TITULA

Mit diesem spannenden Krimi beweist Autor Norman Nekro die Geschwindigkeit des E-Books. Denn sein Roman spielt im Hier und Jetzt und beginnt aktuell im syrischen Grenzgebiet, wo Rebellenarmeen, die ihren eigenen Gottesstaat errichten wollen, in einer Orgie von Blut und Gewalt stecken. Ein klassisches Papierbuch hätte hier erst zeitaufwändige Prüf- und Fertigungsstufen durchlaufen müssen, bis es endlich auf dem Markt ist, Self-Publisher Nekro hingegen kann neueste Fakten und Vorgänge einfließen lassen, um brandaktuell zu schreiben – und das bringt dem Thriller Aktualität und Dynamik.

Durch das Bombardement einer Rebellen-Hochburg wird eine unterirdische Krypta am Dschebel a´min el Kifar, dem Berg der Ungläubigen, freigelegt. Diese birgt eine sagenhafte Reliquie: die Olivenholztafel vom Kreuz Christi. Die mit der Inschrift » I•N•R•I« (Iesus Nazarenus Rex Iudaerorum = Jesus von Nazareth, König der Juden) versehene »Ttitula Crucis« wird von den Aufständischen an einen österreichischen Professor verkauft, der sie im Auftrag eines geldgierigen Medienkonzerns erwirbt. Dieses Unternehmen nutzt den einzigartigen Schatz für einen neu geschaffenen religiösen Sender, der rund um die Uhr predigt und Choräle ausstrahlt, um Spenden zu sammeln.

Wie nicht anders zu vermuten, ruft die von allen Fachleuten als echt befundene Reliquie die römische Amtskirche auf den Plan. Es dauert nicht lange, bis die Geheimpolizei des Vatikans alles versucht, um des wertvollen Heiligtums habhaft zu werden. Allerdings ist auch noch die kreuzgefährliche ultrakonservative Bruderschaft »Hermandad Torquemada« im Spiel. Dieser Verein, der sich auf den letzten Großinquisitor Tomás de Torquemada beruft, will ebenfalls die Tafel für sich haben und damit gleichzeitig ein Fanal für die »wahren« Christen setzen. Als Beschaffungsspezialist wird Auftragskiller Hagen von Trondberg engagiert, der bereits in Nekros Thriller »LINNEN – Das Grabtuch-Mysterium« eine tragende Rolle spielte.

Atemlos verfolgt der Leser nun das blutige Gezerre um die Tabula, bei dem der Spezialist für geräuschlose Morde eine entscheidende Rolle spielt. Immer wieder wendet sich das Blatt zugunsten der einen oder anderen Partei, und es gibt kein Verbrechen, das schäbig genug wäre, von Kirchenoberen nicht ausgeführt zu werden. Als zum Schluß der Papst eine öffentliche Messe samt Rockkonzert auf dem Petersplatz abhalten will, um die Titula zu weihen, bricht ein Inferno los.

Norman Nekro schafft es mit seinem spanungsgeladenen Roman erneut, ein vielfarbiges Bild von »Gut« und »Böse« zu zeichnen, das einem permanenten Vorzeichenwechsel unterworfen ist.


Genre: Thriller
Illustrated by Kindle Edition

Der Allesforscher

Steinfest, Allesforscher Steinfest beginnt seinen genremäßig phantastischen Roman mit einer gewaltigen Explosion: Manager Sixteen Braun beobachtet im südlichen Taiwan, wie ein toter Pottwal auf einem Schwertransporter durch die Straßen gefahren wird. Augenblicke später wird er im Koma liegen, die im Inneren des riesigen Tieres metabolisierenden Gase lassen den Meeresriesen explodieren, Braun wird hart von Innereien getroffen und verliert das Bewusstsein.

Er erwacht in einem Krankenhaus und macht dort – Glück im Unglück – Bekanntschaft mit der sexuell eigenwilligen Ärztin Lana. Der Dame will er treu sein, doch daheim bricht trotz guter Vorsätze das fremd bestimmte Leben über ihn herein. Er heiratet seine von ihm ungeliebte Verlobte, steigt in der Firma des Schwiegerpapas auf und lebt ein frustriertes Dasein. Zwei Jahre darauf wird er davon per Scheidung erlöst, schult vom Manager zum Bademeister um und beginnt, Lana zu suchen. Die ist jedoch zwischenzeitlich überraschend verstorben, und so könnte die Geschichte eigentlich schon zu Ende sein.

Doch da klingelt das Telefon, und mit diesem kleinen Kunstgriff, dessen sich manch ein Autor bedient, der aus der Sackgasse des Handlungsgefüges ausbrechen will, erfährt Sixteen Braun von einem Sohn. Diesen hat er angeblich mit Lana gezeugt, der Waise soll seinem leiblichen Vater zugeführt werden. Nach anfänglichem Sträuben akzeptiert er die Vaterschaft. Die körperliche Zuwendung der Botschaftsangestellten, die ihm das Waisenkind vermittelt, leistet dabei zusätzliche Überzeugungsarbeit. Allerdings wundert sich der frisch gebackene Papa, dass der Knabe ein kleiner Chinese ist, den er mit der Europäerin gezeugt haben soll. Zudem spricht der Knabe eine vollkommen eigene Sprache, die keinem verständlich ist und ist offensichtlich in einer eigenen, geheimnisvollen Welt gefangen und dort zurückgeblieben. Dafür kann er meisterhaft zeichnen und klettert wie eine Bergziege.

Der Leser als Allesforscher

Es soll nun nicht zu viel verraten werden, aber Sixteen begegnet in Träumer seiner Schwester, die beim Bergsteigen tödlich verunfallte und deren Unfallort die frisch verkuppelte dreiköpfige Familie aufsuchen will. Zwischen Wahn und Wirklichkeit, getrieben von Albträumen und Fantasien geht der ehemalige Businessman und jetzige Bademeister nun mitsamt Sohn und Freundin auf die Reise. In den Alpen begegnet er einem Chinesen, der eigentlich mit der Geschichte eng verwoben ist …

Spätestens hier nun ist es am Leser, im Sinne des Buchtitels zum Allesforscher zu werden und die verschiedenen Fäden und Handlungsstränge aufzunehmen und zu verweben. Das wirkt im ersten Augenblick verwirrend surreal, liest sich aber äusserst geschmeidig, denn Steinfest ist ein Autor, der zumindest im Steinbruch der Worte gewandt zu klettern versteht.

Nominiert für den Deutschen Buchpreis 2014 hätte dieses Werk durchaus verdient, gekrönt zu werden. Doch dazu hätte der 1961 geborene Verfasser seinen Roman wohl auf die Insel Hiddensee statt nach Taiwan verlegen müssen …

Ruprecht Frieling

Diskussion dieser Rezension im Blog der Literaturzeitschrift


Genre: Romane
Illustrated by Piper München, Zürich