Umlaufbahnen

Umlaufbahnen. Orbital. Ausgezeichnet mit dem Booker Prize 2024 und Hawthornden Prize for Literature 2024, nominiert für den Orwell Prize for Political Fiction 2024 sowie den Ursula K. Le Guin Prize 2024: Orbital von Samantha Harvey, ihr fünftes Werk.

Weltraumdrifter lassen grüßen

In 90 Minuten umkreisen die sechs Astronauten aus Orbital den Planeten, sechzehnmal in 24 Stunden. Dass einem dabei alles andere plötzlich nebensächlich erscheint ist nur eine von vielen Reaktionen des menschlichen Gemüts auf die unvorstellbare Tatsache im Weltraum zu sein, dem absoluten Nichts, und auf seinen Heimatplaneten zu blicken. Die subtile Macht ihres Raumschiffs mach sie alle gleich: Anton, das Herz des Raumschiffs, Pietro, der Verstand, Roman, der Kapitän, die Hände, Shaun, die Seele, Chie, das Bewusstsein und Nell, der Atem. Sie kommen alle aus anderen Nationen, Astronauten und Kosmonauten, wie man sie in Russland nennt, wohl weil diese gleich weiter hinaus wollten, in den /Kosmos/, als bloß zu den Sternen, /ad astra/. Sie atmen alle dieselbe recyclierte Luft, trinken Wasser aus ihrem wiederaufbereiteten Urin und schlafen in derselben Fledrmausmäßigen Position. Eine Art kommunistische herrscht zwischen den sechs Raumfahrern, deren Mission es ist, einen Taifun zu erforschen, um bessere Prognosen für die betroffenen Erdbewohner:innen treffen zu können. Um das Leben anderer retten zu können, opfern sie ihr eigenes. Denn das Raumfahren fordert seinen Tribut. Nicht nur was die Unannehmlichkeiten der Schwerelosigkeit betrifft, sondern auch die Spätfolgen. Ein Gemälde von Diego Velázquez, Las Meninas (1656) ist die Steilvorlage dieses außergewöhnlichen Romans, der mehr einer Meditation gleichkommt als einer bloßen Erzählung. Die Erleuchtung, welche Perspektive der Maler bei seinem Gemälde einnahm, erscheint dem Leser dann wie ein Glockenläuten.

Gedanken im Angesicht des Planeten

Was passiert, wenn man seine Heimat nur aus weiter Ferne durch ein kleines Fenster sieht? Wie verändern sich Denken und Fühlen?
sind nur zwei Fragen, die die Autorin in diesem lesenswerten Roman aufwirft und auf Möglichkeiten der Beantwortung prüft. “Sugoi”, das japanische Wort für die Interjektion “Wow” ist nur ein Ausdruck den man in vorliegendem aufrüttelnden Roman lernt und spürt, denn die Beschreibungen der Erdumrundungen sind in einer äußerst beeindruckenden Sprache formuliert und ringen einem schon während des Lesens Bewunderung ab. Sie erzählt von Sergei Krikaljew, dem sowjetischen Kosmonauten, der aufgrund der politischen Umwälzungen in seinem Heimatland sechs Monate länger als geplant auf der Mir verbringen musste. Aber auch Michael Collins, der die beiden Astronauten Neil Armstrong und Buzz Aldrin vor dem blauen Planeten fotografierte und als einziger Abkömmling der Menschheit nicht auf dem Foto war. Eine Spekulation, die Diskussionen auslöste, was das wohl für ihn bedeutete. Aber bei all dem, darf man nie den Preis vergessen, den die Menschheit für diese Momente des Ruhms zahlt, schreibt Harvey und wir alle wissen, was das bedeutet. Die Antriebsrakete ihres Raumschiffs benötigt allein beim Start so viel Benzin wie Millionen Autos. “Wir denken wir wären der Wind, aber wir sind nur die Blätter”, schreibt sie. Die Such nach der Last Frontier ist es, was die Raumfahrt antreibt, das Territorium vergrößern, der Weltraum die letzte Wildnis, die uns noch bleibt, das Revier markieren.

Samantha Harvey
Umlaufbahnen. Roman
(Originaltitel: Orbital)
Aus dem Englischen von Julia Wolf
2024, 1. Auflage, Hardcover im Schutzumschlag, 224 Seiten, 11,8 x 19,5 cm
ISBN : 978-3-423-28423-3
dtv
EUR 22,00 [DE] – EUR 22,70 [AT]

 


Genre: Roman
Illustrated by dtv, dtv München

The Book. Der ultimative Wegweiser zum Wiederaufbau einer Zivilisation.

The Book. Das richtige Buch zum richtigen Zeitpunkt: sollte unsere Zivilisation demnächst untergehen, sind in “The Book” alle lebens-notwendigen Informationen enthalten, derer es zum Überleben nach einem etwaigen Atomschlag bedarf. “The Book” ist mit seinem Weltuntergangsszenario vielleicht ein Kind der Achtziger (Kalter Krieg, zwei unversöhnliche Blöcke), aber dennoch so aktuell wie kein anderes Buch. Vor allem aber ein großes Lese- und Schnuppervergnügen für Jung und Alt.

The Book: Kreatives Kollektiv mit viel Knowhow

180 Themen, aufgeteilt in 23 Kapitel auf über 400 Seiten. Das einzigartige Hardcover-Buch im Schuber wurde von einem Expertenteam in über 5.000 Stunden akribischer Kleinarbeit erstellt und liegt auf Englisch im Original, aber auch in einer deutschen Übersetzung vor. The Book wurde zur Sensation bei Kickstarter, sammelte $3.5 Millionen, und war ein Bestseller in gleich mehreren Ländern. Es verkaufte sich bereits über 100,000 mal. Medizin, Werkstoffe, Mechanik, Militär, Alltagsleben, Landwirtschaft, Unterhaltung, Musik Gesellschaft, Spiele, Delikatessen sind nur einige der Themen, die hier erwähnt werden können, denn The Book ist prallvoll mit Informationen, die mit Illustrationen im Stile des englischen Steam Punk auch bildlich dargestellt werden. Als eine Kombination aus Ingenieurzeichnungen und mittelalterlicher Kunst kann man die faszinierenden Illustrationen bezeichnen, die die Struktur von Geräten und Materialien in vielen Formen aufschlüsseln und erschließen.

Hungry Minds for Hungry Hearts

Die Herausgeber, Hungry Minds, verstehen sich als kreatives Kollektiv unterschiedlichster Künstler, Wissenschaftler, Schriftsteller und Designlovers, die gemeinsame Werte teilen. Neben der Liebe zur Schönheit, Kreativität und gutem Geschmack sind dies – laut Eigendefinition – auch Neugierde, Courage, Verantwortung und Sinn für Humor. Auch Teal Organization, also das Pendant zu Arbeiterselbst-organisation, wird hier groß geschrieben. Wer selbst den Hunger nach neuen Herausforderungen verspürt, kann sich sogar bei Hungry Minds melden und auch selbst mitarbeiten, denn das Team hat noch viel vor.

Anleitung zum DIY nach dem Weltuntergang

Menschliche Errungenschaften vom Pflug bis zur komplexen Mikroelektronik sind sachlich erklärt und anhand detaillierter Illustrationen verständlich gemacht. The Book zeigt brillante Ideen, die unsere Zivilisation geformt haben und bietet damit gleichzeitig einen Bauplan für die Zukunft und ihren Wiederaufbau. Kunst, Technologie, Geschichte und geheimnisvolle Wissenschaften wie Semiotik und Hermeneutik sind ebenso erläutert wie die richtige Mund-zu-Mund-Beatmung oder einen Blinddarm selbst zu entfernen (!). Natürlich geht es aber auch um die Basics, nämlich Wassergewinnung und Nahrungsaufnahme. Welche Pilze lecker sind oder welche Pilze nur Spaß machen ist hier mit einem Augenzwinkern erklärt. Yoga und chinesische Nadeltherapie oder die Herstellung von Gips, Klebstoff, Penizillin sowie Papier kann man hier genauso nachlesen und studieren.

Was wir wirklich brauchen (werden)

Aber auch die Produktion größerer Mengen von Schießpulver wird angeleitet. Das wirft natürlich die Frage auf, ob wir so etwas für einen Neubeginn wirklich noch brauchen werden. Man kann vielleicht ein Feuerwerk daraus machen, denn zum Feiern wird es ja nach wie vor noch etwas geben. Neben Bauanleitungen für Werkzeuge zur Nahrungsgewinnung wurde zudem auch an Unterhaltung gedacht. Kartenspiele, Schach, Ballspiele oder einen Drachen steigen lassen oder vielleicht gleich ein Phenakistiskop herstellen? The Book zeigt wie es gemacht wird. Selbst an Vibratoren und Kondome wurde gedacht, denn schließlich spielt Geburtenkontrolle auch in der Zukunft eine Rolle. Auch um Mangel und Verteilungskämpfen vorzubeugen.

The Book ist eine Hommage an die menschliche Vorstellungskraft, an die Fähigkeit, außerhalb der alltäglichen Realität zu denken. Es wurde von Träumern für Träumer gemacht“, schreiben die Herausgeber bei Hungry Minds und geben damit auch den Fahrplan für ihr weiteres Verlagsprogramm vor. Die nächsten Bücher sind schon geplant: The Black Book ist soeben erschienen.

The Book. Der ultimative Wegweiser zum Wiederaufbau einer Zivilisation.
2024, Hardcover, Schuber, 23 x 34 cm, 405 S., Leinen, Silberprägung.
Hungry Minds Verlag
120,00 €


Genre: Fachbuch, Ratgeber, Sachbuch

Thomas Bernhard: Autobiographie als Graphic Novel

Seit 2018 erscheint die Autobiographie Thomas Bernhards als Graphic Novel in Einzelbänden beim Salzburger Residenz Verlag. Dieses Jahr erstmals sind die ersten fünf Bände der Graphic Novel im Schuber als ideales Geschenk für alle Thomas-Bernhard-Fans erschienen.

Eine Kindheit zwischen NS und Katholizismus

Lukas Kummer, der die Bände illustrierte, arbeitet seit 2009 als Illustrator, Autor, Storyboard Artist und Gestalter. Seine erste Thomas Bernhard-Graphic Novel „Die Ursache“ kam auf die Comic-Bestenliste. Gelobt wurden u.a. seine eindrücklichen Bilder und die kongeniale grafische Verbindung seiner Zeichnungen mit den Stilmitteln des Autors Thomas Bernhard. Denn dieser arbeitete gerne mit Wiederholungen und Übertreibungen, um seinen Aussagen mehr Gewicht zu verleihen. In seinen fünf Bänden zwischen Dichtung und Wahrheit, die im Residenz Verlag auch schon als normale Bücher erschienen sind, zeigt er etwa die Monotonie des Internatsalltags oder die Ähnlichkeit der nationalsozialistischen mit den späteren katholischen Erziehern so lebensnah, dass sie zum Greifen echt werden. Wenn der junge Bernhard sich etwa in der Schuhkammer des Internats zurückzieht, um an der Geige zu üben, werden die Schuhe zu einer erdrückenden Pyramide gestapelt vor deren Wiederholung die Selbstmordgedanken des Zöglings allzu nachvollziehbar werden.

Selbstmord oder Resilienz

Diese eindrückliche Szenerie wiederholt sich auch im Schlafsaal, wo das Schicksal und die Bedürfnisse des Einzelnen der Masse untergeordnet werden und nur durch die tägliche Gute Morgen Ohrfeige des Aufsehers Grünkranz unterbrochen wird. Thomas Bernhard spricht von einer Gemütsverdüsterung und Gemütsverfinsterung die zu seiner Gemütszerstörung geführt habe, in eben diesem Internat in Salzburg, dem Joanneum. Als “die Farbe der Mächtigen wieder von braun auf schwarz wechselt“, wie Bernhard süffisant schreibt, ändert sich vorerst nichts: Der Geistliche hatte “das Erbe nationalsozialistischen Grünkranz angetreten, er war genauso gefürchtet und gehaßt wie Grünkranz und er war wahrscheinlich ein ebensolcher uns alle abstoßender Charakter“. “Der NS hatte die gleiche verheerende Wirkung auf alle diese jungen Menschen gehabt, wie jetzt der Katholizismus.” Beides sind für Bernhard ansteckenden Krankheiten, Geisteskrankheiten, sonst nichts.

Das “Straflager Leben”: Internat, Schule, Gymnasium

Damit nicht genug, litt der junge Bernhard zudem noch an einer Lungenkrankheit, die ihn beinahe schon in jungen Jahren dahingerafft hätte. Als dann seine wichtigste Bezugsperson, sein Großvater, stirbt und ein halbes Jahr später seine Mutter, gibt es für Thomas Bernhard nur mehr einen Weg zu überleben: er muss der Schriftsteller werden, der sein Großvater immer werden wollte. Das schaffte er nur durch die Überwindung der Scham, denn “nur der Schamlose schreibt. Nur der Schamloseste ist authentisch.” Das Schreiben nennt er auch “das sich preisgeben vor sich selbst“. Von seinem Vater, er seien Mutter im stich ließ findet er nur die eine Spur: er hatte sein Elternhaus mit einer solchen Präzison abgebrannt, dass es gerade aufloderte als er mit dem Zug daran vorbeifuhr.

Heimat im Schreiben

Mit diesem Blick auf das brennende Elternhaus hatten er nicht nur die Heimat, sondern überhaupt den Heimatbegriff (für sich) ausgelöscht.” Vor der “Finsternis des Vergessens” wollte er seine Erinnerungen retten und fing wohl auch deswegen an zu schreiben. Aber vorerst musste er noch die Jahre in der Lungenheilanstalt und die medizinischen Prozeduren hinter sich bringen. Sie werden von Lukas Kummer realistisch gezeichnet und in ihrer ganzen Dimension spürbar. Etwa wenn das Sputum in Flaschen produziert werden muss oder das Pneumoperitoneum eingesetzt wird. Der “Strafvollzug Leben” wie Bernhard es nannte, wird augenscheinlich. In “Atem” beschreibt er, dass nur die Nähe seiner Lieben – sein Großvater war im selben KH Patient – ihm das Überleben sicherte. In “Der Keller” erzählt er von seiner Kehrtwendung, denn er wollte in die “entgegengesetzte Richtung“, nicht ins Gymnasium, sondern in den Handel, die Lehre.

Fluchtpunkt Scherzhausersiedlung: die entgegengesetzte Richtung

In der Scherzhausersiedlung, dem schlechtesten Viertel Salzburgs, wollte er das Leben lernen wie es ist, mit einfach Leuten, die vom Schicksal nicht gerade begünstigt waren. “Hier konnte ich sein wie ich war. Und alle anderen konnten sein wie sie waren.” Im (wohl nur vorläufig) letzten Band vorliegender Sammlung, “Das Kind“, lobt Bernhard wieder den Großvater und stellt ihn seiner prügelnden Mutter gegenüber. Sie schlug ihn mit dem Ochsenziemer, weil sie seinen Vater, der sie verlassen hatte, in ihm sah. “Wir haben von Aufrichtigkeit und von Klarheit geträumt, aber es ist beim Träumen geblieben. Aber es ist alles egal. Manchmal erheben wir alle unseren Kopf und glauben die Wahrheit oder die scheinbar Wahrheit sagen zu müssen und ziehen ihn wieder ein. Das ist alles.“, heißt es in “Der Keller” aber wir alle wissen, das dies noch lange nicht alles ist.

Lukas Kummer verschafft dem Sprachduktus Bernhards klare Linien, er zeichnet scharfe Konturen und eindringliche Winkel, in die sich die Gedanken flüchten, wo sie aber auch gestellt werden und die Worte eine klarere Nachhaltigkeit bekommen. Im Residenzverlag sind neben den Originaltexten zu vorliegenden Graphic Novels auch andere Bücher von Thomas Bernhard erschienen.

Thomas Bernhard
Lukas Kummer (Illustrationen)
DIE AUTOBIOGRAPHIE ALS GRAPHIC NOVEL
5 Bände im Schuber
2024, Hardcover, 560 Seiten, 170 x 240cm
ISBN: 9783701717965
Residenz Verlag
€ 99,00


Genre: Autobiographie, Comic, Gegenwartsliteratur, Graphic Novel
Illustrated by Residenz

Südtirol. Eine literarische Einladung

Südtirol. Eine literarische Einladung. Die Marmolada, die Brenta-Gruppe, der Rosengarten sowie die eiszeitliche Bletterbachschlucht sind längst UNESCO-Weltnaturerbe und ohne sie könnte man sich wohl kein Südtirol denken. Denn die Berge sind es, die auch die Mentalität der Bewohner:innen beeinflussen.

Haut-Adige, Alto Adige oder doch Südtirol?

Wer über den Tourismus in den Alpen schreibt, muss daher bei ihnen beginnen, den Bergen“, fordert Selma Mahlknecht im Eingangsessay dieser literarischen Einladung, die in unser Nachbarland Italien führt. Und auch wenn es vielleicht als unpopulär gilt, in einer globalisierten Welt, Wurzeln haben wir doch alle und das Fremdsein in der Fremde ist doch auch nichts anderes als die Fremdheit der Spiegelung des Ichs in einem Bergsee. Oder dem eigenen Badezimmerspiegel. “Doch die Flucht aus der Welt“, schreibt Mahlknecht so treffend, “endet immer in der Welt – und das Ausbrechen aus dem Ich wirft das Ich auf sich selbst zurück.” Für die Berge bedeutet dies vor allem, dass wir immer wieder zu ihnen zurück kommen werden, denn sie waren einfach schon vorher da. Oder wie der Name Alto Adige (für Südtirol) schon verrät: die Berge, die sind weiter oben. Alessandro Bando verrät in seinem Beitrag, dass der Begriff Alto Adige aber in Wirklichkeit ein Gallizismus sei und durch ein Dekret Napoleons eingeführt worden wäre, also “Haut-Adige“, um genau zu sein. Andererseits bezieht sich der Begriff Südtirol aber auch auf das Trentino. Nur einen Ort gäbe es, der kein dreisprachiges Verkehrsschild habe: Lana. Lana für Italienisch-, Deutsch-, Ladinischsprachige, für Südtiroler und Altoatesini.

Ohne Knödel hosch ned gess’n

Magdalena Fingere erzählt in “Bozen” von ihrem aphasischem Vater und ihrem eigenen Asthma. Gianni Bianco von einem Haus am Damm. Und sogar ein Stefan Zweig Gedicht über die “Bozner Berge” hat sich in diese Publikation geschlichen: Viele fromme Worte fallen dir ein/Doch du mußt sie Gott nicht erst sagen;/Du brauchst nur dein rauschendes Herz hinein/In den lauschenden Morgen zu tragen. “Weil i’s nimmer derpock“, weint das Luzele in Helene Flöss’ “Löwen in Holz”, sie schafft es am Allerheiligentag nicht mehr, die Krapfen zu verdrücken. Denn der Allerheiligentag ist ein Festtag geworden, weil der ganze November ein so traurig-grauer Monat ist. “Ohne Knödel hosch ned gess’n” könnte man da auf gut Südtirolerisch antworten. Denn Schulter, Krapfen, Planten, mezzelune und Schmarrn gehören zur klassischen “weißen” Küche. Die Tomaten hätten erst nach dem Weltkrieg Einzug gehalten. “Hinaus in die Welt, nichts als hinaus in die Welt“, hatte der Vater in “Die Walsche” von Joseph Zoderer immer gerufen. Aber jetzt war er tot und sie musste im Gasthaus in dem er sich zu Tode gesoffen hatte die Beileidswünsche bei einem Glas Wein oder Schnaps entgegennehmen. “Dem Naz (Besitzer des Gasthofs) hätte sie mal liebsten grazie! mille grazie! ins Gesicht gezischelt aber sie fragte nur: Schnaps oder Wein”. Er hatte sie als erster “Die Walsche” genannt, nur weil sie Hausaufgaben in Italienisch gemacht hätte.

Schöne Welt, böse Leut

Andersherum war es beizeiten sogar lustig, wie Claus Gatterer, Begründer der transnationalen Geschichtsschreibung, in “Schöne Welt, böse Leut” erzählt. “Mamma mia, che nome ostrogotico! Va a farti frigere“, rief seine Italienisch-Lehrerin einem Klassenkameraden nach, dessen (deutschen) Nachnamen sie als Welsche nicht aussprechen konnte. Besonders schwierig waren nämlich Namen mit “h” für sie. “Als hätte sie einen Igel verschluckt“, beschreibt Gatterer ihre Weigerung deutsche Namen auszusprechen oder derlei Versuche. Aber natürlich gab es auch dabei Ausnahmen, denn die Namen der besseren Leute konnte sie durchaus aussprechen. Im Anhang befinden sich auch Kurzbiographien und Quellen der Texte aus denen die Auszüge stammen. Gedichte in lateinischer Sprache plus Übersetzung sind ebenfalls lesenswert in dieser literarischen Einladung nach Südtirol. Mit weiteren Texten und Übersetzungen aus dem Italienischen wie Ladinischen von Marco Balzano, Roberta Dapunt, Oswald Egger, Maddalena Fingerle, Claus Gatterer, Lilli Gruber, Francesca Melandri, Maxi Obexer, Joseph Zoderer und vielen anderen. Von Gaby Wurster sind bei Wagenbach auch literarische Einladungen nach Genua und Ligurien, Triest und Lissabon erschienen.

Gaby Wurster (Hrsg.)
Südtirol. Eine literarische Einladung
SALTO [284].
2024, 144 Seiten. Rotes Leinen. Fadengeheftet
ISBN 978-3-8031-1383-2
Wagenbach Verlag
22,– €


Genre: Literatur, Reiseführer
Illustrated by Wagenbach

Juli, August, September

Juli, August, September. “Der Russe ist einer, der Birken liebt” war ihr Debüt, 2012, seither sind auch andere Bücher von dieser Autorin erschienen, die derzeit als Professorin an der Universität für angewandte Kunst in Wien unterrichtet. Die in Baku, Aserbaidschan Geborene lebt abwechselnd auch in Polen, Russland, der Türkei, den USA und Israel. Ihre Werke, ein Essay und vier Romane, wurden in 15 Sprachen übersetzt, fürs Radio und die Bühne adaptiert und verfilmt. In ihrem neuen Werk geht es um die liebe Familie und die Protagonistin Lou macht sich auf die Suche nach deren Geheimnissen. Zwischen Berlin, Gran Canaria und Israel.

Die Vergangenheit der Gegenwart

Tante Maya feiert ihren 90. Geburtstag. Sie lädt ausgerechnet auf die touristische Urlauberinsel Gran Canaria ein, weil sie dorthin ein Preisausschreiben gewonnen hat. Alle Familienangehörigen – oder zumindest jene die sich noch dazu zählen – müssen sich nun dort um sie versammeln und ihrer letzten Erzählung lauschen. Denn natürlich will sie sich in ihrem betagten Alter auch verabschieden. Und einiges zurechtrücken. Geschichte wird bekanntlich von den Siegern geschrieben und auch bei Familiengeschichten ist dies nicht anders. Dort schreiben die Überlebenden die Geschichte. Bald kommt Lou nämlich einem Familiengeheimnis auf die Schliche, die ihre andere Tante Rosa, nach der sie auch ihre Tochter benannt hat, betrifft.

Juli, August, September

Die beiden Schwestern Maya und Rosa durchlebten gemeinsam den Krieg und den Holocaust und ihre Nachkommen sollen nun endlich die Wahrheit erfahren, so, wie es wirklich war. Aber die Mutter von Lou ist damit gar nicht einverstanden. Lou selbst durchlebt auf Gran Canaria ihre erste Ehekrise, von der sie selbst nicht sicher ist, ob es sie nun wirklich gibt oder nicht. Denn Sergej ist einfach nur viel unterwegs, als Konzertpianist hat er keine andere Chance. Die Telefongespräche zwischen Salzburg und Gran Canaria verlaufen unbefriedigend. Und bald fragen sie alle, ob sie sich scheiden lassen wolle. Als dann noch ein Interview von Sergej erscheint, scheint das Fass überzulaufen. Lou fliegt nach Israel und begegnet dort ihrer Vergangenheit.

Ehe, Familie und Partnerschaft im 21. Jahrhundert

Es geht viel um die russisch-jüdische Identität, denn ihre Familie stammt eigentlich von Wolgadeutschen der Sowjetunion ab. Im Ausland werden sie dann abwechselnd als Russen oder Juden wahrgenommen, beides führt zu Komplikationen. An einer Stelle spricht sie auch über die “heritazniza”. Sie spreche die russische Sprache zwar nicht perfekt, aber sie löse sehr viel mehr Emotionen bei ihr aus als das Deutsche, so Lou. Besonders für die Kinder ist das Aufwachsen durch solche Zuschreibenden nicht gerade einfach. “In meiner Familie herrschte ein rigider Wettbewerb, wer die erfolgreichsten Kinder hatte. Denn der Erfolg der nächsten Generation war der Gradmesser gelungener Elternschaft.” Aber bald wird Lou konstatieren, dass sie alle versagt hatten. Und über allem liegt dieser feine Staub von Ironie.

Judentum als “kulturelle Performance”

Nicht nur weil sie ihr erstes Kind verloren hatte, sondern auch ihre erste Ehe, fühlt Lou, dass sie keineswegs zu den “Siegern” gehört. Ihr Judentum wäre ohnehin nur mehr eine “kulturelle Performance”, die nicht mal besonders gut sei. Als Lou schließlich entdeckt, dass Hannah, ihre Großmutter, ihre beiden Kinder Maya und Rosa während des Krieges im Stich gelassen hatte und ihr Ehemann als vermeintlicher Deserteur in ein sowjetisches Gefängnis gekommen war, spitzt sich die Handlung zu: “Als ich so alte geworden war, dass mein Erinnerungsvermögen einsetzte, hatte mein Großvater seines verloren“. Olga Grjasnowa erzählt in einer sympathischen, jugendlichen Sprache vom Schicksal aller jener, die durch den Krieg in alle Welt zerstreut wurden und seither versuchen, die verlorenen Teile wieder zusammenzufügen. “Juli, August, September” ist dafür ein guter Anfang.

Olga Grjasnowa
Juli, August, September
Roman
2024, Hardcover, 224 Seiten
ISBN 978-3-446-28169-1
Hanser Berlin
Deutschland: 24,00 €
Österreich: 24,70 €


Genre: Roman
Illustrated by Hanser

Super einsam

Super einsam. “SO36”, die ehemalige Berliner Postleitzahl für einen ganz bestimmten Teil Kreuzbergs, wird in den Achtzigern zu einem Chiffre für politischen Widerstand und linksradikale Aktivitäten. “Mariannenplatz rot verschrien“, sangen damals Ideal. Für Vito, den Protagonisten von Anton Weils Roman, ist es vor allem seine Heimat. Denn in SO36 befindet sich die Wohnung seines Vaters, die er von ihm übernommen hat. Aber eigentlich will er nur raus hier, raus nach Südfrankreich. Oder wohin auch immer.

SO36 Heimat der Heimatlosen

Der Moment schien eben golden wie unser Bier“, meint Vito tröstend zu sich selbst, um ihn herum peitschen sich die Leute auf dem Klo Zeugs in die Nase oder konsumieren ganz offen, was es an legalen und illegalen Substanzen zu konsumieren gibt. Aber Vito ist nicht so, er besucht lieber einen IKEA Laden mit seinem Vater, denn dort gibt es eine “vorgegeben Route durch den Laden. Endlich etwas das Halt verspricht. Endlich Guidance“. Die Erkenntnis, dass er ob seiner Altersweitsicht eigentlich “Goethe-Augen” hätte, erfreut sein darbendes Gemüt, sein Vater jedenfalls ist sogar stolz darauf. Aber egal, denn jede Eskalation kann ja auch ein Bonding-Moment sein, gerade zwischen Vater und Sohn. Vielleicht sogar ein James-Bonding Moment. Solche Momente haben die beiden bitter nötig, denn Vito’s Mutter ist an Krebs gestorben und so sind beide Männer einsam. Super einsam. Aber Vitos Mutter hat ihm einen Koffer vererbt, den er erst an seinem 25. Geburtstag öffnen darf. Aber er ist noch nicht 25. Erschwerend hinzu kommt noch die Trennung von seiner Freundin Mia, was ihn noch viel super einsamer macht als seinen Vater. Aufgrund der Krisensituation lässt er sich auf einen Schwulenflirt ein, “seine Homophobie war durchwegs gay“, scherzt er vor sich hin, denn das tete a tete endet bei einem Sicherheitsbeamten.

Super einsam Retro-topie

Fuck, is das hell.” Anton Weil schreibt in kurzen, meist englisch übermittelten Kapiteln witzige Szenen aus dem Alltag seines Protagonisten und meist stellt man fest, dass man selbst noch in diesem Karussell hängt, von dem er hier schreibt. Denn die ganzen gesellschaftsverändernden Utopien der Achtziger oder Sechziger habe längst ausgedient und sind höchstens noch als Retro-topie denkbar. Wer würde denn schon freiwillig auf die 80m2 Wohnung des Vaters verzichten, wenn sie sich noch dazu in Kreuzberg SO36 befindet? Vito jedenfalls nicht. “Vielleicht ist es ein Hoffnungsschimmer, dann könnte ich hier wohnen bleiben. Halt frierend, aber immerhin habe ich eine Heimat.” Der Verlust seiner Mutter, die erst 49 war, traf den damals 17-jährigen wie eine Atombombe: “Ich wollte sehen, wie viel übrig bleibt von einem Menschen, der für mich die Welt, aber für die Welt nur ein Mensch war“, erklärt sich Vitolino sein Verhalten im Krematorium. Am Ende sieht er sie dann doch noch in 4K-Ultra-HD. Und es bleibt ihm nichts anderes übrig, als sich zu bedanken. Denn sie war die ganze Zeit über da.

Ein Roman über einen schmerzlichen Verlust, der sich verdoppelt. Schön, dass Vito uns daran teilhaben lässt und so vielleicht auch jenen hilft, die ähnliches durchmachen. Nur den Kopf nicht hängen lassen, irgendwann kommt von irgendwoher wieder ein Lichtlein daher. Meistens wenn man es am wenigsten erwartet…

Anton Weil
Super einsam. Roman
2024, gebunden, 240 Seiten, 12.5 x 19 cm
ISBN: 978-3-0369-5042-6
Kein&Aber Verlag
EUR 22.70


Genre: Roman
Illustrated by Kein & Aber Zürich

Wien. Architektur und Kunst

Wien. Architektur und Kunst. Wien wird regelmäßig zur lebenswertesten Stadt wiedergewählt. Gerade im Herbst lohnt sich ein Besuch der Mitteleuropametropole, da ein Festival das andere abwechselt, sei es Musik, Kunst oder Mode. Der vorliegende Reclam Städteführer für Kunst- und Architekturliebhaber wirft sein Augenmerk aber auf die wichtigsten Profan- und Sakralbauten und den bedeutendsten Museen, also dem “Vienna Gloriosa”. Ein Stadtporträt, das die Stadtgeschichte in Daten und Besichtigungsvorschlägen für ein- und mehrtägige Aufenthalte in sich versammelt.

Vienna Gloriosa: barocke Moderne

Farbige Innenstadtpläne in den Umschlagklappen, zahlreichen Abbildungen, Stadtteilpläne, Grundrisse, ein Register sowie weiterführenden Literatur- und Internethinweisen zeichnen die neuen Reclam Städteführer aus. So auch dieser, der sich ganz Österreichs Hauptstadt widmet und sogar noch mit einem praktischen Farbleitsystem im Innenteil ausgestattet ist und so eine schnelle Übersicht ermöglicht. Die Autorin Hildegard Kretschmer, stammt zwar aus Salzburg, worüber sie bei Reclam auch einen Städteführer veröffentlichte, kennt sich aber in Wien genauso gut aus. Die Stadt, die einst nach ihrem Wienflussgerinnsel, der dieses Jahr während des Hochwassers erstmals zu einem reißenden Fluß wurde, benannt wurde, war einst ein römisches Militärlager, Vindobona, das eigentlich erst Bedeutung erhielt, als das Lösegeld für Richard Löwenherz in die Schatzkammer eintrudelte.

Stadterweiterung durch Lösegeld

Mit diesem Geld wurde die Stadt erweitert und ein Mauerring errichtet. Die Habsburger folgten auf ein kurzes Zwischenspiel der Böhmen und 1365 stiftete Rudolf IV. endlich eine Universität. Zu Vienna Gloriosa wurde Wien vor allem während des Barock. Eine Schrift von P. Ignatius Reiffenstuel SJ wurde so betitelt und zeigte das ruhmreiche Dörfl als Trutzburg des Katholizismus und der Gegenreformation. Selbst von der Französischen Revolution und Napoleon blieb die Wiener Bürgerschaft unbeeindruckt. Erst nach der Revolution von 1848 wandelte sich Wien schließlich endlich zur Großstadt, wie wir sie heute kennen.

Wien. Architektur und Kunst

Neben der Innenstadt zeigt Kretschmer aber auch die noblen Villenbezirke Hietzing, Währing, Döbling oder die Weindörfer Grinzing, Nussdorf und Heiligenstadt, die seit Ende des 19. Jahrhunderts zum Stadtgebiet gehören, da sie eingemeindet wurden. Seither hat Wien 23 Bezirke, die allesamt in vorliegendem Städteführer vorgestellt werden. Die Stadtgeschichte in Daten, dann ein Spaziergang durch die sog. Innere Stadt, die als einzige der 23 Bezirke keinen anderen Namen hat, wird gefolgt von einem Ausflug über die Ringstraße in den Dritten Bezirk, “Landstrasse”. Im Anhang befindet sich ein eigenes Kapitel zu den unzähligen Museen sowie praktische weiterführende Informationen mit Telefonnummern und Internetadressen. Der Reclam Städteführer hat in jeder Jackentasche platt und ist ideal für unterwegs und unentbehrlich für Architektur- und Kunstaficionados.

Von Hildegard Kretschmer
Reclams Städteführer Wien. Architektur und Kunst
4. durchges. und aktual. Auflage von Maximilian Hartmuth
2024, 220 S., 18 Farbabb., 10 Karten, Klappenbroschur. Format 9,6 × 14,8 cm
ISBN: 978-3-15-014632-3
Reclam Verlag
15,00 €


Genre: Stadtführer
Illustrated by Hildegard Kretschmer, Reclam Verlag

Newman: Bilder aus Amerika

Marvin E. Newman blickt auf das Amerika 1951-2023

Newman. Der vor einem Jahr verstorbene “Sports and Street Photographer”, wie ihn die New York Times in ihrem Nachruf vom September 21, 2023
nannte, huldigt in vorliegendem XL Bildband vor allem der Metropole New York, wo er 1927 auch geboren wurde. Newman wurde 95 Jahre alt.

Originelle Tableaus und neue Perspektiven

Als Straßenfotograf bezeichnet man einen Fotografen, der fähig ist auf die Impulse eines Moments adäquat zu reagieren und einen bestimmten Augenblick mit seiner Linse zu erhaschen. Rund 170 Fotos zeigen in vorliegendem Prachtband, dass Newman eine unbestechlich makellose Technik und einen Blick für Menschen in New Yorker Stadtansichten, Sportaufnahmen und Impressionen aus anderen Teilen der USA hatte. Die erste große Retrospektive der Karriere dieses bemerkenswerten Straßenfotografen, der außerhalb eines namhaften Sammler- und Galeriekreises weitgehend unentdeckt blieb. Lyle Rexer ist ein in New York ansässiger Schriftsteller, Kurator und Kunstkritker, der das Vorwort geschrieben hat. Herausgeber Reuel Golden, ehemaliger Chefredakteur des British Journal of Photography, ist Editor für Fotografie bei TASCHEN. Für TASCHEN hat er unter anderem den spektakulären Titel Mick Rock: The Rise of David Bowie herausgegeben.

Amerika 1951-2024: R.I.P.

Die beiden zeigen Marvin E. Newman, der bei Institutionen wie dem Eastman House, dem MoMA und dem International Photography Center einen exzellenten Ruf genoss, als Porträtisten der „Greatest City in the World“, New York City, vom Times Square bis zur Wall Street. Auch wenn der Fotograf am Chicagoer Institute of Design (Ex New Bauhaus Chicago) sein Studium (“Master of Science in Fotografie”) absolvierte, kehrte er doch gerne wieder in die Weltstadt zurück, um ihre Entwicklung zum Inbegriff des Weltkulturerbes und Kosmopolitismus fotografisch zu begleiten. Im Unterschied zu seinen Vorgängern wählte Newman erstmals die Farbfotografie als bevorzugtes Medium. Damit wollte Newman die lebendige Atmosphäre des grünen Apfels noch besser eingefangen, als dies zuvor schon gelungen war.

Newman: Bilder für Herz&Hirn

New ways of perceiving and representing reality“, sei die Aufgabe von Fotografie, wie es der Emigré László Moholy-Nagy, ein Lehrer Newmans ausdrückte. Ein Bild mit “Chicago South Side 1950” betitelt zeigt drei Kinder, ein schwarzes, ein weißes und in der Mitte eines mit Maske. Ein anderes die ganz in Schwarz gehüllte Jackie Kennedy neben ihrem Schwager Robert vor dem Sarg ihres Mannes. Die ersten Fotos zeigen seinen Studienort Chicago, dann Fotos aus seinen Sommern in New York, wo er etwa das San Gennaro Festival in Little Italy porträtierte. Der Strand von Coney Island 1953, wo Leute noch in Liegestühlen lagen, um sich zu bräunen, was heute nicht mehr möglich ist, war damals en vogue.

Newman’s Land: von New York nach Kalifornien

Die Lichtspiele des Broadways in Reflexion, darauf ein Spieltisch aus Las Vegas und ein Übergang zum Zirkus als Sujet. Sogar in Alaska hat Newman seine Kamera ausgepackt und die ersten Inuits fotografiert, was damals noch nicht oft passierte. Vom Heartland an die Wall Street zum Sport, wo auch einige Bilder des jungen Muhamed Ali gezeigt werden. Schließlich noch nach Kalifornien, das 1966 bereits als gelobtes Land gefeiert wurde. Wenn du zu Fuß gegangen wärst, hätten sie dich aufgehalten, schmunzelt Newman über die Motorisierung der damaligen Jugend. Aber auch die Schattenseiten lichtete Newman ab.

Newman: “it’s a crazy word to use…romantic”

Ein Besuch der Mustang Ranch für seinen Auftraggeber Look zeigt Prostituierte von ihrer romantischen Seite. Newman fiel auf, wie sie ihre Zimmer “it’s a crazy word to use…romantic” gestalteten oder vor einer Jukebox ohne Schuhe tanzten. Fotos des Times Square, der 42nd Street, schließt den Band ab: Jeder war nur dort, um zu sehen, was am Times Square so passiert. Originelle Tableaus und neue Perspektiven auf vertraute New Yorker Wahrzeichen aber auch Impressionen aus anderen Regionen der USA.

Impressionen Amerika 1951-2023

unter anderem aus Chicago und Kansas, von einem alten Zirkus aus den Fünfzigerjahren, aus einem Bordell in Reno Nevada, aus Las Vegas, Alaska und dem Kalifornien des 20. Jahrhunderts, sowie Aufnahmen aus seinem Sportfotografie-Portfolio mit Ikonen wie Cassius Clay und Pele werden in vorliegendem Band gezeigt. Ein Essay des Kritikers und Wissenschaftlers Lyle Rexer würdigt die erste chronologische Retrospektive eines herausragenden Talents und liefert denkwürdige Bilder für das Auge und viel Nahrung für das Gehirn . Bei TASCHEN ist auch “New York: Portrait of a City” von Newman erschienen.

Marvin E. Newman, Lyle Rexer, Reuel Golden
Marvin E. Newman
2024, Hardcover, XL (25 x 36 cm), 2.66 kg, 240 Seiten
ISBN 978-3-8365-9912-2
Ausgabe: Englisch
TASCHEN Verlag
€ 60


Genre: Amerika, Fotografie
Illustrated by Taschen Köln

Die Erstgeborenen: Wie sie ihre Kindheit den Geschwistern opfern

Die Erstgeborenen. Wer (ältere) Geschwister hat, wird das weitverbreitete Klischee kennen, dass diese es schwerer gehabt hätten. Wegen der Zeit, der Gesellschaft, der Eltern. Sie hätten vorgekämpft, wovon die jüngeren nun profitieren würden. Aber oft ist genau das Gegenteil der Fall: die Jüngeren müssen das Kreuz der Älteren tragen.

Auf dem Thron: der Erstgeborene

Der deutsche Psychologe, Psychoanalytiker und Schriftsteller Wolfgang Schmidbauer, Jahrgang 1941, ist ein Zweitgeborener. Als sein Bruder, der Erstgeborene, diese Welt verließ, begann sich der Autor mit dem Thema zu beschäftigen, das ihn offensichtlich auch mit 83 noch zu interessieren scheint. Wie so oft in seinen Büchern wird auch der vorliegende Text durch Fälle aus der Praxis des Therapeuten mit eigenen Erfahrungen angereichert. So entsteht ein komplexeres Bild einer ohnehin vielseitigen Situation, die sicherlich nicht immer gleich verläuft. “Der Eindruck, den das Geschehene auf mich gemacht hatte, mischte sich mit der aktuellen Trauer über Ernsts Tod. Jedenfalls traf mich der tragische Aspekt der Geschichte des Erstgeborenen wie ein Schlag. Ich war unschuldig und doch Täter. Ich hatte ihm etwas kaputt gemacht.” Da der Vater der beiden Söhne im Krieg gefallen war, wuchsen sie bei ihrer Mutter auf. In so einer Situation werden Erstgeborene oft in “die Rolle des Vorbilds gedrängt und geben sich dann auch Mühe, diese auszufüllen”, so Schmidbauer. Die Jüngeren würden dann oft als “ansprüchlich und undankbar” von den Älteren empfunden.

Böser Ackerbauer vs guter Hirte

Der eine teilt, der andere wählt. So hätten sie es als Kinder oft gehandhabt, wenn es etwa um das Teilen einer Schokolade ging: ersterer bemüht sich dann natürlich möglichst gleich und gerecht zu teilen, weil zweiterer sonst ja das größere Stück bekommt. Aber was, wenn der eine Ackerbauer ist, dem die Schafe des Hirten alles wegfressen? So geschehen BC als der Erstgeborene Kain genau deswegen seinen jüngeren Bruder Abel kurzerhand erschlug. Trotz der gemeinsamen Haltungen (“Sparsamkeit, Liebe zur Natur, Abneigung gegen Pathos und Geschwätz“) hätten die beiden Schmidbauer-Brüder als Erwachsene aber nie mehr richtig zusammen gefunden. Den Grund dafür zu finden mag auch eine Motivation gewesen sein, dieses Buch zu schreiben. Im dritten Kapitel, “animalische und narzisstische Dimension” betitelt, definiert der Autor den Begriff Wahrnehmung auf eine interessante Weise. “Wahrnehmung ist generell kein passiver Prozess, sondern ein aktives, schöpferisches Geschehen in dem wir Reize entlang unserer Erwartungen und Wünsche interpretieren“, in der Psychologie auch als Attribution bezeichnet. So bezeichnet sich der jüngere Sohn des britischen Königs als “spare“, Ersatzteil, der ältere als “heir“, Erbe. Aber diese Vorstellung stammt aus einer Zeit, als das Leben noch kurz und kriegerisch war. Heutzutage stehen wir vor ein gänzlich anderen Situation.

Aggression, Progression, Regression

Anhand des berühmten Briefes Kafkas an seinen Vater, Tolkiens Hobbit oder der Konflikte zwischen Sigmund Freud (ein Erstgeborener) und seinen Jüngern sowie Ludwig van Beethoven und Greta Thunberg exemplifiziert Schmidbauer, dass die familiäre Rolle auch große Auswirkungen auf das gesellschaftliche und soziale Auftreten einer Person haben. Wer aber immer voller Sanftmut alles richtig mache, keine eigene Bosheit kenne und sich vor seinen Mitmenschen fürchte, werde nicht glücklich, sondern depressive, schreibt Schmidbauer über die Aggression. Progression wiederum ist bei ihm die “Freude an der aktiven Bewältigung des Lebens” und Regression der kindliche Genuss der Abhängigkeit. Oft wird das eine erreicht, aber das andere ersehnt. Und was das Verhältnis der beiden Brüder betrifft, bleibt Schmidbauer bis zum Ende des Buches offenherzig und nachdenklich. Sicherlich eines der persönlichsten Bücher des großen Psychologen, der sich nicht länger den Kopf drüber zerbrechen möchte, warum etwas “nicht” passiert ist. Manchmal liegt zwischen einem Gedanken und seiner Ausführung eben ein ganzes Leben. Die Dynamiken zwischen Geschwistern sind oft sehr unterschiedlich und nur unter Umständen vergleichbar. Modelle wie “Der Erstgeborene” spielen dabei eine Rolle, aber sicher nicht die einzige. Die Lektüre von Schmidbauer ist wie immer eine äußerst inspirierende und bietet Raum zur Interpretation. Was übrigens, wenn die Erstgeborenen ihre Rolle gar nicht übernehmen wollen? Wie man an Kain sieht, sind das gar nicht so tolle Gesellen, diese Erstgeborenen…

Wolfgang Schmidbauer
Die Erstgeborenen: Wie sie ihre Kindheit den Geschwistern opfern
2024, Hardcover, 176 Seiten
ISBN-10 3987900555
Bonifatius Verlag
€ 18,5.-


Genre: Psychologie, Ratgeber
Illustrated by Bonifatius

Junge aus West-Berlin

Junge aus West-Berlin. Der Mauerfall ist auch schon wieder 35 Jahre her. Die Politik feierte sich selbst, aber wie war das damals eigentlich für die Menschen? Maxim Leo hat eine Liebesgeschichte geschrieben, die vor dem Systemwechsel beginnt und mit demselben endet. Marc und Nele erzählen abwechselnd
Was sie damals erlebten und die Illustratorin gibt ihren Gedanken Gestalt in inspirierenden Bildern.

Romeo/Julia zwischen West/ Ost

Das zudem Besondere an diesem 18. Band der Lieblingsbuch-reihe von Kat Menschik sind nicht nur die vierfarbigen Illustrationen, die Hoch- und Tiefprägung, der Farbschnitt und das Lesebändchen, sondern auch der alte, imprägnierte DDR-Stempel am Pappcover. Da werden Erinnerungen sogar haptisch wach, ein unglaubliches Erlebnis. Marc, der Junge aus West-Berlin, fährt an den Wochenenden gerne in den Osten. Dort ist er jemand, er fällt auf, weil er Geschenke wie Bücher, Platten, Musikzeitungen mitbringt und Dinge weiß, von denen keiner je etwas gehört hat. So lernt er auch Nele kennen mit der er Sartre liest, Weinbergschnecken isst und von Paris träumt. Eines versichert ihm Nele, dass “wir nie von München oder Hamburg geträumt haben. Dafür umso mehr von Montmartre, Picasso, der Provence und Alain Delon“. Auch wenn die Westdeutschen später etwas anderes behaupten würden. Nele zeigt Marc wie man in Ostberlin ganze Straßenzüge von Dach zu Dach springen konnte, über Flachdächer, auf denen man geradezu flanieren konnte, wie sie französisch betont. Über die Liebe zu Nele sagt Marc, dass er sehr schnell begann Vertrauen zu entwickeln, “In uns. Das mag vielen banal erscheinen, für mich war es revolutionär“. Aber als sich das Ende der Mauer abzeichnet, befürchtet er, dass sie ihn nicht mehr lieben wird, wenn sie herausfindet, dass er eigentlich ein Niemand ist. Denn er ist gar kein erfolgreicher Tourmanager, sondern ein einfacher Roadie. “Ich hatte das Gefühl, ohne meine Legenden, ohne diese Mauer, ein Niemand zu sein.” Also hofft er, dass alles so bleibt wie es ist. Doch dann kommt die Nacht der Nächte. Der Mauerfall. Nele bemerkt, dass sie schwanger ist, aber Marc ist verschwunden. Werden sie sich in den Wirren der politischen Ereignisse wiederfinden?

Junge aus West-Berlin in Not

Die herzzerreißende Liebes-geschichte zwischen Marc aus Westberlin und Nele aus Ostberlin wird voller Liebe und Hingabe erzählt und zeigt, dass es oft nicht die Worte sind, die einen verbinden, sondern das, was man spürt. “Möglicherweise hätten wir dieses tiefe Verständnis, das wir füreinander hatten, sogar aufs Spiel gesetzt, wenn wir versucht hätten, es mit Worten zu ergründen.” Der Sommer 1989 war auch der Sommer der Liebe zwischen Marc und Nele. Rebellion und Aufbruch überall, fröhlich-bunte Anarchie im grauen Schattenland diesseits der Mauer. Autor Maxim Leo und Kat Menschik verarbeiten in ihrem gemeinsamen Buch auch ähnliche Erfahrugen, die sie damals gemacht hatten. Maxim Leo ist 1970 in Ostberlin geboren und dort aufgewachsen. Er ist Journalist und Autor. Er hat zahlreiche Bestseller geschrieben, darunter seine autobiografischen Romane. Kat Menschik hat ihre Jugend wie Maxim Leo in Ostberlin verbracht und den Sommer 1989 in der Ostberliner Künstler- und Punkszene miterlebt. Heute ist sie namhafte Illustratorin. Verblüffend, dass sich die beiden damals gar nicht kennengelernt haben, meint Menschik, denn sie verkehrten in denselben Freundeskreisen und hatten ähnliche Interessen. PS: Das Mauergrau ist Absicht!

Maxim Leo, Kat Menschik
Junge aus West-Berlin. Mit Illustrationen von Kat Menschik
2024, 77 Seiten, vierfarbige Illustrationen, Hoch- und Tiefprägung, Farbschnitt, Lesebändchen
ISBN 978-3-86971-304-5
Galiani Berlin
23 € (D) / 23,70 € (A)


Genre: Kurzgeschichten und Erzählungen
Illustrated by Galiani

Die Glückseligen

Die Glückseligen. In insgesamt vier in ungleiche Längen unterteilte Kapitel erzählt Gustav Ernst die Geschichte von Ulrich und Rosanna, wobei letztere vielleicht gar nicht so heißt. Eine Satire voll bittersüßer Ironie, die die menschlichen Abgründe wie in Platons Höhlengleichnis hell ausleuchtet.

Surreale Groteske in Wiener Vorstadtvilla

Ulrich bekommt Freitag abends eine Einladung zu einer Geburtstagsfeier eines ehemaligen Schulfreundes. Aber da sie sich schon seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen haben ist er so unschlüssig, dass er erst im Taxi bemerkt, sein Handy vergessen zu haben. So kann er seine Frau Emma nicht informieren, aber es wird ja auch nicht so lange dauern, denkt er sich noch. Außerdem ist sie ja sowieso auf Kur. Nach Jahrzehnten als Angestellter rechnet er ohnehin mit seiner Kündigung und da kommt es ihm gerade recht, sich einfach mal so treiben zu lassen. Bei strömendem Regen steigt er in einem Wiener Randbezirk aus dem Taxi und betritt das Wohnhaus an der genannten Adresse. Schon beim Eingang verwickelt ihn ein Herr in ein Gespräch, der den Herrn Kohout, den Gastgeber gar nicht zu kennen scheint. Am Buffet sind auch andere Gäste sehr geschwätzig und Ulrich wundert sich über das üppig ausgefallene pompöse Fest, das er seinem alten Mitschüler gar nicht zugetraut hätte. “Denn sie müssen wissen, weinende Männer sind das Letzte” haucht ihm eine Dame zu und bevor es richtig hitzig wird, siedelt der “harte Kern” der Party in ein Hotel um. Oder ist es eine Villa? Ulrich versucht dort seine Rosanna wiederzufinden, die ihm jäh während eines Dialoges entrissen wurde. Vielleicht war da auch die Zunge im Spiel? “80 Millionen Bakterien werden beim Küssen getauscht, stäbchenförmige, kugelförmige, spiralförmige sowie alle möglichen Herpesviren, Myzel- und Hefepilze“, klärte Rosanna ihn zuvor noch auf. Ob er sie jetzt deswegen suchte? Oder wegen seiner Maxime: Nie Terrain aufgeben. (Eigentlich der Tipp eines 92-jährigen in der Villa.)

Eine Party mit den Glückseligen

Und dann gibt es da noch die Dame mit Korallenhalskette, den Herr Knobloch und am Ende den Eric. Alle schweifen sie ziellos auf den Gängen dieser Villa umher, wo sie sich doch eigentlich schon stapeln. Ein Gast vergibt sogar Wartenummern, weil sich vor der Villa eine Warteschlange bildet. Nicht einmal bei Peter Sellars “Partyschreck“-Party ging es so zu. Aber wie sagt Rosanna so schön: “Nur als lebenslanger Künstler kann man wirklich ein Künstler sein.” Auch wenn der Gastgeber sich nicht blicken lässt, wird die Pointe am Ende doch überraschend und mit Understatement serviert. Gustav Ernst hat einen unterhaltsamen Roman voller pointierter Dialoge und Schlüpfrigkeiten geschrieben, der einerseits abstrus verwirrend, andererseits die menschliche Tragikomödie so treffend abbildet, dass es über 250 Seiten beinahe keine Verschnaufpause gibt, wären da nicht die leeren Seiten der Kapitelunterteilungen. Es wird nicht jedem gefallen wie der Autor seine männlichen Protagonisten über die Frauen sprechen lässt oder sexuelle Vorlieben ausplaudern, aber auch die Frauen sind ähnlich vulgär, schließlich bleiben sie sich nichts schuldig. Die dekadente Gesellschaft der “Glückseligen” hat nichts zu verlieren, denn sie haben bereits alles gewonnen. Das Leben ist ein unendlicher Monolog in dem sie ihren Ennui auf Partys zudröhnen, wo keiner dem anderen zuhört. Ulrich mag da eine Ausnahme sein. Denn er hört Rosanna sehr gerne zu. Vielleicht sogar etwas zu gerne, für einen verheirateten Mann.

Unentbehrlich ehrlich

Der Autor spricht von einer “inneren Dystopie“, wen er über seinen rasanten und doch sehr schonungslos erzählten Roman resümiert. Drastik und Realitätstreue sind nicht unbedingt widersprüchliche Stilmittel, wenn sie genau den Zweck erreichen. Die Glückseligen tanzen ihren Tango, ohne Umarmungen. Denn jeder ist nur mit sich selbst beschäftigt. Oder mit seiner Selbstdarstellung. Ulrich wirkt dabei wie der Elefant in der zitierten Blake Edwards Party-Komödie, fehl am Platz, aber unentbehrlich ehrlich.

Gustav Ernst
Die Glückseligen
2024, 240 Seiten, gebunden
ISBN 978-3-85449-659-5
Sonderzahl Verlag
€25,00


Genre: Humor und Satire, Roman
Illustrated by Sonderzahl

A Vicious Circle – Ein Teufelskreis 1/3

A Vicious Circle: Die neue Serie von Lee Bermejo (Batman Damned) im Album-Format und Autor Mattson Tomlin (“The Batman”) spielt in der Kreidezeit, im Tokio des 22. Jahrhunderts und dem New Orleans der 1950er, also auf verschiedenen Zeitebenen. Denn jedesmal wenn  Shawn Thacker, eine Attentäter aus der Zukunft, jemanden tötet verschlägt es ihn in ein anderes Jahrhundert.

Attentate in Zeitreisen

Shawn Thacker sinnt auf Rache an dem Mann, der ihm näher ist als alle anderen. Beide Männer verwickeln sich in einen Kampf auf Leben und Tod, der sich anschickt, den Lauf der Geschichte zu verändern. Im ersten Albumband wird die Zeit der Bürgerrechtsbewegung thematisiert, als ein Teil der amerikanischen Bevölkerung für ihre bloße Hautfarbe gehasst wurde. Die Zeichnungen sind sehr dokumentarisch und fotografisch, in S/W und erzählen von einer dunklen Zeit als das Leben eines Bürgers nichts wert war. Aber dann passiert etwas Schreckliches, dass den Protagonisten in die Zukunft schleudert, die sich in Farbe abspielt. “Willst du in bessere Zeiten zurück? Die guten alten Tage?“, trägt ihn ein computeranimiertes Schulmädchen-Manga. “Das war vor Jahren, oder liegt Jahre in der Zukunft. Ich hab den Überblick verloren.

A Vicious Circle: Artwork und Stildiversität

A Vicious Circle bewegt sich auf verschiedenen Leseebenen. In einem Interview im Anhang erzählt Lee Bermejo, wie er seinen Autor fand. Mattson hatte in seinen Posts auf insta hervorragende Einzelbilder von Filmen geteilt, die auch Lee liebt. Sein gutes Auge für Momente und Kompositionen sorgte für die Annäherung der beiden schon während der Pandemie. Damals beschlossen sie schon, etwas gemeinsam auf die Beine zu stellen. Was sich nun in den vorliegenden drei Bänden realisierte ist die Geschichte von Thacker, die sich im Laufe der drei Alben zu Ferris verschiebt. So viel darf – was den Plot angeht – verraten werden. Allerdings ist das Artwork und die Zeichnungen an sich schon so bestechend, dass es gar keines genauen Plot bedarf, um schon nach Band 1 zu wissen, dass sich diese Geschichte noch zu einem echten Highlight der bisherigen Comicgeschichte entwicklen wird. Dazu reicht schon ein Blick auf die Verlagsseite von Panini. Die einzelnen Jahrhunderte oder manchmal Jahrzehnte werden in jeweils unterschiedlichen Stilen präsentiert und sorgen so für maximale Diversität und superdiverse Abenteuerdichte.
Mattson Tomlin/Lee Bermejo
Original Storys: A Vicious Circle 1
2024, Hardcover, 60 Seiten, Album Format mit den Maßen ca. 21 x 32 cm
ISBN:  9783741638206
Panini
16,00 €

Genre: Comic
Illustrated by Panini Comics

Sacred Sites

Sacred Sites. Die Reihe “Bibliothek der Esoterik”, die im TASCHEN Verlag verlegt wird, präsentiert “Orte der Andacht. Eine visuelle Erkundung der bedeutendsten Kultstätten“. Sacred Sites widmet sich dem menschlichen Bedürfnis nach Spiritualität durch eine visuelle Pilgerreise zu Bergen, Pyramiden oder Kathedralen. Mit vielen Essays, Interviews und mehr als 400 Bildern werden heilige Orte besucht. Darunter antike Tempel ebenso wie moderne Werke der Land Art.

Sakrale Geometrie und Architektur

Jessica Hundley, Autorin, Filmemacherin und Journalistin, erkundet in vorliegender Publikation Themen der Counterculture mit einem Fokus auf die metaphysischen, psychodelischen und magischen Aspekte. Hundley hat schon für die Vogue, Rolling Stone und die New York Times geschrieben, aber auch schon Bücher über Künstler wie Dennis Hopper, David Lynch und Gram Parsons veröffentlicht. Für Sacred Sites bekam sie Zugang zu Privatsammlungen, Bibliotheken und Museen aus aller Welt, die ihr Exponate zur Verfügung stellten. Werke der Moderne ebenso wie Archivbilder dokumentieren das Streben nach einem spirituellen Zugang zu unserer Welt, dem man natürlich auch durch (Tag-)Träume und Albträume auf die Spur kommen kann, um sich so selbst in Beziehung zum Göttlichen zu setzen.

Library of Esoterica: Sacred Sites

Faszinierend ist auch die Übereinstimmung vieler sakraler Gegenstände in den unterschiedlichsten Kulturen. So kommen etwa die Pyramiden, Monumente für eine Vielzahl von Göttern, sowohl in Afrika als auch Südamerika vor. Eine kosmische, sakrale Geometrie und Architektur ist aber auch in den marmornen Heiligtümern, die für die griechischen und römischen Göttinnen erbaut wurden, zu finden. Ebenso in windgepeitschten Bergklöstern des alten Asiens und in den Felsenwohnungen der Ureinwohner des amerikanischen Südwestens. Natur, Kunst, Schönheit stehen im Zentrum des fünften Bands der TASCHEN Reihe “Library of Esoterica” und zeichnet sich durch eine ästhetische sowie essayistische Annäherungsweise aus.

Ein spiritueller Ort des Rückzugs für jedermann

Your sacred space“, meinte Joseph Campbell in seinen Reflections on the Art of Living 1993, “is where you can find yourself again and again. You really don’t have a sacred space, a rescue land, until you find somewhere to be that’s not a wasteland, some field of action where there is a spring of ambrosia – a joy that comes from inside, not something external that puts joy into you – a place that lets you experience your own will and your own intention and your own wish so that, in small, the Kingdom is there. I think everybody, whether they know it or not, is in need of such a place.” Wer sich – zumindest auf den Seiten dieses Buches – auf eine spirituelle Reise zu Heiligen Stätten durch die Kontinente und Jahrhunderte begeben möchte, wird vielleicht sogar einen Hinweis finden, wo er/sie sich selbst so einen heiligen Raum einrichten könnte.

Spirituelle Inspiration aus der Welt

Für Inspiration sorgt die vorliegende reich bebilderte Publikation, die zu den Pyramiden Ägyptens ebenso führt wie nach Stonehenge oder ins mythische Indien. Die rätselhaften Nazca Lines werden besucht und abgebildet und interessante Texte erklären die Zusammenhänge. Faszinierende Orte, die es entweder tatsächlich gibt oder von der Fantasie eines Menschen erschaffen wurden. Jessica Hundley hat sich schon durch viele andere Publikationen beim TASCHEN Verlag profiliert und steht für gleich bleibende Qualität. Eine spirituelle Reise zu alten Kulturen und jenen Resten davon, die in jedem von uns noch vorhanden sind.

Jessica Hundley
Sacred Sites. The Library of Esoterica
2024, Hardcover, quarterbound, 17 x 24 cm, 1.77 kg, 520 Seiten
ISBN 978-3-8365-9060-0
TASCHEN
€ 30


Genre: Esoterik und Grenzwissenschaften, Sachbuch Esoterik
Illustrated by Taschen Köln

Set the Night on Fire

Set the Night on Fire. 1965, Venice Beach, California: vier illustre Gestalten gründen eine der aufsehenerregendsten Bands der Sechziger. Vor allem ihr Leadsänger Jim Morrison zieht die Aufmerksamkeit der sensationsgeilen Medien auf sich. 1967 ihr erster Durchbruch mit der Number 1 Hit Single Light My Fire. Geschrieben hat diesen Song Robby Krieger, der Gitarrist, der in vorliegender Autobiographie seine Sicht der Dinge darlegt.

Set the Night on Fire!

Nach den Autobiographien von Ray Manzarek und John Densmore, den beiden anderen Gründungsmitgliedern, ist nun auch mit großem zeitlichen Abstand auch Robby Kriegers Lebensbeichte erschienen. Denn es geht bei weitem nicht nur um die Doors, in seiner Autobiographie, Robby hatte auch ein Leben außerhalb und nach den Doors. Denn 1969, nur vier Jahre nach der Gründung der Band, war eigentlich alles schon wieder vorbei. Der Miami-Vorfall hatte die Band an den Rand ihrer Existenz gebracht und Jim Morrison wäre eventuell sogar im Gefängnis gelandet, wäre er nicht noch vor Prozessende am 3. Juli 1971 in Paris an einem Herzinfarkt in der Badewanne gestorben. Oder war es doch das Heroin, das seine Freundin und Langzeitlebensgefährtin Pamela Courson ihm verabreichte? Robby Krieger hält nicht hinter dem Berg, dass auch er die fatale Droge damals konsumierte. Genauso wie Kokain, Marihuana und LSD. Letztere, die sog. bewusstseinserweiternde Droge, war bei Gründung der Doors sogar noch legal. Alle hatten es damals probiert.

It was the sixties, man!

Für Jim Morrison war es laut Robby Krieger nur eine Möglichkeit seine Grenzen zu testen. Meistens testete er seine Grenzen aber an seinen Bandenmitgliedern, wie Robby verschmitzt bemerkt. “The worst hair in Rock’n’Roll” lautet seine bescheidene, selbstironische Selbstbeschreibung. Immerhin hatte Robby die größten Hits der Doors geschrieben, seinen süffisanten Humor beweist er auch in seiner Autobiographie. Etwa wenn er erzählt, dass es “Light My Fire” – immerhin der größte Hit der Doors – niemals ohne die Coverversion von José Feliciano “in den Orbit” geschafft hätte. Offene Worte findet Robby auch über seinen Zwillingsbruder Ronny, seine Eltern oder seine Beziehungen: “Or when I contracted crabs (Filzläuse, AP). What can I say? It was the sixties, man.”

Ship of Fools

Die Struktur von Robbys Doors Narrativ richtet sich lose nach den Studioalben der Band. Aber er öffnet auch den Zugang zu seinem öffentlichen und privaten Leben in Rückblenden und Meditationen zwischen dem Hier und Jetzt. Große Genugtuung brachten ihm die Tourneen der Doors nach Jims Tod, denn Robby spielte in den verschiedensten Formationen, u.a. auch mit Ray Manzarek in The Doors of the 21st Century mit Ian Ashbury (The Cult) als Morrison-Inkarnation. Allerdings brachten diesen Auftritte auch John Densmore und die Coursons und Morrisons auf den Plan, die das “Erbe der Doors” schützen wollten und Klage einreichten. Legal Battles waren die Folge, die vielleicht länger in Erinnerung bleiben als die guten Zeiten, die sie miteinander verbrachten. Aber spitzbübisch wie er nun einmal ist managte er auch diese eingefahrene Situation. So wie die Konzerte: Sie hätten nie mit einer Set List gespielt, erzählt Robby, denn das heute dem Konzert die Spontanität genommen und die Beziehung zwischen Band und Publikum zerstört.

Trauma Hochschaubahn

Was Oliver Stone in seinem Film aus Jim gemacht hätte? “He came across as a pretentious, obnoxious, stupid Druck who was a dick to everyone around him”, aber Jim war eher so: “He was a funny, and shy, and when he was out of line he knew it, and he was sorry. He hat a way of making everyone who mit him feel like he was their best friend.” Seine Zeit mit Jim Morrison bezeichnet er als “six year roller coaster ride“, und beschreibt die Zeit nach der Achterbahnfahrt dann so: “It was full of loops and corkscrew turns and Drops that suspended laws of gravity. We needed a Moment for our heart Rates to return to normal“. Man merkt trotz allem Humor und der vielen anderen Geschichten, dass Robby immer noch im Bann der Doors steht und irgendwie unter dem Schock des Verlusts. Man stelle sich vor, dass der wichtigste Mensch im Leben einfach von einem zum andern Tag verschwindet: “There was no one last Drink. There was no one last meal. A few days later he was just gone.” Erst nach Paris, dann in den Orbit.

To me, its value lies in what it inspired“, meint Robby über seine verschollene Gibson SG mit der er Light My Fire komponiert hatte. Vielleicht gilt das auch für das Werk, das die Doors hinterlassen haben.

Robby Krieger
Set the Night on Fire
Living, Dying and Playing Guitar with the Doors
2021, 432 Seiten, 196 x 128mm
ISBN-13 978-1-4746-2418-3
White Rabbit Publishing
€ 20.-


Genre: Autobiografie, Kunst, Musik und Literatur, Sechziger
Illustrated by White Rabbit Publishing

Blutorangen – Eine Reise zu den Zitrusfrüchten Italiens

Blutorangen. Der Gastrosoph Peter Peter glänzte schon durch eine prämierte Kulturgeschichte der italienischen Küche sowie Literaturguides zu Sizilien und Neapel. In seinem neuen Werk, Blutorangen, widmet er sich ganz der wichtigsten Frucht des Südens: der Zitrone.

Kulturgeschichte der Blutorangen und Zitronen

Schon Goethe assoziierte mit Italien “das Land in dem die Zitronen blühen”. Aber es war nicht nur die Zitrone, sondern eine Vielzahl an Zitrusfrüchten, die ihm damals begegneten: Zitronen, Mandarinen, Blutorangen, Bergamotten, Pomeranzen, Zitronatzitronen. Kurz auch als “Agrumen” bezeichnet, vom lateinischen “acer” für „scharf, herb, sauer“, dabei sind Zitrusfrüchte alles andere als nur das. Peter Peter zeigt uns in seiner kulinarischen Kulturgeschichte, dass das Wort für Orange aus dem Sanskrit Naranga stammt und selbst Apfelsine sich auf den Orient bezieht. Der “Apfel aus China“, die Apfelsine, stammt vermutlich aus dem Himalaya, Burma oder dem südchinesischen Yunnan und vielleicht hat wirklich Marco Polo sie von dort mitgebracht. Aber schon in Pompejis Wandfresken waren Zitrusfrüchte abgebildet, somit kannten sie auch schon die alten Römer. Interessant für Züchter ist die Tatsache, dass Zitrusbäume Selbstbestäuber sind und “nicht unbedingt auf die Hilfe von Bienen angewiesen sind“, so Peter. Die ersten Zitronen der italienischen Halbinsel dürften im 10. Jahrhundert in Amalfi geerntet worden sein, die Seerepublik hatte eben privilegierte Orientbeziehungen, also noch lange vor Marco Polo über Zitronen verfügt. Da Zitronen aufgrund ihres Vitamin C Gehalts gut gegen Skorbut sind, verzeichnete die Frucht einen grandiosen Aufstieg im Europa der Seefahrt in den kommenden Jahrhunderten. Aber auch für arme Leute war die Zitrone nichts weniger als das Versprechen auf das Paradies: “Qui tocca anche a noi poveri la nostra parte di ricchezza. Ed è l’odore dei limoni“, wie es in einem zitierten Gedicht von Eugenio Montale heißt. Wer dabei an Limoncello denkt liegt auch nicht ganz falsch.

Allheilmittel Zitrone

Wenn Lucio Battisti seiner Geliebten verspricht, dass in seiner Brust eine Zitrone schlägt (“batte in me un limone giallo, basta spremerlo“) und damit unweigerlich die Aufforderung es auszupressen (spremerlo) verbunden wird oder Paolo Conto in seinem Chanson “gelato al limon” verspricht, dass Liebe keine Sache des Geldbeutels sei, wird auch den etwas weiter nördlich Geborenen unweigerlich klar, dass die Zitrone mehr ist als nur eine Frucht. Schon in Zeiten der Pest wurden ihr heilsame Fähigkeiten zugesprochen, weswegen die Dottori mit der langen Nase der Commedia dell’Arte stets getrocknete Exemplare darin aufbewahrten. Auch in unserem Jahrhundert wuchs der Verkauf der Zitrone ums Doppelte, da viele glaubten, die Zitrone helfe auch gegen Corona. Aber genug der Theorie, die Gelateria Mario Campanella im apulischen Badestädtchen Polignano a Mare kredenzt einen Caffè Speciale, den man sich nicht entgehen lassen sollte: er enthält Zesten (sehr feine Streifen der Schale einer Zitrusfrucht) von Zitronen und gilt als Hinweis, wie vielseitig verwendbar die Zitrusfrüchte doch sind. Das zeigen auch 12 Rezepte, die Peter Peter feinsinngerweise zusammengestellt hat und hier sogar mit Fotos präsentiert.

Zum Nachkochen dringend empfohlen! (Auch das Rezept für einen zünftigen Limoncello ist dabei.) Natürlich erfährt der Leser auch woher die besten Zitronen kommen und was ihre Unterschiede sind. Ob Gardasee oder Kalabrien, jede Region hat ihre eigenen Vorzüge und Zitronen, darauf spielt auch die Beuyssche Capri-Batterie an.

Peter Peter
Blutorangen
Eine Reise zu den Zitrusfrüchten Italiens
2024, SALTO [285], 144 Seiten, rotes Leinen, fadengeheftet
ISBN 978-3-8031-1384-9
Wagenbach Verlag
22,– €


Genre: Kulturgeschichte