Peter Handke – Ein Langzeitportrait 1975-2024

2019 gewann der scheue, österreichische Dichter und Schriftsteller de Literaturnobelpreis. Einige Berichte zeigten den sprachlosen verstörten Dichter in seinem neuen Heim in Chaville bei Paris, wo er mehr oder weniger seit den 1990er Jahren lebt.

Fotos des jungen und weisen Schriftstellers

Über 50 Jahre hat die Fotografin Isolde Ohlbaum den Schriftsteller Peter Handke nun schon begleitet. Zum Jubiläum des Verlages schickte sie dem Verleger 500 Fotos aus denen er die vorliegenden 150 Photographien auswählte. Entstanden ist eine Art Photoessay, eine Biographie in Bildern, denn wir bekommen sowohl den ganz jungen Handke im Teatro Romano in Tusculum/Italien als auch den doch schon etwas gealterten Handke (geb. 1942 in Griffen, Kärnten) in Chaville zu sehen, wie er die Muscheln auf seinem Schreibtisch ordnet. Eine derartige Künstlerbiographie ist einzigartig, gibt es doch nicht viele Freundschaften, die über so viele Jahrzehnte kontinuierlich bestehen bleibt. So eine Langzeitbeobachtung einer öffentlichen Person, wie Isolde Ohlbaum sie erarbeitet hat, ist der Geschichte der Photographie wahrscheinlich sogar einmalig. Viele der Photographien sind in einer Art Reisemodus entstanden, im Kontext von Lesungen, Verlagsausflügen, Dichtertreffs, Geburtstagfeiern oder Literaturpreisen wie dem Petrarca-Preis. Wir erleben somit auch ein Porträt lebendigen literarischen Lebens in ungewöhnlicher Dichte, wie es einem Schriftsteller und Nobelpreisträger wohl mehr als würdig ist, denn schließlich hatten auch die Leute um ihn herum einen Einfluss auf seinen späteren Erfolg. Es kommen also auch viele Dichterfreunde ins Bild, und natürlich auch der Stifter des Petrarca-Preises, Hubert Burda oder auf einem Bild sogar Ohlbaum selbst.

Der König im Exil – photobiographisch besucht

In Chaville bei Paris lebt Peter Handke in einem Haus mit verwunschenem Garten, der durch die Fotografien Ohlbaums so auch öffentlich einsehbar wird. Hier hat der Dichter zur Literatur gewordener Spaziergänge verfasst und seinen Hort kreativen Schaffens zwischen Vogelfedern, Schneckenhäusern, Bücherbergen und eigenhändig bestickten Fauteuils eingerichtet. Zusätzlich zu den beeindruckenden Photographien glänzt der vorliegende Band zusätzlich durch Zitate aus Werken und Interviews von Peter Handke, die von Isolde Ohlbaum ausgewählt wurden und mit einem Vorwort des Filmemachers Frank Wierke ergänzt sind. Die Fotografin und Herausgeberin des vorliegenden Fotobandes übergibt übrigens noch dieses Jahr, Ende 2025, ihr Archiv der Photosammlung der Bayerischen Staatsbibliothek München zur Aufbewahrung und weiteren Betreuung. Peter Handke kommt nur mehr für seltene Arztbesuche nach Österreich und verbringt sein Leben in Chaville, weil – wie er einer österreichischen Tageszeitung offenbarte – „Chaville eine versteckte Stadt am Rand der Städte ist … Aber wo ich bin: Das gehört zu niemandem. … Die Wälder sind viel schöner …“. Es sei der perfekte Rückzugsort für einen Dichter: drei Minuten zur Bahnstation, fünf Minuten zum Wald, um dort ungestört zu schreiben und stets in greifbarer Nähe seines ideellen Sehnsuchtsorts: Paris. Der Verlag selbst nennt diese neue Art der Photobiographie übrigens einen „photobiografischen Roman“. Vielleicht der Auftakt zu einer neuen Reihe?

Isolde Ohlbaum
Peter Handke – Ein Langzeitportrait 1975-2024
mit 150 Photographien von Isolde Ohlbaum, einem Vorwort von Frank Wierke
und Zitaten aus Werken und Interviews von Peter Handke 248 Seiten, 152 teils farbige Abbildungen
ISBN 978-3-8296-1034-6
Schirmer/Mosel Verlag
€ 39,80 € (Ö) 41,- CHF 45,80


Genre: Bildbiographie, Biographie, Fotografie
Illustrated by schirmer/mosel

Italienische Paläste in Nord- und Süditalien

Italienische Paläste. Der 1953 in Florenz geborene Fotograf Massimo Listri weiß, was Schönheit heißt. Er hat bereits über (!) 70 Fotobände veröffentlicht und stellt seine Werke weltweit aus. In “Palazzi italiani”, das in einer mehrsprachigen Ausgabe bei TASCHEN erschienen ist entführt er die Kulturbegeisterten in die schönsten Bibliotheken der Welt. Und das in XXL.

Identifikationsorte des Adels und Bürgertums

Von Mailand im Norden bis Palermo im Süden reicht diese prächtige Publikation, die die Paläste des wohl schönsten Landes der Welt vorstellt. Zu einer Definition von “Palast” in Abgrenzung zu Haus, Villa oder Burg erklärt Robert Stalla in seiner lehrreichen Einführung zu vorliegender Publikation, dass das Wort eigentlich auf den Palatin, den Hügel der Regierung im Alten Rom zurückgeht. Palatin, Palladium, Palazzo bezeichnete “in prominenten Lagen stehende, monumentale die Umgebung dominierende Baukomplexe”, so Stalla. Häufig waren diese Vierflügelanlagen frei stehend, mit großen prachtvollen Innenhöfen, aufwendiger Gliederung sowie erlesenem Interieur. Die vorliegende Publikation ermöglicht es nunmehr, die Palazzi nicht nur von außen zu bewundern, sondern sie auch zu betreten und ihr Inneres zu bestaunen.

Kommunale Paläste in der Renaissance

Die Anfänge der Palazzi wurden von den mittelalterlichen Kommunalpalästen in Florenz und Siena gemacht, die als kommunale Identifikationsorte Sinnbilder der Staatsmacht verkörperten. Anfangs wurden diese ebenso wie die Kirchen mit Türmen ausgestaltet, die ebenbürtig mit diesen, das klassische Stadtbild der Renaissance zu prägen begannen. Siena hatte sogar eine behördliche Anordnung, dass kein Kirchturm jenen des Rathauses überragen durfte. Die Wandmalereien in diesen Palästen waren oft Propagandainstrumente des Narrativs des vorherrschenden Adels- oder Bürgergeschlechts. Im berühmten Florentiner Palazzo Vecchio ritterten etwa Leonardo da Vinci (1452-1519) und Michelangelo (1475-1564) quasi gleichzeitig und die Ausgestaltung der imposanten Deckengemälde.

Italienische Paläste von Nord- bis Süditalien

Der Geschäftsmann Cosimo de Medici (1389-1446), dessen Familie die Geschicke Florenzs für 300 Jahre lenkte, versammelte eine Künstlergruppe, die die Idee der “Rinascità”, der Wiedergeburt der Antike, propagierte. Als Humanist wollte Cosimo die Kunst in all ihren Erscheinungsformen – auch Architektur – fördern. Neben Venedig war auch Genua eine der vier mächtigsten Seerepubliken, die vor allem durch die 1407 gegründete Banca di San Giorgio den anderen drei den Rang ablief. Wie Niccolò Macchiavelli (1469-1527) es ausdrückte sah er in der Bank die dominierende politische Institution Genuas, mit der die Stadt “sogar Venedig überlegen sei”, so Roberto Stalla in seiner Einführung.

Vom Veneto bis Sizilien

Die Bank finanzierte 163 Palazzi in Genua, die auch als Unterkünfte für Staatsgäste eine repräsentative Funktion hatten. Ein Sonderstellung im italienischen Palastbau hatte übrigens Andrea Palladio (1508-1580) inne. Seine Bauten in Venedig waren zwar nur sakraler Natur, die Palazzi im Veneto jedoch zeigen ein deutlich anderes Gesicht. 1577 hatte derselbe Palladio den Vorschlag gemacht, den nach einem Brand beschädigten Dogenpalast gänzlich abzureißen. Aber damit hatte er sich wohl nicht sonderlich beliebt gemacht. Die vorliegende Publikation folgt den italienischen Palästen bis ans Ende des Stiefels und zeigt in bisher nie veröffentlichten Fotografien das ganze Spektrum der Prachtentfaltung des italienischen Bürgertums und Adels.

Viele Details in Großaufnahme

Eigene Exkurse zu einzelnen Palazzi in Venedig oder Mantova et al ergänzen die Ausführungen Stallas im Vorwort und gehen auf weitere Details des jeweiligen Bauwerks ein. So erfahren wir etwa über den Palazzo Ducale, den Dogenpalast, dass er auf einer Grundfläche von 75×100 Metern steht und an San Marco angrenzt und somit das politische und das religiöse Zentrum der Stadt eine Einheit bildeten. Beim Brand 1577 gingen sämtliche Gemälde von Giovanni Bellini, Vittore Carpaccio und Tizian verloren und Tintoretto und Veronese ersetzten die vorangegangenen Meisterwerke. Massimo Listri hat bei TASCHEN auch “The World’s Most Beautiful Libraries” publiziert. Listris Fotografien in “Palazzi” zeigen die schönsten architektonischen Details und vermitteln die einzigartige Atmosphäre der italienischen Paläste.

Massimo Listri
Italian Palaces
Ausgabe: Mehrsprachig (Deutsch, Englisch, Französisch)
2025, Hardcover, XXL, 29 x 39.5 cm, 7.54 kg, 640 Seiten
ISBN 978-3-8365-9693-0
Taschen Verlag
€ 175


Genre: Bildband, Fotografie
Illustrated by Taschen Köln

Mystique. Auf der Jagd

Mystique. Auf der Jagd

Autor und Zeichner Declan Shalvey präsentiert in vorliegendem Band die komplette Spionage-Miniserie mit der bekannten Gestaltwandlerin. Mystique trat erstmals in einem Ms. Marvel Comic vom April 1978, #16, auf und ist seither nicht mehr aus der Marvel Comic Welt wegzudenken. Denn wie man weiß, kann sie vielerlei Gestalten annehmen. Mit dabei: Nick Fury, der sein Bestes tut, Mystique zu jagen.

Vom Jagen der Jäger

Mystique hatte auch schon in einigen X-Men-Kinofilmen ihre Auftritte. Sie wurde schon von Rebecca Romijn und von Jennifer Lawrence verkörpert. Ihre charakteristischen Merkmale wie blaue Hautärzte Haare und gelbe Augen machen sie zur wohl exotischsten Mutantin des Marvel Multiversums. Als Raven Darkholme ist sie besonders gut im Nahkampf, weiß aber auch mit diversen Waffen umzugehen. Als Ziehmutter von Rogue und leiblicher Mutter von Nightcrawler sowie des Präsidentschaftskandidaten Graydon Creed hat sie auch Verantwortung. Mystique ist eine brillante Hackerin und war Anführerin der zweiten Inkarnation der „Bruderschaft der bösen Mutanten“ (Brotherhood of Evil Mutants). Diese führte später auch für die US-Regierung als Spezialeingreiftruppe unter dem Namen Freedom Force Einsätze durch. In vorliegender Spionage-Miniserie von Autor und Zeichner Declan Shalvey (Moon Knight, Deadpool) als deutsche Erstveröffentlichung attackiert Mystique ein Black-Operation-Team in Frankfurt, was den tief gefallenen SHIELD-Agenten Nick Fury auf den Plan ruft. Nick Fury Jr. ist nämlich an einen einfachen Schreibtisch-Job gebunden. Doch als sein Vater Nick Fury Sr. auftaucht und ihm eine Akte zu Mystique zuspielt beginnt er, den Vorfall in Frankfurt zu untersuchen. Seine Recherchen führen ihn bald zu Ravens Frau Irine Adler aka Destiny, die er nun als Köder für Mystique benutzt.

Die mystische Comic-Figur Mystique

Nach dem Untergang Krakoas wurden die Karten der Geheimdienste neu gemischt und Mystique machte sich in Frankfurt auf die Jagd nach dem mysteriösen Protozoa-Programm. Das Black-Ops-Team rund um Maverick wurde dort aktiv, um einen gefährlichen Mutanten, Sabretooth, auszuschalten. Als Mystique, die die Mission schon längst manipuliert hat, auf den Plan tritt, geht sie über Leichen, denn sie will alles über Protozoa wissen. In “Mystique. Auf der Jagd” zeigt die blaue Gestaltwandlerin Raven Darkholme, dass einem nicht fad werden muss, wenn man verheiratet ist. Vor allem wenn die Braut noch dazu Destiny heißt. Die Mutant:innen, die von der Insel Krakoa aus operierten, brauchen nun ein neues Zuhause, aber sie befinden sich auf der Fahndungsliste von SHIELD, das seinerseits von Hydra unterwandert wurde. Dass Nick Fury und Mystique in vorliegendem Abenteuer so heftig aufeinanderprallen ist den exzellenten wenn auch etwas zu blassen Zeichnungen und der packenden Story zu verdanken. Keine Gegner waren wohl jemals kontroversieller. Außerdem mit dabei: Magneto, Destiny, Fabian Cortez, Maverick und Avalanche. Aber das Beste kommt noch. Ihren gemeinsamen Sohn Nightcrawler, also von Destiny und Mystique, soll letztere in einer ihrer männlichen Formen gezeugt haben. Und das im Alter von bereits mehr als 100 Jahren! Was beweist, wie unnütz Männer im 21. Jahrhundert doch schon geworden sind. Als Anti-Heldin ist Mystique vielleicht nicht unbedingt als weibliche Identifikationsfigur geeignet, jedoch kann man sie sicherlich als bemerkenswerte und starke Mutantin bezeichnen, der sicherlich noch eine blühende Zukunft bevorsteht. Im Film. Und im Comic!

Declan Shalvey
Mystique. Auf der Jagd
(Original Storys: Mystique (2024) 1-5)
2025, Klebebindung, 17X26cm, 128 Seiten,
ISBN: 9783741644924
Panini Comics
17,00 €


Genre: Comic
Illustrated by Panini Comics

Batmans grösste Gegner

Batmans grösste Gegner

Scarecrow, Two-Face, der Pinguin, Catwoman und der Joker gehören wohl zu den größten Feinden des Dark Knight. Zumindest was die Vintage-Zeit betrifft, in der diese bunten Geschichten erschienen sind. Zudem gibt eine Diorama-Zeichnung mit einem Einblick ins Innere der Bat-Höhle Aufschlüsse über den Lebensstil der berühmten Fledermaus. Aber auch weiteres Zusatzmaterial wie Detailaufnahmen des famosen Bat-Gürtels verraten einige der Geheimnisse, die seine größten Gegner besser nicht wissen sollten.

Vintage in XL-Format

Neben den klassischen Zeichnungen ist an dieser Publikation vor allem auch das Format für Sammler sehr anziehend. Mit immerhin  25.5 X 35.5cm  spielt der Bildband schon in der Sonderliga XL-Format. Die besonders bunten und schrillen Zeichnungen tun ihr übriges, diese Geschichten in ein echtes Vintage-Abenteuer zu verwandeln. Die Entstehungsgeschichte eines Superschurken widerspricht allerdings dem gängigen Kanon der bisher bekannten DC-Comics. Doppelgesicht, besser bekannt als Two-Face, hat in der hier vorliegenden Version den Namen Harvey Apollo und bezeichnet sich vor Gericht als Wandermime, Barde und Schauspieler, bis sein Widersacher, Lucky Sheldon, ihm eine Säure ins Gesicht schüttet. Und das vor dem Gericht, wo die Verhandlung gegen Lucky stattfindet! Eine Gesichtshälfte von Harvey wird durch die Säure völlig entstellt und der Mensch hinter der nunmehrigen Maske zum Monster verunstaltet. Denn von nun an nennt er sich Two-Face und unterwirft alle seine Entscheidungen dem Wurf einer Münze, deren eine Seite er ebenso verunstaltet, wie sein Gesicht es bereits ist. Landet diese Seite nach einem Wurf auf seiner Handfläche, gewinnt das Verbrechen, seine böse Seite bekommt die Oberhand und Harvey ist durch nichts mehr aufzuhalten. Außer natürlich durch – Sie ahnen es bereits – Batman!

Batmans grösste Gegner und Gegnerinnen

In den vorliegenden Vintage-Abenteuern, die erstmals als Limited Collector’s Edition 37 1975 in den USA erschienen, ist übrigens stets auch The Boy Wonder, Robin, an der Seite des dunklen Ritters.  Er rettet ihm gleich mehrmals das Leben, wie wir es auch im Scarecrow Abenteuer mitverfolgen können. Professor Jonathan Crane aka Scarecrow arbeitet an der Universität und wird von dieser aufgrund seiner unkonventionellen Lehrmethoden alsbald ausgeschlossen resp. suspendiert. Dieser Schicksalsschlag holt auch aus ihm das ungebremste Böse hervor, denn auf Ablehnung folgt stets Rache. Crans besorgt sich ein Kostüm und bietet sich als gedungener Erpresser diversen Geschäftsmännern an. Bis Batman und Robin ihm auf die Schliche kommen und ihm schließlich das Handwerk legen. Eine besonders lustige Geschichte ist auch das letzte Abenteuer in diesem XL-Band, der in der “Hall of Infamy” (Saal der Niedertracht) auch die weiblichen Exponentinnen der grössten Gegnerinnen Batman präsentiert. Catwoman überfällt eine Theatervorstellung eines Odysseus-Stückes und fordert von der Hauptdarstellerin die Perlen. Auf einem bereitgestellten Segelboot, das der Aufführung dienen hätte sollen, flieht Catwoman mit dem Schatz und versenkt sogar noch ihre Verfolger: “Circe verwandelte Männer mit einem Trank in Schweine, ich Getränke sie und schicke sie zu den Fischen! Hahaha!

Bill Finger, Bill Woolfolk, u.a.
Batman Klassiker – Batmans grösste Gegner
Zeichnungen: Bob Kane, Jim Mooney, Jack Burnley, Charles Paris (pencils), Jerry Robinson, George Roussos, Ray Burnley, Win Mortimer, Charles Paris (inks)
(Original Storys: Limited Collector’s Edition 37)
2025, Hardcover, 64 Seiten, XL-Sonderformat (Format: 25.5X35.5), Farbe
ISBN: 978-3-7416-4576-1
Panini Comics
29,00 €


Genre: Comic
Illustrated by Panini Comics

Der talentierte Mr. Ripley

Der talentierte Mr. Ripley

Der talentierte Mr. Ripley. Eine sensationelle Neuverfilmung des 1955 erstmals erschienenen Romans der Texanerin Patricia Highsmith wirft die Scheinwerfer wieder auf das eigentliche Original. Der Roman, der 2024 in einer Neuübersetzung bei Diogenes erschien, legte eine Steilvorlage für die Miniserie “Ripley” von Steven Zaillian.

Doppelmord und Doppelleben

Tom Ripley lebt in New York. Vielleicht sollte man besser sagen “überlebt” in NYC, denn er hält sich durch Steuerbetrügereien und andere Gaunereien mehr oder weniger über Wasser. Außerdem ist ihm die Polizei auf den Fersen und es wird immer enger um ihn. Da bietet sich ihm eine einzigartige Gelegenheit. Herbert Richard Greenleaf, der Vater eines alten Freundes, “Dickie”, setzt sich mit ihm in Verbindung und bittet ihn um einen Gefallen. Dickie hat sich nämlich nach Europa abgesetzt und lebt irgendwo in der Nähe von Neapel, in einem kleinen Ort namens Mongibello. Dort will er Maler werden und dem Dolce Vita oder vielleicht eher doch dem dolce far niente frönen. Seine Mutter hat Leukämie und nur mehr ein Jahr zu leben und deswegen bittet sein Vater nun Tom Ripley seinen verlorenen Sohn wieder in die Heimat zurückzuholen. Er zahlt ihm dafür ein ordentliches Salär und natürlich sind auch die Reiskosten und andere Spesen mitinbegriffen. Greenleaf Sen. ist ein steinreicher Reeder und will, daß sein Sohn in seine Fußstapfen tritt und das Familienimperium übernimmt. Tom übernimmt den Auftrag vorerst ohne böse Gedanken, im Gegenteil, er offenbart sich sogar Dickie, dass sein Vater ihn geschickt habe und ihm auch alles bezahle. Diese Ehrlichkeit bricht das Eis zwischen dem zuerst reservierten Dickie und Tom und bald beginnen sie eine Männerfreundschaft, die die ebenfalls in Mongibello lebende amerikanische Schriftstellerin Marge ganz schon eifersüchtig macht. Denn eigentlich erwartet sie von Dickie, dass er ihr den Hof macht. Doch dann kommt alles ganz anders.

“A Month of Sundays”

Mit stilsicherer Brillanz beschreibt Patricia Highsmith das Innenleben eines – so viel darf verraten werden – Mörders, der immer mehr in seine Rolle hineinwächst und sich darin sogar selbst übertrifft. Seine Schizophrenie führt ihn sogar in eine Maskerade (“Travestie”), ein Doppelleben, das sich am Ende genau als das beste Werkzeug herausstellt, die Behörden zu überlisten. Einfühlsam beschreibt Highsmith wie sich der Emporkömmling in der Rolle des reichen Reedersohnes fühlt und beginnt, sein Leben als “ein anderer” endlich zu genießen. Er füllt die Rolle so gut aus, dass selbst der Vater und Marge, die Dickie am nächsten Stehenden und sogar seine Freunde von ihm an der Nase herumgeführt werden. Die homoerotische Spannung und leicht homophobe Stimmung passt perfekt in das Milieu der Zeit in der die Handlung spielt. Der Roman “Der talentierte Mr. Ripley” habe – so Paul Ingendaay im Nachwort – “durch Charme und Skrupellosigkeit die moralische Wertskala der Suspense-Gattung auf den Kopf gestellt” und ihn, Ripley, als “Traum aller Schwiegermütter” inszeniert. Denn er ist stets aufmerksam und höflich, ganz weltmännisch wie ein Kosmopolit. “Als müsste sie für das Los der lesbischen Liebe mildernde Umstände finden, kritisiert die Autorin bei heterosexuellen Paaren Bequemlichkeit, Selbstbetrug und erstarrte Rituale“, fasst Ingendaay ihre gesellschaftspolitische Perspektive zusammen. Mit “Der talentierte Mr. Ripley” hat Patricia Highsmith zudem einen ersten Serienhelden erschaffen, dessen Abenteuer sämtlich bei Diogenes in einer erweiterten Neuauflage erschienen sind. Ursprünglich hätte der Roman übrigens nach seinem Leitmotiv “A Month of Sundays” heißen sollen.

Fortsetzungen und Verfilmungen

Darunter: Ripley Under Ground, Ripley’s Game, Ripley Under Water, Der Junge, der Ripley folgte, etc. Übrigens soll auch die kongeniale Verfilmung von Steven Zaillian mit Andrew Scott fortgesetzt werden. Material an Steilvorlagen hat Patricia Highsmith auf hohem Niveau jedenfalls bereits geliefert, schön, dass die filmische Umsetzung so gut gelungen ist. 20 Jahre nach der Verfilmung mit Matt Damon übertrifft “Ripley” von Steven Zaillian mit Andrew Scott in der Hauptrolle alle Erwartungen an eine gelungene Literaturverfilmung. Auch Highsmiths Romanerstling “Zwei Fremde im Zug” wurde übrigens verfilmt: von Alfred Hitchcock. Er machte sie über Nacht berühmt.

Patricia Highsmith
Der talentierte Mr. Ripley
Herausgegeben von Paul Ingendaay und Anna von Planta.
Aus dem amerikanischen Englisch von Melanie Walz.
Mit einem Nachwort von Paul Ingendaay und einer editorischen Notiz von Anna von Planta
2024, Taschenbuch, 432 Seiten
ISBN: 978-3-257-24764-0
Diogenes
€ (D) 14.00 / sFr 19.00* / € (A) 14.40


Genre: Literaturverfilmung, Roman
Illustrated by Ansata / Penguin Random House, Diogenes Zürich

Meine Schwester – Meine Mutter

1984 erhängt sich die Mutter der Fotografin Bettina Flitner. 33 Jahre späte wiederholt sich dasselbe Schicksal bei ihrer Schwester Susanne und dessen Ehemann Thomas. Mit ihrem 2023 erschienen Roman “Meine Schwester” legte die Autorin schonungslos die eigenen Wunden offen. Nun legt sie mit “Meine Mutter” noch einmal nach.

Meine Mutter

Bettina Flitner begibt sich in “Meine Mutter” auf eine Reise in den Luftkurort Wölfelsgrund im ehemaligen Niederschlesien, dem heutigen Międzygórze. Dort hatten ihre Vorfahren bis zur dramatischen Flucht 1946 ein Sanatorium besessen und geleitet. Dort lebte ihre Mutter bis zum Alter von zehn Jahren. Bettina, ihre Tochter, sucht an genau jener Stelle nach dem Ursprung, wo einst alles begann. Natürlich thematisiert sie auch die politischen Umwälzungen jener Zeit, die Mitgliedschaft des Großvaters in der NSDAP als “Märzgefallener” und die Vertreibung nach dem Krieg. 14 Millionen Deutsche mussten zwischen 1944 und 1948 ihre Heimat verlassen, schreibt sie. Und obwohl der Krieg zu Ende war, starben immer noch viele Menschen am Krieg. Viele auch durch Selbstmord. Eines der dunkelsten Kapitel ist die Celler Hasenjagd, bei der vier Tage vor Einmarsch der Alliierten in Celle am 8. April 1945 unschuldige Menschen durch die Straßen gejagt und umgebracht wurden. Denn nach der Bombardierung des KZ Bergen-Belsen konnte einige Insassen in die umliegenden Dörfer entkommen und wurden dort erschlagen. “Ich werde nicht älter als 47” hört Bettina heute noch ihre Mutter sagen, so als ob sie es immer schon geplant hätte. Aus den Erlebnissen ihrer Reise ins heutige Polen, den Tagebüchern und Dokumenten ihrer Familie und ihren eigenen Erinnerungen erschafft Bettina Flitner vorliegenden Roman, der näher an der Realität liegt als man sich wünschen möchte.

Meine Schwester

Noch persönlicher als das Nachfolgewerk “Meine Mutter” ist allerdings der Vorgänger aus dem Jahre 2023, “Meine Schwester”. Die Autorin beschreibt darin sachlich und zugleich erschütternd ihre Beziehung zu ihrer Schwester, die ebenfalls Suizid beging. Susanne, ihre ältere Schwester, war eine Art “trauriger Clown”. Sie konnte meisterhaft andere nachahmen und sich über alles und jeden lustig machen. Auch ihr Vater hatte ein komödiantisches Talent und als er bei der Ford Foundation in New York einen Job bekommt, geht die ganze Familie mit. “Wir vier”, denkt sich Bettina oft, aber bald schon muss sie feststellen, dass sie einer Fiktion unterliegt. Denn der Vater geht fremd und bald auch die Mutter. In den Siebziger Jahren als die beiden Schwestern aufwuchsen war dies eine Normalität. Bettina sucht in ihrem Text nach den Vorzeichen für den bevorstehenden Selbstmord, den ersten Anzeichen, wann es begann und natürlich steht die Frage im Raum, ob es nicht vielleicht doch genetisch sein könnte? Oder waren die Depressionen der Mutter eine gewollte Flucht? Wieder zurück in Deutschland besuchen sie Waldorfschule, ihre Schwester dann auch die Montessori-Schule. Als die Eltern sich sogar vor den Kindern streiten, beginnen auch die beiden sich zu zanken. Wenn Flitner das Bild des Familienautomobils als faradayschen Käfig zeichnet, wird deutlich, wie sich die Emotionen entwickelt hatten. Und bald muss sie erkennen, dass Liebe etwas war, das man mit Demütigung bezahlte, “etwas, das einen am Ende vernichten konnte”.

Eine beeindruckende Lebensbeichte, die man nur schwerlich als Roman bezeichnen kann, denn dafür sind die beiden Erzählungen zu Nahe an der Realität. Als ihre Mutter sich ohne Abschied aus der Welt nahm, machten die beiden Töchter gerade erst Abitur. Ihr damaliger Freund heiratete sechst Wochen nach ihrem Tod ihrer Mutter eine neue Frau.

Bettina Flitner
Meine Mutter
2025, Hardcover, 320 Seiten
Lieferstatus: Lieferzeit 1-2 Tage
ISBN: 978-3-462-00849-4
Kiepenheuer&Witsch
24,00 €

Meine Schwester
Verlag: KiWi-Taschenbuch
2023, Hardcover, 320 Seiten
ISBN: 978-3-462-00521-9
Kiepenheuer & Witsch
24,00 €


Genre: Biographie, Familiengeschichte, Roman
Illustrated by Kiepenheuer & Witsch Köln

Sam Shaw: Dear Marilyn

Sam Shaw: Dear Marilyn

Sam Shaw: Dear Marilyn. Am 1.6.2026 wäre die in Los Angeles geborene Norma Jeane Baker 100 Jahre alt geworden. Grund genug jetzt schon das Marilyn Monroe Jubiläum auszurufen und mit vorliegendem, großformatigen Bildband die Schauspielerin und Produzentin zu feiern.

Sam Shaw: Unveröffentlichte Briefe und Fotos von Marilyn

Sam Shaw: Roxbury, CT, 1957

Was zumeist untergeht, ist, dass MM  (1926-1962) nicht nur als Fotomodell und Schauspielerin arbeitete, sondern 1954 die Marilyn Monroe Productions Incorporated in New York gründete und am Actors Studio studierte. Sie hatte alle ihre Hollywoodverträge aufgelöst “Der Prinz und die Tänzerin”, in dem sie auch die Hauptrolle spielte. Mit “Misfits – Nicht gesellschaftsfähig” gelang ihr 1961 der Wechsel ins ernste Rollenfach und sie schrieb erneut Geschichte. Der vorliegende Band ist aber ganz ihrer Filmkarriere gewidmet und zeigt hinreißende Bilder und Dokumente, die bisher noch nicht bekannt waren.

Blowing Skirt Fotos und mehr verflixte Bilder

NEW YORK – SEPTEMBER 1954: Marilyn Monroe with the skirt of her white dress blowing as she stands over a subway grate at the corner of 51st Street and Lexington Avenue in September, 1954 during the filming of “The Seven Year Itch” in New York, New York. (Photo by Sam Shaw/Shaw Family Archives/Getty Images)

Kaum zu glauben, aber es gibt sogar von Marilyn Monroe – sie gilt als die meistfotografierte Person des 20. Jahrhunderts –  immer noch Dinge, die nicht bekannt sind. Sam Shaw, der Hollywoodphotograph, Produzentenkollege und enge Freund Marilyns schoß 1954 die sog. “blowing skirt-Photos” über dem New Yorker Subway-Schacht für die Promotion des Films “Das verflixte 7. Jahr”. Aufgrund eines Rechtsstreits waren diese Bilder allerdings jahrzehntelang blockiert. Um genau zu sein: ganze 71 Jahre! Nachdem dieser Rechtsstreit nun endlich beigelegt ist, veröffentlicht die Familie des 1999 verstorbenen Photographen seine Marilyn-Bilder zusammen mit unveröffentlichten Briefen, in einem großen hochqualitativen Bildband. Insgeheim wird die vorliegende Publikation im Format einer Schallplatte jetzt schon als Auftakt zum Marilyn Centennial 2026 gehandelt.

Dear Marilyn: eine Ikone der Frauenbewegung?

Sam Shaw: Roxbury, CT, 1957

Auf 240 Seiten werden 77 Farb- und 180 Schwarzweiß-abbildungen gezeigt, die Marilyn Monroe beim Telefonieren, am JFK Airport, bei Dreharbeiten über besagtem New Yorker U-Bahn Schatz, mit Arthur Miller vor der Queensboro Bridge, zuhause beim Tanzen in Roxbury, CT oder auch an der Amagansett Beach in NY zeigen. Egal auf welchem Foto und in welcher Position: immer sieht sie frisch wie aus dem Ei gepellt hat, zeigt ihr volles Charisma und erstrahlt. Alle Fotos zeigen eine atemberaubend schöne, selbstbewusste, fröhliche, versonnene, immer überraschende Marilyn, ganz so, wie man sie in Erinnerung behalten möchte. Sam Shaw hatte die Gelegenheit, Marilyn Monroe von 1950 bis in die 1960er Jahre zu begleiten, photographierte sie am Set und privat, korrespondierte mit ihr – damals noch in Briefen – und hielt seine eigenen Erlebnisse in Tagebüchern fest. “Dear Marilyn” – so der liebevoll gemeinte Buchtitel –  schildert den Weg vom Starlet über den Superstar zur unabhängigen Produzentin in drei Akten. Ein eigenes Kapitel ist auch der Entstehung des blowing skirt-Photos gewidmet. zeigen eine atemberaubend schöne, selbstbewusste, fröhliche, versonnene, immer überraschende Marilyn.

Vermächtnis und Ausblicke auf das Jubiläumscentennial 2026

AMAGANSETT, NY – 1957: Marilyn Monroe on the beach in 1957 in Amagansett, New York. (Photo by Sam Shaw/Shaw Family Archives/Getty Images)

Sam Shaw (1912, New York City – 1999, Westwood, New Jersey) begann als Illustrator für Zeitschriften und war ab den 1940er Jahren Photojournalist für Collier’s, Life und Look. In den 1950er Jahren arbeitete er als Setphotograph in Hollywood, u.a. für Elias Kazan (Endstation Sehnsucht, Viva Zapata! mit Marlon Brando) und Billy Wilder (Das verflixte 7. Jahr) und war ab den 1960er Jahren als Produzent, u.a. der Filme von John Cassavetes (Husbands, Eine Frau unter Einfluss, Opening Night, Gloria) tätig. Marilyn Monroe, geb. am 1.6.1926 in Los Angeles als uneheliche Tochter einer Filmcutterin, wuchs bei Verwandten und diversen Pflegefamilien auf. Nachdem sie Ende der 1940er Jahre als Fotomodell und Nachwuchsschauspielerin in Hollywood Aufsehen erregt hatte, gelang ihr 1950 der Durchbruch als Filmschauspielerin. Von 20th Century Fox auf den Typ der naiven, lasziven Blondine festgelegt, avancierte sie mit Filmen wie Niagara, Blondinen bevorzugt, Wie angelt man sich einen Millionär? oder Das verflixte 7. Jahr Anfang der 1950er Jahre zum größten Star in Hollywood und zu einer der bekanntesten und meistfotografierten Frauen der Welt. Ihre wohl berühmteste Rolle ist die Ukulelespielerin Sugar Kane in der Billy Wilder-Komödie Manche mögen’s heiß von 1959, für die sie mit dem Golden Globe ausgezeichnet wurde.

Ihr trauriges Ende – sie starb an einer Überdosis Barbituraten – ist bis heute ungeklärt. Sie starb mit nur 36 Jahren in Brentwood, Los Angeles. Weitere interessante Annäherungen an Mythos und Legende Marilyn Monroe stammen etwa von Joyce Carol Oates und der nach ihren Aufzeichnungen gedrehte gleichnamige Film von Andrew Dominik “Blond”.

SAM SHAW
DEAR MARILYN
DIE UNVERÖFFENTLICHTEN BRIEFE UND PHOTOGRAPHIEN
Mit einem Vorwort von Meta Shaw und Edie Shaw
und einem Text des Photographen
Aus dem Englischen von Haide Paul
240 Seiten, 77 Farb- und 180 Schwarzweißabbildungen
ISBN 978-3-82961046-9
Schirmer/Mosel Verlag
€ 49,80 € (Ö) 51,20 CHF 57,30


Genre: Bildband, Biographie, Fotobuch, Fotografie
Illustrated by schirmer/mosel

Katzentage

Ewald Arenz: Katzentage

Katzentage. “Manchmal ist das so. Dann ist die ganze Welt nur Kulisse für das eine kurze Stück, das unser Leben heißt.” Der Oktober steht  vor der Tür und damit die schönste Jahreszeit, mit so vielen Schattierungen, wie die Blätter Farben haben. Von Ewald Arenz stammen die herbstlichen Worte, von Florian Bayer die verführerischen Bilder.

Eine wunderschöne Erzählung, so leicht wie…

Ewald Arenz hat eine wunderschöne Erzählung, so leicht wie ein Radausflug an einem sonnigen Herbsttag geschrieben. Zwei Fremde, Paula und Peter, landen aufgrund eines Bahnstreiks – ungewollt und unverhofft – in dem Mainstädtchen Würzburg. Sie beschließen, das Beste aus der Situation zu machen und nehmen sich ein malerisches B&B in einem Garten. Peter, den Paula ursprünglich für einen langweiligen Juristen hielt, entpuppt sich als witziger Gesellschafter und Reisegefährte. Er arbeitet in der Verwaltung derselben Klinik, wo sie eine Arztstelle hat. Aber außer ein paar gemeinsamen Kantinenbesuchen hatte sich zwischen ihnen nicht so viel getan. Alles rein freundschaftlich natürlich, denn die Arbeit läßt mehr als das kaum mehr zu. Doch dann bietet sich ihnen da dieses Fenster: eine Auszeit, eine Flucht aus ihrem Leben und ihrem Alltag. “Katzentage“, nennt der Autor diese Seinsform, “ein paar gestohlene Oktobertage“, eine Auszeit vom Alltag.

…Ein Radausflug an einem sonnigen Herbsttag

Im Herbst wird man immer ein wenig atemlos von der Schönheit, die man so besonders nur jetzt mit allen Sinnen aufnimmt“, sagt Peter, der Poet. “Das sind die leuchtenden Tage, die am Ende entscheiden, ob ein Leben gut war oder nicht“, erwidert Paula, die Sinnliche. Bei einem ersten Spaziergang prickelt es zwischen den beiden schon und das mag nicht nur am Wein liegen. Ein Kuss am Friedhof, was für Peter immer ein Spielplatz der Kindheit war und immer noch, Jahrzehnte später, das Gefühl des Nachhausekommens bei ihm auslöst, verbindet die beiden. “Manches muss ja im Herbst gesät werden“, sagt Peter hoffnungsvoll, “dass es im Frühjahr blüht und Frucht im Sommer trägt“. Aber Paula zögert noch, ziert sich, denn sie will vor allem den Moment, den Augenblick genießen und sich nicht zu viele Gedanken über die Zukunft machen. Ein gemeinsames Wochenende haben sie und so mieten sie sich zwei Fahrräder und genießen den Herbst und seine “tausend Schattierungen“. “Jeder muss für sich selbst entscheiden, ob er Glück oder Wehmut, Abschied oder Anfang bedeutet”, meint Peter verheißungsvoll, doch dann taucht plötzlich eine Katze auf, die alles verändern wird. Vor allem das Leben der beiden.

Einfach Katzentage im Oktober…

Eine bestechende Geschichte, bebildert mit verführerischen Illustrationen, die das schöne Leben genauso feiern wie die Liebe. Die Leichtigkeit des Seins zelebriert mit einem rührenden Ende. Eine Katze müsste man sein. Oder zumindest wieder einmal ein paar solcher Katzentage erleben.

Ewald Arenz/Florian Bayer
Katzentage
Illustrierte Erzählung
ISBN: 978-3-7558-0056-9
2025, Hardcover, 128 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag, farbigem Vorsatzpapier und Lesebändchen
DuMont Verlag
22,00 €

Ewald Arenz, 1965 in Nürnberg geboren, hat englische und amerikanische Literatur und Geschichte studiert. Er arbeitet als Lehrer an einem Gymnasium in Nürnberg. Seine Romane und Theaterstücke sind mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet worden. Mit ›Alte Sorten‹ (DuMont 2019) stand er auf der Liste »Lieblingsbuch der Unabhängigen« 2019 und ›Der große Sommer‹ (DuMont 2021) erhielt 2021 ebenjene Auszeichnung. Zuletzt erschien ›Zwei Leben‹ (DuMont 2024).

Florian Bayer ist freier Illustrator aus Esslingen bei Stuttgart. Seit 2007 illustriert er u. a. für Der Spiegel, Die Zeit, Süddeutsche Zeitung und FAZ. Seit 2023 ist er Professor für Illustration an der Merz Akademie, Hochschule für angewandte Kunst, Design und Medien, Stuttgart. Seine Arbeiten wurden mehrfach ausgezeichnet, u. a. mit dem World Illustration Award, dem European Design Award und dem German Design Award.


Genre: Erzählung, Illustrationen
Illustrated by DuMont

Das Bildnis des Dorian Gray

Das Bildnis des Dorian Gray

Die Jugend lächelt auch ohne Grund. Das ist einer ihrer Reize“, so der Lebemann Lord Henry, der eine wichtige Rolle in dem Dark-Romance Klassiker von Oscar Wilde spielt, der zu einem Kultbuch seiner Generation und darüber hinaus wurde. Schließlich prägte er darin nicht nur den Begriff des Dandy, sondern auch den Verfall des viktorianischen Zeitalters.

Fin de siècle – Fin du globe

Dieses “hirnlose, schöne Geschöpf”, wie Lord Henry Dorian Gray bezeichnet, wird von Basil Hallward in einem unvergleichlichen Bild porträtiert. Aber das Gemälde entwickelt schnell ein Eigenleben. Statt dass das Modell, Dorian, altert, altert das Bild und legt sich wie ein Fluch über das Leben des jungen Adonis. Denn nicht nur dass er ewig jung bleibt, es schaden ihm auch keine Exzesse oder Versuchungen mehr, allein sein Porträt nimmt Schaden. Alsbald in den Dachboden verdammt spielt es die Rolle, die Freud dem “Es” zuteilte: in den Keller damit. Bei Oscar Wilde wird das Bild zum Sinnbild der Seele, der Lebemänner wie Lord Henry längst abgeschworen haben. “Das einzig Schreckliche in der Welt ist ennui, Darian. Das ist die einzige Sünde für die es keine Vergebung gibt”, ermuntert Lord Henry seinen jungen Schützling zu immer weiteren Exzessen. “Nein, wir haben den Glauben unseren Glauben an die Seele aufgegeben. Spiel mir etwas! Spiel mir ein Nocturne”, fordert Lord Henry Dorian Gray am Ende des Romans dann nochmals auf, bevor er zu einer Lobpreisung der Jugend ansetzt und Dorian in den White’s Klub einlädt. Denn die Jugend wird von Lord Henry wie ein neuer Gott angebetet, allein, sie bleibt auch für ihn unwiederbringlich, der den armen Dorian in seinen eigenen Abgrund mitreißt. Lord Henry ist aber auch die bunteste und schillerndste Figur des vorliegenden Romans. Seine Sinnsprüche und Weisheiten vor allem über die Frauen aber auch das Leben sind Legende. “Pünktlichkeit stiehlt einem nur die Zeit” sagt Lord Henry oder “Vielleicht sieht man nie so gut aus, wie zu der Zeit, in der man eine Rolle zu spielen hat”. Über das andere Geschlecht scheint er ganz besonders Bescheid zu wissen: “Frauen lieben uns wegen unseren Fehlern. Wenn wir derer genug haben, verzeihen sie uns alles, selbst unseren Verstand.” Oder: “Ein Mann kann mit jeder Frau glücklich sein – solange er sie nicht liebt.” Doch genau das geschieht mit Dorian, denn er verliebt sich in die junge Schauspielerin Sybil Vane, die sich wegen ihm das Leben nimmt. Daraufhin beginnt das Bild von Basil zu altern, denn jedes Mal dann, wenn sich Dorian Versuchungen und Sünden ergibt, nimmt nicht er Schaden, sondern das Porträt. “Eine wilde Angst vor dem Tod hatte ihn erfasst und dabei war ihm das Leben gleichgültig geworden”, schreibt Oscar Wild in Vorwegnahme der noch kommenden Ereignisse. Seinen Dark Romance Klassiker schrieb er auf einem Vulkan, 1891, wenige Jahre später versiegte er: 1900, die Jahrhundertwende erlebte er gerade noch. Für ihn wurde das Fin de siècle allerdings zum Fin du globe – dem Ende seiner Welt.

Ein Roman und seine Folgen

Oscar Wilde rächt sich aber auch an der Provinz und der dem Untergang geweihten Gesellschaftsschicht, dem Adel: “Auf dem Lande kann jeder gut sein, da gibt es keine Versuchungen. Das ist der Grund warum die Leute, die nicht in der Stadt wohnen, so ganz und gar ohne Kultur sind. Kultur ist eine Sache, die keineswegs leicht zu erreichen ist. Es gibt nur zwei Wege, zu ihr zu kommen. Der eine heißt Bildung, der andere Verdorbenheit. Die Leute auf dem Lande haben zu beiden keine Gelegenheit, darum stagnieren sie.”, lässt er Lord Henry sagen. Und seine Schwester, die Herzogin Gladys Wotton legt noch nach: “Wissen wäre verhängnisvoll. Die Ungewissheit reizt einen. Ein Nebel macht die Dinge wundervoll.” Die vorliegende Ausgabe des von Hedwig Lachmann und Gustav Landauer übersetzten Romans wurde von Benjamin Lacombe illustriert. Im Anhang befindet sich auch ein Bilderzyklus der zeigt, wie der Verfall des Gemäldes von Basil Hallward ausgesehen haben könnte. Außerdem wurde das lesenswerte Nachwort vom Neffen von Oscar Wilde, Merlin Holland, verfasst, der darin die Entstehungsgeschichte des einzigen vollendeten Romans seines Großvaters nachzeichnet. Oscar Wilde hatte ihn mit 35 geschrieben, verheiratet, zwei Kinder, von Rezensionen von Büchern und Theaterstücken lebend und – schwul. Für den Dorian Gray wurde er vom Vater seines Liebhabers Alfred Douglas, dem Marquess von Queensberry, der Sodomie beschuldigt. Wilde’s Klage ging nach hinten los und brachte ihn um seinen Ruf und seine Freiheit. Die vom Gericht inkriminierten Passagen, die ein homosexuelles Verhältnis zwischen Basil und Dorian suggerieren, sind in vorliegender Ausgabe in eckige Klammern gesetzt. Auch dadurch ergibt sich eine besonders delikate Lektüre. Gerade wenn man bedenkt, was Wilde in einem Brief geschrieben hatte: “Basil Hallward ist das was ich denke, Lord Henry ist das, was die Welt von mir denkt; Dorian Gray ist das, was ich gerne sein würde.” In den Bau ging Oscar Wilde schließlich nicht wegen dem Roman Dorian Gray, sondern wegen Unzucht. Aber Dorian hatte ihn davor auch nicht bewahren können: Oscar Wilde war gesellschaftlich ruiniert. Ihm fehlte die Bühne.

Oscar Wilde
Das Bildnis des Dorian Gray
Übersetzung von Hedwig Lachmann und Gustav Landauer
Mit Illustrationen von Benjamin Lacombe
Serie: Papillon Noir
2024, Hardcover, Halbleinen mit Kupferprägung. Mit transluziden Seiten und durchgehender Vierfarbigkeit
ISBN-13: 9783964282231
Verlagshaus Jacoby Stuart
€ 51.-

 


Genre: Illustrationen, Krimi, Roman, Romance
Illustrated by Coppenrath

What Goes Up Must Come Down. Kleine Geschichte der Popmusik

Whatever goes up must come down Eine kleine Geschichte der Popmusik

Der österreichische Musiker und inzwischen auch Schriftsteller Hans Platzgumer bezieht sich im Titel seines neuesten Buches auf einen Song von Blood, Sweat & Tears. Sein Essay über das “Gravitationsgesetz des Pop” wird mit einer Playlist und einem “Hidden Track” ergänzt und erschien im Frühjahr 2025 in der Reihe “Bibliothek des Alltags//Beutezüge im Bekannten” im Wiener bahoe books Verlag in einem poppigen Cover mit Goldleineneinband.

Auf Schreien folgt Schweigen. Reverse.

Abgesehen von seiner eigenen Lebensgeschichte als Frontman diverser Bands wie Capers, KÖB, H.P. Zinker, Convertible u.v.a.m. und Beispielen aus der Popwelt der Sechziger bis heute, verwendet Platzgumer als kulturtheoretischen Klebstoff auch den Klassiker von Guy Debord, “Gesellschaft des Spektakels”, das schon 1967 die wesentlichen Elemente unserer heutigen Realität vorwegnahm, als Grundlagen für sein lesenswertes Essay. Guy Debord formulierte quasi als erstes, dass unsere direkte Erfahrung schrittweise durch mediale Repräsentationen verdrängt wird. Widerstand und Kritik könnten dem nur durch eigenes Handeln entgegengesetzt werden. Wer sich das umfangreiche Oeuvre des Autors und Musikers ansieht, sein Lebenswerk, wird zugeben müssen, dass der aus dem kleinstädtischen Milieu des Innsbrucks der Achtziger Jahre genau das getan hat. Vom aufbegehrenden Punkmusiker seiner ersten Platte “Tod der CD” entwickelte sich der inzwischen 56-jährige Musiker zu einem New Yorker Grungerockmusiker der frühen Neunziger hin zu einem elektronischen Musiker, der sich Jahre später dann doch wieder die Gitarre umschnallte. Auf John Cage rekurrierend, der schon 1952 mit “4’33” die Grundlagen für das legte, was später als Ambient oder Musique concrète bezeichnet wurde, darf man vielleicht auch Platzgumer eine gewisse Entwicklungsfähigkeit in seinem musikalischen Schaffen attestieren. Denn auf den Lärm (des Punks und Rocks) folgte auch bei ihm die Stille (des Schriftstellers). Auf Schreien, Schweigen. Und umgekehrt.

Pop zwischen Ursache und Wirkung

Seine Grundannahme ist, dass der Mainstream auch durch den Underground beeinflusst werde und es ohne den Austausch der beiden keine Entwicklung im Pop gebe. Platzgumer bemerkt außerdem, dass jede Rebellion ihren Sound gehabt hätte und es diese heute einfach nicht mehr gebe. Dabei verwechselt er tatsächlich Ursache und Wirkung, denn nicht der Sound macht die Rebellion, sondern die Rebellion erzeugt den Sound. Im Sinne des Ressource Mobilization Ansatzes der US-amerikansichen Sozialbewegungsforschung sind es nämlich tatsächlich die frei werdenden Ressourcen und Bündnisfähigkeiten, die den Erfolg einer sozialen Bewegung ermöglichen. Die Ästhetik des Punk wurde etwa z.B. wesentlich durch das Billigerwerden von Kopierern bestimmt, die es ermöglichte Flugblätter massenhaft zu erzeugen und zu verbreiten. House resp. Techno entstand wiederum durch das Billigerwerden des Roland Sytnhies. Damit wären wir auch wieder bei Guy Debord. Denn die heutigen Ressourcen sind ganz klar von social media bestimmt und erzeugen somit auch deren Ästhetik. In Platzgumers Fall war es übrigens ein altes Röhrenradio, an das er seine erste Gitarre anschloss, was ihn dann zum Punk führte. Der von Platzgumer angenommene Austausch zwischen Oben und Unten, also Mainstream und Underground, unterliegt allerdings vielmehr der Akzeleration der Verwertungsmechanismen des postfordistischen Akkumulationsregimes des Spätkapitalismus, in dem ganz einfach alles dem Profit untergeordnet ist. Und das eben immer schneller. Die Akzeleration (Beschleunigung des Wachstums) ist heutzutage durch social media sogar so schnell, dass es gar keinen Mainstream oder Underground mehr gibt, die Grenzen verwischen. Was nicht bedeutet, dass oben=unten oder unten=oben.

Smells like… Akzelaration

Dass nämlich ausgerechnet Kathleen Hanna der Grrrls Riot Band Bikini Kill für den Jahrhunderthit “Smells Like Teen Spirit” von Nirvana verantwortlich zeichnet und der Mainstream und Underground 1991 dank permanenter MTV-Rotation zu einer schrillen Synthese verschmolz, ist sicherlich ein Beweis für die immer schneller werdende Akzeleration des Kapitals. Durch die Seismographen des Internets kann etwas Neues aus dem sog. Underground sofort zu einem Mainstream-Trend werden. Sozialveränderndes Potential traut Platzgumer allein noch dem Hip Hop zu, der in immer neuem Gewande die Mainstreamkultur aufbreche. Die Sex Pistols im Vorprogramm (als “support act”) von Guns’n’Roses in diesem Wiener Sommer im Wiener Prater Stadion vor 43.000 Leuten ist somit nur ein weiteres Beispiel für die Richtigkeit von Debords Theorie der Gesellschaft des Spektakels: als Menschen treten wir nicht mehr direkt in Beziehung zur Wirklichkeit oder zueinander, sondern vor allem zu Bildern, Repräsentationen und Inszenierungen. Realität wird als Spektakel vermittelt – durch Medien, Werbung, Konsum, Politik in Form von Bildern und Inszenierungen, so Debord 1967 (!). “What Goes Up Must Come Down” von Hans Platzgumer ist ein interessantes Essay, das die mit Popmusik assoziierte Rebellion in den Mittelpunkt stellt – sowohl als eigene Lebenserfahrung des Autors als auch als neues Akkumulationsregime des Spätkapitalismus spätestens seit den Sechzigern. Auch diese Wechselbeziehung beruht im übrigen auf der Ausbeutung von Ressourcen.

Hans Platzgumer
What Goes Up Must Come Down
Kleine Geschichte der Popmusik
2025, Hardcover mit Goldleineneinband, 128 Seiten, Format 14x22cm
ISBN 978-3-903478-41-1
bahoe books
€ 24,00


Genre: Essay
Illustrated by Bahoe Books

ELLA – nichts haben, alles ändern

ELLA – nichts haben, alles ändern

ELLA. Anhand der Erzählungen Ella Rollniks – einst Mitglied der Bewegung 2. Juni – in ausführlichen Gesprächen zwischen 2022 und 2024 in Hamburg, entstand die vorliegende Geschichte des bewaffneten Widerstands in den Siebziger Jahren, die Michael Weber aufschrieb und ZAZA Uta Röttgers beeindruckend illustrierte.

Die Aufbruchstimmung der Sechziger

Als ihr kleiner Bruder mit acht Jahren an Krebs starb, war plötzlich alles fragwürdig. Ella war gerade 14 und sie fragte sich, was das alles noch sollte, “die Schule und alles“. Sie war bei weitem nicht die einzige, die damals begann, alles in Frage zu stellen, denn die Aufbruchstimmung der Sechziger Jahre sorgte für ordentlichen Trommelwirbel. Der erste physische Wohlstand führte dazu, den psychischen Zustand in Frage zu stellen, denn die meisten waren ja Kinder von Überlebenden der Nazigräuel, also entweder Opfer oder doch eher Täter. Eine ganze Generation begann Fragen zu stellen und legitimierte sich aufgrund fehlender schlüssiger Antworten auch ihren Widerstand damit. Als erst Benno Ohnesorg (2.Juni 1967), dann Rudi Dutschke (11.April) erschossen oder angeschossen wurden, war es ganz klar, dass man sich dagegen wehren musste. Schließlich hatte “der” Staat zuerst geschossen und man befand sich in einer Art Verteidigungshaltung. Zudem gab es den bewaffneten Widerstand ja auch in andern Länder, die zumeist gegen ihre Kolonialherren aufstanden. Selbst die Boxlegende Mohammed Ali schloss sich dem Widerstand an: “No Vietcong ever called me Nigger“. “Ist doch absurd jetzt noch Gewaltdiskussionen zu führen nach dem Dutschke-Attentat, nachdem sie Petra Schelm und Georg von Rauch letzte Woche erschossen haben“, heißt es in vorliegender Graphic Novel, die tief in den deutschen Underground der Siebziger Jahre eintaucht.

Welle des bewaffneten Widerstands in Westeuropa

Tatsächlich gab es auch in Europa noch einige Diktaturen: Portugal, Spanien, Griechenland, Türkei. Wer also gegen Faschismus kämpfte, befand sich auf der richtigen Seite der Geschichte, das zeigte die gesamte Weltlage. In Italien formierten sich die Brigate Rosse, in Frankreich die Action Directe und in Deutschland die Rote Armee Fraktion (RAF) und eben die Bewegung 2. Juni. Die doktrinäre und autoritäre Führung der RAF  wurde von der Bewegung 2. Juni stets abgelehnt. Sie versuchte sich immer wieder von dem sinnlosen Morden zu distanzieren: “Wann begann unser Scheitern? Wenn es damals diskutiert worden wäre, von allen, die bewaffnet kämpften, dann wäre diese ganze Eskalation, die es später gegeben hat, dass politische Aktionen nur noch darin bestanden, Funktionsträger des Systems zu töten, vielleicht verhindert worden“, sagt Ella. Dafür hätte es allerdings mehr Treffen in Wienerwald-Restaurants bedurft, damals ein beliebter Treffpunkt für RAF-Sympathisanten. Die Entführung Peter Lorenz und des österreichischen Strumpfwarenherstellers Palmers gehen ebenso auf das Konto der Bewegung 2. Juni wie ein Gefängnisausbruch und diverse Banküberfälle. “Damit sich irgendwas ändern kann in der Welt, muss die Hegemonie des Westens gebrochen werden“, meint Ella an einer Stelle. Dass dies fast ein halbes Jahrhundert tatsächlich geschieht und eine Zeitenwende unter ganz anderen Vorzeichen eingeleitet wurde, hätten sich die damaligen Aktivist:innen vielleicht doch anders vorgestellt.

Kulturelle und politische Zeitenwende(n)

Die Zeit nach dem Widerstand, also im Gefängnis, wird in vorliegendem Comic ebenfalls thematisiert und – ausnahmslos beeindruckend – illustriert. Die Rede ist von sensorischer Deprivation, Folter, Selbstmord u.ä., aber auch von Hungerstreiks, bei denen die behandelnden Ärzte von der Regierung so unter Druck gesetzt worden wären, dass sie gezwungen gewesen wären, gegen ihren Eid zu verstoßen. Einer dieser Ärzte hielt diesem Druck nicht mehr stand und beendete sein Leben selbst. Eines der wohl traurigsten Kapitel der Geschichte des “bewaffneten Widerstands” ist wohl, dass viel Unschuldige hineingezogen wurden. Sigurd Debus und Dr. Leschhorn: “Ich zähle ihn zu den wirklich guten Menschen, die ich in meinem Leben getroffen habe“, so Ella. Im Anhang befindet sich ein Glossar mit den wichtigsten Begriffen der damaligen Zeit und natürlich einige Literaturhinweise, darunter auch “Nach dem bewaffneten Kampf”.

Michael Weber/ZAZA Uta Röttgers
ELLA – nichts haben, alles ändern
Herausgegeben von der Galerie der abseitigen Künste
2025, Hardcover, 212 Seiten
ISBN 978-3-948478-21-6
Galerie der abseitigen Künste
€ 28.00


Genre: Comic, Graphic Novel
Illustrated by Galerie der abseitigen Künste

Marco Wanda: Dass es uns überhaupt gegeben hat

Marco Wanda. Marco Wanda,der Sänger und Songwriter der “größten österreichischen Rockband“, Wanda, die sich nach der Zuhälterin Wanda Kuchwalek benannte, hat ein Buch geschrieben. Dass er nicht zufällig Frontman und auch Texter der deutschsprachigen Chartstürmer wurde, beweist er in seiner Rockstarlebensbeichte durch sein ausgeklügeltes Erzähltalent.

Aufstieg, Ruhm und Läuterung

Der ehemalige Student der Sprachkunst an der Universität für angewandte Kunst in Wien hatte mit Wanda so viel Erfolg, dass er sein Studium kurzerhand abbrechen musste. Allerdings wurde der steile Aufstieg und anhaltende Hype und der damit verbundene Ruhm bald zu einer Bedrohung für den 1987 in Wien geborenen Popbarden. Der Weg zur Weisheit ist schließlich mit guten Absichten gepflastert: Alkohol, Hasch, DMT, XTC, MDMA, Psychodelia und auch Kokain gehörten zum Benzin des kometenhaften Aufstiegs an die Spitze der deutschsprachigen Charts. “Man fühlt sich aus verschiedenen gründen schuldig und ist dankbar endlich dafür bestraft zu werden“. In der American Bar (“Die Bar”) ertränkt er sich mit Whisky Sour. “Man richtet sich hin und glaubt man feiert das Leben“, so Marco Wanda in der Synthesis seiner Rockerjahre. Aber der inzwischen 38-jährige zeigt sich durchwegs geläutert von seinem schnellen Aufstieg und dem damit verbundenen Rock’n’Roll Leben. Schon auf den ersten Seiten bekennt er, dass er Alkoholiker ist und hoffentlich bald war, denn inzwischen macht er eine Therapie. Auf dem Weg ganz nach oben hat er viele lieben Freunde verloren, vor allem aber auch seinen Vater und den Keyboarder seiner Band, Christian, der neben dem Gitarristen Manu zum Gründungsmitglied der „vielleicht letzten wichtigen Rock’n’Roll-Band unserer Generation“ (Musikexpress) avancierte. Immer wieder spielt der Tod in seinem Buch eine Rolle, es scheint fast, als wäre er ein ständiger Begleiter dieser Band aus dem Wiener Milieu, einer Stadt, die unheimlich vom Hype um diesen ersten großen Wiener Musikexport profitierte. Denn vor Wanda gab es außer Austropop nicht viel auf das man sich als junger Mensch beziehen konnte. Aber auch der war schon seit Jahrzehnten: tot.

Wanda als kollektive Sehnsucht

Wir werden von dem geleitet was wir nicht wissen wollen, etwas das uns kränkt und verletzt, davon laufen wir davon in die Wüste unserer Unwissenheit.” Als Wanda begannen sich zu formieren, sagen wir mal ca. 2010, war in Wien eigentlich nichts mehr los. Was die Bandmitglieder schnell verband, war das “Das Gefühl dieser entleerten Wiener Langeweile etwas entgegenhalten zu müssen. Irgendetwas musste passieren“. Kokett fügt er hinzu, dass es schließlich sie – Wanda – waren, die endlich “passierten“. Aber seine Selbsteinschätzung kommt nicht angeberisch, eher verwegen daher, denn Marco Wanda versteht es, immer wieder, zu betonen, wie viele andere Menschen, also Freunde und Freundinnen, am Erfolg von Wanda mitgebastelt haben. Trotz allen Stolzes ist ihm natürlich bewusst, wem er das alles zu verdanken hat und so wirkt auch seine Selbstüberschätzung durchwegs sympathisch da sie mit der Wien-typischen Selbstironie daherkommt. In Wien nennt man sowas nämlich Humor und vielleicht ist es genau das, was den meisten anderen Bewohner:innen der (Bundes-)Länder so abgeht. Selbst in der düstersten Stunde, als er von Schicksalsschlägen getroffen auf der Bühne immer noch weitermachen muss und er sich sein Rückgrat ruiniert, lacht er noch: “Endlich machte ich Bekanntschaft mit etwas, was sich gut anfühlte: legale Drogen“. Der Mick Jagger und alle bekommen es, meint sein Arzt, ein Allheilmittel für alle Künstler und Künstlerinnen, die es mal wieder übertrieben haben. Die Rede ist von Fentanyl, den höheren Weihen des Rockolymps legal zugänglich. Dieser Humor, dieses Schmunzeln, dieses “Singen auf der Folter” macht “Dass es uns überhaupt gegeben hat” zu einem hörenswerten Buch gerade weil es vom Autor selbst gelesen wird, der gerne auch die Stimmen anderer Prominenter imitiert. Auch dadurch wird sein literarisches Debüt zu einem echten literarischen Leckerbissen.

Reisen, Rockstars und Remedy

Dem Prinzip, dass nahezu alles, außer der Liebe, einen Preis hat, ist in diesem Leben nicht zu entkommen.“ Was seine Geschichten so einzigartig macht ist ihr Aufbau, teilweise lesen/hören sie sich wie erzählte Anekdoten an, einfach zu gut um wahr zu sein, da die Pointen wirklich sitzen. Egal ob er von seinen Reisen nach Kairo, Paris, London, New York, Koh Yao Yai oder Georgien erzählt oder einfach nur die Bandgeschichte vervollständigt, dieser Mensch hat einen Drive, einen Vibe, einen erzählerischen Ductus, der selbst seine politischen Ausführungen und Stellungnahmen nachvollziehbar machen. “Jede Erinnerung die kein sinnliches Gefühl heraufbeschwört ist falsch. Die einzig wahre Erinnerung ist die Liebe. Alles zerfällt außer unserer Liebe.” Sein Plädoyer gegen die Spaltung unserer Gesellschaft, die seit der Pandemie zugenommen hat, rechtfertigt tatsächlich die Absenz seiner Band von der Tagespolitik. Denn Wanda wollten immer einschließen, zusammenbringen und nicht auseinanderdividieren. Natürlich verwehrt er sich auch gegen jedwede politische Vereinnahmungen von links oder rechts. Letzteres sind sie mit Sicherheit nicht, auch wenn sie Lederjacken und Jeans wie die Ramones tragen. Es ist einfach toll, dass sie es geschafft haben, denn damit wurde wieder einmal der Beweis erbracht, dass die größte Kraft (in Wien) immer noch die Vorstellungskraft ist. Endlich ist “wieder etwas passiert“. In Wien.

Marco Wanda geht mit seinem Debüt auf Tournee und ist in folgenden Städten LIVE selbst zu erleben: Lestermine. Bis dahin: das Hörbuch oder der Hörbuchdownload sind ein guter Zeitverkürzer!

Marco Wanda
Dass es uns überhaupt gegeben hat
Hörbuch, ungekürzte Lesung
Sprecher*innen: Marco Wanda
2025, Hördauer: 10h 35min, Hörbuch Download
ISBN: 978-3-7599-0142-2
Penguin Books
€ 24,95

 


Genre: Biographie, Roman
Illustrated by Penguin

Batman: Hush (little baby, don’t you cry…)

Hush. Große Oper ist diese Batman Erzählung im  praktischen Taschenbuchformat von 15X23cm. Denn nicht nur, dass Batman in der Oper gegen Harley Quinn auftritt, nein, auch eine Vielzahl aller anderen seiner Widersacher setzt dem Dunklen Ritter in dieser famos illustrierten Geschichte zu. Aber es gibt einen, der die Fäden hinter all dem zieht. Nur, wer ist es?

Batman: ganz große Oper

Wir sind wohl beide zu alt geworden…“. Autor Jeph Loeb und Zeichner Jim Lee gaben für diesen Batman aus dem Jahre 2002 wirklich alles. Sie lassen nämlich neben den Schurken, die gegen die verkleidete Fledermaus aus Gotham City auftreten, auch alle seine Freunde vorbeischauen. Darunter ist neben dem Stählernen und einzigartigen Superman natürlich auch Nightwing, Robin, Huntress, Red Hood und Oracle auch James Gordon, der Batman davor zurückhält, einen furchtbaren Fehler zu begehen. Nachdem er sich bei einem Crash von einem Wolkenkratzer ernsthafte Verletzungen zugezogen hat, weil ihm jemand das Bastei durchgeschnitten hat, ist der Dunkle Ritter so heiß, dass er den Joker beinahe kurzerhand erwürgt.

Zwischen Selina und Talia al Guhl

Die aufgestaute Wut, die Schmerzen, die Verzweiflung über sein eigenes Liebesleben lassen ihn beinahe auf dasselbe Niveau seiner Widersacher herabsinken: Batman wird gerade nicht zum Mörder, dank seinem besten Freund Gordon. Abgesehen davon, dass er sein Alter in den Knochen spürt ist er auch noch zwischen zwei Frauen gefangen. Auf der einen Seite die altbekannte Liebesaffäre mit Selina Kyle als Catwoman, auf der anderen Seite die Tochter Ra’s al Ghuls, Talia. Das Gewicht seiner Erinnerungen trägt zusätzlich schwer, denn Batman weiß, wie er selbst sagt, dass er “das Schicksal aller Monster teilt: er ist allein“.

Batmans Freundeskreis

Nur weil du mich küssen darfst…bin ich noch lange nicht Dein Bat-Häschen“, flirtet Catwoman mit Batsy kokett. Also so allein ist er dann doch nicht. In die Oper geht er dann mit seinem alten Freund Elliot, dem Chirurgen, der ihm das Leben rettete. Aber eben auch mit Selina. Was folgt ist ganz großes Kino, denn auf die Idee die Reichen in der Oper auszurauben, darauf kann Harley Quinn unmöglich allein gekommen sein. Die Szene von Batmans Auftritt in der Oper ist sogar auf einer Doppelseite zu sehen, die bis ins letzte Detail alles zeigt. Aber auch düstere Momente werden entsprechend großformatig zelebriert. Das Begräbnis seines Freundes etwa, bei dem Bruce ausgerechnet Walt Whitman zitiert. Bilder, die man nicht so schnell vergisst…

Batmans Schurkenreigen

Neben Poison Ivy, Lady Shiva, Killer Croc, Double-Face, Ra’s al Ghul mit Tochter Talia, dem Riddler ist es aber vor allem eines, das Batman am meisten quält: sein eigenes gebrochenes Herz, wie Alfred, der gerade mal wieder seine äußeren Wunden verarztet, Selina klagt. Batman trägt Narben wie Erinnerungen, andere haben dafür Fotos, meint Selina überrascht, als sie seinen Körper sieht. Direkt über seinem Herzen, die Spuren von mehreren Krallen. “Ich… habe keine Erfahrung. Mit Freunden, Partnern“, resümiert Batman am Ende, “Alles endet mit Verrat und Tod. Wenn ich je dazu fähig war, dann vor der Nacht, in der meine Eltern ermordet wurden“.

Hush, hush, hush…

Wohl eines der besten Batman-Abenteuer, das je geschrieben wurde. “Hush” ist auch in der “DC Must-Have – Batman – Hush” und als “Batman – Hush (Deluxe Edition)” zu haben. Der Titel bezieht sich übrigens auf ein altes Schlaflied für Kinder und bedeutet so viel wie “Psst…!”, also Schweigen, Stille. Dabei sollte man es eigentlich ganz laut allen weitersagen, dass Hush mehr psychologischen Tiefsinn besitzt als so mancher dicke Schinken. “Hush, little baby, don’t you cryoderHushvon Deep Purple, wie man so will…

Jeph Loeb/Jim Lee
Panini Pocket – Batman – Hush
2025, Comics, 312 Seiten, Format: 15X23cm
ISBN: 9783741640858
Panini Verlag
16,99 €

 


Genre: Comic, Graphic Novel
Illustrated by Panini Comics

Der Problembär: Am Rande von Wien, Wanda und Wahnsinn

Der Problembär. Der Wiener Grind. Das popkulturelle Phänomen, das vor allem vom deutschen Feuilleton heubeigeschrieben wurde, bestand damals am Höhepunkt, 2015, vor allem aus Wanda, Nino, Voodoo Jürgens und Stefanie Sargnagel. Der Floridsdorfer Tausendsassa Stefan Redelsteiner, Musikmanager und Verleger, hatte beim Erfolg aller vier die Finger im Spiel.

Wiener Grind und Kind

In einer bisher so wohl noch nie dagewesenen Doppelconference legen der Falter-Musikjournalist Gerhard Stöger und Stefan “Plattenboss aus dem Plattenbau” Redelsteiner nun eine Erzählung vor, die “am Rande von Wien, Wanda und Wahnsinn” angelegt ist. Der eine erzählt, der andere schreibt auf und so entsteht eine authentische Geschichte, die so harmlos wie aufregend begann: 2008 tauchte das doch sehr eigenwillige Label “Problembär Records” auf, das mit “Der Nino aus Wien” erste Erfolge in der Wiener Indie-Szene feierte. Während sich dieser durchaus mit dem alten Austropop eines Wolfgang Ambros oder André Heller identifizieren konnte, legte Redelsteiner großen Wert auf Abgrenzung zu diesem Genre. Zu provinziell und Stadtrand, fast schon Land war dem aus der Vorstadt Floridsdorf stammenden Redelsteiner der Austropop. Nino stammt zwar ebenso aus “Transdanubien” wie Redelsteiner, nur der eine von der schöneren Seite, der Donaustadt, 1220, der andere eben aus Floridsdorf, dem proletarischen Flächenbezirk 1210. Anfangs wurden beide belächelt als Redelsteiner begann, Nino als österreichischen Bob Dylan zu präsentieren.

Rock`n´Roll mit Wiener Charme

Mittlerweile hat der schrullige Liedermacher mehr als ein Dutzend Alben veröffentlicht und ohne seine Vorarbeit würde es heute Bands wie Wanda oder Voodoo Jürgens wohl nicht geben, vor allem aber nicht das popkulturelle Phänomen namens Wiener Grind, das sich vor allem in Deutschland wie “warme Brötchen” (nicht Semmeln) verkaufte. “Bussi” hin oder her, aber: “Eine Gitarre richtig halten kann schnell wer”, verrät Redelsteiner sein Erfolgskonzept, “aber gebucht und gehypt wirst du über persönliche Beziehungen – die Wanda nicht hatten”. Eine echte deutschsprachige Rockband – das hatte bis dahin noch nicht gegeben. Und bei Wanda kam der Machismo des Rock`n´Roll mit Wiener Charme rüber, etwas das die Deutschen aufgrund ihrer Vergangenheits-Scham niemals zusammengebracht hätte, so Redelsteiner. Wenn einem so etwas einmal gelingt, dann kann es ja auch nur purer Zufall sein. Oder doch nicht?

Ausgebootet aber nicht ausgelotet

Stefan Redelsteiner gelang es gleich mehrmals hintereinander: Nino, Wanda, Voodoo Jürgens und Stefanie Sargnagel. Dennoch lebt er heute ein eher bescheidenes Leben, denn im entscheidenden Moment, als Wanda, die er aus ihrem Kunstuni-Milieu rausgeholt hatte, durchzustarten begannen, zerlegte er sich mit dem Schlagzeuger und wurde von seiner Ko-Managarin – quasi intrigant – ausgebootet. Die Freundschaft zwischen dem aus gutbürgerlichen Verhältnissen stammenden Bandleader und ihm, dem Floridsdorfer Indie-aner, nützte ihm letztendlich nichts, da dieser gerade selbst eine persönliche Krise hatte. Die Verträge, die aufgrund der Freundschaft der beiden aber nur mündlich bestanden, mussten gar nicht erst gekündigt werden, da sie nicht offiziell nicht existierten. Und so bekam Redelsteiner nicht einmal Tantiemen für die Wanda-Alben, an denen er beteiligt war. Aber das große Geld war für ihn ohnehin nie das treibende Motiv, ganz im Gegensatz zu Wanda himself, der die Band immer schon in der größten Wiener Konzerthalle, der Wiener Stadthalle (14.000 Plätze), sah.

Wiener Grind von innen

Dass Wanda aber aus ihrer Kunstblase über den Indie-Typen Redelsteiner im klassischen Mainstream landeten, gehört zu den unglaublichsten Popwundern, die wohl nur in der Walzerstadt Wien möglich sind. Davon und von noch viel mehr erzählt die vorliegende Geschichte, die vom Herausgeber Stöger in der Ich-Form wörtlich aufgeschrieben und von Redelsteiner erzählt wird. So erfährt man viele Details über die Senkrechtstarter Wanda, das soziokulturelle Milieu der Wiener Zehnerjahre und auch einige Intimitäten über andere Popschaffende wie Rudi Dolezal oder den Hintergrund des Sargnagel-Artikels in der Süddeutschen Zeitung damals, der hohe Wellen schlug in der kleinen Wiener Grind Welt.

Ach ja, und übrigens hat Marco Wanda immer noch die DVD-Sammlung der Fernsehserie “Columbo” von Redelsteiners Freundin, die der Band zu ihrem Hit “Columbo” verhalf. Das Buch erscheint in Zusammenarbeit mit dem Verlag RDE (Redelsteiner Dahimène Ed.), Redelsteiners Buchverlag, den er gemeinsam mit Ilias Dahimène immer noch leitet.

Die andere Seite kann man sich hier anhören!

Gerhard Stöger
Der Problembär
Die Abenteuer des Musikmanagers Stefan Redelsteiner am Rande von Wien, Wanda und Wahnsinn
2025, 304 Seiten, Softcover
ISBN: 978-3-99166-029-3
Falter Verlag
€ 24,90


Genre: Biographie
Illustrated by Falter

Woher ich kam

Woher ich kam. Ausgehend von ihrer Urururururgroßmutter Elizabeth Scott, die 1766 geboren wurde, rollt die Schriftstellerin Joan Didion (1934-2021) die Geschichte ihrer Familie – vor allem aber die Kaliforniens – neu auf. Zumeist ging der vielgerühmte “Pioniergeist” der Erschließung des amerikanischen Kontinents bis in den äußersten Westen allerdings auf Kosten der amerikanischen Regierung, wie Didion ernüchternd feststellt.

The West is the Best

Der amerikanische Westen, Kalifornien, gehört zum Mythos der ganzen Nation USA. “The Last Frontier” wurde bis an den Pazifik ausgedehnt und galt geradezu als zivilisatorisches Projekt. “Man suchte ein romantisches und entlegenes Land der Verheißung und wurde in der Wildnis der hiesigen Welt oft nur von Zeichen des Himmels geführt”, zitiert Didion Josiah Royce, der um die Jahrhundertwende lebte. Was für die Trecks nach Westen am wichtigsten war, lernte die junge Didion auch von ihrer Familie. “Nimm niemals eine Abkürzung und eile, so schnell du kannst, weiter”, so die Erzieherin Virginia Reed, eine Überlebende des legendären Donner-Trecks. “Sentiment wie Trauer und Unstimmigkeit, kostete Zeit. Ein Zögern, ein Moment des Zurückschauens, und der Gral war verwirkt”, so könnte man das Credo der Siedler in den Worten Didions umschreiben. Die sog. “erlösende Kraft der Überquerung” wurde aber nicht durch Liebe gestaltet, denn sie liebten ihr Land nicht, diese Pioniere. Sie bedienten sich eines eisernen Ungetüms, eines Leviathans, eingedenk, dass der eigentliche Octopus nicht die Eisenbahn, sondern die unbarmherzige und gleichgültige Natur selbst war. Wollten sie deswegen alles aus dem Boden rausholen, was rauszuholen war? Didion zeigt, dass sich schon früh Spekulanten bereicherten, etwa wenn sie staatliche Subventionen abgriffen, um ihren Reichtum zu vermehren. Die “subventionierte Monopolisierung Kaliforniens” geschah genauso, wie sich Chrysopylae (Golden Gate) sich ein Vorbild an der Chrysosokeras (Goldenes Horn) von Byzantium ein Vorbild genommen hatte: durch Raub.

Die Kehrseite des verheißenen Paradieses

Der kalifornische Wohlstand baute vor allem auf Flugzeugherstellern wie Hughes, Douglas, Rockwell auf. Aber “Mongolen, Indianern und Negern” war 1860 vom kalifornischen Landtag der Zugang zu öffentlichen Schulen untersagt. Der kalifornische Land Act von 1913 verbot sogar ausdrücklich allen Asiaten und auch ihren in den USA geborenen Kindern (!) Landbesitz. Im zweiten Teil ihrer Rückschau nimmt sich Didion Lakewood vor, eine aus dem Boden gestampfte Gemeinde, die vor allem von Beschäftigten dieses Wirtschaftssektors, der Rüstungsindustrie, bewohnt wurde. Didion stellt sich die Frage, was aus den Kindern dieser Bewohner wird. Antwort: Spur Posse. Schon ihre Mutter hatte Didion darauf aufmerksam gemacht, dass “dieses Wort” hier nicht gebraucht wird. “So denken wir nicht.” Die Rede ist von “Klasse”. Die Ausschreitungen von 1991 (die sog. “L.A. Riots”) bringt Didion in einen Zusammenhang, den andere nicht zu denken wagten. Denn die Auftragslage in der Rüstungsindustrie (sprich: Flugzeuge) war 1989 eingebrochen und Arbeitslosigkeit weit verbreitet. Zwischen 1988 und 1993 waren 800.000 Arbeitsplätze verloren gehangen, so Didion. Aus dem verheißenen Land wurde Ende des 20. Jahrhunderts ein Eldorado der Sozialhilfeempfänger, das 1998 Menschen, die aussiedeln wollten, sogar Prämien für Umzug etc. zahlte. Arbeitsplätze gab es nur mehr in der California Correctional Peace Officers Association, aber selbst die brachten ihr Personal größtenteils selbst mit. Im Jahr 2000 war das kalifornische Strafvollzugssystem mit 33 Zuchthäusern zum größten in der westlichen Hemisphäre geworden. 1995 gab Kalifornien mehr für seine Gefängnisse als für seine zwei großen Universitätssysteme, die UCLA und die California State, aus.

Joan Didion zeigt die Kehrseite der Medaille und verwebt das Schicksal ihres Bundesstaates und Geburtslandes mit dem ihrer eigenen Familie. Sie schreibt über den Tod: “Als mein Vater starb, machte ich weiter. Als meine Mutter starb, konnte ich das nicht.” Der Traum Amerikas, “die ganze Verzauberung”, schreibt sie, “unter der ich mein Leben zugebracht hatte”, fing an, “abwegig” auszusehen. Ein nachdenkliches Werk der 2021 leider verstorbenen Schriftstellerin und Intellektuellen, das zeigt, dass nicht alles gülden ist, was glänzt.

Joan Didion
Woher ich kam. Roman
(Originaltitel ‏ : ‎ Where I Was From)
Aus dem Amerikanischen von Antje Rávik Strubel
2019, Hardcover, 272 Seiten
ISBN: 978-3550050213
Ullstein Verlag
20.-€


Genre: Roman
Illustrated by Ullstein