen früheren Charme verloren hat.

Sophie zeigt sich antriebslos, kann sich nicht für ein neues Übersetzungsprojekt entscheiden, sorgt sich nicht wegen der Tollwutgefahr, ist trotz Drängen von Otto kaum dazu bereit, einen Arzt aufzusuchen und sich untersuchen zu lassen. Ihr Eheleben ist mit den Jahren langweilig geworden, in einer längeren Rückblende wird über ihre Liaison mit einem Mann berichtet, die schon bald enttäuschend für sie endet. Sogar mit einer langjährigen Freundin, die viele Affären hat, bricht sie abrupt, ausgelöst durch ihren unkontrollierten Wutanfall, bei dem Neid im Spiel sein mochte. Dazu passt dann auch die Schlussszene, bei der Otto ein Tintenfass gegen die Wand wirft, wütend über seinen Ex-Kompagnon, der ihn nicht in Ruhe lässt, «ich bin verzweifelt« ins Telefon kreischt. Die an der Wand in schwarzen Linien zu Boden rinnenden Tintenstreifen symbolisieren im Schlussbild den endgültigen Zusammenbruch der mühsam aufrecht erhaltenen Lebenslüge der Beiden.

Obwohl wenig passiert, lastet über der banalen Erzählung eine unheilvolle Stimmung, mit viel Distanz zum Geschehen ist sie in einer knappen Sprache geradezu unpersönlich erzählt. Das Leben sei nicht heiter und unbeschwert, die Menschen scheiterten an sich selbst. Dieses Psychogram eines Paares fügt dem ewigen Thema Mann und Frau Facetten hinzu, bleibt jedoch sprachlich wie auch im Plot merkwürdig uninspiriert. Keine rasant zu lesende, ereignisreiche Geschichte also, wie sie das Leben schreibt, vielmehr eine Lektüre für illusionslose Realisten, – die heile Welt bleibt außen vor.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by dtv München

Vor dem Fest

stanisic-1Ohne Abgang

Der zweite Roman des aus Bosnien-Herzegowina stammenden jungen Autors Saša Stanišić rückt ein fiktives Dorf in der Uckermark ins Rampenlicht. Dessen Bewohner feiern, der Titel «Vor dem Fest» deutet es schon an, alljährlich das traditionelle Annenfest, ohne dass jemand sagen könnte, aus welchem konkreten Anlass es eigentlich begangen wird. Es mag an der Herkunft des Autors liegen, dass in seiner sich um ein trostloses Kaff im strukturschwachen Brandenburg rankenden Geschichte, wenig mehr als zwanzig Jahre nach der Wende, die politische Vergangenheit nicht im Blickpunkt steht. Er erzählt, anders als deutsche Autoren das zu tun pflegen, weitgehend losgelöst davon, und wie er das macht, mit welchen literarischen Mitteln und in welcher Fülle an originellen Einfällen, das ist wahrlich nicht alltäglich. Sein Augenmerk gilt den individuellen Befindlichkeiten der Einwohner dieses sich langsam entvölkernden Dorfes, die er am Beispiel seiner durchaus skurrilen Protagonisten aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet, ergänzt um historische Ereignisse aus dem sorgsam behüteten Heimatarchiv der kleinen Gemeinde.

Der in fünf Teile gegliederte Roman wird dreisträngig erzählt, er behandelt in seinem Hauptstrang die vierundzwanzig Stunden vor und während des Annenfestes 2013. Erzählt wird aus einer kollektiven Wir-Perspektive, die das ganze Dorf einschließt, in der jeder Protagonist Teil des dorfgeschichtlichen Chores ist und zum Canon der Hoffnungslosen seinen individuellen Beitrag leistet. Da ist zum Beispiel der ehemalige Soldat, der sich als Rentner etwas hinzuverdienen muss und als Protestwähler zur den Neoliberalen tendiert. Oder der Briefträger, der wie selbstverständlich die Post der gesamten Dorfgemeinschaft mitliest, auch nach der Wende, und sich hingebungsvoll der Hühnerzucht verschrieben hat. Es gibt die neunzigjährige Malerin, die Szenen aus dem Dorfleben in Ölbildern festhält, als Beispiel sei das Bild «Der Neonazi schläft» genannt, ‑ er sei übrigens der einzige politisch Verwirrte im Dorf, erfahren wir. Oder die depressive Frau Schwermuth (sic), die ebenso argwöhnisch wie erfolgreich über das beachtenswerte Dorfarchiv wacht. Und der uralte Fährmann, in dessen Logbuch über die Jahrzehnte hinweg nur sieben Einträge von Passagieren verzeichnet sind, einer davon ist von Angela Merkel. Schließlich tauchen unvermutet zwei fremde junge Männer auf, die in Reimen sprechen, ein durchaus verblüffendes Stilmittel des kreativen Autors. Der im Übrigen den Leser durch seinen subtilen Humor und seine überbordende Erzähllust für sich einzunehmen versteht mit seinem unkonventionellen Roman.

Aufgebaut ist diese vielschichtige Erzählung wie ein Reigen aus vielen kurzen, zunächst voneinander unabhängigen Abschnitten, die erst allmählich innere Bezüge erkennen lassen und sich dann teilweise ergänzen. Parallel zum eigentlichen Erzählstrang wird von einer Fähe, deren Bild übrigens auch den Buchumschlag ziert, und ihrem rastlosen Bemühen erzählt, beim Hühnerzüchter Eier zu stehlen, und diese Tiergeschichte ist ebenfalls häppchenweise in viele kleine Abschnitte über den gesamten Text verteilt und lose mit der Geschichte der Menschen verwoben. Gleiches gilt für den historischen Strang, der aus diversen anekdotenhaft zitierten Auszügen aus der Dorfchronik besteht, ohne erkennbare Beziehungen zueinander und mit zum Teil drastischen Berichten, zurückreichend bis ins 16ten Jahrhundert, die das Geschehen stilecht in nicht immer einfach zu lesender, dem Altdeutschen nachempfundener Sprache anreichern. Verbindungen zur eigentlichen Handlung sind nicht auszumachen, es wird vielmehr ein historischer Hintergrund beleuchtet, der das aktuelle Geschehen eindrucksvoll relativiert, schlechte Zeiten gab es schon immer, soll so dem Leser wohl bedeutet werden.

Ich muss gestehen, dass ich das Buch am Ende etwas irritiert aus der Hand gelegt habe. Aber manchmal stellen sich die Wirkungen eines Textes ja erst später ein, dem Abgang beim Wein vergleichbar, der den Genuss erst perfekt macht als letztes, wichtigstes Kriterium. Genau das fehlt hier aber, wie ich inzwischen weiß, allenfalls einige amüsante Wendungen sowie der flockige Schreibstil des Autors insgesamt bleiben haften, mehr nicht. Ist das Weltliteratur, wie der Klappentext uns suggeriert? Mitnichten, da bin ich mir sicher!

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Luchterhand

Tortilla Flat

steinbeck-1Geschichte einer Naturgottheit

Die Ritter der Tafelrunde haben Pate gestanden für diesen Schelmenroman des amerikanischen Nobelpreisträgers John Steinbeck, wie uns das Vorwort erläutert, eine Thematik, die dem Autor jedenfalls sehr vertraut war, hat er doch, viel später allerdings, sogar eine moderne Übersetzung der Sage um König Artus geschrieben. Auch in «Tortilla Flat» geht es um solch eine mystisch erhobene, zentrale Figur, die hier jedoch aus einem ganz anderen Milieu stammt, welches man nach heutigem Sprachgebrauch als Prekariat bezeichnen würde. Danny, der Held des Romans, ist ein bettelarmer, kleinkrimineller Lebenskünstler. Um ihn scharrt sich, wie in der Artussage, eine wachsende Gruppe von Gleichgesinnten, allesamt Landstreicher und Tagediebe wie er. Sie sind Brüder im Geiste sozusagen, in den Tag hinein lebende Nichtstuer, die Leichtigkeit des Seins genießend mit ihrer naiven Zuversicht.

Ort der Handlung ist die namensgebende Siedlung oberhalb von Monterey in Kalifornien, in der nach dem Ersten Weltkrieg unter armseligsten Bedingungen die Paisanos leben, eine ethnisch gemischte Gruppe alteingesessener Bewohner dieser kleinen Küstenstadt, und Tortilla Flat ist ein Slum an deren Rande, ohne feste Straßen, Wasser und Strom. Als Dannys Großvater stirbt, wird aus dem obdachlosen Habenichts über Nacht der Eigentümer zweier baufälliger Holzhütten. Zögernd nur entschließt er sich, eine dieser alten Hütten zu beziehen, und mit dem neuen Besitz ändert sich nun schlagartig sein Leben. Er erlebt das jedoch eher als Last denn als Bereicherung. Schließlich vermietet er eine der Hütten an seinen besten Freund, obwohl klar ist, dass er nie auch nur einen Cent Miete erhalten wird. Und nach und nach kommen immer neue, skurrile Mitbewohner hinzu.

In einem lose verbundenen Zyklus von siebzehn Geschichten erlebt der Leser den alltäglichen Kampf dieser bunten Clique ums Essen und Trinken. Bei Letzterem handelt es sich fast ausschließlich um Wein, der, aller Prohibition zum Trotz, in Mengeneinheiten von Gallonen konsumiert wird von der trinkfesten Bruderschaft. Nur im äußersten Notfall verdingt sich mal einer von ihnen als Tagelöhner, ansonsten lebt man vom listenreichen Schnorren oder kleineren Diebstählen. Am liebsten sitzt man müßig in der Sonne und erzählt sich die neuesten Geschichten, den Tratsch und Klatsch der kleinen, pazifischen Küstenstadt. Und auch für die sexuellen Bedürfnisse ist gesorgt, es findet sich immer eine Frau, ob verheiratet oder nicht, wobei manche Schwangere später nicht mehr zu sagen vermag, wer von dieser Clique denn als Vater in Frage käme. Steinbeck wäre kein Nordamerikaner, wenn er diesen Aspekt menschlicher Existenz nicht derart verklausuliert erzählen würde, dass man entsprechende Textpassagen wortwörtlich in jedem Märchenbuch abdrucken könnte.

Mit der Burleske um die «Naturgottheit» Danny will Steinbeck, wie es in seinem Vorwort heißt, «jetzt und für immer das spöttische Lächeln von den Lippen säuerlicher Gelehrter verbannen». Man darf den Roman nicht kurzerhand als Hymne auf das einfache Leben interpretieren, er ist eher als Gegenentwurf zum Tanz ums Goldene Kalb zu sehen, als Abgesang auf eine Gesellschaft von Konsumidioten mit ausschließlicher Fixierung auf alles Materielle, in Geldeinheiten Messbare, wo jedweder Müßiggang und eine fatalistische Genügsamkeit von vornherein suspekt sind. Wunderbar plastisch sind Steinbecks Figuren dieser gesellschaftlichen Randgruppe beschrieben, und er lässt sie äußerst schlitzohrig agieren, obwohl sie immer auch ein wenig trottelig wirken, auf ihre spezielle Art aber grundehrlich sind. Das ist oft ziemlich verblüffend, vielleicht jedoch gerade dadurch aber sehr amüsant zu lesen, man kommt aus dem Schmunzeln nicht mehr heraus. Und Dannys Tod schließlich und seine Beerdigung wird liebevoll ironisch zu einem grandiosen Ereignis verklärt, das einen Platz in der Weltgeschichte verdiene, zumindest aber in der von Monterey.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by dtv München

Stille Zeile Sechs

maron-1Ganz ohne DDR-Mief

Die Biografie der deutschen Schriftstellerin Monika Maron erklärt so manches in ihrem Œuvre, 37 Jahre DDR haben darin deutliche Spuren hinterlassen und zeigen sie als kämpferische Literatin, die sich auch heute noch politisch einmischt, so wenn sie sich zum Beispiel in der WELT unter dem Titel « Pegida ist keine Krankheit, Pegida ist das Symptom» mit der Fremdenfeindlichkeit im «Tal der Ahnungslosen» auseinandersetzt. Nun war auch die DDR keine Krankheit, aber ein Unrechtssystem, welches sie in dem 1991 erschienenen Roman «Stille Zeile Sechs» literarisch so gekonnt, geradezu zwingend vorführt, dass jeder Einwand sich selbst dekuvriert.

Die Ich-Erzählerin Rosalind Polkowski, eine ledige Historikerin Anfang vierzig, kündigt nach mehr als fünfzehn Jahren Knall auf Fall ihre Stelle in der Barabasschen Forschungsstätte, an der sie fachlich «für die Entwicklung der proletarischen Bewegung in Sachsen und Thüringen» zuständig ist. Sie komme sich nutzlos vor, wolle nicht mehr «für Geld denken», ihr «einziges Leben» nicht mehr «wie Küchenabfall zur Mülltonne tragen». Stattdessen wollte sie lieber Klavierspielen lernen, endlich die als unübersetzbar geltenden Rezitative aus «Don Giovanni» ins Deutsche übertragen, sich ernsthaft mit dem Werk von Ernst Toller auseinandersetzen, dessen Gesamtausgabe sie ungelesen im Bücherschrank stehen hat. Die guten Vorsätze bleiben unerfüllt, über den «Flohwalzer» kommt sie am Klavier nicht hinaus, ihre anderen Projekte bleiben schon im Ansatz stecken. Denn sie hat sich von dem ehemaligen DDR-Bonzen Beerenbaum engagieren lassen, der ihr seine Memoiren diktieren will, eine reine Schreibarbeit, bei der sie nicht denken muss. Eine Weile hält sie das auch durch, irgendwann aber kommt es doch zum Disput, kann sie sich nicht mehr zurückhalten, stellt dem Apparatschik von einst hochnotpeinliche Fragen. So inquisitorisch letztendlich, dass der «Professor» mit Volksschulabschluss, qualifiziert einzig und allein durch seine Parteikarriere, sich konfrontiert sieht mit dem bösen Ränkespiel um eine Dissertation, die einst als Paket auf dem Postweg nach Westberlin abgefangen wurde. Was dann auf sein Betreiben hin damals zu einer dreijährigen Gefängnisstrafe führte, die die akademische Karriere eines hoffnungsvollen jungen Wissenschaftlers für immer zerstört hat. Der Bonze überlebt diese ihn entlarvende, heftige Auseinandersetzung nicht, Rosa geht widerwillig zu seiner Beerdigung, sein Sohn überreicht ihr am Friedhofsausgang, – auf Wunsch des verstorbenen Vaters, wie er sagt -, ein Paket. «Ich werde es auf keinen Fall öffnen» lautet der letzte Satz des Romans.

Das Paket enthält, darf man vermuten als Leser, jene verhängnisvolle Dissertation, die den «Grafen», eine liebenswert skurrile Figur aus Rosas Stammkneipe, einst hinter Gitter gebracht hat. Dort verkehrt auch Bruno, ihr Exfreund, den der Graf nur mit Brünoh anredet, beide stehen in der Hierarchie der kunterbunten, schrägen «Kneipenpersönlichkeiten» als Lateiner ganz oben. Die Autorin erzählt ihre Geschichte, die Spannung damit steigernd, nicht strikt chronologisch, sondern oft in Rückblick und Vorschau, beginnend mit der Beerdigung. Und sie tut das so gekonnt, dass man als Leser die Zusammenhänge mühelos erkennt, sogar wenn sie überraschend die Perspektive wechselt, über Rosalind plötzlich in der dritten Person berichtet.

Trotz der ernsten Thematik des Romans, bei dem die Aufarbeitung der Vergangenheit auch vor der eigenen Person nicht halt macht, der also Raum gibt für vielerlei philosophische Betrachtungen, muss man doch häufig schmunzeln beim Lesen, die Kneipenszenen sind allemal köstlich amüsant. Man darf sich aber auch über viele gelungene Wendungen freuen: «Mein Gedanke war weniger blutrünstig als der Satz, in den er schlüpfte» ist ein schönes Beispiel dafür. Und dass Monika Maron ganz ohne den typischen DDR-Mief auskommt bei ihrer in den achtziger Jahren angesiedelten Geschichte, das empfand ich als Wessi besonders angenehm.

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Fischer Taschenbuch Frankfurt am Main

Mutmaßungen über Jakob

johnson-1Ambitioniertes Zeitzeugnis

In Peter Suhrkamps Sterbezimmer, so die Anekdote, fand Siegfried Unseld 1959 ein ungelesenes Manuskript, das noch im selben Jahr veröffentlicht wurde, der Roman «Mutmassungen über Jakob» von Uwe Johnson. Schon der Titel dieser ersten Veröffentlichung des Autors ist beredt: Hatte Johnson, wie spekuliert wird, kein ß auf seiner Schreibmaschine? War die falsche Orthografie Schlamperei oder ein Marketing-Gag des Verlages? Wie auch immer, das Wort Mutmaßungen deutet bereits auf das sprachliche Konstrukt dieses heute als kanonisch eingestuften Romans hin, an dem viele Leser scheitern, der nicht zuletzt sogar professionelle Kritiker und Schriftstellerkollegen polarisiert. Wer die Literatur nicht nur als angenehmen Zeitvertreib ansieht, sondern vielmehr als großartige Kunstgattung, die ihn insgesamt interessiert, in allen ihren Ausformungen also, der sollte sich der Mühe unterziehen, diesen Roman zu lesen – und seinen literarischen Horizont zu weiten damit.

«Aber Jakob ist immer quer über die Gleise gegangen» lautet bezeichnenderweise schon der erste Satz, denn Jakob Abs, Dispatcher bei der Reichsbahn der DDR, sparte sich durch diese Abkürzung eine halbe Stunde Fußweg um das Bahngelände herum, – diesmal aber kostete es ihn sein Leben, er wurde von einer Rangierlok erfasst. Unfall, Selbstmord oder Mordanschlag, alles ist möglich, es darf gemutmaßt werden! Ausschließlich in Rückblenden schildert dieser Roman die Vorgeschichte dieses tragischen Todes, eine Klärung bietet er nicht. Enzensberger soll (ironisch?) von einer aktiven Rolle des Lesers gesprochen haben, die dieser Roman ihm anbietet als detektivische Aufgabe über das reine Lesen hinaus.

Auf der Flucht vor der Roten Armee am Ende des Zweiten Weltkrieges war Jakob mit seiner Mutter beim Kunsttischler Cresspahl und dessen Tochter Gesine in Jerichow untergekommen, ein fiktiver Ort an der Ostsee in Mecklenburg. Zwischen den Vieren bildete sich ein familiäres Verhältnis heraus. Als Gesine nach Frankfurt am Main übersiedelt, dort eine Stelle als Dolmetscherin bei der Nato findet und später auch Jakobs Mutter in den Westen geht, ruft das natürlich die Stasi auf den Plan: ein DDR-Agent versucht, den regimetreuen Jakob dafür zu gewinnen, Gesine als Spionin anzuwerben. Sie hat inzwischen den Anglisten Dr. Jonas Blach kennengelernt und mit ihm eine Affäre begonnen, nach einem wissenschaftlichen Vortrag ist er als Logiergast in Cresspahls Haus, um dort in Ruhe eine Abhandlung über notwendige Reformen in der DDR zu schreiben. Als Jakob von einem Westbesuch bei Gesine zurückkommt, wird er von der Lok überrollt.

Zeitlicher Hintergrund dieser Geschichte sind der Ungarnaufstand und die Suezkrise im Jahre 1956. In Johnsons Hauptwerk, dem vierteiligen Romanzyklus «Jahreszeiten», taucht Gesine später als Hauptfigur erneut auf. Die beiden deutschen Staaten sind ein zentrales Thema in Johnsons Werk, wobei ihm die historische Situation als Basis dient bei der Ausformung seiner Figuren, nicht die Grenze als solche. Die ja damals so scharf noch gar nicht gezogen war, die Mauer kam später, man vergisst das heute leicht. Sprachlich ist Johnsons Roman eine radikale Abkehr von konventionellen Erzählweisen. Allein schon die verschiedenen, oft nur schwer erkennbaren Perspektiven seiner fragmentarischen Textblöcke, viel mehr aber ihre abrupten Übergänge in einem erzählerischen Stakkato ohnegleichen stellen extrem hohe Anforderungen an Geduld und Aufmerksamkeit des Lesers, von der eigenwilligen Syntax, fremdsprachlichen Einsprengseln und dem plattdeutschen Palaver des alten Cresspahl ganz zu schweigen. Ein Verwirrspiel, welches man dem Autor dieses wenig gelesenen, sperrigen Romans vorwerfen kann, der beide deutsche Staaten gleichermaßen kritisch betrachtet und ihre Ideologien als menschenfeindlich bloßstellt. Und auch wenn heute vieles überholt erscheint von der damaligen Problematik, ist der Roman doch ein literarisch ambitioniertes Zeitzeugnis ohne Beispiel.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Suhrkamp Frankfurt am Main

Nachkommen

streeruwitz-1Kein Geschichterl

Diesen Roman. Den hat sie geschrieben. 2014 erschienen. Marlene Streeruwitz. Aus Österreich. Die kennt man doch. «Nachkommen» ist der neue Titel. Den hat sie sich gewählt. Für ihr Buch. Wie die Verlagsheinis das immer nennen. 432 Seiten bedrucktes Papier. Dieses Buch.

Nur Umsatzbringer für die. Im besten Fall auch Gewinnbringer. Verkaufte Auflage ist wichtig. Roman sagen die nicht. Nur Buch. Ist denen egal. Hauptsache Geld kommt rein. Reichlich Geld. Brauchen die immer. Inhalt zählt bei denen nicht. Botschaft. Anliegen. Sprache. Kunst. Alles unwichtig für die. Das muss einen ja wütend machen. Auf den Literaturbetrieb. Die Schickeria der Verlage. Die mit ihren schwarzen SUVs durch Frankfurt brausen. Denkt Nelia Fehn. Zwanzig Jahre alt. Protagonistin im Roman der Streeruwitz. Jungstar der Frankfurter Buchmesse. Absolut jüngste Finalistin bisher. Unter den letzten Sechs. Ist eingeladen zur Preisverleihung. Ihr Verleger übernimmt die Kosten. «Die Reise einer jungen Anarchistin in Griechenland». Das hat sie geschrieben. Den Preis bekommt aber doch eine andere Autorin. Macht nichts. Sie sei ja noch so jung. Sagen alle. Wenigstens ist sie schon mal dabei gewesen. Kann ja noch kommen. Später. Obwohl. Das Preisgeld hätte sie gut brauchen können. Sie ist ja ziemlich abgebrannt. Wie man so sagt. Hat auch noch keinen Vorschuss bekommen. Muss sie mal klären. Wenn die Mami das wüsste. Die hat ja auch geschrieben. Autorin war sie. Ist aber tot. Schon lange. Und der Opa ist heute Morgen beerdigt worden. Der hat sie großgezogen. Die Mami fehlt ihr so. Den Vater hat sie nie gesehen. Den hat die Mami damals verstoßen. Jetzt ruft der sie plötzlich an. Wohnt ja hier. Kennt ja wenigstens ihren Namen. Will sie treffen. Dringend. «Ich wollte kein Kind». Sagt er. Wie kann er so was sagen. Ihr ins Gesicht. Was soll das denn bringen. Mit ihnen. Vater und Tochter. Das wird nichts mehr. Alles umsonst. War doch schlimm genug heute auf der Messe. Der Trubel. Kein Durchkommen. Interviews. Warum haben sie den Roman geschrieben. Dumme Frage. Immer ruhig bleiben. Fernsehaufnahme bei 3Sat. Sie ist doch keine Anarchistin. Jetzt ist aber genug. Kamera aus. Raus ins Freie. Mal durchatmen. Schon wieder jemand. Der sie kennt von den Fotos überall. Sie anspricht. Bloß weg hier. Was zu essen wäre nicht schlecht. Vegetarisch. Schon ist sie am Ausgang. Hat nichts gefunden. Wann geht der nächste Flug. Sie recherchiert auf ihrem Smartphone. Da gibt es ja Bordverpflegung. Ihr Rucksackrollköfferchen klappert auf dem Pflaster. Frankfurt. Nur weg hier.

Literarisch eine Rebellin ist diese Frau Streeruwitz. Gegen den Strich gebürstet ihre komplexe Prosa. Man könnte sie feministisch nennen. Streng. Sarkastisch. Im Stil des Dekonstruktivismus. Immer kritisch hinterfragend. Aufgeteilt in kleine Satzfragmente. Analytisch. Immer im Stakkato. Mit radikal vereinfachter Interpunktion. Zunächst etwas störend für den Leser. Fast nur Punkte. Gewöhnt man sich aber schnell dran. Nelia als Protagonistin ist mir unsympathisch geblieben. Zu zickig. Ich konnte keinen Zugang finden. Zu ihr. Man erfährt auch nicht wirklich viel über sie. Keine markante Persönlichkeit jedenfalls. Als Nachkomme strickt jede Verantwortung ablehnend. Für alle Generationen vor ihr. Immer aufmüpfig und nachdenklich.

Ist die Literatur im Niedergang begriffen. Wie der Klappentext behauptet. Fragt man sich. Vom schnöden Gewinnstreben zu Boden gerungen. Ein korrumpiertes Literatur-Establishment als Totengräber einer Kunstrichtung. Hat die renitente Protagonistin recht mit ihrem Widerstand. Mit ihrem Wutausbruch. Mit ihrer Erregung. Wie Thomas Bernhard das genannt hat. Es muss Romane geben, ist sie sich sicher. «Romane und nicht Geschichterln. In die Erfindung gebündelte Wahrheit und nicht diese dünne Soße des Echten. Ins Zweidimensionale gepresster Kitsch». Wen mein Stakkato-Text nicht schreckt, der sollte diesen Roman lesen, er ist herzerfrischend anders, kein Geschichterl eben.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Fischer Taschenbuch Frankfurt am Main

Montauk

frisch-3Mein Name sei Frisch

Das epische Werk des Schweizer Schriftstellers Max Frisch ist autobiografisch geprägt, so auch die 1975 erschienene Erzählung «Montauk», die jedoch nicht fiktiv, sondern authentisch sei. Vorbild für diese Erzählhaltung ist Michel de Montaigne, aus dessen Einführung zu seinen weltberühmten «Essais» Frisch im vorangestellten Motto zitiert: «Denn ich bin es, den ich darstelle. Meine Fehler wird man hier finden, so wie sie sind, und mein unbefangenes Wesen, so weit es nur die örtliche Schicklichkeit erlaubt». Auf die Schicklichkeit komme ich noch zurück, Frisch selbst verdeutlich seine Absicht an einer der Stellen im Buch, an denen er die Entstehung des Textes von «Montauk» selbst thematisiert. «Ich möchte erzählen können, ohne irgendetwas dabei zu erfinden. Eine einfältige Erzähler-Position» merkt er dazu an.

Äußerer Rahmen der Erzählung ist ein Wochenendausflug zu dem titelgebenden Dorf Montauk an der Ostspitze von Long Island, mit dem eine Lesereise des Autors durch die USA endet. Der kurz vor seinem 63ten Geburtstag stehenden Frisch wurde durch eine 30jährige Angestellte des Verlages betreut und hatte mit Alice Locke-Carey, die im Buch Lynn heißt, eine Affäre. Beiden ist klar, dass ihr kurzes Techtelmechtel mit diesem gemeinsamen Ausflug enden wird. Geradezu dokumentarisch berichtet der Autor nun von den zwei zusammen verbrachten Tagen mit der jungen Amerikanerin, die keine Zeile von ihm gelesen hat. Mit scharfem Blick erfasst er die wenig spektakuläre Landschaft und die eher trostlose dörfliche Atmosphäre auf ihrem Kurztrip, der wegen Unpässlichkeit und temporärer Impotenz auch in sexueller Hinsicht nicht gerade ein Highlight ist. In vielen eingeschobenen Rückblicken erzählt Frisch von seinen Frauen, von den beiden gescheiterten Ehen ebenso wie von diversen Liebschaften. Wesentlich jedoch ist die Rückschau auf sein Leben, die Fragen des Alters und den Tod ebenso einschließt wie seinen berufliche Werdegang vom Architekten zum freien Schriftsteller oder seine anfangs prekäre finanzielle Situation. Eine lange Episode widmet er der besonderen Beziehung zu seinem langjährigen, als dominant empfundenen Mäzen und Jugendfreund, außerdem thematisiert er wiederholt auch seine literarische Arbeit als Dramatiker und Epiker. Dabei treibt ihn permanent die Sorge um, dass er mit seinen Texten dem realen Leben nicht wirklich gerecht wird, keine zureichend erscheinende Erzählform dafür gefunden hat.

Eine solch rigorose Selbstentblößung kann natürlich auch peinlich wirken auf die Leserschaft oder die realen Personen ziemlich verärgern; Abtreibungen zum Beispiel sind vermutlich eher ein allseits beachtetes Tabu als ein gern goutiertes literarisches Thema. Aber auch wenn sie die «Schicklichkeit» verletzen in Montaignes Sinne, sind die ungeschönten Geständnisse, bedrängenden Selbstzweifel und grenzenlosen Reflexionen von Max Frisch ein ebenso neuartiger wie bereichernder Erzählansatz abseits üblicher, aber unverbindlicher Fiktionalität.

Mit einer Fülle von trefflich beschriebenen Figuren gliedert sich diese collageartige Erzählung in fast zweihundert assoziationsreiche Einzelszenen unterschiedlichen Umfangs, die ohne kausalen Zusammenhang abrupt vom Gegenwärtigen zum Erinnerten springen. Das erfordert vom Leser viel Aufmerksamkeit, zum vollen Verständnis aber auch Kenntnisse der Vita des Autors. Die Erzählperspektive wechselt mit dem Erzählgegenstand, in den direkt erzählten Szenen wird in der dritten Person erzählt, in der Rückschau berichtet ein Ich-Erzähler. Was allerdings die apostrophierte Wahrhaftigkeit dieser Erzählung anbelangt, so wird man enttäuscht, es stimmt so gut wie nichts! «Mein Name sei Frisch» hat er selbst in Anspielung auf den vorhergehenden Roman geschrieben, seine Bewältigungsarbeit erweist sich also als gescheiterter Versuch zur Authentizität. Die literarische Bedeutung all dessen aber ist unbestritten, man sollte dieses Buch lesen, meine ich, es ist heute schon ein Klassiker!

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Suhrkamp Frankfurt am Main

Hundert große Romane des 20. Jahrhunderts

bibliothek-1Eine Lust zu lesen

Es ist jetzt mehr als zehn Jahre her, dass die Süddeutsche Zeitung mit Thomas Steinfeld als Herausgeber eine Buchreihe auf den Markt gebracht hat, deren Headline bereits auf eine ambitionierte Unternehmung hindeutet: «Hundert große Romane des 20. Jahrhunderts». Der vorliegende Begleitband nun, der die im Feuilleton dieser Zeitung erschienenen Patentexte zu den hundert Bänden enthält, ist eine sinnvolle Ergänzung zu diesem editorischen Großprojekt. Im Nachwort wird diese Buchreihe als eine Erfolgsgeschichte vorgestellt, mit Millionenauflage, versteht sich.

Erfreulich daran ist, dass hier einem breiteren Lesepublikum eine Fülle von hochklassigen, teilweise auch vergessenen Romanen nähergebracht wurde. Wie nahe, ist offen, zumindest aber stehen die bunten Bände in vielen Bücherschränken, wie ich in meinem Umfeld immer wieder erstaunt feststelle. Auf Nachfrage allerdings müssen dann doch viele der stolzen Bibliophilen kleinlaut zugeben, bei weitem noch nicht alles gelesen zu haben, was da in ihrem Billy-Regal schlummert. Das passende Zitat zu diesem literarischen Phänomen findet sich in Matthäus 26, 41: Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach!

Um es gleich vorweg zu sagen: die Lektüre lohnt sich bei fast allen dieser hundert Romane! Selbst wenn man nur einige davon gelesen hat, ist damit nicht nur die eigene Belesenheit gewachsen in puncto anspruchsvolle Literatur, man hat auf jedem Fall seinen Horizont erweitert. Womöglich hat man Sujets kennengelernt, mit denen man sich noch nie beschäftigt hat im Lesealltag, hat sprachliche Stile erlebt und vielleicht auch genossen, denen man noch nie begegnet ist, hat sich gar bestens unterhalten gefühlt dabei. Man wird auch feststellen, dass mit dem Adjektiv «groß» im Titel nicht unbedingt immer nur die literarische Qualität der Romane gemeint ist, deren Popularität wurde offensichtlich ebenfalls berücksichtigt, auffallend viele der Titel nämlich kennt man aus dem Kino. Womit ich hier aber keineswegs eine wohlfeile Kritik an der Buchauswahl vorbringe, jeder Kanon dieser Art wird immer anfechtbar sein, Kunst und damit auch Literatur entzieht sich objektiver Wertung. Allerdings, bei der berechtigten Frage, warum bei den Autoren zum Beispiel Thomas Mann oder Heinrich Böll fehlen, beide ja unbestritten zum Olymp deutschsprachiger Romanciers gehörend, wird man erstaunt feststellen, dass dieser Begleitband sich sehr beredt zu den seinerzeit bei der Auswahl angewendeten Kriterien ausschweigt, ein unverzeihliches Manko, wie ich finde.

Die klappentextartigen, jeweils zweiseitigen Besprechungen der hundert Romane sind von ausgewiesenen Literaturkennern geschrieben, Leute aus dem Feuilleton, Kritiker, Schriftsteller, Literaturwissenschaftler. Es liegt jedoch in der Natur dieser sogenannten «Patentexte», dass sie im Sinne des Verlages für die Bücher werben, sich also auf keinen Fall despektierlich über sie äußern können. Hilfreich sind sie trotzdem, liefern sie doch so manche nützliche Information zu Werk und Autor. Insbesondere das Vorwort unter dem Titel «Es ist eine Lust zu lesen» ist ein Quell kluger Gedanken zu unserem Steckenpferd, dem Lesen von Romanen. «In der inneren Bibliothek des Lesers sind die Werke nach dem Maßstab ihrer Erinnerbarkeit aufgestellt», schreibt Heinz Schlaffer dort. Ältere Leser werden manches früher schon gelesen haben, mehrfache Lektüre aber «lässt am Text neue Vorzüge – oder Schwächen – entdecken, woraus auch der Leser selbst auf den Wandel seines Geschmacks und seiner Lebenserfahrung schließen darf.» Für die weniger eifrigen Leser aber hat Schlaffer mit seinem letzten Satz noch einen Trost parat: «Denn für die Kenner ist das Interesse an Literatur nicht auf den Akt gewissenhaften Lesens beschränkt; sämtliche Formen des Umgangs mit Literatur, auch die unvollständigen, tragen ihm neue Kenntnisse und Ahnungen ein.» Na bitte! Ich habe nämlich auch noch nicht alle hundert Bände gelesen.

Fazit: lesenwert

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Genre: Anthologie
Illustrated by Süddeutsche Zeitung München

Nichts als Literatur

reich-ranicki-1Gedanken einer Lichtgestalt

Schon im Vorwort zu seiner Sammlung von Aufsätzen und Anmerkungen unter dem Titel «Nichts als Literatur» brilliert Marcel Reich-Ranicki durchaus passend mit einer Hommage an die altehrwürdige Reclam Universal-Bibliothek. Sie «repräsentiert und verkörpert ein Stück deutscher Kulturtradition», wie er schreibt. Welcher Leser wird ihm da nicht zustimmen und, sofern er der älteren Generation angehört, wehmütig an die eigene Schülerzeit zurückdenken? Der in vier Teile gegliederte, 1985 erschienene Band befasst sich mit allen Aspekten der Literatur, vornehmlich der deutschen allerdings, zu der natürlich die Rezeption ebenso gehört wie auch die Kritik als deren unentbehrlicher Bestandteil, selbst wenn, wie er launig von einem Treffen der Gruppe 47 berichtet, deren Vertreter dort von Martin Walser mal als «Lumpenhunde» beschimpft wurden.

«Wer schreibt, provoziert die Gesellschaft» beginnt das erste Kapitel «Unser literarisches Leben», in dem er die Funktion der Literatur als Waffe ebenso beleuchtet wie die unterhaltende Wirkung, die sie auszuüben vermag, dem Sport vergleichbar. Er bricht eine Lanze für die alte Oberlehrerfrage «Was wollte der Autor sagen», einer modernistischen Wertung der literarischen Form allein eine Absage erteilend, weil Aussage und Form «sich gegenseitig bedingen und eine Einheit bilden müssen». Die Bedeutung von Sex in der Literatur ist ebenso Thema wie die Rolle der Übersetzer, er verteidigt das Leichte am Beispiel Fontanes und wendet sich engagiert «Gegen die linken Eiferer». Und beendet dieses Kapitel mit einer kenntnisreichen Betrachtung über «Erfolg und Ruhm», in dem er Simmel mit Böll, Grass und Lenz vergleicht und zu dem Schluss kommt: «Auflagenhöhe und Ruhm decken sich eben nicht». Die Vorliebe für Ich-Erzählungen wird im zweiten Kapitel «Deutsche Literatur heute» als «Hang zum Monologischen» gedeutet. Die Konfektionäre unter den Literaten würden ihre Unfähigkeit durch «repetieren und kopieren, imitieren und montieren» tarnen, es gäbe ferner einen Trend zum «Schriftsteller am stillen Herd», der Rückzug in die Ruhe ländlicher Idylle. Walter Jens habe 1961 eine Tendenz zur kleinen Form konstatiert, die Abkehr von den dickleibigen Romanen, wie sie Proust, Joyce, Musil und Thomas Mann perfektioniert hätten. «Wer aber in einer Kurzgeschichte einen Absatz oder auch nur einen einzigen Satz nicht wahrnimmt, riskiert, dass sie ihm unverständlich bleibt». Er beschwört wehmütig einen wenig hoffnungsvollen Herbst der Literatur herauf (mit Recht, wie wir heute wissen), dessen Symptome er ebenso kundig wie humorvoll beschreibt, widmet sich sehr ausführlich dem panegyrischen Begriff der deutschen Innerlichkeit, um mit einer Betrachtung über die Ich-Besessenheit der Autoren zu enden, welche nützlich sei für die literarische Produktion.

Unter «Dichter und Richter» behandelt der Autor im dritten Kapitel das Phänomen der Gruppe 47, jene von Hans Werner Richter initiierten literarischen Tagungen, deren Prozeduren er sehr gründlich untersucht, wobei er etliche konzeptionelle Mängel aufzeigt, zum Beispiel die Probleme der Sofortkritik oder der sachfremde Einfluss der rezitatorischen Fähigkeiten des vorlesenden Autors. Ebenso kritisch beschäftigt er sich mit dem Klagenfurter Wettbewerb und dessen Jury, wo prozedurale Unzulänglichkeiten zu falschen Bewertungen führen würden. Gleichwohl, erläutert MRR, wäre trotz der antikritischen Mentalität der Deutschen, manifestiert in der (historisch ja erwiesenen, möchte ich hinzufügen) Vorliebe für den Untertanenstaat, wäre also die Kritik ein integraler Bestandteil des Literaturbetriebes, das Salz in der Suppe aus Schriftsteller, Verleger und Leserschaft, kurz und in seinen Worten: «Kritik will Literatur ermöglichen – das ist alles». Mit einem Epilog über das Herz als Joker der deutschen Dichtung endet dieses kenntnisreiche Buch unseres 2013 verstorbenen Kritikerpapstes, einer wahren Lichtgestalt der deutschen Literatur.

Fazit: erfreulich

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Genre: Sachbuch
Illustrated by Reclam Stuttgart/Dietzenbach

Landschaften nach der Schlacht

goytisolo-1Surreale Megalopolis

Als Nestbeschmutzer wird der spanische Schriftsteller Juan Goytisolo oft in seiner Heimat angesehen, politisch ein ehedem linientreuer Stalinist, der aus dem faschistischen Spanien nach Frankreich floh, wo er beim angesehenen Gallimard-Verlag als Lektor tätig wurde. Später dann erwarb er auch als erfolgreicher Autor und kritischer Journalist hohes Ansehen, 2014 erhielt der 83jährige Exilant mit dem Cervantespreis die in der spanischsprachigen Literaturwelt wichtigste Auszeichnung für sein Lebenswerk. In seinem 1982 erschienenen Roman «Landschaften nach der Schlacht» negiert der innovative Autor so ziemlich alle politischen und moralischen Überzeugungen, als Homosexueller lässt er seine bürgerliche Herkunft ebenso hinter sich wie die katholische Religion, mit der er schon früh gebrochen hat.

Von Mario Vargas Llosa als «aufregendes apokalyptisches Werk» bezeichnet, sprengt dieser innovative Roman die biederen bürgerlichen Vorstellungen in einer «Periode planetarischer Ungewissheit», hinterfragt gnadenlos wohlfeile gesellschaftliche Klischees. Schauplatz ist das zentrale Pariser Viertel Le Sentier, das ein Protagonist, erkennbar nur an der immergleichen Kleidung, als Flaneur ruhelos durchstreift. Seine Identität bleibt fraglich, «letzten Endes weiß er nicht mehr, ob er dieses abseitige Individuum ist, das seinen Namen usurpiert, oder ob dieser Goytisolo ihn eben erschafft». Die Perspektive wechselt unablässig zwischen dem auktorialen Erzähler, der seinen Protagonisten als pensionierten Schriftsteller schildert, und dem schrulligen Helden, dessen abartige Neigungen und sonstigen Spleens ebenso verstörend wirken wie seine fremdenfeindlichen Obsessionen. Seine Frau scheint fiktiv zu sein, wohnt in der Wohnung ihm gegenüber, die Kommunikation mit ihr läuft über Zettel, die er unter der Tür durchschiebt.

Der kurze Roman ist in 78 übertitelte Abschnitte unterteilt, Textfragmente zumeist, die oft ohne erkennbaren Zusammenhang aneinander gereiht sind. Dabei ist häufig kaum erkennbar, was Realität und was Imagination ist in diesem Konglomerat verstörender Texte, in denen nebelhaft allenfalls ein privater Handlungsstrang von einem öffentlichen unterschieden werden kann. Neben den schmuddeligen Angewohnheiten des wenig sympathischen Antihelden und seinem Hang zur Sufi-Mystik beherrscht vor allem abartiger Sex sein Privatleben, und zwar in Form von exhibitionistischen, pädophilen und sodomitischen Phantasien. Häufige Handlungsorte sind Pornokinos und der Calvados-Ausschank eines benachbarten Kohlenhändlers, wo auf Stammtischniveau politisiert wird. Im gesellschaftlichen Bereich ist die Überfremdung das Hauptthema des Romans, was bei einem Immigranten wie Goytisolo besonders widersinnig scheint. Originell gleich zu Beginn die Vision, sämtliche Schilder des Viertels wären plötzlich arabisch beschriftet, zum blanken Entsetzen der einheimischen Bevölkerung. Ein Heidenschreck auch für die Franzosen, als bei der Sargöffnung des Unbekannten Soldaten die einbalsamierte Leiche eines Negers zum Vorschein kommt. Ebenso köstlich ist die beißende Satire des altstalinistischen Autors über das sozialistische Albanien, oder auch seine Schilderung der «bastardisierten» Pariser Stadtviertel, «wo auf den Boulevards Afrika beginnt».

Zweifellos ein verstörender Text, geschrieben in einer anspruchsvollen, kreativen Sprache, hoch komprimiert zudem, was dem Leser einiges an Aufmerksamkeit abverlangt, will er den vielen Andeutungen und Verweisen folgen. Virtuos, geradezu artistisch wird hier literarisch eine Landschaft gezeichnet, die jenseits der Wirklichkeit satirisch eine Apokalypse der modernen Gesellschaft heraufbeschwört. Weit über den «Magischen Realismus» als literarische Form hinausgehend ist das Besondere hier der satirische Unsinn, der gleichwohl Wirkung zeigt beim Lesen, aller Vernunft zum Trotz. Einzig das macht diesen Roman lesenswert und hilft hinweg über Abstruses, Irritierendes, das der Autor uns hier zumutet.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Suhrkamp Frankfurt am Main

Mein Name sei Gantenbein

frisch-2Ein artistischer Roman

Es findet sich nicht oft, dass eine durchaus reale, gescheiterte Liebesbeziehung Anlass ist für gleich zwei Romane, geschrieben von den Betroffenen selbst: «Manila» von Ingeborg Bachmann, «Mein Name sein Gantenbein» von Max Frisch. Sexuelle Untreue, vom Schwerenöter Frisch wie selbstverständlich praktiziert, wird der Bachmann nicht zugestanden, er reagiert im Gegenteil mit starker Eifersucht, ihre problematische Beziehung zerbricht daran. Der vorliegende, 1964 erschienene Roman gehört zusammen mit «Stiller» und «Homo faber» zum Hauptwerk der Prosa von Max Frisch, ist durch seinen komplexen Aufbau aber auch sein schwierigster, hohe Ansprüche an den Leser stellend. Gemeinsam sind den genannten Romanen das Spiel mit den Identitäten ihrer Figuren und jene schwierige Thematik, welche die problematischen Beziehungen zwischen Mann und Frau darstellt, die sich einer halbwegs schlüssigen Klärung so hartnäckig widersetzt.

«Ich erlebe lauter Erfindungen» lässt der Autor seinen Helden sagen, wobei er unbekümmert die Fähigkeit der Leser voraussetzt, dass sie ihm folgen können, wenn er in seiner komplizierten Geschichte vom Ende einer Ehe verschiedene Identitäten und Erzählvarianten ausprobiert. Dieses Trial and Error jedoch führt, trotz literarisch durchaus raffinierter Varianten, auch nicht zu befriedigenden Ergebnissen, das Wesentliche bleibe für die Sprache unsagbar, hat Frisch später eingeräumt. «Was wäre wenn» also ist seine Methodik, im Roman durch den häufig eingeschobenen Satz «Ich stelle mir vor» eingeleitet, der nicht nur die Perspektive ändert, sondern auch den Kontext, Standpunkt und Haltung der Figuren mithin. Was dann zwangsläufig zu neuen, alternativen Geschichten führt, und man staunt nicht schlecht als Leser, zu welchen! Es schleichen sich nämlich Zweifel ein, was Realität letztendlich denn überhaupt bedeutet, von Identität ganz zu schweigen! Menschenwürde, die Annahme des Ich und seiner Selbstverwirklichung, könne sich nur auf freier Wahl gründen, so das Credo des Autors. Ein Kontinuum der Handlung ist also nicht zu erwarten, womit Frisch auch die Illusion zerstört, diese Geschichte könnte tatsächlich passiert sein, er erwartete vielmehr eher, dass sie zu «artistisch» sei für das deutsche Publikum.

Der Erzähler ist von seiner Frau verlassen worden, in der leer geräumten Wohnung sitzend erfindet er zu dieser realen Erfahrung eine, wie er glaubt, dazu passende Geschichte jenes Gantenbein, der nach einem Unfall seine Erblindung vortäuscht. So kann er tun, als merke er nicht, dass seine Frau Lila ihn betrügt. Eine weitere imaginierte Figur ist Enderlin, ein Wissenschaftler mit einem Ruf nach Harvard, dem er nicht folgt, weil er annimmt, todkrank zu sein. Eine dritte Figur ist Svoboda, mit Lila verheiratet, die eine Affäre mit Enderlin beginnt. Gantenbein wiederum wird zunehmend gequält von Anzeichen für die Untreue seiner Lila: ihr Kontakt zu einem Mann aus Uruguay, mysteriöse Briefe aus Dänemark, die sie vor ihm verbirgt, ein Rat suchender junger Schauspielschüler, den sie im Schlafzimmer empfängt. Als Lila eine Tochter bekommt, hat er den Verdacht, ein Mann namens Siebenhagen könnte der Vater sein.

Den drei Männern Gantenbein, Enderlin und Svoboda steht eine Lila gegenüber, die mal Schauspielerin ist, mal Ärztin oder venezianische Contessa, mal verheiratet mit Svoboda und mal mit Gantenbein, ein Kind hat oder auch nicht, die streckenweise sogar als Baucis auftritt an der Seite von Philemon, Ovids treuem Ehepaar, das sich den gleichzeitigen Tod erbat von Zeus. Wenn schließlich eine männliche Wasserleiche im Kiefernsarg die Limmat hinunter schwimmt, eine Hand scheinbar winkend in der Strömung, ist das letzte der assoziationsreich montierten Textfragmente dieses Romans erreicht. Es mag einer der drei Männer sein, der uns da zuwinkt, – «weiß man’s?» würde Marcel Reich-Ranicki sagen. Der übrigens diesen «artistischen» Roman für gut hielt und damit so falsch nicht lag, wie ich meine.

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Suhrkamp Frankfurt am Main

Der Liebhaber

duras-2Irrt Radio Eriwan?

Schon durch den Titel «Der Liebhaber» hatte die bis dato wenig gelesene Schriftstellerin Marguerite Duras 1984 gewisse Erwartungen beim Lesepublikum geweckt, der Prix Goncourt tat ein Übriges für Bestsellerstatus und Millionenauflage. Haben sich diese Erwartungen erfüllt? Im Prinzip ja, würde Radio Eriwan antworten, aber die apostrophierte Erotik erweist sich als kinderbuchtauglich harmlos, und die fragmentarische Erzählweise ist zudem schwierig lesbar. Ein derart sperriger Text dürfte kaum massenkompatibel sein, wo aber liegt denn dann der Schlüssel zum Erfolg?

Im umfangreichen Œuvre der Autorin ist die Unmöglichkeit der Liebe ein beliebtes Sujet, sie hat es schon 1959, mit ihrem Drehbuch zum Spielfilm «Hiroshima, mon amour» thematisiert. Im vorliegenden Roman geht es um die Beziehung einer 15jährigen Schülerin zu einem zwölf Jahre älteren Mann. Anders als Nabokovs Lolita ist die französische Ich-Erzählerin noch Jungfrau, als sie Anfang der dreißiger Jahre in Saigon einen reichen Chinesen trifft, der sie zu seiner Geliebten macht. Eine Amour fou von Anfang an, sie versucht sich damit aus den Verstrickungen ihrer chaotischen Familie zu befreien, begreift sich als Prostituierte und lässt sich auch bezahlen, ist aber gleichzeitig geradezu süchtig nach sexueller Lust. Der namenlose Chinese, von der Autorin mitunter nur als der «Mann aus Cholen» bezeichnet, ist ihr verfallen, liebt sie unsterblich, wird sie aber niemals heiraten können. Denn er ist völlig vom Vater abhängig, und der hat andere Pläne, will eine arrangierte Ehe mit einer jungen Chinesin. Nach eineinhalb Jahren endet die Liaison, sie geht zum Studium nach Paris, wird Schriftstellerin (sic!) und hört erst Jahrzehnte später wieder von ihm, als er, inzwischen Familienvater, sie anruft. Und mit diesem Anruf endet der Roman auch, der letzte Satz lautet: «Er sagte ihr, dass es wie früher sei, dass er sie immer noch liebe, dass er nie aufhören werde sie zu lieben, dass er sie lieben werde bis zu seinem Tod». Ist sie also doch kein leerer Wahn, die Liebe, wie es Marcel Reich-Ranicki als Botschaft herauszulesen glaubte?

Duras beschreibt in ihrer typischen Vorliebe für das Verwegene, im Abstand vieler Jahrzehnte, den Tabubruch ihrer kindhaften Romanfigur, über deren autobiografische Bezüge viel spekuliert wurde. Sie tut dies sprachlich in einer schichten, fast karg zu nennenden, monotonen Erzählweise, emotional sehr unterkühlt, und unterstreicht damit geradezu beschwörend den Wahnsinn, ja den Horror des modernen Lebens, an dem sie teilhat, wie sie in einem Interview mal deprimiert anmerkte. Ihre Gestalten sind irgendwie alle auf tragische Weise verstrickt in ihre Leidenschaften und Widersprüche, erleben Gefühlskälte und Verluste, und auch die Fragen nach Entfremdung, nach Unendlichkeit und Tod beschäftigen die Autorin. Durch häufige Wechsel der Erzählperspektive in die dritte Person distanziert sich Marguerite Duras von ihrer namenlos bleibenden Protagonistin, die dann in den wenigen, unspektakulären erotischen Szenen als «die Kleine» bezeichnet wird. Die fragmentarische Erzählung lässt vieles unausgesprochen, ist zudem gewöhnungsbedürftig insbesondere wegen der wilden Zeitsprünge, manchmal in Einschüben von wenigen Zeilen, mit denen der Leser kaum etwas anfangen kann. Auch viele ihrer puzzleartig eingestreuten Gedankengänge, kurzum ihre Weltsicht, war mir häufig zu abstrus, ich konnte dem wenig abgewinnen.

Der Handlungsrahmen dieser Amour fou wird ergänzt durch bruchstückhafte Schilderungen einer turbulenten, vaterlosen Kindheit mit der als wahnsinnig bezeichneten Mutter, dem bösartigen älteren Bruder, dem geistig zurückgebliebenen jüngeren Bruder, mit Freundinnen aus dem Internat und aus Paris. All das aber bleiben zusammenhanglose Erinnerungsfetzen, die kaum Reflexionen des Lesers auszulösen vermögen. Bleibt einzig der Lolitaeffekt, um den Erfolg dieses Romans zu erklären, ein bisschen wenig, wie ich meine.

Zitat: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Suhrkamp Frankfurt am Main

Paris, ein Fest fürs Leben

hemingway-1Ein Amerikaner in Paris

Er gehörte zur Gruppe der amerikanischen Schriftsteller im Paris der Zwanzigerjahre des vorigen Jahrhunderts, die wegen ihrer verlorenen Illusionen nach dem Ersten Weltkrieg und dem damit einhergehenden Verfall bürgerlicher Wertvorstellungen als «Lostgeneration» bezeichnet werden, ein von Gertrude Stein geprägter Begriff. Während seiner Jahre in dieser Stadt mit ihrem besonderen Flair, die seit jeher viele Künstler magisch anzieht, hatte Ernest Hemingway von 1921 bis 1926 einiges an Aufzeichnungen angefertigt, die dann jahrzehntelang unbeachtet im Keller des Hotels Ritz lagerten. Erst 1956 nahm er sich dieser Notizen wieder an und schrieb dann vier Jahre lang an «Paris – Ein Fest fürs Leben», seinem Erinnerungsbuch über diese Zeit, dessen Titel allein ja schon eine Hommage an die französische Hauptstadt ist. «Wenn es der Leser vorzieht, kann dieses Buch auch als ein Werk der Phantasie angesehen werden», schreibt der Autor in seinem Vorwort und zählt auf, was er alles weggelassen hat, man kennt Dergleichen aus diversen Autobiografien.

Er schuf damit eine informative und amüsante Anekdoten-Sammlung, als chronologischer Bericht ist das Buch über seine Pariser Jahre nämlich nicht aufgebaut, es berichtet vielmehr schlaglichtartig von den Anfängen seiner literarischen Vita und seinen bescheidenen Lebensverhältnissen in dieser Zeit. Wobei sein Leben ja, wie ich es empfinde, geradezu der Inbegriff dessen ist, was man als pralles Leben bezeichnet, jedenfalls das eines Abenteurers und archetypischen Machos, der sein Männlichkeitsimage gepflegt hat wie kein Zweiter. Die letzten beiden Winter verbrachte er, auf der Flucht aus seiner schlecht heizbaren Pariser Wohnung, im österreichischen Schruns, wo er «Fiesta» schrieb, der Roman, mit dem ihm 1927 der Durchbruch als Schriftsteller gelang.

Francophile Leser im Allgemeinen und Parisfans im Besonderen kommen mit seinem Paris-Buch voll auf ihre Kosten, Hemingway schildert die Stadt detailverliebt und präzise, man durchschreitet sie geradezu mit ihm zusammen, er benennt immer wieder genauestens die Straßen und Plätze seiner Streifzüge. Und meistens kennt er dann auch ein Restaurant oder Bistro in der Nähe, es wird jedenfalls gut gegessen und reichlich getrunken, wenn er, meist in Gesellschaft, irgendwo Platz nimmt. Zu den Menschen, die ihm begegneten, gehörten vor allem Gertrude Stein, in deren Salon er regelmäßig verkehrte, bis er sich schließlich mit ihr überwarf, ferner Ezra Pound, James Joyce, Scott Fitzgerald, Ford Madox Ford und andere Schriftsteller mehr, und auch mit einigen Malern waren er befreundet. Natürlich drehten sich die Gespräche oft um Literatur, was die Lektüre besonders interessant macht, so wenn er zum Beispiel mit dem Schriftsteller Evan Shipman über Dostojewski redet und fragt: «Wie kann ein Mann so schlecht schreiben, so unbeschreiblich schlecht, und einen so tief ergreifen»? Um schließlich auf die Übersetzerin zu kommen, die Tolstois «Krieg und Frieden» doch ganz vortrefflich übersetzt habe, an der könne es dann ja wohl nicht liegen.

Womit wir beim Stil sind, in dem Hemingway selbst schreibt, eine eher karg zu nennende, lapidare Sprache mit ebenso kurzen wie prägnanten Sätzen. Das wirkt manchmal nüchtern wie ein Zeitungsbericht, tiefer gehende Emotionen des Autors sind darin kaum erkennbar. Seine geradezu ökonomisch zu nennende Schreibweise war damals zwar en vogue in der englischsprachigen Künstlerkolonie von Paris, sie vermag hier aber keine wirklich stimmige Atmosphäre zu vermitteln, gibt allenfalls ein wenig vom Lokalkolorit jener Zeit wieder. Damit dürfte das Buch manch hochgespannte Erwartung potentieller Leser nicht erfüllen.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Rowohlt

Mein Klassiker

anthologie-1Berichte aus dem literarischen Olymp

Diese Anthologie unter dem Titel «Mein Klassiker» hat jüngst meine Leseneugier geweckt, verspricht doch der Untertitel «Autoren erzählen vom Lesen» einen den eigenen literarischen Horizont womöglich erweiternden Blick nicht nur auf die Rezeption berühmter Bücher, sondern eben auch auf etliche der Autoren, die über ihre diesbezüglichen Lese-Erfahrungen berichten. Es sind sechsunddreißig an der Zahl, die sich da äußern, und wie sie das tun ist genau so vielschichtig, wie es zu erwarten war bei Schriftstellern, die nun mal schreibende Solitäre sind, mit zum Teil ausgeprägtem Hang zu skurriler Andersartigkeit.

Die erste Überraschung war für mich, dass mir viele der 36 Autoren dieser Anthologie nicht mal namensmäßig bekannt waren, gelesen hatte ich nur sechs von ihnen. Mir wurde aber schnell klar, dass einige wohl mehr der Lyrik, der Dramatik oder dem Sachbuch zuzurechnen sind und schon allein deshalb aus dem Radar fallen für einen der Epik zugeneigten Prosaleser wie mich. Und wer könnte bei etwa 15.000 Belletristik-Neuerscheinungen jedes Jahr in Deutschland denn wirklich behaupten, alle Autoren zu kennen, geschweige denn gelesen zu haben. Bei meinen schamhaften und unverzüglich vorgenommenen Recherchen im Internet stieß ich prompt auch gleich auf die Formulierung «vielleicht der am meisten unterschätzte deutschsprachige Autor der Gegenwart». Genau solche Lobhudelei aber, ich nenne den Autor bewusst nicht, gilt, abhängig von der ja immer persönlichen Perspektive, vermutlich gleichermaßen für alle der hier beteiligten Schriftsteller, es hilft also in der Sache nicht weiter. Ein unlösbares Dilemma mithin für Leser, die sich halbwegs auszukennen hoffen, aber eben auch nicht annähernd alles gelesen haben können.

Eine weitere Überraschung war die Auswahl der Klassiker. Nach Vladimir Nabokovs Definition sind Klassiker in der Literatur «zeitlose Kunstwerke», denen ein «individueller Genius» innewohnt. «Klassisch ist ein literarisches Werk, wenn es gleichermaßen vergangen, erinnert und gegenwärtig ist», hat Heinz Schlaffer formuliert. In bunter Folge wird in der vorliegenden Anthologie über Autoren berichtet wie auch über einzelne Werke. Ob Karl May, dem neben Anderen der erste Aufsatz gilt, in den «heiligen Hallen kanonischer Texte» beheimatet ist, muss bezweifelt werden, der Begriff Klassiker ist hier also nicht unbedingt qualitativ gemeint. Eine deutlich erkennbare Tendenz bei der Auswahl der zu besprechenden Klassiker, also der «vermeintlichen Fundamente», wie es im Vorwort skeptisch heißt, ist in vielen Fällen die Vorprägung durch Deutschstunde und Proseminar. Und so ist es auch kein Wunder, wenn die Aufsätze bis zu Ovid zurückreichen und zum «Meier Helmbrecht» ins 13te Jahrhundert. Weiter geht es über Cervantes, Petrarca, Jean Paul, Novalis, Hölderlin, Büchner, Stifter, Heine, Mörike, Goethe und Schiller bis hin zu Proust (mit 13 Seiten längster Beitrag, sic!), Thomas Mann, Tolstoi, Hamsun, Brecht, Döblin, Zweig, Robert Walser, Walter Benjamin und Gertrude Stein. Zweifellos alles literarische Olympier. Und Märchen wie «Schneeweißchen und Rosenrot» oder die «Hasenschule» bekommen ebenso ihre Bühne wie der Abenteuerroman «Ein Sturmwind auf Jamaika» von Richard Hughes oder Kriegsromane wie Hašeks «Schwejk» und Remarques «Im Westen nichts Neues». Abschließend beleuchten noch die zwei Essays «Der Leser» und «Bücher» das literarische Terrain.

Es hat sich also niemand getraut, Werke von Böll, Grass oder Lenz als Klassiker auszuwählen und zu besprechen, obwohl das mit dem heutigen zeitlichen Anstand ja durchaus angebracht wäre, ganz im Sinne von «vergangen, erinnert und gegenwärtig». Wie auch immer, diese Anthologie weist uns auf eigene Lese-Erfahrungen zurück, sie gibt zudem Anregungen für die Lektüre des einen oder anderen Klassikers sowie der beteiligten Autoren selbst, die hier kenntnisreich und zum Teil sehr unterhaltend, nicht selten sogar überraschend, aus dem literarischen Olymp berichten.

Fazit: lesenswert

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Genre: Anthologie
Illustrated by Fischer Taschenbuch Frankfurt am Main