Im Tal des Vajont

corona-1Danebengelungen

Der italienische Schriftsteller, Holzbildhauer und Alpinist Mauro Corona aus der Gemeinde Erto in den Friauler Dolomiten hat mit seinem Roman «Im Tal des Vajont» seiner Heimat ein bemerkenswertes Denkmal gesetzt. Sein 2013 auch auf Deutsch erschienener Roman findet in seiner archaischen, düsteren Thematik eine Entsprechung allenfalls achtzig Jahre vorher, in John Knittels «Via Mala», dem berühmten, inzwischen mehrfach verfilmtem Roman. Durch die Katastrophe von Vajont erlangte das Tal 1963 traurige Berühmtheit, als durch einen gewaltigen Erdrutsch in den Stausee hinein eine Flutwelle das ganze Tal überschwemmte, mehr als zweitausend Opfer waren zu beklagen. Der vorliegende Roman hingegen hat seinen zeitlichen Hintergrund lange davor.

Zwischen Prolog und Epilog verpackt liefert uns der Autor die fiktive Geschichte eines jüngst erst aufgefundenen dicken Heftes, eine mit Bleistift geschriebene Lebensbeichte, die wie folgt beginnt: «Ich heiße Severino Corona, genannt Zino. Ich wurde am 13. September 1879 in Erto geboren und habe immer auf diesem wilden und bergigen Flecken Erde gewohnt, wo es außer Arbeit nichts Gutes gibt, aber trotzdem lebe ich sehr gern hier.» Er habe, erklärt der Autor, diesen Text, der den eigentlichen Roman ausmacht, nur unwesentlich verändert. Zino, früh verwaist, fristet ein karges Leben als Ziegenhirte und Holzfäller, bis er im Alter von siebzehn Jahren seine Initiation erlebt, verführt von einer doppelt so alten Frau. Durch den gesamten Roman hindurch sind es immer wieder die Frauen, von denen die Initiative ausgeht, die ihn zu ihrem Liebhaber machen, der biblischen Eva gleich, die Adam zur Sünde verführt, eine fragwürdig einseitige, machohafte Perspektive des Autors. Natürlich bleiben diese zumeist rein sexuellen Beziehungen nicht ohne Folgen, sie lösen Abtreibungen, Eifersuchtsdramen, Morde und Selbstmorde aus, die uns heutige Leser in ihrer elementaren Brutalität schockieren. Die Wirkung der furchtbaren Taten wird noch verstärkt durch die naiv direkte, nichts beschönigende, geradezu barbarisch deutliche Erzählweise, die sprachlich die raue Gebirgswelt abzubilden scheint, in der all dies geschieht.

Glücksmomente, die geeignet wären, dieser Geschichte etwas von ihrer bedrückenden Härte zu nehmen, gibt es kaum welche. Stattdessen nimmt der Tod eine dominante Stellung ein, er ist häufiger Gast im Tal des Vajont. Die Romanfiguren werden als ernste, schicksalsergebene Gebirgler beschrieben, die weitgehend humorfrei, aber auch kaum durch moralische Skrupel oder gar den Pfarrer gebremst, ihr freudlos karges Leben fristen. Insoweit war für mich die Lektüre ebenfalls freudlos. Sie vermag nämlich auch nicht zu punkten durch sprachliches Können, denn der Autor, selbst ja Holzbildhauer, schreibt einen holzschnittartigen Stil, unbeholfen wirkend ohne jedes literarische Raffinement, an Schulaufsätze erinnernd, deren Verfasser ausschließlich bemüht sind, ihren Stoff vollständig abzuhandeln.

Paradox erscheint mir, dass hier emotionslos trocken eine Geschichte erzählt wird, die gleichwohl etliche märchenhafte Elemente enthält. Bei aller Magie aber dominiert das herb Elementare, die Schicksalsergebenheit der Protagonisten manifestiert sich in einer latent vorhandenen Todessehnsucht, die das Sterben als Befreiung von der Härte des Lebens ansieht. Die heile Bergwelt, die als Heimat auf Zino eine unwiderstehliche Anziehungskraft ausübt, erweist sich in diesem Roman als Illusion, seine schicksalhafte Getriebenheit, sein naiver Aberglaube und drastische Erotik bestimmen das Geschehen. Wer es deftig mag, kommt voll auf seine Kosten, inwieweit die zuweilen willkürlich aneinander gereiht erscheinenden Episoden über das karge Alltagsleben allerdings authentisch sind, vermag ich nicht zu beurteilen. Vieles wirkt allzu deutlich konstruiert, der Plot ist überladen mit häufigen Wiederholungen. Vor allem aber ist der Impetus des Autors an der unzulänglichen sprachlichen Umsetzung gescheitert.

Fazit: miserabel

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Genre: Roman
Illustrated by List München

Greasy Lake und andere Geschichten

boyle-1Amerikanisch, daran ist kein Zweifel

Der als Thomas John Boyle geborene US-amerikanische Schriftsteller änderte seinen Namen in jungen Jahren zu Ehren eines schottischen Vorfahren in Tom Coraghessan Boyle, bekannt geworden ist er dann jedoch unter dem Kürzel T. C. Boyle. Wie bei seinem Namen sind auch im Werk des Autors unbändige Kreativität und sprachliche Knappheit die entscheidenden gestalterischen Merkmale, der 1985 erstmals veröffentlichte Band «Greasy Lake und andere Geschichten» ist ein prägnantes Beispiel dafür. In ihm sind vierzehn seiner Kurzgeschichten zusammen gefasst, insgesamt gibt es mehr als sechzig davon, die von ihm in etlichen derartigen Bänden publiziert wurden, gleichwertig neben seinen Romanen.

Und es geht gleich richtig zu Sache in der titelgebenden ersten Geschichte «Greasy Lake», eine durchaus schockierende Erzählung über eine Gruppe Jugendlicher, von der es da im ersten Absatz heißt: «Wir waren neunzehn. Wir waren böse. Wir lasen André Gide und nahmen ausgeklügelte Posen ein, um zu zeigen, dass wir auf alles schissen. Abends fuhren wir meistens zum Greasy Lake rauf». Es folgt ein von Alkohol und Drogen geförderter, völlig sinnloser Gewaltexzess. Wie hier sind auch in den anderen Kurzgeschichten zumeist Außenseiter der Gesellschaft als Protagonisten vertreten, oft komische Sonderlinge, die Boyle mit wenigen Worten glaubhaft und treffend skizziert. Er tut dies mit einer unterschwelligen Ironie, die aus dem ernstesten Geschehen eine amüsante Story entstehen lässt. Sprachlich ist all das brillant umgesetzt durch einen metaphernreichen, gleichwohl aber eher nüchternen, knappen und pointierten Schreibstil, der mich zuweilen an Hemingway erinnert hat.

Boyles Themen sind nicht nur originell, sie verblüffen den Leser auch durch ihre Vielfalt. Da geht es um eine verhängnisvolle Leihmutterschaft, eine heimliche Liaison des amerikanischen Präsidenten Eisenhower mit der Frau des KPdSU-Generalsekretärs Chruschtschow, einen grausamen indischen Bettlerkönig, um üble Geschäfte mit naiven Überlebensängsten, fanatische Walschützer, den Erfolg der Neumondpartei in den USA, einen gescheiterten Elvis-Presley-Imitator, die Einbürgerung der Stare 1890 mit ihren unerwünschten Folgen 1980, es geht um den grotesken materiellen Mangel im kommunistischen Russland und anderes mehr. Detailreich geschildert und immer wieder überraschende Wendungen nehmend, wobei wie gesagt auch der Humor nicht zu kurz kommt, sind diese wahrhaft abenteuerlichen Geschichten eine gleichermaßen abwechslungsreiche wie kurzweilige Lektüre.

«Literatur kann in jeder Hinsicht großartig sein, aber sie ist nur Unterhaltung». Wie stimmig dieses Zitat von T. C. Boyle ist, speziell für ihn persönlich, das zeigt sich für mich recht deutlich in der vorliegenden Sammlung von Geschichten. Der Autor hinterlässt mit ihnen beim Leser keine nachhaltige Wirkung, man hat sie vergessen, kaum dass man sie gelesen hat, mithin eine ziemlich belanglose Lektüre, für die U-Bahn oder den Badestrand geeignet. Gut und Böse sind da immer klar getrennt, Zwischentöne fehlen weitgehend, Philosophisches gar ist nirgendwo zu finden, obwohl die interessanten Themen ja bestens dazu geeignet wären, die Dinge etwas tiefer auszuloten, ihnen auf den Grund zu gehen, auch andere Facetten zu beleuchten. Man wird also nicht gerade bereichert durch dieses Buch, aber immerhin sehr gut unterhalten, amerikanisch eben, daran ist kein Zweifel.

Fazit: lesenswert

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Genre: Kurzgeschichten und Erzählungen, Roman
Illustrated by dtv München

Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge

rilke-1Der Lyriker als Romancier

Rainer Maria Rilke selbst hat «Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge» als Prosabuch bezeichnet, nicht als Roman. Im Brockhaus wird der Roman definiert durch «die individuell gestaltete Einzelpersönlichkeit, die einer als problematisch empfundenen Welt gegenübertritt», und genau dieses Charakteristikum findet sich hier in der fiktiven Figur des dänischen Poeten, der einem aussterbenden Adelsgeschlecht angehört und als armer Dichter in Paris seinen Weg sucht – also doch ein Roman! Es ist der einzige, den der Lyriker Rilke geschrieben hat, ganz unter dem Eindruck seines Aufenthaltes in der damals drittgrößten Stadt der Welt, sein Roman wurde 1910 veröffentlicht.

Im ersten Teil der fragmentarischen, aus 71 Aufzeichnungen bestehenden Erzählung berichtet der 28jährige Malte als eine Art Tagebuchschreiber von seinen Pariser Erlebnissen und den schockierenden Eindrücken, der Moloch Großstadt steht jedenfalls in krassem Gegensatz zu seiner Kindheit in einer wohlbehüteten ländlichen Welt. Er schildert die Menschenmassen und das unsägliche Elend, das mit der Industrialisierung einhergeht. Verfall, Krankheit und Tod scheinen allgegenwärtig, ständig begegnen ihm nie gesehene Aussätzige, Krüppel, übelste Gerüche verfolgen ihn auf seinen Streifzügen, – in seinem Eckel ist ihm die Bibliothek einzige Zufluchtsstätte im Paris des Fin de Siècle. Seine Kindheitserinnerungen im zweiten Themenkomplex sind geprägt von hochherrschaftlichen Wohnsitzen mit großen Zimmerfluchten, dunklen Ölgemälden mit den Portraits der Vorfahren, steifen Essensritualen im Kreise der Familie, sogar der Spuk einer vor hundert Jahren gestorbene Ahnfrau fehlt da nicht, sie erscheint gelegentlich in weißem Kleide und durchquert das Esszimmer, zum Schrecken aller. Und ganz verschlüsselt schimmert auch eine verbotene Liebe durch in den Jugendbildern, von denen Malte in nicht chronologischer Folge berichtet.

Ergänzt wird all dies durch Reflexionen über historische Ereignisse, denen zu folgen, deren Anspielungen zu verstehen, den Normalleser deutlich überfordern dürfte, bei mir war es jedenfalls so. Ob da von längst verblichenen Königen oder edlen Damen die Rede ist, vom Papst in Avignon, von antiken Gestalten, hundert Jahre nach Erscheinen des Romans dürfte dem heutigen Leser oft der adäquate Verständnishintergrund fehlen. Einfacher ist es da und auch ergiebiger, Rilkes Gedanken über Grundfragen menschlichen Lebens zu folgen, die Frage nach Gott, die eigene Identität, Schicksal, Liebe, Angst, Tod, aber auch Gesellschaft, Kunst und Sprache natürlich, die Benennung von Geschehnissen und Dingen also, deren pure Existenz ohne die Sprache ihm fraglich erscheint.

Und damit sind wir genau bei dem, was diesen Roman auszeichnet, die unglaublich feinfühlige, tiefgründige Sprache nämlich, die ihresgleichen sucht in der deutschen Prosa, kurzum subtil Erzähltes, gemeinhin als Prosagedicht bezeichnet. Hier wird nicht blumig in Worten geschwelgt wie bei manchen Großschriftstellern, nicht maßlos ausufernd wie bei seinem Zeitgenossen Proust zum Beispiel, Rilke entwirft im Gegenteil in knappen Worten einen ganzen Kosmos an Gedanken. Die Dichte seiner Prosa ist atemberaubend, er war der sensible Poet, der «unter dem Sichtbaren nach dem Äquivalenten suchte für das innen Gesehene», und was wir als Ergebnis bei ihm lesen ist äußerst komprimierte «Schmucksprache» im besten Sinne des Wortes. Als einer der Wegbereiter der literarischen Moderne verwendet Rilke Montagetechniken, setzt den Bewusstseinsstrom ein, sogar ein fiktiver Herausgeber findet sich, personifiziert durch gelegentlich eingestreute Randnotizen im Manuskript und verschiedene Fassungen im Anhang. Auch wenn wir nicht alles erfahren über Malte, an dieser oder jener Verständnisklippe scheitern, dieser Roman ist ein sprachliches Fest für entsprechend orientierte Leser mit Muße für ihre Lektüre, vielleicht sogar mit der seltenen Geduld, ein schwieriges, aber wichtiges Werk auch mehrmals zu lesen.

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Insel Frankfurt am Main

Geleitbrief

pasternak-1Spezielle Lesefrüchte

Eine breitere Öffentlichkeit kennt ihn vom Kino her, der auf seinem 1957 erschienenen einzigen Roman basierende Spielfilm «Doktor Schiwago» war international äußerst erfolgreich und gewann in Hollywood gleich fünf Oscars. Als 1958 der Nobelpreis für Literatur an Boris Pasternak verliehen wurde, musste der regimekritische Schriftsteller diesen auf Druck der Behörden ablehnen. Erst posthum, mit der allmählichen Liberalisierung unter Gorbatschow, wurde er offiziell rehabilitiert, sein Sohn konnte dann stellvertretend 1989 den Nobelpreis für ihn entgegennehmen. Geehrt wurde damit sein «bedeutender Beitrag zur zeitgenössischen Lyrik sowie zur großen russischen Erzähltradition». Zu Letzterer gibt in dem überschaubaren Prosawerk des Autors der Band «Geleitbrief» mit dem Untertitel «Entwurf zu einem Selbstbildnis» ein Beispiel ab für sein diesbezügliches Talent.

Pasternak stammte aus einer intellektuellen Familie, der Vater Professor für Malerei, die Mutter eine bedeutende Pianistin. In ihrem Hause in Moskau trafen sich viele Künstler, sein Vater illustrierte zum Beispiel die Bücher von Lew Tolstoi, es verkehrte aber auch Aleksandr Skrjabin bei ihnen, für den er grenzenlos schwärmte, ja selbst von einer solchen musikalischen Karriere träumte, – er war also ganz verschiedenen künstlerischen Einflüssen ausgesetzt. Und so beginnt denn auch der «Geleitbrief» mit einer Zugfahrt mit seinen Eltern, bei der sie auf ein deutsches Ehepaar treffen – Rainer Maria Rilke mit Frau – das zu Tolstoi will. Und tatsächlich hält der Schnellzug quasi auf freier Strecke im Wald, an einem exklusiven Haltepunkt nur für den berühmten Schriftsteller, der dort auf seinem Landgut lebt.

Der dreiteilige Bericht enthält in chronologischer Folge Ereignisse aus dem Leben des Dichters, der erst auf Umwegen zu seiner Kunst fand. Zunächst beginnt er ein Studium der Jurisprudenz, widmet sich aber weiter auch der Musik. Nach einem Vorspiel bei Skrjabin erkennt er jedoch, dass eine musikalische Karriere für ihn nicht in Frage kommt, der berühmte Komponist empfiehlt ihm einen Wechsel zur philosophischen Fakultät. Dort arbeitet er mit großem Eifer, wobei ihn die Denkrichtung der Marburger Schule besonders anzieht. Als seine Mutter ihm eine größere Summe Geldes gibt für einen Auslandsaufenthalt, geht er nach Marburg, um bei Hermann Cohen, dem Begründer des Neukantianismus, zu studieren. Diese Zeit in Deutschland hat Pasternak besonders geprägt, er greift neben glänzend erzählten Episoden aus seinem persönlichen Leben immer wieder philosophische Themen auf, erzählt von tiefschürfenden Gesprächen mit seinen Freunden und Kommilitonen. Dabei nimmt die Kunst, insbesondere natürlich aber die Literatur, einen breiten Raum ein, er beleuchtet deren Wesen aus den verschiedensten Blickwinkeln. Und so bleibt es nicht aus, dass er nach eifrigen Studien plötzlich zu dem Schluss kommt, sich ganz der Literatur zu widmen, die Philosophie sofort und endgültig aufzugeben. Überstürzt verlässt er Marburg, bereist Italien, dessen grandiose Kunstfülle ihn maßlos beeindruckt.

«Geleitbrief» ist eine ganz besondere Form von Autobiografie. Einerseits Zeugnis beharrlicher Selbstfindung, andererseits aber auch Verkündung glücklich erworbener Erkenntnisse auf dem Weg zu einem Dichter, dessen poetische Kunst tief verwurzelt ist in der russischen Geschichte und Tradition. In wohlgesetzten Worten beschreibt Pasternak sehr bildhaft das Wesentliche unseres Daseins zwischen dem Faktischem und der Kunst als dessen Gegenpol. Er tut dies mit großem Ernst, sehr nüchtern denkend. Das ist bereichernd für den Leser, der nebenbei auch einen vertiefenden Einblick in die Welt einer Literatur erhält, deren Nährboden Pasternaks geliebte Heimat Russland bildet. Unterhaltsam jedoch ist diese Prosa nicht, der Autor setzt bei seinen Lesern den Willen zum steten Mitdenken voraus, aus dem erst jene speziellen Lesefrüchte erwachsen können, die solcherart Lektüre literarisch wertvoll machen.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Fischer Taschenbuch Frankfurt am Main

Ein anderer Ort

oz-1Im Mikrokosmos des Kibbuz

Der 1939 als Amos Klausner geborene Schriftsteller nahm 15jährig beim Eintritt in einen Kibbuz den Namen Amos Oz an, als meistübersetzter israelischer Autor und Professor für hebräische Literatur wurde er zeitlebens mit vielen Preisen geehrt. In seinem 1966 erschienenen ersten Roman «Ein anderer Ort» thematisiert er die israelische Utopie einer basisdemokratisch geführten, sozialistischen Siedlungsgemeinschaft, dem Kibbuz, der im heutigen Israel wirtschaftlich und gesellschaftlich bedeutungslos geworden ist. Der Gegensatz einer streng rationalen, disziplinierten Gesellschaftsordnung des idealistischen Kollektivs zu den individuell vorhandenen, existentiellen Trieben und Prägungen der einzelnen Mitglieder bildet den Stoff, besser Zündstoff, für eine Geschichte, die zeitlich Anfang der sechziger Jahre – noch vor dem Sechstagekrieg – angesiedelt ist.

In einer Fülle von anschaulich beschriebenen, oft kantigen Figuren bilden zwei Paare die alles dominierenden Protagonisten. Ihre als Amour fou den beschaulichen Frieden im Kibbuz störenden sexuellen Beziehungen bilden im Wesentlichen den losen erzählerischen Leitfaden einer ansonsten handlungsarmen Geschichte. Der von seiner Frau verlassene Lehrer des Wehrdorfs im Norden Israels hat ein Verhältnis mit der Frau des LKW-Fahrers, welcher sich wiederum von dessen 15jähriger Tochter verführen lässt, was nicht ohne Folgen bleibt, sie wird schwanger. Die in dieser unheilvollen Melange begründeten individuellen Konflikte münden gleichwohl in ein versöhnliches Ende, das Menschliche obsiegt über das rein Rationale.

Um die hier kurz skizzierte Handlung herum wird ein etwa einjähriger Abschnitt aus dem Kibbuzleben erzählt. Amos Oz beschreibt in einzelnen Szenen wunderbar stimmig und mit Liebe zum Detail eine ganz eigene Welt, die für den ausländischen Leser unwirklich, fast exotisch erscheinen muss mit ihrem streng befolgten Regelwerk. Dessen religiöse Komponente wird verkörpert durch den LKW-Fahrer, ein ebenso tatkräftiger wie ernster, wortkarger Mann, der häufig in Bibelzitaten sprechend seine Gesprächspartner immer wieder verblüfft mit seiner unbeirrten Geradlinigkeit. Überhaupt ist die selbstverständliche Bereitschaft der Siedler, sich den strengen Regeln und der harten Arbeit zu unterwerfen, ihre fast mönchische Genügsamkeit wirklich staunenswert. Weit ins Familienleben eingreifend wachsen Kinder hier räumlich getrennt von den Eltern auf, jedes Privateigentum wird strikt ablehnt, die Gleichheit aller postuliert, ein Irrtum, an dem auch der Kommunismus gescheitert ist. Der von den Älteren verinnerlichte Gründungsmythos der Kibbuzniks wird von den jungen Leuten zunehmend in Frage gestellt, sie sperren sich gegen die sozialistische Idee, verlassen ihr Wehrdorf, ziehen in die Städte oder gehen ins Ausland. Die Nähe der arabischen Feinde und deren ständig drohenden Angriffe fördern unter den jungen Israelis einen aggressiven Militarismus, der dem Friedenswillen der Alten entgegensteht: «Ein Jude, der zur Waffe greift, ist kein Jude», glauben jene. Und so endet denn auch dieser Roman mit einem von den Kibbuzniks durch eine Landnahme provozierten Scharmützel mit den Arabern, dem der Traktorfahrer zum Opfer fällt und das viel Sachschaden anrichtet.

Unübersehbar nostalgisch und wehmütig verklärend beschreibt Amos Oz hier eine bieder anmutende Pionierzeit, die schon damals ihren Zenith überschritten hatte. Er erzählt sie aus der Perspektive eines Ich-Erzählers, der anonym bleibt, aber im Dorf lebt und den Leser schon im ersten Satz direkt anspricht: «Vor euch liegt der Kibbuz Mezudat Ram». Zuweilen in Form des Bewusstseinsstroms erzählt, häufig aber durch direkte Rede, breitet der Autor das Bild eines fremdartigen Mikrokosmos vor dem Leser aus. Immer wieder lässt er ihn auch teilhaben an seinen Gedanken, würzt all dies mit feiner Ironie und schafft damit elegant eine Atmosphäre der Vertrautheit, die den Leser fest an sein Buch zu fesseln vermag.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Suhrkamp Frankfurt am Main

Die Schrecken des Eises und der Finsternis

ransmayr-1Eisige Chronik

Als literarisches Genre erfreuen sich Reiseerzählungen schon seit der Antike großer Beliebtheit, Fernweh ist das Hauptmotiv dafür. Wobei der besondere Reiz für manchen Leser wohl auch darin bestehen mag, all die Abenteuer und Strapazen solcher Reisen vom bequemen Sessel in der warmen Stube aus miterleben zu können. Der Titel «Die Schrecken des Eises und der Finsternis» von Christoph Ransmayrs frühem Roman, 1984 erschienen, weist überdeutlich auf diesen Zusammenhang hin. Der österreichische Autor ist selbst ein begeisterter Globetrotter, der in seinen Werken Fiktionales und Historisches vermischt und menschliche Grenzerfahrungen thematisiert.

Im Wesentlichen geht es in diesem Buch um die österreichisch-ungarische Polarexpedition von 1872 bis 1874 zur Erkundung der Nordostpassage, dem nördlichen Seeweg zum Pazifik, in deren Verlauf das Franz-Josef-Land entdeckt wurde. Basierend auf diverse, im Original erhaltene Berichte und Tagebücher der Teilnehmer und ergänzt um viele sachliche Informationen über die Arktis und die Geschichte ihrer Erforschung, wird in diesem Handlungsstrang reportageartig über die Geschehnisse während der dramatischen Expedition berichtet. Ausführlich werden dabei viele originale Texte zitiert, kursiv gekennzeichnet, die Verfasser sind jeweils benannt. Der sachbuchartige Eindruck wird durch ergänzenden Tabellen, Zeichnungen und Fotos noch verstärkt, die Sprache ist auffallend nüchtern auch in den Passagen, in denen immer wieder die bizarre Eislandschaft beschrieben wird in ihrer Schönheit, aber auch in ihrer für Menschen lebensbedrohlichen Unwirtlichkeit.

Dieser montageartig gefügte Bericht wird abschnittsweise im Wechsel mit einem zweiten, fiktiven Handlungsstrang erzählt, der hundert Jahre später einen italienischen Abenteurer auf den Spuren der historischen Expedition in die Arktis lockt und ihn dort schließlich mit einem Hundeschlitten im Eis Spitzbergens spurlos verschwinden lässt. Zweifellos eine Farce, deren Motive allerdings undeutlich bleiben, die allenfalls als skurrile Form eines Selbstmords gedeutet werden könnten. In Ergänzung mit diesem fiktionalen Teil ist somit also tatsächlich die vom Autor deklarierte Romanform gegeben, wozu auch beiträgt, dass die historischen Texte von Ransmayr mutmaßlich redigiert wurden. An denen nämlich fällt die geradezu poetische Sprache auf, in der sie verfasst sind und die oft so gar nicht zu den extremen Situationen während ihrer Niederschrift passen will. Wie auch immer, einig sind sich Autor wie auch der historische Expeditionsleiter Weyprecht in ihrer Skepsis, was die Jagd ehrgeiziger Entdecker und Erstbezwinger nach Ruhm anbelangt, allein die wissenschaftliche Erkenntnis rechtfertige alle Mühen und Entbehrungen derartiger Expeditionen. «Die arktische Forschung sei doch zu einem sinnlosen Opferspiel verkommen und erschöpfe sich gegenwärtig in der rücksichtslosen Jagd nach neuen Breitenrekorden im Interesse der nationalen Eitelkeit», lautet ein spätes, skeptisches Fazit Weyprechts.

Die Dramatik dieses historischen Geschehens ist durchaus spannend zu lesen, sowohl was die physischen Herausforderungen einer äußerst feindlichen Umwelt in diesen nördlichen Breiten anbelangt als auch die psychischen Belastungen, denen zwei Dutzend Menschen in einer fast zweijährigen Isolation ausgesetzt sind. Eine ereignislose, entbehrungsreiche Zeit, in der gleichwohl die militärische Hierarchie aufrecht erhalten bleiben muss. Der stilistisch anspruchlose Text ist leicht lesbar und hat mich anfangs in den Schilderungen der menschenfeindlichen Natur überzeugt, die dann leider durch allzu häufige Wiederholungen aber bald langweilig werden. Herzlich wenig konnte ich dem modernen Handlungsstrang abgewinnen, er stört nur den Lesefluss, ohne die Erzählung in irgendeiner Weise wirklich zu bereichern. Ein zwiespältiges Leseerlebnis also, sachlich informativ, den Horizont weitend, in der literarischen Umsetzung aber wenig überzeugend.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Fischer Taschenbuch Frankfurt am Main

Der Untergeher

bernhard-2Wertheimer war ausexistiert

Avantgarde ist ein in der Literatur wenig geschätzter Begriff, beinhaltet er doch meist eine Konfrontation mit unbekanntem Terrain, die, wenn nicht zum Umdenken, so doch zum zumindest zeitweiligen Verlassen des Vertrauten zwingt, also mühsam ist und nicht vorhersehbare Ergebnisse zeitigt. Der Österreicher Thomas Bernhard ist einer dieser avantgardistischer Schriftsteller, der in seinem Werk die bewährten (und ausgetretenen) Pfade der Prosaliteratur konsequent ignoriert, wofür «Der Untergeher» ein beredtes Beispiel ist. Wer also bereit ist, sich dem aus unendlich vielen Prosatexten vertrautem, konventionellem Erzählstil zu entziehen, wird hier auf ganzer Linie fündig. Der Leser begegnet nämlich einem sehr eigenwilligen Duktus, einem ganz besonderen sprachlichen Stil dieses polarisierenden Autors, an dem sich die Geister der Lesenden scheiden in glühende Bewunderer und abgrundtiefe Verächter. Nicht selten gesellen sich noch wutschnaubende Politiker und Künstler hinzu, die sich getroffen fühlen, weil Bernhard als Enfant terrible seinen Landsleuten überdeutlich die Leviten liest, im Roman wie früher auch in seinen gefürchteten Reden.

Thema dieses Romans mit dem eigenwilligen Titel ist die Frustration des Künstlers angesichts der Tatsache, dass es trotz aller Bemühungen fast immer andere, konkurrierende Künstler gibt, die tatsächlich oder vermeintlich besser sind, noch genialer, noch virtuoser. «Auch Glenn Gould, unser Freund und der wichtigste Klaviervirtuose des Jahrhunderts, ist nur einundfünfzig geworden, dachte ich beim Eintreten in das Gasthaus» lautet der erste Satz des Romans. Erzählt wird die Geschichte dreier Freunde, die zusammen am Mozarteum in Salzburg einen Klavierkurs bei Horowitz besuchen. Die Freunde des namenlos bleibenden Ich-Erzählers sind Glenn Gould und Wertheimer, dessen Vorname ebenfalls ungenannt bleibt. Angesichts des Genies von Gould resignieren die zwei Anderen, der Ich-Erzähler verschenkt spontan seinen Steinway, Wertheimer versteigert seinen Bösendorfer, beide rühren keine Taste mehr an. Gould sieht in Wertheimer einen, der untergehen wird und nennt ihn «Untergeher». Zwanzig Jahre später stirbt Gould beim Klavierspielen, Wertheimer erhängt sich wenig später.

Alles, was erzählt wird, ist in Form des Bewusstseinsstroms artikuliert, was der Autor durch ein ständig wiederkehrendes «dachte ich» zusätzlich verdeutlich. Damit wirkt er fast penetrant suggestiv auf den Leser ein, weist ihm strikt die Perspektive seiner Ich-Figur zu, zwingt ihm unentrinnbar deren endlosen Gedankenfluss auf. Lässt man sich darauf ein, entdeckt man viel Amüsantes, nicht nur in den deftigen Provokationen, für die Bernhard ja bekannt ist, sondern auch in den kreativen Wortschöpfungen, in der für ihn typischen erbarmungslosen Unduldsamkeit, und natürlich auch in seinen grotesken Übertreibungen. Salzburg sei die Stadt, schreibt er, «die im Grunde die kunst- und geistfeindlichste ist, die man sich denken kann, ein stumpfsinniges Provinznest mit dummen Menschen und kalten Mauern, in welchen mit der Zeit alles zum Stumpfsinn gemacht wird, ausnahmslos». Über die Motive für Wertheimers Suizid heißt es boshaft: «Er hatte sich zu Ende gelebt, war ausexistiert».

Der von mir über alles geschätzte, scharfsinnige Kabarettist Georg Schramm nannte eines seiner Bühnenprogramme «Thomas Bernhard hätte geschossen». Beide eint der scharfe Wortwitz, mit dem sie gegen den alltäglichen Wahnsinn zu Felde gezogen sind, die gesellschaftlichen Unzulänglichkeiten angeprangert haben. Leider hat Schramm den Rückzug von der Bühne angetreten, man kann ihn dort nicht mehr erleben. Thomas Bernhard aber kann und sollte man lesen, er weitet einem auf wundersame Weise den literarischen Horizont, und auch wenn er dabei auf kabarettistische Art grob übertreibt, ist man nicht nur amüsiert, sondern en passant auch bereichert.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Suhrkamp Taschenbuch Verlag

Das Treibhaus

koeppen-1Suizid im Bonner Ghetto

Als Mittelteil der «Trilogie des Scheiterns» gehört der 1953 veröffentlichte Roman «Das Treibhaus» von Wolfgang Koeppen zu den bedeutendsten Werken der deutschen Nachkriegsliteratur, er markiert gleichzeitig auch den Höhepunkt im Werk dieses Schriftstellers. Es folgte nichts Vergleichbares mehr, und so wurde es auch nichts aus den hochgespannten Erwartungen von Siegfried Unseld, der sich in Koeppen den Autor eines deutschen «Ulysses» erhofft hatte. Womit ein Stichwort schon gesagt ist, denn mir waren vor vielen Jahren beim ersten Lesen dieses Buches ebenfalls stilistische Ähnlichkeiten mit dem berühmten Roman von James Joyce aufgefallen. Wenige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg haben viele deutsche Autoren Werke geschrieben, die unter dem Begriff Trümmerliteratur subsumiert wurden, Koeppen gehörte wie auch Arno Schmidt zu den wenigen Schriftstellern, die sich im Duktus damals schon von deren sprachlicher Verknappung und thematischen Rückwärtsgewandtheit gelöst hatten.

Protagonist des Romans ist der ehemalige Journalist Felix Keetenheuve, der während des Dritten Reiches im Exil gearbeitet hatte, nach Kriegsende zurückkehrt war und später Abgeordneter des Deutschen Bundestages wurde. Die Handlung ist zeitlich auf wenige Tage begrenzt, in denen der Mittvierziger im D-Zug in die Hauptstadt fährt, um als Oppositionspolitiker an der wichtigen Abstimmung über die Wiederbewaffnung Deutschlands teilzunehmen. Die Beerdigung seiner jungen Frau Elke liegt da gerade hinter ihm, er hatte sie, deren Vater Gauleiter war und sich bei Kriegsende mit seiner Frau umgebracht hat, als herumstreunendes Mädchen in einem zerbombten Haus aufgegriffen, sie schließlich auch geheiratet. Durch seine politischen Verpflichtungen immer wieder vernachlässigt, war sie später alkoholsüchtig geworden, er fühlt sich nun schuldig ihr gegenüber. Für die Debatte wird ihm brisantes Material zugespielt, das er als pazifistisches Aushängeschild seiner Partei in der Rede überraschend einsetzen soll, um einen Eklat auszulösen. Gleichzeitig aber wird ihm seitens der Regierung ein geruhsamer Botschafterposten in Guatemala angeboten, offensichtlich nur um damit einen unbequemen Gegner loszuwerden. Keetenheuve ist ein parlamentarischer Sonderling, ein Schöngeist mit Sinn für Gedichte von Baudelaire, der sich keinem Fraktionszwang beugt, ein Freigeist, der die alten Strukturen restaurativ wieder hervorbrechen sieht im neuen Staate, und der resigniert erkennen muss, dass er daran rein gar nichts ändern kann. Er hält seine Rede, deren Zündstoff nicht mehr wirkt, weil die Regierung längst informiert ist und schon vorab dementiert hat mit allen ihr zu Verfügung stehenden Mitteln. Nach einem abendlichen Streifzug durch seine Stammlokale steht er auf der Rheinbrücke. «Er war sich selbst eine Last, und ein Sprung von dieser Brücke machte ihn frei.» heißt es dann im letzten Satz.

Natürlich ist dieser Roman auch ein Schlüsselroman, allen Dementis des Autors zum Trotz, dessen Camouflage natürlich nicht verdecken kann, dass Bonn gemeint ist als Regierungssitz (welche Stadt denn sonst?), Adenauer als Kanzler (es gab damals keinen anderen!), und auch Theodor Heuss und Kurt Schumacher sind selbst für politische Laien unschwer erkennbar. Das Bild, das da gezeichnet wird vom parlamentarischen Alltag und von den Ränkespielen im Hintergrund ist überaus desillusionierend, ein Ghetto von Berufspolitikern, Beamten, Journalisten, das wie ein Treibhaus hermetisch abgeschlossen ist von der Außenwelt, von der Lebenswirklichkeit. Und mittendrin Keetenheuve, der einsam und frustriert keinen Ausweg mehr weiß.

Koeppens assoziationsreiche Sprache ist nicht gerade flüssig zu lesen. Der systemkritische Roman aus den parlamentarischen Anfängen der Bundesrepublik ist gleichwohl ein wertvolles Zeitzeugnis aus diesem sehr speziellen Milieu, ein äußerst rares obendrein. Die Lektüre lohnt sich aber nicht zuletzt auch gerade wegen des unkonventionellen sprachlichen Stils.

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Suhrkamp Taschenbuch Verlag

Die Frau im Mond

agus-1Realität und Fiktion

Welcher Zauber liegt doch in der Vorstellung vom Mann im Mond, dieser mythischen Gestalt auf unserem Erdtrabanten, deren Gesicht wir manchmal zu erkennen glauben! Mit dem Titel «Die Frau im Mond» wird an dieses Faszinosum erinnert in der Geschichte einer Frau auf Sardinien, deren Leben uns von ihrer Enkeltochter erzählt wird. «Ihr ganzes Leben lang hatte man ihr gesagt, dass sie wirke, als stamme sie von einem Dorf im Mond». Milena Agus wandelt mit ihrem zweiten Roman auf den Spuren ihrer großen Kollegin Grazia Deledda, «die das Leben ihrer väterlichen Herkunft schildert und allgemein menschliche Probleme mit Tiefe und Wärme behandelt», wie das Nobelkomitee 1926 befand. Nicht anders Milena Agus, die in ihrem kleinen Roman vom ziemlich unkonventionellen Liebesleben einer sardischen Bauerntochter berichtet, an Gabriel García Márquez erinnernd, so der aus dem Feuilleton zitierende Klappentext. Ihre Sprache ist schlicht, unkompliziert, geradezu karg, dem besonderen Flair dieser abgesonderten italienischen Insel und ihrer auf Eigenständigkeit bedachten Bewohner damit geradezu archetypisch entsprechend.

Die Protagonistin dieses Romans, von der Ich-Erzählerin stets nur als Großmutter bezeichnet, womit immer wieder die Erzählperspektive verdeutlicht wird, ist eine für ihre bäuerliche Umgebung ungewöhnliche Frau auf der Suche nach Liebe. Gleich im ersten der zwanzig Kapitel erfahren wir, wie es dazu kam, dass sie ihrer großen Liebe begegnete, im Roman der Reduce genannt, ein beinamputierter Kriegsheimkehrer. In etlichen Rückblenden erzählt die Enkelin, die mit ihr ein geradezu intimes Vertrauensverhältnis hat, die Lebensgeschichte ihrer innig geliebten Großmutter. Von den Eltern viel zu früh aus der Schule genommen reift sie zu einer schönen Frau, ist mit dreißig aber immer noch unverheiratet, weil sie als verrückt gilt, weil sie mit ihren Liebesgedichten, auch anzüglichen Inhalts, alle potentiellen Ehemänner vergrault. Nach versuchtem Selbstmord durch Sturz in den Brunnen und einigen Selbstverletzungen eine Kandidatin für die Psychiatrie, findet sie schließlich doch noch einen Mann, den sie zwar nicht liebt, mit dem sie sich aber auf ungewöhnliche Weise arrangiert in ihrer Ehe. Bis sie bei einer Kur dann auf den Reduce trifft, der ihre große Liebe ist, das erkennt sie sofort. Einer, der sie versteht wie niemand sonst, der sie in die schöne Welt der Musik einführt, der ihre geheimen Texte schätzt und sie ermuntert, weiter zu schreiben. Die wenigen Wochen dieses Kuraufenthaltes stellen den unvergesslichen Höhepunkt ihres Lebens dar. Beide aber sind verheiratet, und so sehen sie sich später nie wieder, auch wenn sie einmal naiv versucht, ihn in Mailand zu finden, ohne eine Adresse zu haben. Der sehr spät dann doch noch geborene Sohn entwickelt sich zu einem international gefeierten Pianisten, als Mutter förderte sie liebevoll sein ganz offensichtlich vorhandenes musikalisches Talent.

Geradezu als euphorische Hommage gerät der sardischen Autorin diese phantasievoll erzählte, pralle Lebensgeschichte einer unbeirrbaren Frau, die ihrer naiven Vision von der wahren Liebe anhängt. Aber ist es denn naiv, an die große, die einmalige Liebe zu glauben? Oder muss sie ein lebenslanger Traum bleiben, weil die Realitäten des Lebens anders sind? Denn auch davon ist zu lesen, wenn zum Beispiel in der Ehe der Protagonistin diverse Bordellspiele praktiziert werden, bei denen Liebe ganz ohne Tabu als rein sexuelle Lustbarkeit betrieben wird. Im Finale schließlich erlebt der Leser eine handfeste Überraschung, die zwar nicht jeden überzeugen wird, aber doch nachdenklich machen dürfte, und dieses Reflektieren lohnt sich allemal! Realität und Fiktion immer streng auseinander zu halten ist nämlich manchmal gar nicht erwünscht, und in einem Roman mit solch geheimnisvollem Titel erst recht nicht!

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by dtv München

Im Stein

meyer-1Pecunia non olet

Schwerer Tobak wartet da auf die Leser mit Clemens Meyers Roman «Im Stein», von der anrüchigen Thematik her sicherlich Neuland für die meisten, so auch für mich. Vor dem Hintergrund einer ungenannten, aber leicht als Leipzig identifizierbaren Stadt und ihrer Geschichte von der Wende bis in die jüngste Vergangenheit hinein begegnen uns sämtliche archetypischen Subjekte des Rotlichtmilieus und deren Helfershelfer aus Politik und Verwaltung. Ein Roman aus dem sächsischen Sumpf der Prostitution mithin, in dem der Autor kein Blatt vor den Mund nimmt bei der vermutlich authentischen, in jedem Fall aber kenntnisreichen und drastischen Beschreibung der Sexbranche und ihrer Usancen. Wir erleben die zugehörigen Nachtgestalten aus größter Nähe: Nutten, Zuhälter, Betreiber von Eroscentern, Immobilienhaie, Dealer, korrupte Kommissare und willfährige Beamte, allesamt bemüht, auf der Jagd nach dem Geld der Freier möglichst viel für sich abzukassieren.

Ein Tross von Schmarotzern also profitiert da von der Arbeit der Prostituierten, einer sexuellen Dienstleistung, die als ein Wirtschaftszweig wie jeder andere angesehen wird, der dem Staat einiges an Steuern in die Kassen spült, immer nach dem Motto: Geld stinkt nicht! Der Leser wird mit kriminellen Machenschaften bis hin zu Mord und Totschlag, aber auch mit vielen unappetitlichen Details der Sexarbeit und allen ihren perversen Auswüchsen knallhart konfrontiert von einem Autor, der als Enfant terrible gilt unter den deutschen Autoren. Alles das wird collageartig erzählt, die oft krassen Geschichten bleiben fragmentarisch, ein stringenter Plot fehlt. Immer wieder wird man an Kriminalfilme erinnert, an Typen und Szenen, die einem dort schon mal begegnet sind, wo dann aber schamhaft abgeblendet wird, wenn es richtig zur Sache geht bei der «Arbeit», während hier die Kamera weiterläuft gewissermaßen. Voyeure kommen allerdings nicht auf ihre Kosten dabei, statt pornografisch wird hier nämlich geradezu technokratisch erzählt, und die Finanzen stehen immer im Mittelpunkt, BWL-Kenntnisse helfen also ungemein.

Ein gefälliger, leicht verdaulicher Roman ist «Im Stein» jedenfalls nicht, aber ein wohltuend anderer, die üblichen Leseerwartungen brutal konterkarierender aus einer Welt, die es halt auch gibt und die hier eine offene Bühne gefunden hat für ein milieufremdes Publikum. Man verliert als Leser leicht die Orientierung bei der rasanten Erzählweise des Autors, der auch noch ständig die Erzählperspektive wechselt. Die ist sehr häufig der innere Monolog, der dann auch in der Variante des Bewusstseinsstroms vorkommt, sogar als Selbstgespräch in der Du-Form. Teilweise hektisch und mit vielen Zeitsprüngen erzählt, erfordert die Lektüre also ständig die volle Aufmerksamkeit des Lesers. Das gilt auch für die häufigen Abkürzungen von Namen und auch «Fachbegriffen» aus der Branche, die zu dechiffrieren ohne reichlich «schmutzige Phantasie» kaum gelingt. Die Figuren werden stimmig und detailreich vorgestellt, wobei die Huren meist liebevoll beschrieben werden in ihren Hoffnungen, Wünschen und Plänen, aber auch in ihren manchmal rührend naiven Ansichten über die anrüchige Welt, in der sie ihr Geld verdienen.

Ist die Lektüre also zu empfehlen? Im Prinzip ja, könnte man wie bei Radio Eriwan antworten, aber man muss schon ein robustes Durchhaltevermögen mitbringen, denn der dickleibige Roman weist einiges an Längen auf. Ganz abgesehen davon wird man häufig Probleme haben, nicht die Orientierung zu verlieren in diesem Labyrinth von Innensichten seiner oftmals nur mühsam zu identifizierenden Protagonisten. Aber es ist ja auch kein Blümchensex, der da praktiziert wird im Puff, und so hat wohl der Autor seine Erzählweise dem unkonventionellen Milieu angepasst, über das er so kundig schreibt. Polarisierend ist das allemal, wie die außergewöhnlich konträre Rezeption dieses Romans recht deutlich zeigt.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Fischer Taschenbuch Frankfurt am Main

Feinde, die Geschichte einer Liebe

singer-1Tragikkomisches Gefühlschaos

«Für seine eindringliche Erzählkunst, die mit ihren Wurzeln in einer polnisch-jüdischen Kulturtradition universale Bedingungen des Menschen lebendig werden lässt» erhielt laut Jury der in den USA lebende Autor mit polnischen Wurzeln Isaak Bashevis Singer, als bislang einziger jiddische schreibender Schriftsteller, 1978 den Literatur-Nobelpreis. Sein Roman «Feinde, die Geschichte einer Liebe» erschien 1974 in deutschsprachiger Ausgabe, wurde fünfzehn Jahre später verfilmt und 2007 in die SZ-Bibliothek der hundert größten Romane des 20. Jahrhunderts aufgenommen. Zu Recht?

«Wie in den meisten meiner erzählenden Werke wird in diesem Buch ein Ausnahmefall dargestellt – mit einzigartigen Helden und einer einzigartigen Verflechtung der Ereignisse» schreibt der Autor im Vorwort. Sein Protagonist ist der in New York lebende Jude Herman Broder, den Jadwiga, das polnische Dienstmädchen seiner Eltern, drei Jahre lang in einem Heuschuppen vor den Deutschen versteckt hatte. Hermans Frau Tamara und die beiden Kinder wurden nach Zeugenaussagen Opfer der Nazis. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs emigriert er mit Jadwiga in die USA und heiratet sie aus tiefer Dankbarkeit, nicht aus Liebe. Mit der attraktiven Mascha jedoch, einer von ihrem Mann getrennt lebenden Jüdin, hat er eine leidenschaftliche Affäre. Als er zufällig eine Suchanzeige nach ihm selbst in der Zeitung entdeckt und sich meldet, erfährt er, dass Tamara den Holocaust überlebt hat und seit kurzem in New York ist. Er trifft sie, gesteht ihr die Ehe mit Jadwiga und die Liaison mit Mascha. Sie ist sofort bereit, sich scheiden zu lassen, er jedoch zögert. Als Mascha schwanger wird, drängt sie Herman zur Ehe und findet prompt auch einen Rabbi, der nicht viel Fragen stellt. Nun ist Herman mit drei Frauen verheiratet, und seine Jadwiga ist inzwischen auch schwanger. Maschas Schwangerschaft hingegen stellt sich bald als falscher Alarm heraus. Virtuos jongliert Herman als Polygamist in diesem sich immer mehr zuspitzenden Gefühlschaos. Willensschwach, wie er ist, kann er sich aber nicht entscheiden, mag den Status quo ihrer Ménage à quatre nicht ändern. Ist er wirklich Jadwiga zu ewigem Dank verpflichtet? Soll er die von allen Männern begehrte Mascha doch verlassen? Muss er letztendlich zu Tamara zurückkehren? «Ich will alle drei haben, das ist die beschämende Wahrheit». Parallel zur immer unhaltbarer werdenden Situation und zum tragischen Ende wendet sich der Erzählton von verschmitzt humorig zu elegisch traurig.

Als dem Grauen des Holocaust entronnener Jude plagt den traumatisierten Herman die Frage, warum Millionen sterben mussten und ausgerechnet er überlebt hat, ein gottloser Hedonist, dem leidenschaftliche Liebe und gutes Essen viel bedeuten und religiöse Pflichten rein gar nichts. Singers Roman führt den Leser tief hinein in das jüdische Leben New Yorks, in das Spannungsfeld zwischen modernem Amerika und tief wurzelnder jüdischer Religiosität. Er brandmarkt zum Brauchtum verkommene jüdische Riten als Folklore, zeigt das skandalöse soziale Ungleichgewicht zwischen Arm und Reich in diesem Staate auf. Dabei lässt er seinen physisch eher unscheinbaren, fatalistisch eingestellten, tollpatschigen  Helden, dem man den Frauenhelden so gar nicht abnehmen will, viele philosophische Probleme durchdenken, ureigene Reflexionen des Autors, darf man vermuten.

Dieser Roman der Verluste – Heimat, Vermögen, Liebe, Selbstvertrauen, – wird von neurotischen Figuren bevölkert, deren emotionale Befindlichkeit eher indirekt, über ein realistisch geschildertes Geschehen, verdeutlicht wird, wobei Singers Sprache angenehm unprätentiös ist. «Ich schäme mich nicht zu gestehen, dass ich zu jenen zähle, die sich einbilden, Literatur könne neue Horizonte und Perspektiven erschließen – philosophische, religiöse, ästhetische und auch soziale» hat er bei seiner Nobelpreisrede bekannt. Nach Lektüre dieses bereichernden Romans wird man ihm darin unbedingt beipflichten!

Fazit: erstklassig

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Genre: Roman
Illustrated by dtv München

Ein liebender Mann

walser-2So weit so gut, hätte Ulrike da wohl gesagt, s.w.s.g.

Walsers männlicher Protagonist, der 74-jährige Johann Wolfgang von Goethe, erschießt sich bekanntlich nicht, wie es seine berühmte Romanfigur, der junge Werther, aus Liebesgram getan hat, womit damals ja eine Aufsehen erregende Welle von Nachahmungstaten ausgelöst wurde. Gleichwohl leidet auch der greise Geheimrat im Sommer 1823 unsäglich an Liebeskummer, zum Ausdruck gebracht in der Marienbader Elegie, diesem Liebesgedicht aus «Glut, Blut, Mut und Wut». Martin Walser nutzt für den Stoff seines biografischen Liebesromans eine Informationslücke im ansonsten bestens dokumentierten Leben des großen Dichters, seine beim Kuraufenthalt in Marienbad aufgeflammte späte Liebe zu der 55 Jahre jüngeren Ulrike von Revetzlow. Altersunterschiede dieser Größenordnung waren und sind immer ein beliebtes Thema, denn nicht nur Charlie Chaplin ist ja im Opa-Alter noch Vater geworden, auch die Liste der Lustgreise unserer Tage ist ellenlang, in den bunten Blättern der Boulevardpresse stets süffisant kommentiert, die prominenten Namen setze ich mal als bekannt voraus. Im frühen Neunzehnten Jahrhundert hingegen ging es weitaus betulicher zu, wie wir bei Walser nachlesen können.

Der Roman ist dreiteilig aufgebaut und beginnt furios mit der Schilderung der Liaison, die sich da anbahnt, allerdings nur in der Wunschvorstellung des alten Herrn. Das ungleiche Paar versteht sich jedenfalls blendend und sprüht vor Lebensfreude, Walser erzählt das beinahe wie eine Komödie, mit Witz und Elan jedenfalls. Es gibt amüsante Dialoge zwischen den Beiden, überhaupt wird die Konversation zu jener Zeit und in diesen Kreisen als recht geistreich dargestellt, mit verschiedensten anspruchsvollen Themen befasst. Man gibt sich auch ganz genüsslich dem bei solchem Kuraufenthalte üblichen Reigen wiederkehrender Zerstreuungen hin, lange Spaziergänge auf der Promenade, gegenseitige Besuche, kleine Landausflüge, Dinner-Einladungen und pompöse Bälle. Und unser Lustgreis, der Geheimrat Goethe, geht dann doch tatsächlich so weit, seinen ebenfalls kurenden Landesherren zu bitten, für ihn bei der verwitweten Mutter um die Hand der nichtsahnenden 19-jährigen Ulrike anzuhalten. Und das läuft, man ahnt es gleich, gründlich schief!

Es folgt die übereilte Abreise der angehimmelten Jungfrau, von der wir so gut wie nichts erfahren, die der Autor jedenfalls wie einen unbedeutenden Kometen an der strahlenden Sonne namens Goethe vorbeifliegen lässt. Sicher ist nur ihr weiblicher Status, die Jungfräulichkeit also, denn mehr als ein überschwängliches, völlig unschuldiges Küsschen auf die geschlossenen Lippen ist nicht gewesen zwischen den Beiden, wie Walser uns erzählt. Wobei er sich, ohne Not allerdings, denn das alles ist ja nur Fiktion, streng an die Tatsachen hält, Ulrike von Levetzow hat sich dazu später nämlich sehr eindeutig erklärt. Der Autor beginnt nun zu schwadronieren im zweiten Teil seines Romans, Goethes Liebeskummer, diese seitenlange Rührseligkeit, oft in inneren Monologen oder fiktiven Briefen ausgedrückt, ist schwer zu ertragen. Man fühlt sich als Leser nach der erfrischenden Oase des ersten Teils plötzlich in einer öden Wüste und kämpft sich durch, begegnet Seite um Seite einer unsäglichen Larmoyanz, die regelrecht peinlich ist und langweilig obendrein.

Im dritten Teil greift Walser auf die Technik des Briefromans zurück und schildert so die langsam einsetzende Erkenntnis seines Protagonisten, dass er diese ja nur imaginierte Liebschaft aus seinen Gedanken streichen muss. Aber das gelingt nicht, lässt der Autor uns wissen, denn in Walsers vulgärer Pointe ganz am Ende des Romans wacht der Herr Geheimrat morgens auf und hält seinen Morgensteifen in den Händen, wir wissen also genau, wovon der 74-Jährige geträumt hat. So weit so gut, hätte Ulrike da wohl gesagt, s.w.s.g.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Rowohlt Taschenbuch Reinbek

Die größere Hoffnung

aichinger-1Gedichte nach Auschwitz

In ihrem einzigen Roman «Die größere Hoffnung» thematisiert die österreichische Schriftstellerin Ilse Aichinger das Schicksal eines halbjüdischen Mädchens während der Nazizeit. Der 1948 erschienene Band ist eine vehemente Absage an die nach dem Zweiten Weltkrieg weitverbreitete Kahlschlagliteratur, die darauf abzielte, die politische Vergangenheit ein für alle mal zu überwinden, einen radikalen Neubeginn zu erzwingen. Unbeirrt der Wahrhaftigkeit verpflichtet, schreibt die literarisch vielseitige Autorin mit diesem teilweise autobiografischen Roman nicht nur gegen die Verdrängung einer unliebsamen historischen Vergangenheit an, sie hinterfragt auch geschickt deren reale Vorbedingungen und analysiert ebenso scharfsinnig wie misstrauisch die wirksamen seelischen Triebkräfte, eine entschiedene Absage an jede Form von Konformismus.

Protagonistin des Romans ist Ellen, ein halbjüdisches Mädchen im Backfischalter, die bei der Großmutter lebt, weil die jüdische Mutter in die Emigration gehen musste und der Vater als Offizier die Familie verlassen hat, um seine Karriere nicht zu gefährden. Ellens große Hoffnung ist, der Mutter nach Amerika folgen zu können, dafür aber braucht sie ein Visum. In zehn Kapiteln entwickelt Ilse Aichinger ihre allegorische Geschichte über die Judenverfolgung am Beispiel von verfolgten Kindern mit «falschen Großeltern», die einen Judenstern tragen müssen, denen vieles verboten ist und die ständig mit der Angst vor der «geheimen Polizei» leben. Als der Krieg schließlich die Stadt erreicht, weitet sich der zunächst nur politische Wahnsinn zum absoluten Inferno, das sich jeder Deutung entzieht. Die traumatischen Erlebnisse und abenteuerlichen Begegnungen Ellens mit absurden Figuren sind konsequent aus Teenagersicht erzählt, deren Naivität literarisch als Vehikel genutzt wird, um das Unsagbare in Worte fassen zu können. Damit wird der Schrecken der Geschehnisse abgemildert, werden ihm fast märchenhafte Züge verleiht, eine konträre «Alice im Wunderland», ins Grauenhafte transformiert.

Die aus dieser speziellen Perspektive erzählte Geschichte bildet ein kunstvolles Konstrukt aus Träumen, Ängsten, Mythen und historischer Realität, chronologisch ungeordnet einer mal personalen, mal auktorialen Erzählhaltung folgend. Der lyrische Text dieser Gefühlswelt ist weitgehend unkonkret, bleibt beharrlich unbestimmt, ist geradezu surreal, in den Ängsten und Zwangsvorstellungen entfernt an Kafka erinnernd, aufgeladen mit reichlich Symbolismus. Er vermeidet konsequent jede Nennung von Namen und Orten des historischen Hintergrunds, umschreibt ganz bewusst reale Begriffe aus der Welt dieser schlimmsten Bösewichte der Menschheit. Die im ersten Drittel dominierende, ebenso märchenhafte wie konfuse Erzählweise wird später etwas abgemildert in ihrer Unstetigkeit, die wirren Gedankensprünge weichen einem etwas mehr auf Kontinuität im Erzählfluss setzenden Schreibstil, der gleichwohl die stete Aufmerksamkeit des Lesers fordert. Wer sich jedoch einlässt auf diese sehr spezifische sprachliche Form, wer sich den erzeugten Bildern überlässt, der schwimmt schon bald mit auf einem Wörterstrom von beeindruckender imaginativer Kraft, dessen Wirkung man sich kaum noch entziehen kann.

Die zur Verknappung neigende Ilse Aichinger hat sich über ihren wenig gelesenen Roman wie folgt geäußert: «Ich wollte zunächst eigentlich nur einen Bericht über die Kriegszeit schreiben. An ein Buch habe ich gar nicht gedacht, ich wollte nur alles so genau wie möglich festhalten. Als das Buch dann bei Fischer erschienen ist, stand noch immer viel zuviel drin. Ich wollte am liebsten alles in einem Satz sagen, nicht in zwanzig». Die so entstandenen Lücken muss der geneigte Leser füllen in diesem Klassiker, der auf beeindruckende Weise das Verdikt von Theodor W. Adorno über die Gedichte nach Auschwitz widerlegt.

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Fischer Taschenbuch Frankfurt am Main

Der Koch

suter-1Geistige Schonkost, kein Feinschmeckermenu

Ich habe das Buch „Der Koch“ von Martin Suter erstaunt zur Seite gelegt und mich gefragt, warum ich bis zum Ende durchgehalten habe. Hoffnung hatte mir nach wenigen Seiten die süffisante Schilderung der Kundschaft eines Nobelrestaurants gemacht, gutsituierte ältere Herren verschiedenster Profession, alle in Begleitung ihrer „großen, dünnen, blonden zweiten Frauen“. Nach „Die dunkle Seite des Mondes“ hatte ich keine hohen Erwartungen an diesen Autor, aber auf das Thema Kulinarik war ich denn doch neugierig. Und man will ja auch jedem Autor seine Chance geben, vielleicht wird es am Ende doch noch interessant, unterhaltend oder gar spannend, also lese ich fast immer alles brav bis zum Ende. Leider kam nichts dergleichen, es blieb fade bis zur letzen Seite.

Gleich bei der ersten minutiösen Beschreibung eines der kulinarischen Meisterwerke des tamilischen Kochs und Protagonisten fragt man sich nach dem Sinn solcher Rezepte, die ja wohl weit jenseits des Erfahrungshorizontes fast aller Leser dieses Bestsellerautors liegen dürften. Und wer gar auf die Idee käme, Derartiges nachzukochen, scheitert unweigerlich an der Beschaffung der exotischen Zutaten, von den noch exotischeren Gerätschaften zu Herstellung solcher Kreationen ganz zu schweigen, wer hat denn schon einen ‚Rotationsverdampfer’ in seiner Küche? Den einen oder anderen Leser mag der Einblick in die Molekularküche vielleicht interessieren, für mich war es jedenfalls sterbenslangweilig.

Bei Suter beliebte Versatzstücke wie Politiker, Nobelrestaurants, Fünf-Sterne-Hotels, reiche Geschäftsleute und die begleitenden dienstbaren Geister des horizontalen Gewerbes, die üblichen Verdächtigen also, finden sich natürlich auch in diesem Buch, hinzu kommt hier die Problematik der Tamilen in der Schweiz, Waffenschiebereien, der Bürgerkrieg in Sri Lanka, sogar die Finanzkrise ist eingebaut. Mit diesen literarischen Zutaten und einfach strukturierten, kurzen Sätzen schreibt Suter offensichtlich für eine ganz spezifische Leserzielgruppe, für Leute, die schmökern wollen. Der Plot lässt kein Klischee aus und plätschert spannungslos seinem vorhersehbaren Ende entgegen, immer nach dem Motto ‚bloß keine Überraschungen’. Die Figuren bleiben allesamt seltsam farblos, man gewinnt keinen Zugang zu ihnen. Geistige Schonkost also, kein Feinschmeckermenü.

Schade eigentlich, denn als Nachttisch-Lektüre wäre das Buch durchaus geeignet, geht es doch um die vorgeblich aphrodisische Wirkung von raffiniert zubereiteten Speisen. Und so gelingt es dem Protagonisten zu Beginn des Buches denn auch auf Anhieb, mit einem solchen Menu seine attraktive Kollegin ins Bett zu kriegen. Wobei die sich am nächsten Tag auch noch als Lesbierin outet, was solch spezifisches „Love Food“ geradezu mystisch erhöht. Wer nach dieser Einführung ins Thema im Weiteren aber prickelnde Lektüre erwartet, wird bitter enttäuscht. Dieses Buch ist so unerotisch wie „Pippi Langstrumpf“, steriler geht es kaum. Als beim Happy End die Liebste ihren Koch beim Frühstück fragt, ob er denn so ein „Love Menu“ auch mal für sie kochen würde, lautet die lakonische Antwort: „Nie“. Das sagt wohl alles, über den Protagonisten wie über den Autor.

Fazit: miserabel

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Genre: Roman
Illustrated by Diogenes Zürich

Arthur & George

barnes-2Very british

Dem Roman «Arthur & George» von Julian Barnes liegt ein der französischen Dreyfus-Affäre ähnlicher Justizskandal zugrunde, die Edalji-Affäre in England, die sich ebenfalls in der Zeit des Fin de Siècle ereignet hat. Wie in Frankreich Émile Zola, so setze sich auch in England ein berühmter Schriftsteller für den offensichtlich zu Unrecht verurteilten George Edalji ein, Sir Arthur Conan Doyle nämlich, der Schöpfer des berühmten Sherlock Holmes. Der Autor verknüpft in seiner weitgehend auf Tatsachen gestützten Geschichte geschickt Wahrheit und Fiktion, zitiert umfangreich aus zeitgenössischen Quellen und lässt andererseits seiner Phantasie freien Lauf, erfindet das, was nicht überliefert ist, ungeniert, aber durchaus stimmig, hinzu. War in Frankreich unverhohlener Antisemitismus der Treibstoff des Skandals, so war in England ein latenter Rassismus im Spiel, das Justizopfer war Sohn eines anglikanischen Pfarrers indischer Herkunft.

In sequenzieller Erzählweise, in jeweils abwechselnd «Arthur» oder «George» betitelten Kapiteln, schildert der für seinen unterschwellig ironischen Schreibstil bekannte Autor in dem vierteiligen Roman den Lebensweg der beiden ungleichen Männer, beginnend in deren frühester Jugend. Arthur stammt aus prekären Verhältnissen und wird Augenarzt, wobei ihm die nicht gerade florierende eigene Praxis viel Zeit lässt zum Schreiben, dem er sich nach ersten Erfolgen denn auch bald ganz zuwendet, und mit seiner faszinierenden Detektivfigur wird er schließlich dann weltberühmt. George, lebensfern und lustfeindlich erzogener Pfarrerssohn, eifert nicht dem Vater nach, er studiert Jura und lässt sich als Rechtsanwalt nieder, lebt aber weiterhin bei seinen Eltern und entwickelt sich allmählich zum Sonderling. Er wird für Straftaten, die er nicht begangen haben kann, zu einer siebenjährigen Zuchthausstrafe verurteilt. Als er sich mit seinem Fall hilfesuchend an Doyle wendet, erreicht dieser in an Sherlock Holmes erinnernder, deduktiver Ermittlungsarbeit und mit Hilfe einiger aufsehenerregenden Zeitungsartikel aus seiner Feder eine halbherzige Rehabilitierung Edaljis.

Neben dem zweifellos spannenden Kriminalfall gewährt dieser Roman auch einen aufschlussreichen Einblick in die englische Gesellschaft jener Zeit, entlarvt deren erschreckende Doppelbödigkeit. Barnes erzählt weit ausholend und genüsslich, man fühlt sich regelrecht in das Geschehen hineingezogen in bester Sherlock-Holmes-Manier, sitzt mit Zigarre und Brandy ebenfalls mit am Kamin. Der Disput von Doyle mit dem böswilligen Polizeichef, der die stümperhaften, vorsätzlich einseitigen, sich bewusst auf unqualifizierte Gutachten stützende Ermittlungen zu verantworten hatte, geführt an eben jenem Kamin, gehört für mich zu den Höhepunkten dieses Romans. Geradezu süffisant erzählt sind die köstlichen Passagen, in denen der atheistische Autor die biedere anglikanische Kirche und den rührend naiven Glauben ihrer zumeist engstirnigen Mitglieder karikiert. Amüsant zu lesen auch die Details einiger Séancen des im Alter zunehmend zum Spiritismus neigenden Sir Arthur Conan Doyle, deren Höhepunkt eine grandiose Gedenkfeier nach seinem Tode bildet, die in der Royal-Albert-Hall mit zehntausend Teilnehmern zelebriert wird, unter denen natürlich auch ein zeitlebens dankbarer George Edalji zu finden ist.

Barnes bislang umfangreichster Roman ist nichts für ungeduldige, ihre Lieblingslektüre verschlingende Krimi-Leser. Man muss sich Zeit nehmen dafür, darf auch scheinbare Umwege nicht scheuen, wird aber stets gut unterhalten in diesem spannenden und den eigenen Horizont erweiternden Gesellschaftsroman aus einer längst vergangenen Epoche. Geduld aber, die gehört nun mal zu den elementarsten britischen Tugenden.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by btb München