Eine Liebe Swanns

proust-1Vinteuils Phrase und die Cattleyas

Einer der Götter im literarischen Olymp ist neben Joyce und Musil der französische Schriftsteller Marcel Proust, bei dessen Namen einem sofort auch sein monumentales Hauptwerk «Auf der Suche nach der verlorenen Zeit» in den Sinn kommt, häufig – abgekürzt nach dem Originaltitel – einfach nur «Recherche» genannt. Dieser siebenbändige Romanzyklus beginnt mit dem Band «Unterwegs zu Swann», den der Autor 1913 auf eigene Kosten veröffentlichen hat, weil das Manuskript von André Gide, dem damaligen Lektor des Verlages Gallimard, abgelehnt worden war – sein größter Fehler, wie Gide später dann zugegeben musste. Der Mittelteil dieses ersten Bandes wiederum ist «Eine Liebe Swanns», die in sich abgeschlossene Geschichte einer Amour fou in der gehobenen Pariser Gesellschaft des Fin de Siècle.

Charles Swann, ein reicher Lebemann mit künstlerischem Interesse, der in den allerhöchsten Kreisen verkehrt, lernt im Salon der Verdurins Odette de Crécy kennen, eine für ihn zunächst wenig anziehende, bereits verwelkende Dame mit zweifelhaftem Ruf. Aber Swanns Zuneigung wird plötzlich geweckt, als er in ihren Zügen eine Ähnlichkeit mit Sephora, einer Figur auf dem Fresko von Botticelli in der Sixtinischen Kapelle zu erkennen glaubt, – sie kommen sich allmählich näher. Zum Leitmotiv ihrer aufkeimenden Liebe wird eine Melodie, eine kleine Phrase bei Vinteuil, die sie beide tief ergriffen im Salon der Verdurins hören. Und als Swann ihr beim Drapieren von Cattleyablüten am Ausschnitt ihres Kleides näherkommt, sogar die erste Liebesnacht damit einleitet, wird die Metapher «Cattleya spielen» für sie zum verschlüsselten Stichwort. Der Zweifel an Odettes Ruf ist nicht zuletzt auch in den von ihr ständig beklagten finanziellen Nöten begründet, Swann unterstützt sie großzügig mit beträchtlichen monatlichen Zuwendungen, ohne sich in seinem Liebesrausch dieser profan materiellen Seite ihrer Beziehung wirklich bewusst zu sein. Nach einiger Zeit des Hochgefühls stellt sich bei ihm – durchaus nicht unbegründet – Eifersucht ein, er glaubt sich zunehmend vernachlässigt und leidet schlimme Qualen an seiner obsessiven Liebe. Bis es ihm schließlich nach einer längeren Auslandsreise von Odette gelingt, sich völlig aus seiner schicksalhaften Verstrickung zu lösen, diese Frau realistisch als das zu sehen, was sie wirklich ist, eine gewöhnliche, ungebildete, treulose Kurtisane.

Derartige Sujets hat man schon öfter angetroffen in Romanen, was Proust jedoch unterscheidet und auszeichnet ist die unglaubliche sprachliche Virtuosität, mit der er seine Erzählung vor uns ausbreitet, sowie die Fülle an immer neuen Facetten, die er seinem Thema abgewinnen kann, dabei ständig neue Assoziationsketten auslösend. Was von manchen Lesern als langatmig empfunden wird, ist in Wirklichkeit eine grandiose Fähigkeit des Autors, alle Aspekte eines Geschehens, selbst die geheimsten Tiefen in der Seele seiner Figuren auszuleuchten, uns sichtbar zu machen. Häufig wenn man meint, ein Detail wäre nun umfassend geschildert, wird man verblüfft damit konfrontiert, dass ihm noch etliche andere Eigenschaften innewohnen, über die zu lesen sich ebenfalls lohnt. Insoweit ist Marcel Proust ein unübertroffener Perfektionist, ein Solitär unter den Romanciers.

Swann erkenne den gesellschaftlichen Rang eines Salons bereits an wenigen Namen der Teilnehmer eines Diners, «so wie ein Literaturkenner bereits beim Lesen eines Satzes die literarischen Qualitäten seines Autors richtig einzuschätzen weiß» heißt es an einer Stelle. Viel mehr wird auch nicht nötig sein, um an einigen Sätzen aus seiner Feder den Autor Proust zu erkennen, schon an der für ihn typischen mondänen, dekadenten Gesellschaft, die seine literarische Spielwiese ist. Wie schön außerdem, können Sprachsüchtige doch fast unbegrenzt weiterlesen in diesem riesigen Romanzyklus, der über sein Titelthema letztendlich dahingehend aufklärt, man müsse einen Roman schreiben (sic!), um die verlorene Zeit zu finden.

Fazit: erstklassig

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Genre: Roman
Illustrated by Süddeutsche Zeitung München

Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins

kundera-1Es muss sein

Irrte die Feuilletonredaktion der Süddeutschen Zeitung, als sie «Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins» von Milan Kundera im Jahre 2004 in den Kanon der 50 großen Romane des Zwanzigsten Jahrhunderts aufnahm? Dieser Roman des tschechischen Autors wurde zwanzig Jahre vorher im Exil in Paris veröffentlicht und gilt seither als sein erfolgreichstes Buch. Schon der Titel lässt ahnen, dass Philosophie einen breiten Raum einnimmt darin, und zur Gewissheit wird diese Vermutung, wenn man den ersten Satz gelesen hat: «Die ewige Wiederkehr ist ein geheimnisvoller Gedanke, und Nietzsche hat damit manchen Philosophen in Verlegenheit gebracht». Erst drei Seiten später erfolgt dann der Schwenk von der philosophischen Betrachtung hin zur Epik, zum «eigentlichen» Roman, den man als Liebesroman in einem schwierigen politischen Umfeld bezeichnen könnte, der Prager Frühling und seine brutale Niederwerfung bilden den zeitlichen Hintergrund. Die Gratwanderung des Autors zwischen mehr oder weniger tiefsinniger Philosophie und der zu erzählenden Geschichte ist gewagt. Sie ist auch nicht jedermanns Sache und polarisiert die Leserschaft selbst heute noch.

Zwei Paare bilden die Protagonisten einer Geschichte um Liebe, Ehe und Treue. Der notorisch polygame Arzt Tomas aus Prag lernt die schüchterne Kellnerin Teresa durch eine, wie es ihm vorkommt, seltsame Reihung von nicht weniger als sechs bemerkenswerten Zufällen kennen. Er heiratet sie kurz entschlossen, womit er sie in das seelische Chaos der Eifersucht stürzt. Franz, Universitätsdozent in Zürich, betrügt seine Frau mit der Künstlerin Sabina, einer ehemaligen Geliebten von Tomas, die ins Exil gegangen ist. Sie verlässt ihn ohne Abschied, weil Franz sich plötzlich von seiner Frau scheiden lassen will, was in Sabinas Augen ihrer Beziehung das erregend Verbotene, Versteckte nimmt und sie damit profan werden lässt. Kundera beleuchtet intensiv die psychischen Befindlichkeiten seiner Figuren, wobei der schnelle Sex und dessen strikte Trennung von der seelischen Liebe zu vorhersehbaren Verwicklungen führen.

Ein zweiter Themenschwerpunkt des Romans sind die Verhältnisse unter der kommunistischen Diktatur in der CSSR, die zu einer aberwitzigen Gemengelage aus Bespitzelungen, Verleumdungen und Verdächtigungen führen. Nach dem Sturz von Dubçek hatte sich ein verlogenes und heuchlerisches politisches System etabliert, in dem Tomas, einst Star-Chirurg in Prag, nach der Rückkehr aus dem Schweizer Exil zunächst Fensterputzer werden muss und schließlich als LKW-Fahrer endet. Der Autor deckt die subtilen Methoden der Staatsmacht auf, die im Kampf um den Machterhalt kein Mittel scheut, Kritiker des nicht nur wirtschaftlich maroden Systems einzuschüchtern und mundtot zu machen. Was bei Tomas allerdings nicht gelingt, er bleibt unbeugsam und nimmt die Konsequenzen auf sich.

Trotz diverser Reflexionen über seine Autorschaft kann Kundera letztendlich nicht verbergen, dass er den Roman ungeniert als Vehikel zur Verkündung eigener philosophischer Thesen benutzt. So zum Beispiel, wenn er Chirurgie als Sakrileg hinstellt, der Absicht Gottes widersprechend, oder wenn er der Frage der Defäkation nachgeht in Hinblick auf Gott, den man sich auf der Toilette schlichtweg nicht vorstellen könne, obwohl der Mensch doch nach seinem Ebenbilde geformt sei. Seine Stichwörter reichen vom Kitsch über Platons Symposion bis zum Prager Fenstersturz, von den Motiven des Machos auf der Frauenjagd bis zum Imperativ «Es muss sein» in Beethovens Streichquartett opus 135, der sogar in Notenschrift mit abgedruckt ist. In seiner thematischen Mixtur bleibt Kunderas Buch bis zum Schluss gleichermaßen unterhaltend wie bereichernd.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Fischer Taschenbuch Frankfurt am Main

Der dritte Zustand

oz-2Licht von droben

Im Werk des hochgeehrten israelischen Schriftstellers Amos Oz greift auch «Der dritte Zustand» von 1992 Themen auf, die typisch sind für ihn sind, – im selben Jahr wurde ihm prompt der «Friedenspreis des deutschen Buchhandels» verliehen. Da sind zunächst die permanenten politischen Spannungen in Israel als objektiver Faktor zu nennen, dem die zutiefst menschlichen Eigenschaften seiner Figuren als subjektive Faktoren gegenüber gestellt sind. Aus diesen existenziellen Urtrieben und den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen erwachsen permanent Konflikte, ein Dilemma konträrer Einflüsse also, das den Nährboden bildet für seine stets mit ironischem Unterton erzählten Geschichten. In denen dieser alltäglich zu bewältigende Balanceakt zwar nicht immer gelingt, die aber gleichwohl auf ein hoffnungsvolles, tröstliches Ende hinauslaufen, so auch im vorliegenden Roman.

In dreißig Kapiteln wird die Geschichte von Efraim Nissan erzählt, einem vierundfünfzig Jahre alten Intellektuellen, von seinen Freunden zuweilen Effi, meistens aber Fima genannt. Er ist geschieden und kinderlos, lebt allein in einer vom wohlhabenden Vater finanzierten Wohnung in Jerusalem, arbeitet weit unter seinen geistigen Fähigkeiten am Empfang einer gynäkologischen Gemeinschaftspraxis. Ein liebeswerter, blitzgescheiter Wirrkopf, weltfremd und lebensuntüchtig, «… das Abbild eines Schlemihls, der mit zwei linken Händen auf die Welt gekommen war und niemals lernen würde, einen tropfenden Hahn zu reparieren oder einen Knopf anzunähen», wie es im Roman lapidar heißt. Der von diversen Rückblenden ergänzte, linear erzählte Plot ist im Jahre 1989 angesiedelt und greift in seinen gesellschaftlichen Aspekten die damalige Situation in Staate Israel auf, zeigt die seinerzeit agierenden Politiker und maßgeblichen Wissenschaftler in ihren politischen Auseinandersetzungen. Fima nun führt mit seinen Freunden erbitterte Diskussionen über strittige politische Fragen und über vielerlei andere Probleme. Er erweist sich dabei einerseits als äußerst intelligenter Kopf mit unorthodoxen Ideen, ist andererseits aber auch sehr gefürchtet als lästiger, Ort und Zeit ignorierender Disputant, den man kaum noch loswird, hat er sich erstmal in ein Thema verbissen.

Mit Chamissos Märchenfigur Schlemihl hat Amos Oz die Tragik seines Helden treffend umschrieben. Er leidet unter dem Identitätsverlust eines einst hoffnungsvollen Wissenschaftlers, dessen Karriere nicht stattgefunden hat, dessen geistige Fähigkeiten sich nur noch in gelegentlichen Zeitungsartikeln artikulieren oder in hitzigen Debatten im privaten Kreis. Ein hoch gebildeter, gutmütiger Spinner, immer hilfsbereit, bei den Frauen erfolgreich auch ohne männliche Ausstrahlung, attraktiv allein durch seine Bereitschaft, zuzuhören, mitfühlend auf Probleme einzugehen. Ein ewiger Grübler, im Roman sprachlich in Form häufiger innerer Monologe dargestellt, deren Sätze sehr oft mit Fragezeichen enden. Den titelgebenden «dritten Zustand» schließlich verortet Fima kontemplativ zwischen Wachsein und Schlaf: «Nur wenn ein Wintermorgen wie dieser in einem durchscheinenden Lichtschleier aufzieht, den vielleicht der archaische Ausdruck nehora ma-alja, Licht von droben, umschreibt, nur dann kehrt die Wonne der ersten Berührung auf die Erde und in deine sehenden Augen zurück».

Mit ausgedehnten philosophischen Exkursionen, aber auch mit einer unverkennbar versöhnlichen, dem gesunden Menschenverstand verpflichteten Situationsanalyse dieser Krisenregion im Nahen Osten, bereichert dieser Roman seine Leser immer aufs Neue. Störend fand ich die als Chaot maßlos überzeichnete Figur des Protagonisten Fima, den sein Autor in alle denkbaren Fettnäpfchen treten lässt, was anfangs noch zu amüsieren vermag, irgendwann aber als klischeehaft überladen nur noch lästig ist. Amos Oz nutzt seinen Protagonisten – mit gutem Recht – als Sprachrohr für eigene Auffassungen und Erkenntnisse, es lohnt sich deshalb, diesen Roman aufmerksam zu lesen.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Suhrkamp Frankfurt am Main

Der Zahir

coelho-1Die unerträgliche Seichtigkeit des Scheins

Paulo-Coelho-Erstleser tun gut daran, sich vorab mit der Vita des erfolgreichen brasilianischen Autors vertraut zu machen, um zu wissen, worauf sie sich da einlassen. Erhellend wirken beispielsweise seine zweijährige Weltreise als Hippie, seine nicht weniger als drei Aufenthalte in einer psychiatrischen Anstalt inklusive Elektrokrampf-Therapie, sein auffallendes Interesse für die Hare-Krischna-Bewegung und ähnliches mehr. Gekrönt wird das alles von seiner Vision bei einem Besuch im Konzentrationslager Dachau, bei der ihm ein Mann erschienen sei, der ihm wenig später leibhaftig in Amsterdam begegnete und ihn zur Rückkehr zum katholischen Glauben überredet hat. Wofür er sich dann symbolträchtig auf den Pilgerweg nach Santiago de Compostela machte.

Kein Wunder, dass Coelhos häufig unübersehbar autobiografisch geprägte Bücher angefüllt sind von Symbolen, Metaphern, mystischen Zeichen und viel Hokuspokus, wobei «Der Zahir» vermutlich einen Höhepunkt des Esoterischen darstellt im Werk des Autors, soweit ich das beurteilen kann. In einfacher, schnörkelloser Sprache geschrieben, erleben wir in diesem Roman eine rastlose Suche des Ich-Erzählers, ein erfolgreicher Romanautor natürlich, nach wahrer Liebe, den Sinn des Lebens, richtiger Lebensweise und glückhafter Selbstverwirklichung. Auslöser dafür ist seine Frau Esther, tätig als Kriegsberichterstatterin, die ihn ohne jede Erklärung überraschend verlassen hat und fortan als «Zahir», als beherrschende Kraft, alle seine Gedanken und sein Tun steuert. Fernsteuert, müsste man richtiger sagen, denn sie hat sich in die öden Steppen Kasachstans zurückgezogen. Man ahnt zwar bald, wie das alles ausgeht, aber bis dahin muss sich der geduldige Leser durch viele Seiten mit belanglosem Geschwafel, unrealistischen Dialogen und unerträglichen Plattheiten quälen, auf denen das absurde Weltbild des Autors langatmig ausgebreitet wird.

Für seine Tagebuchskizze «In Stahlgewittern», in der Ernst Jünger Kampf, Blut und Grauen als Erlebnis feiert, wurde er zu Recht heftig kritisiert. Paulo Coelho zeigt uns mehr als acht Jahrzehnte später in seinem Roman, das solche den Krieg verherrlichenden Ideen noch lange nicht tot sind, nur im Krieg nämlich sei der Mensch Gott wirklich nahe! Und so gibt es in diesem Roman immer wieder das blutgetränkte Stückchen Stoff, herausgeschnitten aus dem Hemd eines im Kampf tödlich getroffenen Soldaten, mit dem Esther auf dessen Wunsch hin alle sich als würdig erweisenden Personen symbolträchtig versorgt, als mystisches Erkennungszeichen gewissermaßen. Es gibt noch mehr derartig unsäglicher Thesen und Fettnäpfchen, in die Coelho unverdrossen tappt, so wenn er seinen Protagonisten, unverkennbar ja sein Alter Ego im Roman, großspurig über sein Einkommen berichten lässt bei einem Tischgespräch, nur um ihn dann sagen lassen zu können, dass ihn diese fünf Millionen Dollar jährlich auch nicht glücklich machen. Er ist ein egozentrischer Macho durch und durch, erobert spielerisch und ohne jeden Widerstand die schönsten Frauen, wann immer er will, er geniest seine Rolle als Star der Literaturszene, den jeder kennt, dessen Bücher natürlich auch jeder gelesen hat, ein Applaus heischendes Motiv, das sich übrigens häufig wiederholt im Roman. Er spielt den Moralisten und verhält sich wie ein hemmungsloser Egoist, was nicht selten ja die bigotte Verhaltensweise von stark religiös orientierten Menschen ist. Man hat also einiges zu ertragen, wenn man diesen Roman liest!

«So viele Millionen Leser können nicht irren», suggerieren uns die Verlage, wenn sie ihre Bestseller anpreisen, und Coelho gehört selbstverständlich zu den Top Ten der Auflage-Millionäre. «Seid umschlungen, Millionen», kann ich da nur sagen, die ihr gutgläubig solchen Schwachsinn kauft – und die vielen wirklich guten Bücher allesamt ganz einfach links liegen lasst!

Fazit: miserabel

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Genre: Roman
Illustrated by Diogenes Zürich

Das größere Wunder

glavinic-1Auf dem Gipfel sinnlosen Tuns

Der Mount Everest bildet so etwas wie den Kulminationspunkt in Thomas Glavinics neuem Roman «Das größere Wunder». Schon das Umschlagfoto lässt keinen Zweifel daran, hier geht es ums Bergsteigen der extremen Art, und gleich die ersten Sätze bestätigen diese Vermutung, wenn von Sherpas die Rede ist, vom Basislager und von Toten, die vorbeigetragen werden. Normalerweise würde ich mich da, um im Jargon der Alpinisten zu bleiben, sofort ausklinken aus dem Führungsseil, das Buch also ungelesen zu Seite legen, weil mich todesmutige Extremkletterer nun mal überhaupt nicht interessieren, sogar ziemlich abstoßen mit ihrer fatalen Sucht nach Selbstbestätigung, nach Nervenkitzel, nach Todesnähe. Schon nach wenigen Seiten aber, im zweiten Kapitel, wechselt der Erzählstrang zu einer fürwahr haarsträubenden Geschichte hin, der Jugend des Protagonisten Jonas nämlich und seiner anschließenden, rastlosen Sinnsuche, die den Leser in einem aberwitzigen Plot unwillkürlich in ihren Bann zieht. Er dürfte Glavinic-Fans schon aus den beiden vorher erschienenen Romanen diese Trilogie bekannt sein, «Die Arbeit der Nacht» und «Das Leben der Wünsche», das vorliegende Buch ist aber eigenständig zu lesen, es baut nicht auf die vorhergehenden Romane auf.

Es gehört unzweifelhaft zu den angestammten Privilegien von Romanautoren, die Realität nach Gutdünken ausblenden zu können, völlig irreale Traumwelten zu ersinnen, dem Leser also eine Welt zu schildern, die es so nicht gibt und geben kann. Davon wird ja nicht erst seit Karl May Gebrauch gemacht, wo jeder insgeheim selbst Old Shatterhand ist, solange er das Buch in Händen hält. Und solche Identifikationsmuster liefert uns hier auch Galvinic mit seinem faustischen Helden Jonas, der über unerschöpflich scheinende Geldmittel und überirdische Fähigkeiten verfügt und beides dazu nutzt, permanent Grenzerfahrungen zu machen, den Sinn des Lebens herauszufinden im absurden Selbstexperiment. «Nichts ist unmöglich» ist die Devise bei seinem skurrilen Selbstfindungstrip rund um den Erdball, sorglos probiert er alles aus ohne Angst vor dem Tod, und das alles kulminiert am Ende des Romans in der erfolgreichen Besteigung des Mount Everest, bei der denn auch die bis dahin immer schön kapitelweise getrennt erzählten Stränge der Handlung zusammenmünden. Dass es die Liebe ist, nach der er unbewusst gesucht hat, die große, einmalige natürlich, ist vorhersehbar, kitschig und höchst peinlich.

Die viel zu ausufernd erzählte Bergsteigerstory mag Alpinisten erfreuen, der Laie, wie ich einer bin, langweilt sich hingegen und grübelt häufig, ob das wirklich alles so stimmen kann, wie der Autor es schildert. Die Hundertschaften von Himalaya-Verrückten machen jedenfalls wütend in Hinblick auf die Umweltzerstörung, die da angerichtet wird auf dem Dach der Welt. Der Held in Glavinics haarsträubender Geschichte in der zweiten Erzählebene versteht mühelos fast alle Sprachen der Welt und spricht die meisten auch, er reist der Sonnenfinsternis rund um den Erdball hinterher, lässt sich ein fünfstöckiges Baumhaus und einen Viermast-Segler bauen, kauft sich eine Südseeinsel, hat diverse Wohnungen in den Metropolen, die er nur selten nutzt, aber auch eine in der Nähe von Tschernobyl. Und natürlich fliegen auch viele Frauen auf ihn, na und die letzte, Marie, ist es dann, auf die alles hinsteuert, unser moderner Faust ist letztendlich am Ziel seiner Suche nach der Wahrheit.

Wer nicht den Fehler macht, ernst zu nehmen, was er da liest, wer das Ganze als zuweilen sogar spannendes Märchen liest, wer nicht erschreckt, wenn nur zur Gaudi eine Ziege mit der Panzerfaust erschossen wird, einem unsensiblen Zahnarzt zur Strafe alle Zähne gezogen werden, ohne Betäubung, versteht sich, der wird vielleicht gut unterhalten in diesem Roman, als Alpinist möglicherweise sogar sehr gut.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Hanser

Der Spieler

dostojewski-1Kein Schnellschuss

Für Prokofjews gleichnamige Oper sowie für diverse Verfilmungen von der Stummfilmzeit bis ins dritte Jahrtausend hinein hat «Der Spieler» von Fjodor Dostojewski immer wieder als Vorlage gedient, was den literarischen Rang dieses Romans eindrucksvoll unterstreicht. Trotz großem Zeitdruck beim Verfassen seiner Geschichte ist Dostojewski kurz nach «Schuld und Sühne» erneut ein Meisterwerk gelungen, welches auch heute noch, fast einhundertfünfzig Jahre nach seinem Erscheinen, seine Leser zu begeistern vermag. Dies mag am Sujet liegen, dem Phänomen der Spielsucht, die zu jener Zeit exklusiv am Roulettetisch ausgelebt wurde und nicht am Computer, wie heutzutage.

Auch wenn «Der Spieler» etwas im Schatten steht von Dostojewskis fünf großen Romanen, so ist er doch ein überzeugendes Beispiel der außergewöhnlichen Erzählkunst dieses russischen Schriftstellers, dessen dramatische Themen sich vorzugsweise mit der Seele des Menschen beschäftigen, hier explizit mit dem durch Spielsucht nachhaltig gestörten Seelenheil und allen seinen schlimmen Folgen. In der grotesk anmutenden Umgebung eines noblen Hotels in «Roulettenburg» hofft ein hochverschuldeter, russischer General im Ruhestand mit seiner Entourage auf eine Erbschaft, die ihn aus seinen finanziellen Nöten retten könnte. Der Ich-Erzähler Alexej gehört als Hauslehrer zu diesem Gefolge, er ist in Polina, die Stieftochter des Generals, verliebt. Die aber erwidert seine Liebe nicht, nutzt seine Zuneigung vielmehr ungeniert für eigene Zwecke aus.

Aus der erhofften Erbschaft wird nichts, die vermeintlich im Sterben liegende Tante taucht plötzlich quicklebendig in Roulettenburg auf und erklärt ihrem verblüfften Neffen, er bekäme ganz bestimmt kein Geld von ihr. Von Alexej begleitet landet sie nach einer Spazierfahrt voller Neugier im Spielcasino, wo sie sich von ihm kurz in die Regeln einweisen lässt und dann euphorisch zu spielen beginnt. Vom hohen Gewinn des ersten Tages verblendet verspielt sie in den folgenden Tagen rauschhaft ihr ganzes Barvermögen, am Ende muss sie sich für die Heimreise nach Moskau sogar noch Geld leihen. Polina aber ändert ihre bisher abweisende Haltung zu Alexej, sie zeigt ihm erstmals deutlich ihre Zuneigung. Und da sie ebenfalls Schulden hat, eilt der verliebte Alexej prompt selbst ins Casino, um dort das fehlende Geld aufzutreiben. In einer Glückssträhne gewinnt er doppelt so viel wie sie braucht und bringt den Gewinn zu Polina, die aber wirft ihm das Geld vor die Füße und verlässt ihn enttäuscht, weil sie nicht käuflich sei. Er sieht sie nie wieder, bringt sein Geld mit einer Kurtisane in Paris durch, spielt zwanghaft weiter Roulette und landet schließlich völlig heruntergekommen wegen seiner Spielschulden im Gefängnis.

Dies und vieles mehr erfährt der Leser in einer spannend erzählten Geschichte mit häufig ziemlich überraschenden Wendungen. Insbesondere die stimmigen Dialoge der verschiedenen Protagonisten sind vergnüglich zu lesen, sie verdeutlichen sehr genau die unterschiedlichen Charaktere von Dostojewskis durchweg markantem Figurenensemble in einer dekadenten Umgebung. Besonders beeindruckend war für mich der kurze, aber ungeschönte Einblick in die Pathologie der Spielsucht, einem Teufelskreis nämlich, den Dostojewski hier aus eigener Erfahrung sehr detailliert geschildert hat. Was aber nicht bedeutet, dass Roulette das alleinige Thema dieses kurzen Romans ist, sehr viel mehr sind es die komplizierten Beziehungen und wechselseitigen Abhängigkeiten der illustren Gesellschaft, die der Autor uns in seiner Geschichte über eine längst vergangene Epoche so gekonnt vor Augen führt. Kein literarischer Schnellschuss also, auch wenn er nur drei Wochen daran geschrieben hat.

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Anaconda

Das Zentrum

saramago-2Heraus aus Platons Höhle

Innerhalb seines umfangreichen Œuvres zählt «Das Zentrum» des Nobelpreisträgers José Saramago zu den besonders stark von Symbolik geprägten Romanen. Nach «Die Stadt der Blinden» und «Alle Namen» ist dies der dritte Roman des Portugiesen, den ich gelesen habe, erschienen im Jahre 2000 und damit aus der selben Schaffensperiode stammend wie die beiden anderen. Kennzeichnend für die Themen dieses Schriftstellers und auch hier die Handlung prägend ist die tiefe Humanität, die seine Geschichte ausstrahlt, seine unbeirrte Zuversicht zudem, in jedem Menschen stecke auch ein guter Kern. Trotz kafkaesk anmutender Szenen in einer menschenfeindlichen Administration gelingt es seinen Figuren, kleine Leute allesamt, sich in diesem Spannungsfeld zu behaupten, eine schützende Nische für sich zu finden und im Übrigen die Hoffnung niemals aufzugeben.

Titelgebend für den Roman ist ein molochartig wachsender Geschäftskomplex, der eine Stadt in der Stadt bildet als riesiges Einkaufszentrum einschließlich Vergnügungspark und Wohnsilo. Der verwitwete, 64jährige Töpfer Cipriano beliefert dieses Zentrum mit Tongeschirr, sein Schwiegersohn arbeitet dort als Wachmann. Mit beißender Ironie schildert Saramago die nur dem Profit verpflichteten Verhältnisse in diesem Konsumtempel, – die rüden Geschäftsmethoden, die aberwitzigen Attraktionen des Vergnügungsparks und die entmenschlicht anmutenden Bedingungen für die dort wohnenden Mitarbeiter. Ein gigantisches Plakat an der Fassade kündet von dem Geist, der da herrscht: «Wir würden ihnen alles verkaufen, was sie brauchen, wenn es uns nicht lieber wäre, sie würden alles brauchen, was wir ihnen verkaufen können.» Saramagos sarkastische Kapitalismuskritik weitet sich zu einer umfassenden Kritik der modernen Gesellschaft, wenn er die Lieferfahrten von der Töpferwerkstatt ins Zentrum schildert, vom idyllischen Dorf auf dem Lande über die trostlosen Außenbezirke mit ihren endlosen, plastiküberspannten Gemüsefeldern und den verwahrlosten Vorstadtregionen bis ins Verkehrsgetöse der unwirtlichen Großstadt.

Mit der Kündigung des Liefervertrages steht Cipriano vor dem Aus, sein Versuch, das Zentrum nunmehr mit bemalten Tonfiguren zu beliefern, scheitert ebenfalls, alle seine Mühen waren umsonst. Als dem Schwiegersohn eine Dienstwohnung im Zentrum zugewiesen wird, in die er ebenfalls mit umziehen wird, ist für ihn und seine schwangere Tochter das Töpferleben endgültig beendet. Eine später bei Erdarbeiten entdeckte, streng bewachte Höhle unter dem Zentrum erweckt seine Neugier, er steigt verbotener Weise hinab und findet dort sechs Tote. Das sind wir, erkennt er hellsichtig. Was folgt ist eine dem Höhlengleichnis von Platon entsprechende Allegorie auf den befreienden Ausstieg aus der Welt der vergänglichen Trugbilder in eine Welt des unverfälschten Seins. Er kehrt spontan in sein Haus zurück, erklärt sich endlich der ihn liebenden Nachbarin, der Schwiegersohn kündigt sein Dienstverhältnis und verlässt mit seiner Frau die gefängnisartige Wohnwabe. Alle Vier brechen auf in ein neues Leben, fahren mit dem klapprigen Lieferwagen hinaus in die Welt, einem unbestimmten Ziel entgegen.

In unnachahmlicher Weise hat der Autor seinen nachdenklich machenden Roman mit klugen Reflexionen, Andeutungen und Symbolen angereichert. Seine Figuren sind äußerst sympathisch und verblüffend lebensklug, was sich in den vielen köstlichen, nahtlos in den Erzählfluss eingebetteten Dialogen niederschlägt, die fiktiv sogar den zugelaufenen Hund mit einbeziehen. Immer wieder auch muss man schmunzeln über den feinsinnigen, hintergründigen Humor des Autors, der seinem Plot mit allerlei überraschenden Wendungen die nötige Spannung verleiht und so die Mutmaßungen des Lesers als auktorialer Erzähler schelmisch konterkariert. Der letzte Satz des Romans zitiert das neueste Plakat des Zentrums: «Baldige Eröffnung der Platonschen Höhle, Exklusiv-Erlebnis, einzigartig auf der ganzen Welt, kaufen sie jetzt ihre Eintrittskarte.»

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by btb Verlag

Die kleine Stechardin

hofmann-1Es darf gesudelt werden

Eine Arbeit liederlich und nachlässig, also schludrig auszuführen kann man auch als sudeln bezeichnen. Wer seine Tagebücher selbst als «Sudelbücher» bezeichnet, beweist damit Sinn für Humor und nimmt sich wohl auch selbst nicht so ernst. Georg Christoph Lichtenberg, der Mathematik, Astronomie und Naturgeschichte studierte und in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts Professor für Mathematik in Göttingen war, ist der Protagonist dieses Romans. Er wird uns als ein quirliger Typ von universaler Bildung geschildert, der an Vielem interessiert war und ständig wissenschaftliche Forschungen betrieb. Seinen Nachruhm jedoch begründeten jene erst posthum veröffentlichten «Sudelbücher» mit zahllosen Notizen und den literarisch bedeutsamen Aphorismen, denen man noch heute immer wieder begegnet. «Wenn ein Kopf und ein Buch zusammenstoßen, und es klingt hohl, ist das allemal im Buch?» wäre ein markantes Beispiel dafür, welches auch gut hierher passt. Lichtenberg war als unabhängiger Vertreter der Aufklärung ein scharfsinniger Beobachter, ein Freigeist mit feinem psychologischem Gespür, wie wir aus seinen satirischen Aufsätzen wissen.

Vieles ist «erstunken und erlogen» in diesem Buch, lässt uns Gert Hofmann im Vorwort wissen, und so ist denn auch der Plot seiner Geschichte frei erfunden, allerdings mit dem Anspruch, dass es durchaus so hätte sein können. Hofmanns Schreibstil, naiv und skurril gleichermaßen, an Märchen erinnernd, ja sogar pennälerhaft einfältig erscheinend, wirkt auf den Leser merkwürdig holzschnittartig, unelegant und uninspiriert. Ein Stilmittel, das wohl auf ein anderes Jahrhundert hinweisen soll oder auf die urkomische Figur, als die Lichtenberg in dem Roman unablässig geschildert wird, der als bunter Vogel durch Göttingen spaziert und fatal an die Märchenfigur des Rumpelstilzchens erinnert. Ein ewigkranker Hypochonder, durch Rachitis von Kindheit an buckelig und kleinwüchsig, ausgesprochen hässlich noch obendrein. So findet der professorale Protagonist denn auch lange nicht sein privates Glück, Frauen sind für ihn unerreichbar. Bis er als 35-Jähriger plötzlich auf das wunderschöne, 13-jährige Blumenmädchen Maria Dorothea Stechard trifft, im Roman die Stechardin genannt, die als Schülerin und Hausmamsell bei ihm einzieht und nicht lange darauf dann auch die Geliebte des Buckligen wird.

Eine ungewöhnliche Liebe, die sich da allmählich entwickelt zwischen den beiden so ungleichen Partnern, die schon bald nicht mehr nur sexuell miteinander verbunden sind, sondern die beide aufblühen vor Glück und als Mensch von einander profitieren. Das wissbegierige Mädchen von der Gelehrsamkeit des Professors, der lebensfremde Wissenschaftler von der Natürlichkeit des unverdorbenen Menschenkindes an seiner Seite, die ihn zu neuen Sinnfragen inspiriert und seine bisher den Mittelpunkt seines Lebens bildende Wissenschaft in den Hintergrund drängt. Dieses Glück, sogar von Heirat ist die Rede, währt nur ganze vier Jahre, bis zum frühen Tod der Stechardin, die einer Epidemie zum Opfer fällt.

Mit sprödem Charme und durchaus auch humorvoll erzählt, hinterlässt der Roman einen zwiespältigen Eindruck. Er ist kaum bereichernd, der als Protagonist missbrauchte Lichtenberg wird zwar häufig mit seinen Aphorismen zitiert, er wird aber eher als Hampelmann denn als scharfsinniger Satiriker vorgeführt, man erfährt nichts Erhebendes von ihm. Und der zweifellos vorhandene Unterhaltungswert der ungewöhnlichen Liebesgeschichte leidet doch sehr an der merkwürdigen Erzählweise, die passt weder auf  Lichtenberg noch auf die Liebe. Schade eigentlich, dass da so gesudelt wurde!

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by dtv München

Stern der Ungeborenen

werfel-1Auch ohne Graecum lesenswert

Bei seinem letzten, 1946 posthum veröffentlichten Roman «Stern der ngeborenen» hat der in Prag geborene Schriftsteller Franz Werfel die «Göttliche Komödie» fest im Blick gehabt. «Für mich ist immer Dante das Vorbild» lautet sein Bekenntnis, und darin weist er denn auch einige Parallelen mit seinem Zeitgenossen Thomas Mann auf. Dessen «Doktor Faustus» ist ja ebenfalls von Dante inspiriert, und auch Goethe hat sich dort mehr als nur Anregungen für seinen «Faust II» geholt. Gegenüber den genannten Werken unterscheidet sich der vorliegende Roman vor allem durch eine rigoros futuristische Handlung, bescheidene hunderttausend Jahre nach der realen Lebenszeit des unter dem Kürzel F.W. als Ich-Erzähler fungierenden Autors. Verschmitzt nennt der sein Werk, ganz lapidar, einen Reiseroman. Er kommuniziert darin immer wieder auf amüsante Weise mit dem Leser, bei dem er sich häufig für sein Unvermögen entschuldigt, das phantastische Geschehen in eine aktuelle Sprache umzusetzen, die richtigen Worte für die geschauten Phänomene und die für Menschen des Zwanzigsten Jahrhunderts unfassbaren Geschehnisse zu finden.

Als Wunschgast aus der fernsten Vergangenheit wird F.W. auf Anraten seines wiedergeborenen besten Freundes zu einer Hochzeit geladen, hunderttausend Jahre nach seinem Tode. Mit wahrhaft überbordender Phantasie schildert der Autor eine utopisch ferne Welt, in der die Menschheit den Planeten Erde gründlich umgestaltet hat und nun ein geradezu ideal erscheinendes Leben führt. Man lebt nämlich voll versorgt ohne Arbeit, ohne Geld und Ökonomie, ohne jede Sprachbarriere, wird quasi ohne Krankheiten einige hundert Jahre alt und behält, das wird potentielle Leserinnen besonders begeistern, bis ins Greisenalter immer sein jugendfrisches Aussehen. F.W. wird als Ehrengast überall herumgeführt, spricht mit den bedeutendsten Personen und lernt so die «astromentalen» Errungenschaften der nun staatenlosen Weltbevölkerung kennen, – er unternimmt natürlich auch einen spontanen Spaziergang ins All.

Im ersten Teil dieses dickleibigen Romans steht die hoch entwickelte menschliche Gesellschaft in all ihren sozialen Verflechtungen im Mittelpunkt, im zweiten das futuristisch Technische dieser fernen Zukunft, im dritten und interessantesten aber geht es mit dem Ausflug in den «Wintergarten» ins tiefgründig Philosophische. Interessant ist, dass Werfel Katholizismus und Judentum als einzige Religionen ganz selbstverständlich auch nach hunderttausend Jahren fast unverändert existieren lässt in seinem Roman. Und auch der überwunden geglaubte Krieg bricht in voller Härte wieder los, ausgelöst durch einen an Sarajewo erinnernden Pistolenschuss eines närrischen Waffensammlers. Wenig Hoffnung also, dass die Menschheit läuterungsfähig ist, allem Fortschritt zum Trotz.

Dieser visionäre Plot, den komplett zu erzählen ich mir hier wohlweislich spare, ist trotz vieler Ereignisse und dramatischer Wendungen aber nicht das Wesentliche dieses Romans, sein utopische Handlung war für mich als erklärter Science-Fiction-Verächter sogar eher abschreckend. Was mich dann aber doch bei der Stange gehalten hat, trotz einiger Längen, waren neben dem Renommee des Autors die unzähligen philosophischen Gedanken und historischen Verweise. Das alles wird tiefsinnig präsentiert mit einer unglaublichen Flut an skurrilen Begriffen und Namen, aber auch an eigenwilligen Wortschöpfungen. Von denen viele aus dem Griechischen abgeleitet sind – wohl dem, der eine fundierte humanistische Bildung genossen hat und den Wortwitz auch versteht! Vor dieser kreativen Fülle hat letztendlich selbst der Verlag kapituliert und auf Anmerkungen verzichtet, wie im Nachwort erklärt wird. Man muss das übrigens auch nicht immer alles ernst nehmen, zum Lesespaß tragen die witzigen Wortbildungen allemal bei, auch ohne Graecum, wie ich als Betroffener vergnügt bestätigen kann.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Fischer Taschenbuch Frankfurt am Main

Unterm Rad

hesse-1Ein didaktischer Albtraum

Bei dem 1906 erschienen zweiten Roman «Unterm Rad» von Hermann Hesse drängt sich der Vergleich mit ähnlichen Werken aus meiner jüngeren Lesezeit von Musil und Joyce geradezu auf. So unterschiedlich sie literarisch auch sind, eint sie inhaltlich doch die vernichtende Kritik an der Anfang des Zwanzigsten Jahrhunderts praktizierten Pädagogik, für damalige Schüler, Zöglinge und Seminaristen ein aus heutiger Sicht didaktischer Albtraum. Während Joyce sich glücklich befreien kann aus seiner traumatischen Schulzeit und Musils Törless verwirrt die Ausbildung abbricht, nimmt Hesses Protagonist ein schlimmes Ende. Und da ich gerade am Vergleichen bin, sei hier vorweggeschickt, dass Hesse in diesem frühen Roman noch einem betulich neoromantischen Duktus folgt, während viele der etwa zeitgleich schreibenden Kollegen sich bereits der klassischen Moderne zugewandt hatten.

Die unduldsamsten Hesse-Kritiker sprachen nach der Nobelpreisverleihung von 1946 dann sogar von literarischem Kitsch, was ich in Hinblick auf die von mir gelesenen wichtigen Romane des Autors so nicht bestätigen kann, und das gilt auch für den vorliegenden Roman. Denn nicht nur die begeisterte Rezeption von Hesse in den USA, die sich bekanntlich am «Steppenwolf» entzündet hatte, auch die Übersetzungen in viele Sprachen der Welt zeugen von einem literarischen Status, der durch interessante Thematiken seiner Werke erklärbar ist und eben nicht durch modernistische Erzählstile. Es geht ihm um Inhalt und Botschaft, nicht um Form.

In einer unschwer als Calw, dem Geburtsort Hesses, erkennbaren Kleinstadt im Schwarzwald fällt Hans Griebenrath in der Schule als Primus auf. Neben seiner Intelligenz ist dafür hauptsächlich sein außerordentlicher Fleiß entscheidend, hinter dem wiederum der Druck seines verwitweten Vaters steckt, der selbst nicht erreichte Ziele in seinem Sohn zu realisieren sucht. Neben dem ehrgeizigen Vater setzen besonders der Pfarrer und auch Schulrektor und Lateinlehrer auf Hans, sie drängen ihn, am Landexamen teilzunehmen und zur Vorbereitung darauf die großen Schulferien zu nützen, geben ihm Extrastunden in den wichtigen Fächern. Mit dem Bestehen der schwierigen Prüfung wird sechsunddreißig Knaben des Landes der Besuch des Seminars im Maulbronn ermöglicht. Hans besteht als landesweit Zweiter, hat dafür aber fast seine gesamten Ferien geopfert, in denen er sich eigentlich vom Schulstress erholen wollte. Dieser Druck verstärkt sich noch im Seminar, Hans fällt leistungsmäßig zurück, mit beeinflusst durch seinen künstlerisch veranlagten besten Freund, der sich rebellisch gegen den Stumpfsinn des schulischen Drills nach Art des Nürnberger Trichters auflehnt und von der Anstalt verwiesen wird. Hans scheitert wenig später ebenfalls, er ist total überfordert und erleidet einen nervlichen Zusammenbruch. Wieder zuhause erlebt er eine große Enttäuschung bei seiner ersten Liebelei, die Erfahrungen der ersten Tage in der lustlos begonnen Mechanikerlehre führen letztendlich zu seinem Tod. Ob Unfall oder Suizid, das lässt Hesse zwar offen, die Suizidvariante allerdings ist wahrscheinlicher, weil vorher schon mal sehr konkret thematisiert.

Der Plot ist linear in sieben Kapiteln erzählt, wunderbar anschaulich wird das damalige Leben in dem kleinen Städtchen und in der Klosteranlage geschildert. Die Charakterzeichnung der verschieden Figuren ist ebenso überzeugend wie die liebevollen Beschreibungen der Natur, von Hesses heimelig erscheinender Geburtsstadt sowie vom Kloster Maulbronn, – der Autor war als Schüler natürlich selbst dort, hat sich mutmaßlich so manches dort Erlebte von der Seele geschrieben. Wobei das Seminar eben nicht gut weg kommt pädagogisch, vom Land als Zuchtanstalt für gehobene Staatsdiener betrieben, die der Obrigkeit später dann willfährig dienen sollen. Eine nachdenklich machende Erzählung darüber, wie man durch blindwütige Überforderung ein junges Leben zerstört, die man auch heute noch gerne mal wieder liest.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Suhrkamp Taschenbuch Verlag

Stiller

frisch-1Tonnerwetter

Mit dem Roman «Stiller» gelang dem Schriftsteller Max Frisch 1954 der literarische Durchbruch. Im Prosawerk des Schweizer Autors ist die Identitätssuche des selbstentfremdeten modernen Menschen das zentrale Thema, es findet sich auch in den späteren Romanen «Homo faber» und «Mein Name sei Gantenbein» wieder, die ebenfalls seinem epischen Hauptwerk zuzuordnen sind. Und so wird denn der vorliegende Roman von dem Versuch seines Protagonisten Stiller beherrscht, der Determiniertheit seiner Handlungsweise zu entkommen, die Triebkräfte seines Inneren zu verstehen. Schon Georg Büchner hat in «Dantons Tod» seinem Helden ja die Frage in den Mund gelegt: »Was ist das, was in uns lügt, hurt, stiehlt und mordet»? Hier nun geht der Held den Weg der Selbstverleugnung, indem er einfach seine Identität wechselt, aus dem Schweizer Anatol Ludwig Stiller wird James Larkin White, ein US-Amerikaner.

«Ich bin nicht Stiller!» lautet denn auch der erste Satz, der laut Edgar Allen Poe ja oft schon die ganze Geschichte enthalte. Der bei seiner Einreise Festgenommne leugnet beharrlich, der jahrelang spurlos verschwundene Bildhauer Stiller zu sein, und er setzt auch alles daran, diese Identität nicht annehmen zu müssen, allen Fakten zum Trotz. Seine zunächst ziemlich kafkaesk anmutende Untersuchungshaft bildet den Hauptteil des Romans, in sieben Heften unter dem Titel «Stillers Aufzeichnungen im Gefängnis» protokolliert er, auf Wunsch seines Verteidigers, das Geschehen aus persönlicher Sicht und kommentiert es. «Die Beziehung zwischen der schönen Julika und dem verschollenen Stiller begann mit der Nussknacker-Suite von Tschaikowsky» schreibt er, eine Musik, die Stiller verächtlich als «virtuose Impotenz» bezeichnete. Er heiratete die grazile Balletteuse ein Jahr später, ihre Ehe aber machte Beide nicht glücklich, ihre Probleme miteinander sind ein zweites Hauptthema des Romans. Und so kommt es zu einer Affäre mit Sibylle, einer verheirateten Frau, die ihren Mann Rolf sehr selbstbewusst darüber informiert. Stiller flieht aus dieser Beziehung und lässt auch seine kranke Frau im Stich, er fährt auf einem Frachter als blinder Passagier in die USA. Der Staatsanwalt, der sich mehr als sechs Jahre später mit seinem Fall zu beschäftigen hat, ist jener Rolf, der nun wieder mit seiner Sibylle zusammenlebt. Er ist es auch, der nach Stillers Verurteilung sein Freund wurde und ein «Nachwort des Staatsanwaltes» schreibt zu den sieben Heften, die er von ihm erhalten hat, wodurch wir Leser den Helden nun noch eine Weile lang begleiten in seiner wahren Identität.

Es ist eine äußerst komplexe Geschichte, in der Max Frisch seine philosophische Thematik, das zu hinterfragende «Ich» also, aufarbeitet. Mit dem Kunstgriff des fingierten «Ichs» in Person von White, aus dessen Perspektive über den Versager Stiller distanziert berichtet werden kann, obwohl die Beiden ja identisch sind, gelingt es ihm, aus einer singulärer Identität auszubrechen und ein zweites, verdecktes «Ich» zu etablieren. Der Ich-Erzähler White berichtet also in der Er-Form über Stiller, aus dieser Position nachdrücklich eine Einheit Stiller/White ausschließend, was dem Text einen gewissen Verfremdungseffekt verleiht und darüber hinaus auch seine Glaubwürdigkeit in Frage stellt. Trotz dieser komplizierten Erzählsituation ist die Geschichte flüssig zu lesen, häufig sogar wird es auch amüsant, so zum Beispiel in den drei gleichnishaften Geschichten, die der Inhaftierte seinem naiven Wärter erzählt, von diesem immer wieder mit einem erstaunten «Tonnerwetter» begleitet. Zum Schmunzeln fand ich ferner die Beschreibungen des Volkscharakters seiner Schweizer Landsleute wie auch der Amerikaner, ebenso köstlich sind die bissigen Anmerkungen zur Architektur in seiner Heimat. Max Frisch erweist sich als ein großartiger, detailversessener Beobachter, seine sprachliche Könnerschaft liegt in der absoluten Treffsicherheit bei der Wortwahl.

«Ohne Mitwirkung des Lesers ist der Stiller weder zu lesen noch zu begreifen» hat Friedrich Dürrenmatt resümiert. Dem kann ich nur zustimmen, möchte aber ergänzen: Der Mühe wert ist es allemal!

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Suhrkamp Frankfurt am Main

Nullzeit

zeh-1Schuster bleib bei deinen Leisten!

Mit dem geheimnisvollen Titel des neuen Romans von Juli Zeh ist für Kundige auch gleich das Milieu genannt, in dem die Autorin ihre in der Gegenwart spielende Geschichte angesiedelt hat, es geht ums Tauchen. Das im Klappentext als «Psychothriller» bezeichnete Buch entführt den Leser in einem wahrhaft abenteuerlichen Plot in die Welt eines Aussteigers auf Lanzarote, der dort mit seiner Freundin zusammen eine Tauchschule betreibt. In diese abgeschiedene Idylle hinein platzt ein ziemlich neurotisches Pärchen und zerstört sie für immer.

Verhaltensanomalie ist übrigens auch das Kennzeichen der anderen Protagonisten, jeder hat so seine Macke. Genau da aber liegt eine Schwäche dieses Buches, denn die Psyche aller Charaktere ist weder glaubwürdig noch tiefgründig dargestellt, alle bleiben seltsam langweilig und farblos. Das gilt für die um ihre Karriere bangende junge Schauspielerin Jola ebenso wie für den von ihr ausgehaltenen, erfolglosen Schriftsteller Theo, die sich ohne erkennbaren Grund gegenseitig nach dem Leben trachten. Plausibilität ist keine Eigenschaft des haarsträubenden Plots, er ist bei aller Raffinesse in der Konstruktion damit letztendlich unglaubwürdig, man fühlt sich irgendwie unwohl bei der Lektüre, weil einiges absolut nicht zusammenpasst.

Neben dem Hauptstrang des Ich-Erzählers und Tauchlehrers Sven blendet Juli Zeh immer wieder im Wechsel die Tagebuchaufzeichnungen von Jola ein, die eine zunehmend abweichende Geschichte erzählt, was als dramaturgisches Mittel den Leser wohl irritieren soll, seine Gewissheiten fragwürdig erscheinen lässt. In einer klaren, fast spröde wirkenden Sprache mit bühnentauglich formulierten Dialogen erzählt die Autorin leichtfüßig und unbekümmert eine kuriose Dreiecksgeschichte, deren Hintersinn jedoch verborgen bleibt. Man wird bestens unterhalten jedenfalls, der Spannungsbogen steigert sich kontinuierlich und mündet dramaturgisch wirkungsvoll in einen Show-down, den man zu Recht als filmreif bezeichnen kann.

Bereichert aber wird man nicht mit diesem schnell lesbaren Buch. Ein Rezensent hat es nicht ganz zu unrecht als U-Bahn-Lektüre bezeichnet, was bei einer mit Buch-Preisen überhäuften Autorin mit dem Renommee, anspruchsvolle Literatur zu schreiben, mich denn doch sehr überrascht hat. War da mit Sex and Crime ein Bestseller geplant, mit Riesenauflage? Das aber können andere deutlich besser, und nicht nur Patricia Highsmith. Schuster bleib bei deinen Leisten!

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Schöffling & Co Frankfurt am Main

Lügen in Zeiten des Krieges

begley-1Keine Todsünde

Der Schriftsteller Louis Begley wurde als Sohn polnisch-jüdischer Eltern in der heutigen Ukraine geboren und emigrierte nach dem Zweiten Weltkrieg in die USA, wo er als Rechtsanwalt eine steile Karriere machte. Erst mit 58 Jahren veröffentlichte er seinen Debütroman «Lügen in Zeiten des Krieges», der 1991 wegen seiner Holocaust-Thematik literarisch einiges Aufsehen erregt hat. Darin verarbeitet er eigene Erlebnisse, es handele sich aber keineswegs um Memoiren, wie er betonte, er könne sich mehr als fünfzig Jahre später nur sehr unzureichend an diese Zeit erinnern.

In einer Vorbemerkung stellt der Autor seinen Ich-Erzähler als einen Mann älter als fünfzig vor: «Er bewunderte die Äneis. In ihr fand er zum ersten Mal ausgedrückt, was ihn quälte: die Scham, mit heiler Haut, ohne Tätowierung davongekommen zu sein, während seine Verwandten und fast alle anderen im Feuer umgekommen waren, unter ihnen so viele, die das Überleben eher verdient hätten als gerade er». Und dieser Maciek,«ein paar Monate nach dem Reichstagsbrand» geboren, wie es gleich am Anfang heißt, erzählt im ersten Kapitel des Romans von seiner wohlbehüteten Jugend in Polen, er war ein verhätscheltes Einzelkind, der Vater ein angesehener Arzt, die Mutter im Kindbett verstorben. Ihre Schwester Tanja übernahm Macieks Erziehung, auch seine Großeltern kümmerten sich liebevoll um ihn. Mit dem Anschluss Österreichs fielen erste Schatten auf die familiäre Idylle, nach dem Überfall auf Polen am 1. September 1939 änderte sich die Situation für die jüdische Familie dann dramatisch, der Vater zog in den Krieg, es begann der Kampf ums nackte Überleben.

Tante Tanja erweist sich dabei als selbstbewusste, äußerst listige Frau, die es immer wieder schafft, sich und ihren Neffen Maciek vor den Judenverfolgungen im besetzten Polen zu retten. Von Versteck zu Versteck hetzend, mit immer neuen Tarnungen, gefälschten Papieren und beherztem Auftreten ihre jüdische Herkunft verbergend, gelingt es den Beiden, den Holocaust zu überleben. Sie nehmen dafür eine falsche Identität als katholische Polen an, Maciek bereitet sich sogar gewissenhaft auf seine Erstkommunion vor. Dabei jagt ihm das strikte Verbot der Lüge als Todsünde eine naive Angst vor der Hölle ein, schließlich ist ja sein ganzes Leben auf Lügen aufgebaut, die ihn vor der sicheren Vernichtung bewahren. Ihre Odyssee führt sie schließlich nach Warschau, wo sie 1943 den Aufstand im Ghetto aus sicherer Entfernung miterleben. Nach der Niederschlagung des Warschauer Aufstandes im Herbst 1944 entkommen sie durch Tanjas beherztes Auftreten der Deportation nach Auschwitz und flüchten aufs Land, wo sie einige Monate auf einem Bauernhof arbeiten. Die Befreiung durch die Rote Armee erleben sie dann in der Stadt Kielce, – ihre falsche Identität behalten sie vorsichtshalber bei.

Was sich als lebensrettend erweist. Im letzten Kapitel nämlich, jetzt wieder aus der Perspektive des älteren Mannes erzählt, wird vom Pogrom von Kielce im Jahre 1946 berichtet, «und was glauben Sie? Über vierzig Juden hat es noch gegeben, die man erschießen musste!» Lakonische Ergänzungen wie diese und einige eingestreute Exkursionen zum Inferno in Dantes »Divina Comedia» konterkarieren trickreich die kindliche Perspektive von Macieks melancholischer Erzählung. Sehr anschaulich wird das Leben in verschiedenen Gesellschaftsschichten Polens beschrieben, vom wohlhabenden Gutsbesitzer mit zahlreicher Dienerschaft bis zum zerlumpten Flüchtling im Luftschutzkeller, dem nur noch das nackte Leben zu retten bleibt. Eine Fülle von stimmig beschriebenen Figuren verkörpern glaubhaft das Gute und das Böse als Erfahrungen einer traumatischen Jugend, die man sich schlimmer kaum vorzustellen vermag als Leser. Der Roman ist gleichermaßen berührendes Zeitzeugnis und dicht an der historischen Realität entlang erzählte Fiktion, die lesenswerte Chronik einer schlimmen Zeit, in welcher der Holocaust als Menetekel stets präsent – und Lügen keine Todsünden waren.

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Suhrkamp Taschenbuch Verlag

Odessa Star

koch-1Satire oder nicht

Wer da glaubt, die Romane eines Comedians müssten doch lustig oder zumindest amüsant sein, der irrt sich. Herman Koch nämlich, niederländischer Autor, Schauspieler, Kolumnist und TV-Comedian, ist eher ein schreibender Misanthrop, sein Roman «Odessa Star» von 2003, zehn Jahre später auch auf Deutsch erschienen, zeigt dies sehr deutlich. Es ist dies nämlich eine geradezu niederschmetternde Geschichte, thematisch der Fernsehserie «Breaking Bad» verwandt, die sich aus einer derart bösartigen Erzählhaltung heraus entwickelt, dass man sich als Leser am Ende einfach nur resigniert wünscht: Hätte man doch dieses unerfreuliche Buch nie zur Hand genommen!

Den Durchbruch zum Bösen begeht hier Fred Moorman, ein Endvierziger in der Midlife-Crisis, der unter seinem so völlig unspektakulären Leben leidet, sich als Versager fühlt. Er wünscht sich sehnlich einen anderen Bekanntenkreis, schämt sich für seinen popligen Opel, träumt stattdessen von einem schwarzen Jeep Cherokee mit allem Schnickschnack. Als ihm sein protzig auftretender ehemaliger Schulkamerad Max G. begegnet, sieht er in dem vermutlich mafiosen Jugendfreund einen Helfer für den Aufstieg aus seinem drögen Mittelstandsdasein. Was folgt ist eine haarsträubende Geschichte, in deren Verlauf wir nicht nur die bucklige Verwandtschaft des fragwürdigen Helden näher kennen lernen, sondern auch ihn selbst, wir erleben ihn samt Frau und halberwachsenem Sohn zum Beispiel bei einem Urlaub auf Menorca. Währenddessen sorgen der zwielichtige Freund und dessen Bodyguard dafür, dass die unliebsame Mitbewohnerin in Freds Haus spurlos verschwunden ist, als er zurückkommt.

Die dezent eingebauten Thrillerelemente kontrastieren mit vielen geradezu unappetitlichen Szenen im Leben dieses Antihelden, dessen Häme vor nichts haltzumachen scheint. Seien es die schon eine viertel Stunde vor Öffnung des Speisesaals «wie eine Herde an einem Wasserloch» wartenden Senioren im Hotel, über die er sich ärgert, die einen penetranten Geruch nach Apotheke und Windeln ausströmen und dann binnen kurzem das Buffet ratzeputz leer fressen, oder der mongoloide Junge, dessen Anblick ihn so stört, dass er ihn am liebsten im Pool ertränken würde. Er mokiert sich aber auch über die grottenhässlichen Belgier und die ewig Fish and Chips mampfenden Engländer, der menschenfeindliche Protagonist gehört also unzweifelhaft zur Spezies der Kotzbrocken. Man fragt sich als Leser, mit welchem Kalkül der Autor seine wirre Geschichte mit so unappetitlichen Szenen wie die Kopulation des Nägel kauenden Französischlehrers mit seiner hässlichen Frau oder die Ekel erregenden Zustände in der Wohnung seiner dementen Mitbewohnerin anreichert. Ist es der pure Spaß am Unkorrekten, Geschmacklosen, Gehässigen? Ist diese sarkastische, zynische Erzählhaltung ein bewusst eingesetztes Stilmittel, trickreich die Erwartungen der Leser zu konterkarieren, sind alle diese Tiraden eines Egomanen also nur als Satire zu verstehen?

Dann aber wäre die Übertreibung als typisches Kennzeichen der Satire hier auf die Spitze getrieben, die Grenze zur Verunglimpfung ist eindeutig überschritten. Ich hatte vielmehr das ungute Gefühl, dem Autor ist seine Story irgendwie entglitten. Denn vieles daran ist derart haarsträubend und verworren, dass man sich nur wundert, – die völlig abstruse Szene um die TV-Sendung «Wer wird Millionär» ist ein beredtes Beispiel dafür, aber auch der Mord an Max G. oder die manipulierte Gasleitung des Schwagers. Und wenn der Junge mit Dow-Syndrom als «Mongo» bezeichnet wird, als ein Halbmensch, dessen Eltern sich schämen müssten, ihn gezeugt zu haben, dann ist man einfach nur angewidert von diesem unsäglichen «Thriller». Nun könnte man einwenden, all diese Tabubrüche begeht ja nur der fiese Ich-Erzähler Fred, eine Romanfigur also, stünde dem nicht entgegen, dass dieser unsägliche Held ja durchaus wohlwollend beschrieben wird von seinem Schöpfer Herman Koch, eine abgrenzende Distanz ist da für mich nicht erkennbar.

Fazit: miserabel

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Genre: Roman
Illustrated by Kiepenheuer & Witsch Köln

Malina

bachmann-1Es darf gedeutet werden

Die österreichische Schriftstellerin Ingeborg Bachmann, bekannt vor allem durch ihre Lyrik, hat mit «Malina» 1971 einen einzigen Roman veröffentlicht, gedacht als erster Teil der geplanten Trilogie «Todesarten», deren Verwirklichung ihr früher, rätselhafter Tod in Rom jedoch verhindert hat. Sein Thema ist die Liebe, aus weiblicher Sicht geschildert von einer namenlosen Ich-Erzählerin, ein wahres Psychodrama, Zeugnis der extremen Not einer an ihrer Verletzlichkeit zerbrechenden Frau, deren geradezu unterwürfiger Kampf um Liebe immer wieder mit dem Intellekt einer erfolgreichen Schriftstellerin kollidiert.

Wie in einem Drama beginnt der Roman mit einer Aufzählung der auftretenden Personen, zu denen neben Ivan und Malina auch «Ich» gehört, Augen br., Haare bl., geboren in Klagenfurt, Wohnadresse Wien III, Ungargasse 6. Wir haben es mit einer Autobiografie zu tun, «Eine geistige, imaginäre Autobiographie» schränkte sie später ein: «Diese monologische oder Nachtexistenz hat nichts mit der gewöhnlichen Autobiographie zu tun, mit der ein Lebenslauf und Geschichten von irgendwelchen Leuten erzählt werden.» In drei Kapitel gegliedert erzählt der Roman im ersten Kapitel «Glücklich mit Ivan» von ihrem Verhältnis zu einem Ungarn mit zwei Söhnen, der in der unmittelbaren Nachbarschaft wohnt. Ihrem Glück steht entgegen, dass Ivan geschäftlich häufig auf Reisen ist, sich wenig um ihre emotionalen Wallungen kümmert, sehr dominant auftritt. Ganz anders Malina, ihr Mitbewohner, ein braver Beamter, der immer für sie da ist, ausgeglichen, geduldig, fürsorglich. Im zweiten Kapitel «Der dritte Mann» behandelt Ingeborg Bachmann die Auslöser ihrer psychischen Probleme, die unsäglichen Schrecken des Zweiten Weltkrieges, an die sie sich in Alpträumen erinnert, wobei der Vater, als dritter Mann sozusagen, symbolhaft den Horror personifiziert bei all den tranceartigen Zuständen, in denen sie ihr inneres Inferno beschreibt. «Von letzten Dingen» ist dann das dritte Kapitel überschrieben, in dem sie erkennt, dass die drohende Eskalation ihrer persönlichen Existenz auch mit Malinas Hilfe nicht zu überwinden sein wird, sie vielmehr an einer Männerwelt scheitern müsse, der sie nichts entgegenhalten kann. «Ich habe in Ivan gelebt und ich sterbe in Malina» heißt es im Roman, und zu ihrem Tod, dem Verschwinden in einem Riss in der Mauer, lautet dann der letzte Satz: «Es war Mord.»

Man hat den Roman als Aufarbeitung ihrer Beziehung zu Max Frisch gedeutet, deren Scheitern sie schwer verkraftet hat, Frisch hatte das seinerseits ja schon in «Mein Name sei Gantenbein» thematisiert, – insoweit kann man «Malina« durchaus als Schlüsselroman bezeichnen. Der damals prompt eine «feuilletonistische Hetzjagd» ausgelöst hatte, wie Elfriede Jelinek in ihrer vom «Spiegel» bestellten, dann aber nicht veröffentlichten Buchbesprechung geschrieben hat, die nun dem Roman als Anhang beigefügt ist. Gleichzeitig aber ist der Roman eine bittere Abrechnung mit der Rolle der Frau in einer männerdominierten Gesellschaft, die Ingeborg Bachmann mit ihren poetischen Mitteln eindringlich beschreibt.

Wirklich noch nie ist es mir allerdings derart schwer gefallen, einen Roman zu Ende zu lesen! Das liegt keineswegs an dessen Thematik, es liegt einzig und allein an der sprachlichen Umsetzung. Gekonnt formuliert zwar in makelloser Syntax, sprachverliebt, geradezu wortgewaltig, ist dies ein Prosatext, der inhaltlich und gedanklich nur als wüstes Geseiere zu bezeichnen ist, bestehend aus einem Sammelsurium von Phantasmagorien, Alpträumen, irrealen Reflexionen, schierem Nonsens. All das ist oft zusammenhanglos erzählt in textlichen Sequenzen, denen ich partout nichts abgewinnen konnte, die einfach nur quälend zu lesen sind. Und in denen mir die Suchtproblematik der lebensuntüchtigen Autorin denn doch einiges zu erklären scheint. Genau das aber öffnet naturgemäß ein Füllhorn für Deutungen, was die vielfach beschworene Innerlichkeit dieser Autorin anbelangt.

Fazit: miserabel

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Genre: Roman
Illustrated by Suhrkamp Frankfurt am Main