Andalusien. Eine literarische Einladung

Andalusien. Eine literarische Einladung. Die reiche Kulturlandschaft Andalusiens bot sogar dem Spaghetti-Western Platz. Denn neben großen Städten bietet eine der abwechslungsreichsten Regionen des Kontinents einen über die Jahrhunderte hinweg gewachsenen Schmelztiegel der Kulturen und ist und bleibt ein Sehnsuchtsort romantischer Reiselust.

Sonne, Strand um mehr

Costa del Sol, Skifahren in der Sierra Nevada oder Wochenendtrip, die “literarische Einladung nach Andalusien” bietet auch mal einen guten Sherry, Kobolde und andere Flamenco-Fans, den Traum eines jungen Marokkaners an der Straße von Gibraltar sowie das Córdoba der Kalifen und das der Touristen an. Aber auch die Verwirrungen einer Austauschstudentin in Sevilla kommen hier zur Sprache. Andalusien war lange Zeit auch Heimat des Islams und eben dort entstand auch eines der eindrücklichsten Traktate über die Spielarten der menschlichen Liebe, wie die Herausgeber im Vorwort betonen.

Andalusien. Eine literarische Einladung

Von Andalusien aus wurden auch die amerikanischen Häfen erstmals in der Geschichte angesteuert, um dort das sagenumwobene Eldorado zu finden. Literarisch kann Andalusien immerhin mit der Erfindung des Schelmenromane (novela picaresca) punkten oder später in der Romantik mit einem Boom an Texten über Gitanos, Stierkampf wie etwa “Carmen”, das später auch als Oper umgesetzt wurde. Eine weitere Blütezeit war die Zeit vor dem Bürgerkrieg und später Jahrzehnte nach dem Krieg. Die vorliegende Anthologie ist nach den unterschiedlichen Provinzen Andalusiens geordnet und beginnt mit Sevilla, Cadiz, Huelva, Cordoba, weiter über Malaga, Granada, Jaén bis Almeria und Coda.

Andalusien: In vino veritas

Ein Brief von Nancy an Betsy, einer amerikanischen Austauschstudentin, von Ramon J Sender zeigt humorvoll Missverständnisse zwischen beiden Kulturen auf, die zumeist auf Stereotypen beruhen. Aber immerhin lernt Nancy warum es in Spanien keine Gorillas braucht, um Guerilla-Kriege zu führen. In “begnadetem Zustand” wandeln die Protagonisten in Arturo Perez-Reverte’s Geschichte über die Brücken Sevillas hinein in die Kneipen, von einer zur anderen, “wie ein Rudel Wölfe in der Finsternis der Nacht”. Federico Garcia Lorca klärt uns auf, warum kein Flamenco-Künstler Südspaniens jemanden “berühren” kann, “solange sich der Kobold nicht zeigt”. Die mythische Figur ist eine Art Muse auf dessen Existenz alle Künstler Andalusiens schwören. Bei Maria Duenas erfährt man, was einen guten Wein ausmacht. Es sind die fünf F: fortia, formosa, fragantia, frigida et frisca (Stärke, Schönheit, Duft, Frische und Reife).

Bellavista auf Stadt und Land

In “Punta Marroqui” von Nieves Garcia Benito pfeift der Protagonist Hilario ununterbrochen dasselbe Lied, wenn er fischen geht. Seine Frühpension erlaubt ihm bei weniger Geld ein angenehmes Leben, wenn nur die Möwen nicht so schreien würden. “Nicht ein einziges Mal hörte ich jemanden das Wort Liebe aussprechen”, beklagt eine Stimme in “Bellavista” (Juan Cobos Wilkins). Es sei das einzige Wort, das wirklich heile. Liebe. Juan Eslava Galan beschreibt in seinem Beitrag Cordoba als Stadt mit einem Naturschutzgebiet mitten im Zentrum, das Isabella I. anlegen habe lassen. Der Ritter Dia Sanchez de Jaen soll allerdings darin im Wasser ertrunken sein, obwohl er Zeit seines Lebens nur Wein getrunken haben soll. Auch die Frauen kommen zu Wort. Maria Sanchez beschreibt in “Land der Frauen” warum diese das Land meiden und die Stadt bevorzugen. Im Anhang befinden sich Kurzbiografien und Werkangaben zu den zitierten Autor:innen. Mit weiteren Texten von María Dueñas, Ildefonso Falcones, Federico García Lorca, Almudena Grandes, Sara Mesa, Antonio Muñoz Molina, José F. A. Oliver, Arturo Pérez-Reverte, María Sánchez, Ramón J. Sender und vielen anderen.

Marco Thomas Bosshard (Hrsg.), Volker Jaeckel (Hrsg.)
Andalusien
Eine literarische Einladung
SALTO [279].
2023, 144 Seiten. Rotes Leinen. Fadengeheftet
ISBN 978-3-8031-1378-8
Wagenbach Verlag
22,– €


Genre: Anthologie, Literatur, Reiseführer
Illustrated by Wagenbach

Revanche

Revanche. Wie Putin das bedrohlichste Regime der Welt geschaffen hat. Mit einem neuen Kapitel. Das schon 2023 zum Bestseller avancierte Sachbuch des außenpolitischen Korrespondenten der ZEIT wird 2024 mit einem neuen Kapitel zur Stabilität von Putins Herrschaft nach dem Aufstand und Tod Prigoschins neu aufgelegt. Michael Thumann ist einer der besten Russlandkenner und lebt in Moskau.

Neuauflage zur Ukraine-Krise in Europa

Russland kennt Michael Thumann schon aus Studienzeiten, als er u.a. an der Moskauer Lomonossow Universität studierte. Schon die grundlegend überarbeitete und aktualisierte Taschenbuchausgabe enthält bislang unveröffentlichte Einsichten über Putins Verhältnis zu den radikalen Nationalisten im eigenen Land und die Stabilität seiner Herrschaft nach dem Aufstand und dem Tod seines Widersachers Prigoschin. Im März 2024 erscheint eine erweiterte Neuauflage, die den Absturz Russlands in eine zunehmend totalitäre Diktatur und den Weg in Putins imperialistischen Krieg aus nächster Nähe nachzeichnet. Der Titel des Buches, Revanche, beschreibt das eigentliche Motiv des russischen Präsidenten, nämlich Rache zu nehmen für die demokratische Öffnung nach 1991. Die vermeintliche Demütigung durch den Westen hat Putins Herrschaft weiter radikalisiert. “Unter Wladimir Putin verabschiedet sich Russland, das eigentlich größte europäische Land, aus Europa. Erneut senkt sich ein Eiserner Vorhang quer durch den Kontinent. Reise ich in dieses Land, werde ich am Flughafen in aller Regel aufgehalten. Der Grenzbeamte hält meinen Pass fest und telefoniert lange mit seinen Vorgesetzten. Ein Mensch im dunklen Anzug, wahrscheinlich Geheimdienst, holt mich ab und führt mich in einen Kellerraum. Darin ein Schreibtisch, eine alte Matratze mit Sprungfedern, kaputte Stühle, Staub in den Ecken. Ich muss Fragen beantworten: Wo wohnen sie? Was denken sie über die Militäroperation? Was haben sie vor in Russland? Ich antworte knapp und frage mich selbst: Komme ich überhaupt noch in das Land? Und komme ich wieder heraus?”, so Michael Thumann.

Revanche: “Wir haben uns geirrt”

“Revanche” liest sich wie ein moderner Thriller. Es waren vor allem westliche Gutgläubigkeit, Kumpanei, ein riesiger Vertrauensvorschuss, die Putin groß gemacht hätten, schreibt Thumann. Eine wichtige Rolle spielte dabei der deutsche Kanzler Gerhard Schröder der Putin noch 2004 einen “lupenreinen Demokraten” genannt hatte. Ob er dafür den Aufsichtsratjob bei Gazprom bekam? 2014 überfiel Putin die Krim und der Ukraine-Krieg nahm seinen Anfang. Die “militärische Operation” in der Ukraine wie es formell heißt ist Russland “bewaffnete Reaktion auf den Fall der Berliner Mauer”, so Thumann. Aber die Allianzen Russlands mit Deutschland haben schone eine lange Tradition. Man erinner sich an das 18. Jahrhundert als die beiden sich Polen teilten oder an Rapallo nach dem Ersten Weltkrieg. Aber auch schon vor dem Krieg: “Das junge Sowjetrussland half damals der Reichswehr ihre Schlagkraft aufzubauen, dafür holte Berlin die Bolschewiki aus der internationalen Isolation”, so Thumann wörtlich. Der Traum der Deutschen dabei: sich die unvorstellbaren Rohstoffreserven Russlands am Westen vorbei für sich allein zu sichern. Deutsche Technik und russische Rohstoffe sollten die Welt verändern. Mit Nord-Stream 2 wurde nichts anderes als die Abhängigkeit der EU von Russland zementiert. Die Ukraine verlor dabei Transitgebühren.

Mit viel Insiderwissen und spannend erzählt zeigt Michael Thumann die deutsche Verantwortung und den Zusammenhang zwischen dem Putsch von Sommer 1991 und dem Russland von heute: “Heute wird Russland ganz im Geist der Putschisten regiert.” Thumann erzählt von den neuen Nationalisten in Europa, den Autokratien und der wirklichen Macht der Apparate. Spannende Zeitgeschichte gut erzählt.

Michael Thumann
Revanche. Wie Putin das bedrohlichste Regime der Welt
geschaffen hat. Mit einem neuen Kapitel.
2024 | 304 Seiten mit
16 Abbildungen | Broschiert
€ 16,–[D] | € 16,50[A] (bp 6553)
C.H.Beck Verlag


Genre: Geschichte, Politik
Illustrated by C.H. Beck München

Blumen unterm Weihnachtsbaum: The Garden at Eichstätt

The Garden at Eichstätt. 367 handkolorierte Kupferstiche des Hortus Eystettensis werden in dieser TASCHEN Prachtausgabe präsentiert und entsprechend gewürdigt. Der ehemalige Schlossgarten von Eichstätt beherbergte einen Pflanzenreichtum, der als Meilenstein der botanischen Illustrationskunst durch Basilius Besler für die Ewigkeit festgehalten wurde. Die vorliegende Faksimile-Ausgabe umfasst detaillierte Beschreibungen der Pflanzen entsprechend der modernen Taxonomie und erläutert dieses Juwel der barocken Gartenliteratur anhand wissenschaftlicher Begleittexte. Ideal als Blumen unterm Weihnachtsbaum für Freunde der blühenden Flora.

Juwel der Gartenkunst

Die vollständige Faksimile-Edition des dreibändigen Hortus Eystettensis von 1613 gilt als das Juwel barocker Gartenkunst. Aber auch der Garten selbst natürlich. Der Eichstätter Fürstbischof Johann Konrad von Gemmingen (1561–1612) ließ Anfang des 17. Jahrhunderts durch den Nürnberger Apotheker, Botaniker und Verleger Basilius Besler (1561–1629) einen prachtvollen Lustgarten anlegen. Die Gewächse wurden von Besler nach Jahreszeiten geordnet und in Beschreibungen und Kupferstichillustrationen dokumentiert. Der erste Druck, “Hortus Eystettensis”, war damals schon ein dreibändiger Prachtkatalog mit 367 handkolorierten Pflanzenillustrationen und detaillierten botanischen Beschreibungen von insgesamt 90 Pflanzenfamilien und 340 Gattungen. Einige davon auch von exotischer Herkunft.

Blumen unterm Weihnachtsbaum

Carl von Linné, der schwedische Naturforscher, der die Grundlagen der modernen botanischen und zoologischen Taxonomie definiert hatte, pries den Hortus Eystettensis als “unvergleichlich”. Es liegt in der Natur der Sache, dass Beslers Pflanzenkatalog deutlich länger Bestand hatte, als der Eichstätter Garten selbst, der im Dreißigjährigen Krieg 1643 von Schwedischen Truppen zerstört wurde. Erst 1998 – also mehr als 350 Jahre später – konnte an historischer Stätte mit dem Eichstätter Bastionsgarten ein Nachfolgeort seine Pforten öffnen, an dem auch zahlreiche Gewächse aus dem ehemaligen Hortus Eystettensis versammelt wurden.

Meilenstein der botanischen Illustrationskunst

Die nun in vorliegender TASCHEN Publikation wiederauferstandenen hochwertigen Reproduktionen dieser Faksimile-Edition wurden nach einem Originalexemplar aus den Beständen der Universitätsbibliothek Eichstätt-Ingolstadt erstellt. Sie werden ebenso wie die auf ihnen dargestellten Gewächse in botanischer, heilkundlicher und symbolischer Perspektive fachkundig erläutert. Im Anhang wird anhand ausführlicher Texte die historische Bedeutung des Gartens von Eichstätt und des ihm gewidmeten Hortus Eystettensis erklärt. Ein Meilenstein der botanischen Illustrationskunst im Format 24.3 x 30.4 cm mit 6.54 kg und 1096 Seiten. Die Originaldrucke werden übrigens bereits im Millionenbereich gehandelt. Die beiden Autoren Klaus Walter Littger und Werner Dressendörfer haben auch schon (im TASCHEN Verlag) zum Thema publiziert. So sind von letzterem bereits Der Garten von Eichstätt, Leonhart Fuchs: Das Kräuterbuch von 1543, Pomona Britannica, The Tempel of Flora und The Vegetable Garden erschienen. Klaus Walter Littger wiederum leitet die Manuskript-Sammlung der Universität Eichstätt und ist Herausgeber einer Zeitschrift und weiterer Publikationen über die Geschichte Eichstätts.

In den TASCHEN Stores in Berlin und Köln wird von Mittwoch, 31. Januar, bis Samstag, 3. Februar, und auf www.taschen.com von Donnerstag, 1. Februar, bis Sonntag, 4. Februar, ein ONLINE SALE für Toptitel mit bis zu 75 % Rabatt angeboten.

Basilius Besler

The Garden at Eichstätt
2023, Hardcover, 3 Bände im Schuber, 24.3 x 30.4 cm, 6.54 kg, 1096 Seiten
Ausgabe: Deutsch, Englisch, Französisch (Famous First Edition: Nummerierte Erstauflage von 7.500 Exemplaren)
ISBN 978-3-8365-9433-2
TASCHEN Verlag
€ 200


Genre: Anthologie, Bibliothek, Kunst, Pflanzen
Illustrated by Taschen Köln

Sandman – Albtraumland 1

Sandman – Albtraumland . “Aber jetzt wird alles immer nur noch schrecklicher. Alles fällt auseinander, und am besten man betäubt sich…“, resümiert Flynn und schwelgt im Auftakt gleichzeitig in ihren Erinnerungen. Schließlich ist es das, was am Ende von uns allen überbleibt: Erinnerungen.

Neues aus dem Reich der Träume

Dream, der Herr der Träume, schuf einst den Korinther, einen lebenden Albtraum mit Zähnen statt Augäpfeln, der zum brutalen Serienkiller in der realen Welt wurde. Nun soll genau dieser Albtraum einen anderen Albtraum aufhalten, den lächelnden Mann, der Jagd auf Menschen macht, darunter die junge Künstlerin Madison Flynn. Aber hinter der sind ausgerechnet auch die höllischen Killer Mr. Agony und Mr. Ecstasy her. Ein bißchen erinnern die beiden an die Killer aus Pulp Fiction, Vincent Vega und Jules Winnfield, kommen sie doch ebenfalls in geschniedelten, schwarzen Anzügen daher. Die junge Madison scheint von einem Albtraum zum andern zu wandeln, ein wahres “Albtraumland” eben. Dabei kommen gleich mehrere Zeichner:innen zum Einsatz, aber das Skript stammt von James Tynion IV, der schon mit dem Batman franchise at DC Comics, der DC Black Label Serie The Nice House on the Lake und der Serie The Department of Truth and Something Is Killing the Children glänzte. 2022 gewann er drei he Eisner Awards für sein Werk.

Für Fans des Horrors und schwarzen Humors

Kann man einen Traum töten? Kann man eine Idee töten“, fragen Mr. Agony und Mr. Ecstasy zurecht. Rund 35 Jahre ist es nun her, dass Neil Gaiman seinen SANDMAN erschuf, der zweifellos einer der revolutionärsten und besten Comics der Moderne war. Jetzt präsentiert Bestsellerautor James Tynion IV (BATMAN, DER JOKER) mit Zeichner Lisandro Estherren (Redneck) und anderen namhaften Künstlern wie Yanick Paquette (SWAMP THING) und Andrea Sorrentino (Old Man Logan, ICH, DER VAMPIR) eine neue Geschichte aus dem Sandman-Kosmos, der inzwischen auch als Netflix-Serie durch den Äther geistert. Besonders hervorzuheben ist noch die Zeichnerin Maria Llovet, die das letzte Kapitel des vorliegenden Bandes gestaltete. Sie stammt aus Barcelona und ihr Portfolio umfasst Faithless von Brian Azzarello, There’s Nothing There, Heartbeat, Spera: Ascension of the Starless, aber auch ihre eigenen Graphic Novels Loud! und Eros/Psyche. Eine Leseprobe befindet sich hier.

James Tynion IV/Lisandro Estherren
Sandman – Albtraumland 1 – Der Lächelnde Mann
Original Storys: Sandman Universe: Nightmare Country 1–6
2023, Softcover, 164 Seiten
ISBN: 9783741629778
Panini
19,00 €


Genre: Comic
Illustrated by Panini Comics

Geschichten und Gedichte für die kalte Jahreszeit

Geschichten und Gedichte für die kalte Jahreszeit. “Der Winter soll mein Frühling sein“, schreibt jubelnden Herzens Johann Christian Günther in seinem Gedicht “Lob des Winters“. Schließlich dient er auch zu “Amors Jubelfest“, also alles gar nicht so schlimm. Ganz im Gegenteil. Denn der Winter gilt zu Unrecht als “kalte Jahreszeit”.

Zu unrecht “kalte” Jahreszeit: Amors Jubelfest

Der durchwegs winterliche Leseschatz als Geschenkbuch mit Goldfolienprägung wärmt mit Gedichten und Kurzgeschichten oder Auszügen aus anderen Texten die Herzen seiner Leser:innen. Es sind Geschichten über Abende am Kamin, weiße Winterlandschaften und Sport und Spiel im Schnee, Erzählungen von Schneemännern, Eisköniginnen und verzauberten Winterwäldern. Aber auch einige der bekanntesten Winterlieder kommen zu Wort und Ton (mit Noten) sowie Rezepte zu Nussecken, Eierpunsch und Co. Die Texte stammen u. a. von Annette von Droste-Hülshoff, Hans Christian Andersen, Christian Morgenstern, Joachim Ringelnatz, Hermann Hesse, Tove Jansson und Erich Kästner u.v.a.m. Aber auch die kleinen Kätzchen, deren Pfoten im Winter erkalten, haben ihre Freude an der Winterzeit, weiß Heinrich Heine, der fröhlich reimt: “Und ein Kätzchen sitzt daneben, /Wärmt die Pfötchen an der Glut;/ Und die Flammen schweben, weben,/Wundersam wir mir zu Mut”. Wer wird da noch behaupten, der Winter sei eine kalte Jahreszeit, wenn innen wie außen, im Herzen und im Hause, weit sichtbar ein Feuer brennt?

Gedichte & Geschichten: Wärme von innen

In Andersen’s Geschichte einer Mutter tauscht diese ihr schwarzes gegen weißes Haar und jeder weiß, wozu Mütter noch bereit sind, wenn es um ihre Kinder geht. Ganz besonders zu Weihnachten oder im Winter allgemein, sind die Opfer besonders groß, aber auch die Freuden. Diese werden etwa im Kapitel “Winterfreuden” u.a. von Erich Kästner lebendig beschrieben: “Wintersport”, heißt es da, “Die Leute fahren Bob und Ski/am Hange hinterm Haus.(…) Das Publikum ist möglichst laut./Was tut das der Natur?/Sie wurde nicht für es gebaut./ Und schweigt. Und lächelt nur.” Zu Eis-Hockey lädt Joachim Ringelnatz in seinem gleichnamigen Gedicht, zu “Eislauf” Gerhart Hauptmann. Da taucht zwischen die Zeilen ein weiteres Rezept auf, dieses Mal ein Winterlicher Eierpunsch. In der Form eines Eiszapfens schreibt Leopold Kammerer sein gleichnamiges Gedicht, das auf “Au!” endet. Aber die Schmerzen sind nur kurz, bleibt doch das Gedicht! Ein anonymer Zeitzeuge schreibt eine Wintergeschichte in der es am 8. Dezember das erste Mal schneit. Am 8. Januar nimmt der Erzähler gerne die Pillen. Aber warum ist er nur an das Bett gefesselt?

Frohe literarische Weihnachten bei Reclam

In ähnlicher Ausstattung und Ausführung ist bei Reclam auch das “Weihnachtsbuch” erschienen, wo sich ebenfalls in Broschur mit Goldfolienprägung viele Geschichten und Gedichte rund um die seligste Jahreszeit tummeln. Von der Bibel bis Urs Widmer geht es um Weihnachten, die stillste und doch wärmste Zeit des Kalenderjahres, denn die Temperatur kommt von innen. Weitere Weihnachtstipps bei Reclam sind der Adventskalender, der 24 literarische Episoden schildert, also für jeden Tag des Dezembers eine. Und das in jedem Jahr, immerwährend! Oder Janoschs “Der alte Mann und der Bär. Eine Weichnachtsgeschichte.” Letztere beiden Titel werden zwar erst wieder am 8. Auguste 2024 neu aufgelegt, aber die Buchhandlung ihrer Wahl hat sie bestimmt rechtzeitig bestellt und noch vorrätig. In diesem Sinne: Frohe literarische Weihnachten!

Reclams Winterbuch
Geschichten und Gedichte für die kalte Jahreszeit
Broschur mit Goldfolienprägung
Format 12 × 19 cm
175 S.
ISBN: 978-3-15-020737-6
Reclam Verlag
12,00 €

 


Genre: Anthologie, Gedichte, Geschichten, Rezepte
Illustrated by Reclam Verlag

O Stern und Blume, Geist und Kleid… 75 Blumenbilder und Gedichte

Zu Ehren der Übersetzerin, Herausgeberin, Autorin die neue Marianne Schneider Reihe des Schirmer/Mosel Verlages

75 Blumenbilder und Gedichte. “Vor einer Blütenwand saß ich beim Zechen;/Der Becher schlug mein Herz in süßen Bann./Da war mir Angst, die Blumen könnten Sprechen:/Wir blühen nicht für einen alten Mann.”, bangte es Liu Yü-hsi schon im 8. Jahrhundert.
Zum 50. Geburtstag des Schirmer/Mosel Verlags 2024 erscheint schon jetzt die Jubiläumsausgabe der
Blumenbilder und Blumengedichte aus fünf Jahrhunderten.

Blumen und Gedichte durch die Jahrhunderte

Das vielleicht “poetischste Buch aus 50 Jahren Schirmer/Mosel Verlagsgeschichte” stellt Kostbarkeiten der deutschen Lyrik – vom Hohelied Salomos in der Übersetzung Martin Luthers über Walter von der Vogelweide, Goethe, Eichendorff und Trakl bis zu Paul Celan, Ingeborg Bachmann und Ernst Jandl – neben Kostbarkeiten der Kunstgeschichte, von Leonardo über Dürer, Runge, van Gogh, Matisse, Beuys und Cy Twombly bis zu Man Ray, Robert Mapplethorpe, Nick Knight und Thomas Struth vor. Aber es geht eben nicht nur um die Gedichte, sondern auch um die Blumen selbst, deren Darstellungen über die Jahrhunderte stark variierten. Im 20. Jahrhundert kam durch Man Rays Technik der Solarisation und Rayographie Experimentierfreudigkeit ins Geschehen, aber auch die Rosenphotographien von Edward Steichen oder Tina Modotti, Imogen Cunninghams weiße Callas oder Georgia O’Keefe gemalte Petunias stehen im Mittelpunkt dieser bibliophilen Publikation. Das Pflanzliche ist schließlich untrennbar mit der Dichtung verbunden, das beweist schon der Ausdruck “Anthologie”, schreiben die Autoren, denn “anthos” bedeutet Blüte.

An Leib und Seele grünen

Ich kam gegangen/zuo der ouwe:/do was min Frieder kommen e./da wart ich enpfangen,/here frouwe,/daz ich bin saelic iemer me“, dichtete einst Walther von der Vogelweide in “Unter den linden”, schon um 1200. Seinem Gedicht wird eine Abbildung Albrecht Dürers aus dem Jahre 1503 gegenübergestellt, “Das große Rasenstück” in Aquarell- und Deckfarben. Fröhlich dichtet auch Paul Gerhardt auf die Blumenpracht, in “Sommergesang” hofft er auf die schöne Blum, des Garten Ruhm, “erwähle mich zum Paradeis/Und laß mich bis zur letzten Reis/An Leib und Seele grünen“. Clemens Brentano – von dem auch der wiederum bezaubert mit “Hörst du die Blumen rauschen” und entführt die Leser:innen heraus aus einem Wintertraum in einen Sommer, wo die Grillen zirpen und der Mond ein Schlaflied singt. Bloß nicht aufwachen, weiterträumen, weiterlesen, der Frühling, der kommt bald.

75 Blumenbilder und Gedichte

Der vorliegende Band zeigt in Wort und Bild, dass Blumen als universelles Sinnbild für den Rausch der Schönheit und die Macht der Gefühle und damit letztlich auch für alle Abschnitte des menschlichen Lebens von der Geburt bis zur Hochzeit und hin zum Tod stehen. Die Neuausgabe der 2001 erstmals erschienen Anthologie ist gleichzeitig auch der erste Band der neuen Marianne Schneider-Edition des Schirmer/Mosel Verlages zu Ehren der langjährigen Übersetzerin, Herausgeberin und Autorin des Verlages, die im Februar 2023 verstorben ist.

O Stern und Blume, Geist und Kleid …
75 Blumenbilder und Gedichte
Hrsg. v. Marianne Schneider und Lothar Schirmer
184 Seiten, 75 Tafeln in Farbe und Duotone
ISBN 978-3-8296-0993-7
Lp. € 29,80 €(Ö) 30,70 CHF 34,30
Schirmer/Mosel


Genre: Anthologie, Blumen, Gedichte, Pflanzen, Poesie
Illustrated by schirmer/mosel

Gottfried Helnwein

In “Encounter 2 (The Man who Laughs)” aus dem Jahre 2014 lächeln sich Minnie Mouse und Adolf Hitler gegenseitig freundlich an. Im Hintergrund vermutet man ein zerstörtes Berlin, die Trümmer des Führerbunkers. So plakativ und provokativ das hyperrealistische Gemälde des österreichischen Malers Gottfried Helnwein auch erscheinen mag, es steckt viel mehr dahinter als man zu glauben vermag.

Helnwein blickt hinter die Fassade

“Ich will in meiner Arbeit Bereiche ansprechen, über did die Gesellschaft so gerne hinweggeht. Ich will Dinge sichtbar machen, die die Menschen lieber verdrängen und unsichtbar lassen würden. Ich will sie dazu verführen, diese Dinge anzusehen.” Tatsächlich war Adolf Hitler ein großer Fan von Micky Mouse und anderen Disneyfiguren und bekam Weihnachten (!) 1937 18 Micky Mouse Filme von Joseph Göbbels, seinem Reichspropagandaminister, für Privatkonsum geschenkt. Es ist kaum vorstellbar, dass sich ein Mann wie Adolf Hitler über Micky Mouse amüsieren konnte und doch ist es bittere Realität. Der Untertitel des Bildes spielt auf genau das an. Micky Mouse Filme liefen im Deutschen Reich bis 1940 aber auch im Kino. Ebenso unglaublich ist das gesellschaftliche Klima in Österreich, in dem der junge Gottfried Helnwein aufwuchs. In Graz wurde 1963 Franz Murer, der “Schlächter von Wilna”, der nachweislich mehrere Menschen ermordet hatte, freigesprochen und dafür sogar noch gefeiert. Wie Klaus Speidel in seinem Betrag zur vorliegendem Katalog schreibt, wurde dieses Erlebnis zu einer Art Schlüsselerlebnis für den jungen Gottfried Helnwein.

Jubiläumsausstellung zum 75. Geburtstag

Das Vertrauen in das “System und die Welt seiner Eltern” war gebrochen, “ich wusste, ich war ein Außenseiter und will es sein“. Seither lernte er auch die traditionelle Kunst ab, denn es war die Kunst seiner Eltern. Er bevorzugte die realistisch Erzählkunst von Malern wie Matthias Grünewald, Francisco de Goya oder George Grosz. Vor allem wollte Helnwein aber, etwas sichtbar machen, verhindern, dass das Unerhörte geschieht und alles dennoch weiter geht wie bisher. Seit seiner Kindheit beschäftige ihn Gewalt und damit verbunden die Unschuld des Kindes, das dieser Gewalt hilflos ausgeliefert ist. “Die Helden meiner Geschichten sind die Kinder, als Metapher für eine potentielle Unschuld und eine im Innersten des Menschen vorhandene Unverletzlichkeit und Unbesiegbarkeit. Das war der Grund, warum ich zu malen begonnen habe. Ästhetik war nicht meine erste Motivation.” Und so malt Helnwein Bilder von verletzten Kindern oder mit Kindern assoziierte Mangas, die in der japanischen Kultur als Kawaii bezeichnet gerade das Kindliche verherrlichen aber gleichzeitig ad absurdum führen.

Helnwein: Die Unschuld im Fokus

Das Kind wird in Helnweins Bildern zum Stellvertreter für den wehrlosen, abhängigen und ausgelieferten Menschen”, schreibt Elsy Lahner in ihrem Beitrag “Von Hitler bis Micky Maus. Realität und Fiktion im Werk von Gottfried Helnwein”. “Es sind nicht meine Bilder, vor denen sich die Leute fürchten, sondern es sind ihre eigenen Bilder in ihren Köpfen. Meine Arbeiten sprechen offensichtlich etwas an, das im Unterbewusstsein des Betrachters schon vorhanden ist. Wenn es mir gelingt, den Finger manchmal an die richtige Stelle zu legen, habe ich das Gefühl, meine Arbeit hat einen Sinn.” Zum 75. Geburtstag von Gottfried Helnwein findet in der Wiener Albertina eine große Werkausstellung statt, bei der man sich überzeugen kann, dass sein Werk tatsächlich sehr viel Sinn macht, wenn man hinter die Fassade blickt. Der vorliegende Ausstellungskatalog gibt eine Vorschau.

Gottfried Helnwein
Hg. Elsy Lahner, Klaus Albrecht Schröder
Mit Beiträgen von E. Lahner, K. Speidel
2023, 152 Seiten, 130 Abbildungen in Farbe, 24,5 x 28,5 cm, gebunden
ISBN: 978-3-7774-4207-5
Hirmer Verlag
34,90 € [D] | 35,90 € [A]


Genre: Kunst, Malerei
Illustrated by Hirmer

Nero Corleone. Eine Katzengeschichte

Nero Corleone. “Es ist wie bei mir“, dachte er, “wir sind gescheite, prächtige Männer von Welt, aber jeder schleppt eben sein Mädchen hinter sich her“, denkt sich der schwarze Kater Nero Corleone und teilt sein Essen mit seiner Rosa. Der von der Schriftstellerin Elke Heidenreich erfundene und von Quint Buchholz liebevoll illustrierte Mäuseschreck ist zwar in Italien geboren, macht aber bald eine große Reise zum Kölner Dom.

Nero Corleone aus Carlozzo in Köln

Die Verpflegung war gut, die Zuneigung groß, und vielleicht gab es in Köln am Rhein auch Heu, in dem man schlafen konnte“, träumt Nero und schließt sich den Urlaubern Robert und Isolde gleich mit seiner Rosa an. Denn da wo sie sind, ist es schön, “weil sie da sind“. Die lange Autofahrt gefällt zwar weder Nero noch Rosa, nur, Nero lässt es sich nicht anmerken, schließlich ist er der Kater und somit gebiert er sich als kleiner Macho, der keine Angst vor gar nichts hat. Im Haus seiner beiden neuen Besitzer gibt es viele schöne weiche Teppiche und auch geheimnisvolle Schlupfwinkel in denen man sich notfalls gut verstecken konnte, sollte man es doch einmal mit der Angst zu tun bekommen. Aber bald darf er ohnehin schon in den Garten, denn das allzulange Nachdenken liegt ihm ohnehin nicht so. Er ist ja kein Esel, der die Probleme dieser Welt durch blosses Nachdenken zu lösen versucht. In seiner Nachbarschaft ist er ohnehin bald der Mittelpunkt, der König der Vorstadtstraße. Aber dann geschieht etwas, das auch ein großer Kater wie er nicht ohne weiteres verschmerzen kann und er beginnt sich zurück nach seiner Heimat zu sehnen: Carlozzo.

Nero: Schwarzer Kater, rotes Herz

Elke Heidenreich erzählt die Geschichte des schwarzen kleinen Katers Nero Corleone mit der einen weißen Vorderpfote liebe- und lehrvoll. So weiß sie etwa, dass sein Nachname von cuore di leone herrührt, “Löwenherz” und dass Deutsche und Italiener mehr verbindet als nur die Brennerautobahn. Die gemeinsame Liebe zu den kleinen pelzigen Gefährten macht auch aus den erwachsenen Menschen Freunde und aus Nero bald einen Herzensbrecher. Denn um seiner neuen Liebe in Italien, Grigiolina, zu huldigen, kann er nicht mehr in das Auto von Robert und Isolde einsteigen. Aber wie soll er ihnen das nur erklären? Quint Buchholz hat diese Katzengeschichte mit wunderbaren farbigen Bildern versehen und eine Fortsetzung wartet auch schon beim Hanser Verlag sowie viele weitere Bücher der umtriebigen Autorin: Männer in Kamelhaarmänteln (Kurze Geschichten über Kleider und Leute, 2020) und zuletzt Ihr glücklichen Augen (Kurze Geschichten zu weiten Reisen, 2022). Im Kinder- und Jugendbuch veröffentlichte sie u.a. Nero Corleone kehrt zurück (mit Quint Buchholz, 2011)…

Elke Heidenreich
Nero Corleone. Eine Katzengeschichte
1995, Fester Einband, 88 Seiten, illustriert von Quint Buchholz, empfohlen ab 8 Jahren
ISBN 978-3-446-18344-5
Hanser Verlag
Deutschland: 20,00 €
Österreich: 20,60 €


Genre: Deutschland, Illustration, Italien, Katzen, Kinderbuch
Illustrated by Hanser

Boulevard der Helden

Boulevard der Helden. 30 biografische Geschichten von Erfolgsautor Michael Köhlmeier, die zuvor in einem Magazin der zugehörigen Verlagsmutter erschienen, sind hier in einem Buch versammelt. Sowohl berühmte Männer und Frauen stellt der Schriftsteller im Porträt vor und zeigt, was sie so außergewöhnlich macht(e). Mit dabei: Wilma Rudolph, Ignaz Semmelweis, Houdini, Mata Hari oder Marilyn Monroe und viele andere mehr.

Helden des Alltags/Albtraums

Die “Mutter Courage des Tabubruchs”, Beate Uhse, war eine der ersten Fliegerpilotinnen der Welt und flog sogar Einsätze für ein Regime, das Gottseidank ein schnelles Ende fand. Dennoch schaffte sie es, sich nach dem Krieg komplett neu zu erfinden indem sie eine Sexartikelshopkette eröffnete. Das verklemmte fast puritanische Nachkriegsdeutschland lernte durch Beate Uhse etwa den Coitus interruptus oder andere Verhütungsmethoden. Auch solche die wirklich funktionierten. In ihrer “Schrift X”, die man in ihren Shops für 50 Pfennig bekam, wurden Herr und Frau Bundesbürger aufgeklärt. Vielleicht bekam sie Jahrzehnte später dafür das Bundesverdienstkreuz? Köhlmeier erzählt pointiert und ohne viel Schnörkel die Geschichte der erfolgreichsten deutschen Unternehmerin und macht Lust auf noch mehr seiner Kurzbiographien, etwa “den Helden schlechthin”. Na, wer könnte da anderes gemeint sein als Humphrey Bogart himself? Köhlmeier beschreibt Bogey als King of Cool, als “Inbegriff der Coolness”, noch bevor es das Wort überhaupt gab. Er stellt ihn auf die Seite von Achill, dem wahren, ungebrochenen Helden, und nicht auf die Seite von Odysseus, dem verschlagenen, listigen Kerl. Das Lied “Don’t Bogart that Joint my Friend” bezieht sich – laut Köhlmeier – übrigens tatsächlich auf Humph. Er hätte sein Zigaretten schon nach ein paar Zügen ausgedrückt, was bei einem Joint doch schade gewesen wäre, so der Liedtext. Laureen Bacall, seine spätere Frau, hätte jedenfalls ordentlich gepfiffen.

Starke Männer und Frauen

Eine kleine Verbeugung vor einem alten Freund ist auch das Porträt über Bilgeri, das Köhlmeier hier vorlegt. Dieser hätte Bärenkräfte entwickelt, als sich in jungen Jahren ein Musikkollege (die beiden spielten damals in einer Band) unter einen Lastwagen legte, der Flügel bekam und abstürzte. Reinhold hätte mit seinen Pranken reingefasst und so ein Leben gerettet. Was wieder beweist, dass wir Menschen zu unglaublichen Taten fähig sind, wenn wir nur wollen. Übermenschliche Kräfte erforderte es wohl auch, als Rudi Dutschke seinen Attentäter in seiner Zelle besuchte. Die Kampagne die die Bildzeitung damals gegen den Studentenführer führte, hatte zu einem Schussattentat geführt, dem Rudi neun Jahre später erlag. Aber er konnte seinem Mörder noch verzeihen. Auch das wohl eine Heldentat im Maßstab Bilgeris. Aber auch unter Diskriminierung mussten viele Helden leiden, wie das Doppelporträt von Ella Fitzgerald und Norman Granz überdeutlich macht. Obwohl die Sängerin Begeisterungsstürme im Orpheum Theatre in New York ausgelöst hatte, durfte sie dort dennoch nicht auf die Toilette. Diese war – wie der ganze Konzertsaal im übrigen – den Weißen vorbehalten. In den USA herrschte damals noch Segregation. Und so wurde für Ella Fitzgerald extra ein Abort auf Rädern organisiert, der hinten im Hof abgestellt wurde.

Boulevard der Helden: 30 moderne Legenden

Michael Köhlmeier erzählt von Stil-Ikonen aus Kunst und Kultur sowie Legenden aus Musik, Sport, Wissenschaft und was sie ausmachte. Eines zeichnete aber wohl alle – ob Sportgrößen, Musiklegenden, Schach-Giganten und Glamour-Stars – aus: sie ertrugen demütig ihr Schicksal. Großes Lesevergnügen eines der besten Erzählerhelden unserer Zeit, Michael Köhlmeier bietet Hintertüren und -treppen zu seinen Ikonen, aber auch Trojanische Pferde. Ein Lesegenuss für Jung und Alt.

Michael Köhlmeier
Boulevard der Helden
2023, 224 Seiten / 120 mm x 200 mm
Benevento Verlag
€ 22.-


Genre: Biographie, Kurzgeschichten, Porträt
Illustrated by Benevento Verlag

50 JAHRE KISS

50 Jahre KISS. Der kanadische Journalist und Autor ist in Metalkreisen kein Unbekannter. Er veröffentlichte unter anderem Bücher zu Led Zeppelin, Deep Purple, Black Sabbath und Rainbow, aber auch regelmäßig Artikel für den Record Collector, Goldmine und den Metal Hammer. Mit 50 Jahre KISS wird sein Bekanntheitsgrad unweigerlich nach oben schnellen, gehört sie doch zu einer der beliebtesten Hardrock/Metal-Bands der Welt.

Illustrierte Biographie mit ausklappbarer Chronik

Über 300 Fotos und Abbildungen sowie Fotos und Abbildungen von Memorabilia durch die Jahrzehnte und alle Karrierestationen hindurch zeigt Martin Popoff in vorliegender großformatiger Coffee-Table-Edition, der ersten illustrierte Biografie der Band in Deutschland, so der Verlag. Die Zeitreise “50 JAHRE KISS” erscheint rechtzeitig zur angekündigten letzten Deutschland-Tournee der 1973 in New York gegründeten Superband. Natürlich kommen damit auch die fans der Band auf ihre Kosten, die sog. “Kiss-Army”, die schon mal auch kräftig beim Merchandise zulangt: Kiss Bikinis, Kiss-Kondome und Kiss-Särge. Aber das ist noch lange nicht alles! Paul Stanley, Gene Simmons (beide 73), Tommy Thayer (62) und Eric Singer (65) heizten bei ihrem Abschiedskonzert den Fans in der Arena ordentlich ein. Ein Event an das sich viele noch ein weiteres halbes Jahrhundert lang erinnern werden. Dass das letzte Konzert der US-amerikanischen Band ausgerechnet in Deutschland stattfand hat aber auch persönliche Gründe, die in vorliegender Biografie ebenso enthüllt werden, wie viele andere Geheimnisse. Warum zeigt Gene Simmons seine Zunge? Wie lang ist sie wirklich? Hat Paul Stanley deutsche Vorfahren? Diese und viele andere bedeutenden Fragen, werden von Martin Popoff mit links beantwortet. Das wirklich letzte Konzert der Band soll übrigens im Dezember in New York stattfinden. Dort, wo alles anfing. The End of The Road betitelte Tournee endet dort nach 3 Jahren Tournleben.

Abschiedstournee in derzeitiger Besetzung

Wie keine andere Band in der Musikgeschichte dürfen sich Kiss auch über Spitznamen freuen, die von ihrer Maskierung herrühren. So firmiert Paul Stanley schlicht als The Starchild, Gene Simmons schon wesentlich bedrohlicher als The Demon und die anderen Mitglieder als The Spaceman (Ace Frehley und später Tommy Thayer), The Catman (Peter Criss und später Eric Singer) und schließlich noch The Fox (Eric Carr) sowie The Ankh Warrior (Vinnie Vincent). Die diversen Umbesetzungen ließen das Gespann Stanley/Simmons aber stets unberührt und so sorgte das Gespann Starchild und Demon für Kontinuität. Eine vollständige Discocraphie der Band sowie eine ausklappbare Chronik der 50 Meilensteine sorgen zudem für Aufsehen in dieser umwerfenden Würdigung einer der kapitalsten Bands der amerikanischen Musikgeschichte. Mehr als 100 Millionen verkaufte Scheiben können nicht irren. Aber von wegen “End of the Road”: vielleicht kommt es ja doch noch zu einer Wiedervereinigung der Originalmitglieder der Band? Die Abschiedstournee bezog sich ja schließlich nur auf die derzeitige (oben genannte) Besetzung der Band. Schließlich ist man auch mit über 70 noch lange nicht zu alt für Rock’n’roll wie Mick Jagger & Co eben gerade bewiesen haben.

Martin Popoff
50 JAHRE KISS
Die illustrierte Biografie
Übersetzung: Matthias Breusch
Hardcover mit Schutzumschlag, 27 x 23,5 cm
2023, 192 Seiten, mit 6 Seiten ausklappbarem Mittelteil
Durchgehend farbig bebildert
ISBN 978-3-85445-767-1
Hannibal Verlag
€ (D) 35,00 / € (A) 35,00


Genre: Biographie, Rockmusik
Illustrated by Hannibal

Das Stefan Zweig Album

Das Stefan Zweig Album. “Stefan Zweig hat mich zu seinem dauernden Oberhaserl ernannt. Mehr will ich nicht, möge er sich ab und zu eines Unterhaserls erfreuen. Ich gönn ihm die Andere und ihn der anderen. Wenn ich nur immer sein Oberhaserl bin.“, vertraute Friederike von Winternitz ihrem Tagebuch im November 1916 an. Wegen ihm hatte sie sich scheiden lassen, schließlich war Stefan Zweig damals schon ein berühmter Schriftsteller dessen Texte auch international erschienen und übersetzt wurden. Und das Haus am Kapuzinerberg in Salzburg in dem sie mit ihm wohnte war auch nicht ohne.

Sternstunden eines Schriftstellers

Der Kurator und mehrfache Buchautor Oliver Matuschek zeigt in seinem “Familienalbum Stefan Zweig” sowohl private als auch professionelle Seiten des Schriftstellers. 1919 erschien etwa sein Drama “Jeremias”, das zeigte, dass “derjenige, der als der Schwache, der Ängstliche in der Zeit der Begeisterung verachtet wird, in der Stunde der Niederlage sich meist als der einzige erweist, der sie nicht nur erträgt, sondern sie bemeistert” (O-Ton Zweig). “Sternstunden der Menschheit”, 1927 erstmals erschienen, wurde ein weiteres Highlight seiner Karriere und das zu seiner Lebenszeit meistverkaufte Buch. Ein Faksimile zeigt eine Original-Schreibmaschinenseite eines Manuskripts sowie Buchumschläge aus verschiedenen Editionen. 1939 war er laut einer Statistik des Völkerbundes bereits der meistübersetzte Autor der Welt. Allein zwischen 1932 und 1939 erschienen 126 Bände seiner Werke in Übersetzungen, weiß der Matuschek und besonders in Südamerika er zum Star, was mithin ein Grund gewesen sein mag, warum er später dorthin auswanderte oder besser gesagt exilierte. Matuschek erklärt an Beispielen auch die Arbeitsweise des Schriftstellers Zweig und untermauert dies mit einer Vielzahl von Originaldokumenten und Fotos.

Ungeduld des Herzens

Sein erster echter Roman, Marie Antoinette, wurde sogar von Hollywood verfilmt und kam 1938 dort in die Kinos. Ein Foto zeigt den Andrang vor dem Astor Kino. Aber schon im selben Jahr musste Zweig und seine Familie fliehen, den Besitz veräußern und auf eine sichere Ausreise hoffen. Der Großteil des Besitzes ging allerdings verloren und gilt seither als verschollen. Sein letzter Roman in “Österreich” erschein am 30. April 1938: “Ungeduld des Herzens”. Zu diesem Zeitpunkt war Zweigs Heimat, Österreich, als Ostmark bereits Teil des Deutschen Reichs und seine Bücher wurden von den Nazis verbrannt. Am Grab von Sigmund Freud in London soll Zweig im September 1939 die Trauerrede gehalten haben, bevor er sich schließlich in seiner letzten Heimat, Brasilien, mit seiner zweiten Frau, Lotte, für den Freitod entschied. Hätte er nur noch zwei, drei Jahre Geduld gehabt… Ein Familienalbum mit vielen privaten Fotos, Manuskripten und Briefen bis hin zu Erstausgaben aus aller Welt, die aus einer Vielzahl von privaten und öffentlichen Sammlungen stammen, ein sehr vielfältiges, erstmals zugängliches Bildmaterial. 2008 war Matuschek Kurator der Ausstellung “Die drei Leben des Stefan Zweig” im Deutschen Historischen Museum in Berlin. “Drei Leben – Eine Biographie” erschien 2006. Matuschek arbeitete auch beim Projekt stefanzweig.digital am Literaturarchiv Salzburg mit.

Oliver Matuschek
Das Stefan Zweig Album – Stefan Zweig ins Bild gesetzt
240 Seiten
ISBN-13 9783710901546
30,- EUR


Genre: Bildband, Biographie, Fotobuch, Literatur

Venezia 500. Die sanfte Revolution der venezianischen Malerei

Kaum ein anderer Ort auf der Welt vereint auf so bewegende Weise schöpferische Kraft, Erfindungsgeist und die Sehnsucht nach Unvergänglichkeit“, bringt es Giovanni Liverani in seinem Grußwort auf den Punkt. Die Rede ist natürlich von Venedig, der Serenissima, die im 15./16. Jahrhundert im Bereich der Malerei eine unvergleichliche Blüte erreicht hatte.

Arkadische Sehnsucht

Das Venedig der Renaissance zeitigte Meister wie Bellini, Giorgione, Palma Vecchio und Tizian, die allesamt das Wesen von Mensch und Natur sowie deren Verhältnis zueinander mit nie dagewesener Intensität leuchtender Farben und Schatten darstellten und aufzeichneten. Anhand bedeutender Porträt- und Landschaftsdarstellungen zeigt der vorliegende Band die bahnbrechenden Neuerungen der venezianischen Malerei, die bis weit in die Moderne wirkten. Mit der Losung “Tintoretto war der Pollock des 16. Jahrhunderts” bringt uns Bernhard Maaz im Vorwort die bahnbrechenden und revolutionären Verdienste der venezianischen Malerei näher. Obwohl alle Gemälde dieses Ausstellungskataloges der Pinakothek venezianischen Ursprungs sind, steht doch nie die Lagnunenstadt im Mittelpunkt, sondern vielmehr die Porträt- und Landschaftsmalerei. So schweifen die Blicke über grüne Hügellandschaften und zu den Gipfeln der Südalpen, aber niemals über die kunstvoll erbaute Stadt im Wasser. Arkadische Hirtenphantasien oder die belle donne, die von der Liebeslyrik Petrarcas und der zeitgenössischen Traktatliteratur zu weiblichen Schönheit inspiriert sind, erhoben die Schöpfer dieser Bildnisse zur Sehnsucht nach göttlicher Schönheit und Erkenntnis, die weit über das irische, schmerzlich-unerfüllte Verlangen nach Liebe hinausgeht, so Andreas Schumacher. “Arkadische Sehnsüchte” nennt Chriscinda Hinda als mögliche Motivation für die opulenten Bildwerke, aber auch magnificentia und liberalitas, humanistische Tugenden.

Venezia 500: Eros und Vaghezza

Mit “Hy pin ich ein her, doheim ein schmarotzer” brüstete sich Albrecht Dürer, Teil eines venezianischen Kreises von Gelehrten, Musikern, Kunstkennern und Künstlern zu sein. Denn kein Geringerer als Gabriele Vendramin besaß zahlreiche Drucke Dürers. Im sog. ridotto versammelte Dieser Gabriele Vendramin im Venedig des 16. Jahrhunderts um sich. Der Begriff wurde schon im Cinquecento für musikalische und häusliche Treffen verwendet. Dabei seien aber nicht nur gebildete Herren, sondern auch Kurtisanen, Dichterinnen und Sängerinnen beteiligt gewesen. Anders als die auf den Darstellungen abgebildeten “belle” dürften jene real existierende Frauen gewesen sein. Die Frauen auf den Gemälden vielmehr Kompositbilder, die aus den Merkmalen idealer Schönheit und Poesie zusammengesetzt, die Erschaffung möglichst idealer Abbilder begehrenswerter Frauen zu kreieren, gleichsam als Paragone zwischen Malerei und Poesie, vermutet Theresa Gatarski in ihrem lesenswerten Beitrag “Eros und Vaghezza”. Aber auch Kurtisanen standen Modell, etwa Angela del Moro in Tiziano berühmter “La Bella”. Weitere behandelte Künstler sind Giovanni Bellini | Paris Bordone | Giovanni Cariani | Cima da Conegliano | Giorgione | Bernardino Licino | Lorenzo Lotto | Sebastiano del Piombo | Tintoretto | Tizian | Palma Vecchio u. a.

Hg. Andreas Schumacher
Venezia 500. Die sanfte Revolution der venezianischen Malerei
Mit Beiträgen von T. Gatarski, J. Grave, C. Henry, H. Kaap, A. Kranz, A. Mazzotta, J. Pawis, A. Schumacher, C. Whistler
2023, 256 Seiten, 166 Abbildungen in Farbe, 21,5 x 26,5 cm, Klappenbroschur
ISBN: 978-3-7774-4176-4
Hirmer Verlag


Genre: Kunstgeschichte, Malerei, Venedig
Illustrated by Hirmer

100 Jahre “Callas Athene”

Maria Callas. In Anlehnung an die griechische Göttin der Weisheit betitelte das deutsche Nachrichtenmagazin “Der Spiegel” so einmal einen Artikel über die griechisch-amerikanische Opernsängerin. Athene war aber auch die Göttin der Strategie und des Kampfes, der Künste, des Handwerks und der Handarbeit und genau das brauchte die Callas in der damals männlich dominierten Opernwelt.

Maria Callas – Kunst und Mythos

Die wohl größte Sopranistin ihrer Zeit wurde als Maria Anna Cecilia Sofia Kalogeropoulou am 2. Dezember 1923 in New York City geboren. Ihre Eltern waren nach Amerika ausgewandert, um dort Arbeit zu finden. Zuneigung fang die junge Maria aber vor allem bei ihrer älteren Schwester Yakinhti (Jackie). Aber wenn man die Adressen in Manhattan ansieht, die die Familie in den Jahren der Weltwirtschaftskrise bewohnte, kann man von einem langsamen sozialen Abstieg sprechen: ein Aufstieg in die höher nummerierten Straßen von Midtown Manhattan bis nach Harlem lege dies nahe, schreibt Arnold Jacobshagen in seiner dieses Jahr bei Reclam erschienen Biographie “Maria Callas. Kunst und Mythos”. Ihren ersten Preis gewann die Callas übrigens mit “La Paloma“, begleitet von ihrer Schwester am Klavier, im Alter von elf Jahren. Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs lebte die Familie dann wieder in Athen, wo Maria bei Elvira de Hidalgo Unterricht bekam. Aber auch hier zog die Familie öfters um. Der Vater war allerdings in New York geblieben. Ihr eigentlicher Aufstieg begann mitten im Krieg: während die italienische Luftwaffe Piräus bombardierte, stand Maria Kalogeropoulou an der Nationaloper von Athen zum ersten Mal in einer Solorolle auf einer professionellen Bühne, als Beatrice in Bocaccio, einer Operette von Franz von Suppé. Positives hatte sie damals über die deutschen Besatzer zu berichten: “Als ich während des Krieges in Athen auftrat, bin ich von den Deutschen in keiner Weise belästigt worden, obwohl ich Inhaber eines amerikanischen Passes war.” Na wenigstens vor einer Operndiva hatten die Schergen Respekt. Als Maria den Rechtsanwalt und Opernliebhaber Edgar Richard Bagarozy kennenlernte, begann die eigentliche “Karriere”, denn der Mäzen hatte ehrgeizige Pläne, trotz dem Fiasko seiner United States Opera Company in Chicago. Mit Bagarozy beschäftigt sich auch ein Film im Genre Fantasy/Komödie von Bernd Eichinger aus dem Jahre 1999, auf den hier verwiesen wird, um die Faszination Callas auch in deutschen Landen zu untermauern. Der Film fiel allerdings sowohl bei Kritikern als auch beim Publikum durch. Wahr daran ist wohl einzig, dass die Callas tatsächlich immer von einem schwarzen Pudel begleitet wurde, wie Fotos aus der Zeit beweisen. Durch Bagarozy kam Maria nämlich in Kontakt zu dem Industriellen Giovanni Battista Meneghini, der später ihr Ehemann wurde, obwohl er 28 Jahre älter als sie war. Ihren ersten Triumph feierte Maria Callas schließlich mit Richard Wagners Tristan und Isolde in Venedigs Teatro La Fenice. “Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass Maria Callas ausgerechnet mit einer hochdramatischen Wagner-Partie erstmals in Italien triumphierte“, schreibt ihr Biograph hymnisch.

Callas – Gesichter eines Mediums

Einen ganz anderen Zugang zur “Göttin” Callas als die üblichen Biographien wählt eine Publikation des Verlages Schirmer Mosel, der dieses Jahr als Sonderausgabe nochmals aufgelegt wurde. Anstelle einer erzählen Lebensgeschichte treten hier insgesamt 165 Duotone-Tafeln und vier Farbtafeln, die Maria Callas herself porträtieren. Fotos aus den unterschiedlichsten Zusammenhängen, private Aufnahmen aus dem Familienalbum oder Promotionfotos ihrer Plattenfirma. Besonders bemerkenswert an dieser Publikation sind aber auch die einleitenden Essays. Ersteres stammt von der österreichischen Schriftstellerin Ingeborg Bachmann, die die Callas als “einzige Person, die rechtmäßig die Bühne in diesen Jahrzehnten betreten hat” und “letztes Märchen” feiert: “Die Tränen, die ich geweint habe – ich brauch mich nicht mehr zu schämen. Es werden soviel unsinnig geweint, aber die Tränen, die der Callas gegolten – sie waren so sinnlos nicht. Sie war das letzte Märchen, die letzte Wirklichkeit, deren ein Zuhörer hofft, teilhaftig zu werden.” In eine ähnliche Kerbe schlägt auch der zweite Text, der von dem ungarischen Musikwissenschaftler Attila Csampai stammt, der sich teilweise auch auf den Bachmann Text bezieht. Der in drei Teile gegliederte Text ist nichts weniger als eine Apotheose der wohl größten Opernsängerin der Welt. Csampai vermag es überzeugend gegen alle jene zu wettern, die die Größe der Callas zu ihren Lebzeiten nicht erkannt und geschmäht hatten. Er wendet sich in einer wütenden Anklageschrift gegen alle mediokren Kostverächter und neureichen Ignoranten, die von Oper keine Ahnung hätten und nur auf ihr Prestige achteten. Ihre Zeit sieht er vor allem zwischen 1949 und 1959 und jeder weiß, was für ein scheinheiliges Jahrzehnt die Fünfziger Jahre waren. “Die Callas war ein Skandal in Permanenz, die fleischgewordene Herausforderung gegenüber der restlos verunsicherten Männergesellschaft der Fünfziger Jahre.” Onassis – ihr zweiter Ehemann – wäre ohnehin nur von ihrem exotischen Flair interessiert und selbst ein Banause gewesen. “...sie war die reine Kunst, die inkarnierte Utopie des Kunstschönen – was von dieser Gesellschaft der seelenlosen Lemuren, der feisten Körper und eiskalten Herzen keinen interessierte.” Aber die Callas hätte durch ihr inneres Leben der Kunst objektive Gestalt verliehen, so wie es Pindar vor 2500 Jahren definierte: “Die Göttin Athena war so tief beeindruckt von den Wehklagen der Medusen-Schwester Euryale, dass sie nicht anders konnte, als es festzuhalten. Sie hatte das Bedürfnis, diesem Eindruck feste, objektive Gestalt zu verleihen. (…) Die Wehklage wurde in Kunst, in Können, in Aulosspiel, in Musik verwandelt.” Pindar unterschied zwischen dem Leid und dem geistigen Schauen des Leidens. Ersteres, der Affektausdruck selbst sei menschlich, ist Merkmal des Lebens, ist Leben selbst. Das andere aber, das dem Leid durch die Kunst objektive Gestalt verliehen wird, ist göttlich, ist befreiend, ist geistige Tat, so Csampai in Anlehnung an Pindar.

Callas: Apotheose einer Göttin

Copyright Schirmer Mosel Verlag

Die Götter schweigen. Aber die Engel singen. So sang kein Mensch, kein irdisches Wesen. ES sang durch sie hindurch. ES: die Götter, das Urwissen der Menschheit, die Urkräfte des Universums. Der Ton glühte in ihr wie Lava, rot glühende Lava. Sie öffnete beim Singen kaum den Mund, verwehrte den Blick auf die Glut ihres Herzens“, so hymnisch beginnt der zweite Teil von Attila Csampais Text. Der von ihr gefundene Ton hätte unsere Seelen wie die Sonne unser Augenlicht geblendet und unsere Herzen entzündet, unseren Geist erwärmt. “So tönt die Stimme des Erzengels, der uns das Jüngste Gericht ankündigt, so streng, so übermenschlich. So klingt der hohe, der erhöhte Ton, der das WORT in Schwingungen versetzt, als Worte Gottes erkennbar macht, als Botschaften zwischen Seelen.” In seiner Überhöhung der Callas nimmt Attila Csampai aber auch Rache an ihren Kritikern, die einer singenden Frau nicht das zugestehen wollten, was sie dem gesamten weiblichen Geschlecht insgesamt Jahrhunderte oder Jahrtausende abgesprochen hatten, nämlich nicht nur “die Fähigkeit zu selbständigem Denken und Handeln, sondern auch zu tieferem Empfinden“. Attila Csampais Text über die Callas wird auch zu einer Anklageschrift gegen die Männerwelt der Fünfziger Jahre, die Klüngelei, die Männerbünde, die Altherren-Clubs. Tröstend erklärt er auch die Sinnhaftigkeit der Publikation eines Bildbandes zu Maria Callas zu dem er ja sein Vorwort schreibt. “Für die, die sie nie leibhaftig erleben durften sind die Bilder der einzig greifbare Beleg, dass ein Körper dieses alles entgrenzende Genie überhaupt fassen, beherbergen konnte, ohne zu zerbersten.” Im dritten Teil seines Textes, “Metamorphosen” übertitelt, beschreibt Attila Csampai ihre Performances in den wichtigsten Opern: Lady Macbeth, Lucia die Lammermoor, Leonara in Il Trovatore, Norma. Es gäbe noch viel mehr, noch viel mehr über die Callas zu sagen, allein, es sprengte den Platz und so wird der Raum für die Fotos eröffnet: “Ich glaubte immer, dass sie unsterblich sei, und sie ist es.” (Tito Gobbi)

Foto by David Seymour; 1993 Magnum/Focus courtesy Schirmer-Mosel

Für Interessierte empfohlen seien außerdem die Dokumentationen von ARTHAUS “Maria Callas. La Divina. A Portrait” (Tony Palmer), Callas assoluta (Philippe Kohly) sowie “The eternal Callas” (EMI Classics) oder der Spielfilm von Pier Paolo Pasolini mit der Callas in der Titelrolle “Medea” (ebenfalls ARTHAUS). Studioaufnahmen der “Göttlichen” sind bei EMI Classics erschienen: “The Complete Studio Recording 1949-1969” (70 CDs) oder auch “Maria Callas. 25 Complete Operas” und “Maria Callas. Glanzjahre einer Diva.” , beide by Membran Music Ltd.

No Limit. Die Neunziger – das Jahrzehnt der Freiheit

No Limit. Die Neunziger – das Jahrzehnt der Freiheit

No Limit. Die Neunziger – das Jahrzehnt der Freiheit. “Die Neunziger enden am 11. September 2001. An ihrem Beginn fällt die Berliner Mauer, an ihrem Ende fallen zwei Türme in New York City.” Das Jahrzehnt, das so verheißungsvoll begonnen hatte (“Wind of Change”) endet mit einem Vatermord. Denn der Vater Osama Bin Ladens war genau der Bauunternehmer, der in Saudi-Arabien die Architektur Minoru Yamasakis umsetzte. Und in New York die Twin Towers.

Jahrzehnt der Widersprüche

Wem das jetzt schon zu konspirativ klingt, der hat die Neunziger nicht erlebt. Denn tatsächlich war es ein Jahrzehnt der Widersprüche. Nicht nur politisch, sondern auch kulturell-musikalisch. So steht 1993 gleichzeitig für “the year that grunge broke out”, andererseits auch für den weltweiten Durchbruch von Tekkno. Elektronische Musik war plötzlich gefragt, Raves wurden zum Treffpunkt der neuen Jugendkultur und die “Love Parade” in Berlin zählte bald mehr als 1,5 Millionen Besucher:innen. Das Jahrzehnt in dem jeder anders sein wollte und möglichst individualistisch daherkam, verkam zur Uniformierung und Kommerzialisierung der Jugendkultur, wie es bisher noch nie dagesessen war. Denn bald stiegen auch gewisse Sportmarken auf den neuen Jugendtrend des Abtanzens ein. Während Hakim Bei von “temporären autonomen Zonen” schwärmte, entstanden im Osten Deutschlands sog. national befreite Zonen, also das genaue Gegenteil von dem, was auf Tekknopartys (“Unity”) beschworen wurde. Dabei übertraf die Zahl der Aussiedler bei Weitem jene der Asylbewerber, wie Balzer betont. Selbst das deutsche Nachrichtenmagazin SPIEGEL unterlag der neuen Diskurshegemonie und titelte am 9.9.1991 “Flüchtlinge-Aussiedler-Asylanten: Ansturm der Armen”. Wenige Tage später ereigneten sich Hoyerswerda und Rostock, zwei Städte, die so gar nicht in das Bild der neuen Offenheit passten.

Airbag Generation und Two Socks

Aber Lichtermeere gegen Rechts gehörten ebenso zu den Neunzigern, wie die Piercings und Tätowierungen der “Modern Primitives”, die ihr Überleben in kleinen, selbstbezogenen Gemeinschaften erprobten. Selbstreferentialiät und Modifikation des eigenen Körpers führten zu solchen Auswüchsen wie dem vielzitierten Arschgeweih, das in den USA als Tramp Stamp den Feminismus in die Steinzeit zurückbombten. Dazu trugen auch Fernsehserien wie Baywatch bei, auch wenn diese stets unter der Prämisse der Selbstbestimmung der Frau liefen. Der letzte Sieg des Patriarchats? Dieser wurde auch in diversen Talkshows zelebriert, denn obwohl in den Neunzigern jeder ein Außenseiter und etwas Besonderes sein wollte, glichen sich die Drehbücher und wurden mit Laiendarstellern getastet. Nicht zuletzt gingen die Neunziger aber auch als Jahrzehnt des Big Brother und Matrix ein. Denn “1984” wurde mit der Erfindung der mobilen Kommunikation tatsächlich Realität: die Handys machten spätestens Ende des Jahrzehnts als kleine Sendeeinheiten Furore und der gläserne Mensch wurde alsbald so durchsichtig, dass im Grunde genommen jeder von uns als Klon nachproduzierbar wäre. Denn so viele Daten wie noch nie wurden über einen einzelnen Bürger:in im WWW gesammelt. Dabei hatte es mit Two Socks – der Katze Bill Clintons – so harmlos angefangen…

Ob-la-di ob-la-da

Wenn die Siebziger im Zeichen der Innovation standen, die Achtziger im Zeichen der Angst und Apokalypse, dann sind die Neunziger wohl die Aufhebung der beiden. Der Griff ins Archiv wird zum innovativen Kick, Hypertext über alles. Selbst der religiöse Fundamentalismus ist nur ein Widergänger der alten anti-westlichen, anti-aufklärerischen politischen Bewegungen des Nationalsozialismus und Faschismus: Klerikalfaschismus, so Walter Laqueur. Tristesse Royale ist dabei noch ein harmloser Titel. Die Globalisierung hat eben auch diesen Aspekt: “aus einer immer stärker vernetzten und hybrider werdenden Welt verschwindet jenes Eigene, in dem sich Sicherheit und Identität finden”. Darauf gibt es eben unterschiedliche Reaktionen, aber es ist wohl beides legitim, da real. Ob-la-di ob-la-da. Und vielleicht war das Jahrzehnt gerade wegen seiner Widersprüche das freieste, bisher…

No Limit. Die Neunziger – das Jahrzehnt der Freiheit

Jens Balzer, geboren 1969, ist Autor und Kolumnist, u.a. für die «Zeit», «Rolling Stone», den Deutschlandfunk und radioeins. Er war stellvertretender Feuilletonchef der «Berliner Zeitung» und kuratiert den Popsalon am Deutschen Theater. 2016 erschien sein vielgelobtes Buch «Pop», 2019 «Das entfesselte Jahrzehnt. Sound und Geist der 70er», über das der «Tagesspiegel» schrieb: «So lehrreich wie unterhaltsam … Am Ende ist man um nie geahnte Erkenntnisse reicher – und wünscht sich, dass sich der Autor bald das nächste Jahrzehnt vornehmen möge.»

Jens Balzer
No Limit. Die Neunziger – das Jahrzehnt der Freiheit
2023, Hardcover, 384 Seiten,
ISBN: 978-3-7371-0173-8
Rowohlt Verlag


Genre: Chronologie, Geschichte, Kultur, Musik, Politik, Popkultur
Illustrated by Rowohlt

Batman – One Bad Day – Ra’s Al Ghul

One Bad Day

Batman – One Bad Day – Ra’s Al Ghul. Zeichner Ivan Reis und Autor Tom Taylor legen sich in “One Bad Day – Ra’s Al Ghul” ordentlich ins Zeug, denn zweifellos ist
Ra’s Al Ghul – der Schwiegervater Batmans – ein besonders spannender Charakter in Zeiten von Klimaverschiebung und Erderwärmung.

Familienbande – Bande einer Familie

Der unsterbliche Ra’s al Ghul ist nämlich so etwas wie ein “Klimaterrorist”. Er will all jene zur Rechenschaft ziehen, die aufgrund ihres unglaublichen Energieverbrauchs die Zukunft aller Lebewesen auf der Erde auf dem Gewissen haben. Dabei versucht er seinen Schwiegersohn zu einem unfreiwilligen Verbündeten zu machen, denn schließlich gibt es auch einen Enkel, Damian, den Sohn von Ghuls Tochter Talia und Batman. Damian arbeitet allerdings längst auf der anderen Seite, unter den Flügeln der Fledermaus nämlich. Er unterstützt Batman als Robin im Kampf gegen das Böse und somit auch gegen seinen Großvater, Ra’s Al Ghul. Seit 1971 feiern Talia und Ra’s regelmäßig Wiederauferstehung in ihren Lazarusgruben und was diesen recht ist, ist auch anderen billig. Denn tatsächlich stirbt Batman in vorliegender Adaptation des Mythos, um sogleich wieder in genannten Gruben wieder auf zu erstehen. Schließlich ist Robin alias Damian schlau genug, seinen Vater in diese Lazarusgruben zu befördern, aber wer diese kennt, weiß gleichzeitig, dass immer auch etwas mehr an Wut und Verzweiflung dabei herauskommt als hineinging. Also Achtung vor Batman, denn ein wieder auferstandener ist wohl ebenso mächtig wie jener “Detektiv” mit dem sich Ra’s Al Ghul ein spannendes Säbelduell liefert, das von
Zeichner Ivan Reis sogar in übergroßen seitenübergreifenden Panels dokumentiert wird. Da staunt selbst die League of Assassins nicht schlecht die Ra’s Al Ghul bei seinem Umweltkampf assistieren. Denn so einen Kampf haben selbst sie noch nie gesehen: beide Kontrahenten zeigen Brust.

Der Zweck heiligt die Mittel?

Ra’s Al Ghul, der Batman immer mit “Detektiv” anspricht, hat durchaus Respekt vor seinem Gegner. Aber nicht weil es sein Schwiegersohn ist, sondern weil sie sich beide so sehr gleichen. Beiden ist das Leben heilig. Sie kämpfen beide für eine bessere Welt, nur dass Ra’s Al Ghul dabei alle Mittel recht sind, nach dem Motto “Der Zweck heiligt die Mittel”. Aber Batman weiß, dass gerade die Mittel des Kampfes auch die Wege der Zukunft beschreiben. Vielleicht könnte man da die Russische Oktoberrevolution zitieren, die ebenso wie Ra’s Al Ghul die richtigen Ziele, aber die falschen Wege dorthin beschritt. Die Natur muss beschützt werden. Ra’s Al Ghul will die Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen, Batman will jedes menschliche Leben schützen. Auch das der Industriebosse, die gerade dieses Leben zunehmend verunmöglichen. Ein Batman-Comic ganz im Zeichen des 1988 Klassikers Killing Joke von Batman-Neuerer Alan Moore. Weitere “One Bad Day”-Geschichten zu anderen Superschurken sind bereits erschienen. Die Reihe wird fortgesetzt, u.a. mit Mr. Freeze, Double-Face, Clayface,…

Tom Taylor
Batman – One Bad Day – Ra’s Al Ghul
Original Storys: Batman: One Bad Day: Ra’s al Ghul
2023, Hardcover, 76 Seiten
ISBN: 9783741635120
Panini
18,00 €


Genre: Comics
Illustrated by Panini Comics