Meine Schwester – Meine Mutter

1984 erhängt sich die Mutter der Fotografin Bettina Flitner. 33 Jahre späte wiederholt sich dasselbe Schicksal bei ihrer Schwester Susanne und dessen Ehemann Thomas. Mit ihrem 2023 erschienen Roman “Meine Schwester” legte die Autorin schonungslos die eigenen Wunden offen. Nun legt sie mit “Meine Mutter” noch einmal nach.

Meine Mutter

Bettina Flitner begibt sich in “Meine Mutter” auf eine Reise in den Luftkurort Wölfelsgrund im ehemaligen Niederschlesien, dem heutigen Międzygórze. Dort hatten ihre Vorfahren bis zur dramatischen Flucht 1946 ein Sanatorium besessen und geleitet. Dort lebte ihre Mutter bis zum Alter von zehn Jahren. Bettina, ihre Tochter, sucht an genau jener Stelle nach dem Ursprung, wo einst alles begann. Natürlich thematisiert sie auch die politischen Umwälzungen jener Zeit, die Mitgliedschaft des Großvaters in der NSDAP als “Märzgefallener” und die Vertreibung nach dem Krieg. 14 Millionen Deutsche mussten zwischen 1944 und 1948 ihre Heimat verlassen, schreibt sie. Und obwohl der Krieg zu Ende war, starben immer noch viele Menschen am Krieg. Viele auch durch Selbstmord. Eines der dunkelsten Kapitel ist die Celler Hasenjagd, bei der vier Tage vor Einmarsch der Alliierten in Celle am 8. April 1945 unschuldige Menschen durch die Straßen gejagt und umgebracht wurden. Denn nach der Bombardierung des KZ Bergen-Belsen konnte einige Insassen in die umliegenden Dörfer entkommen und wurden dort erschlagen. “Ich werde nicht älter als 47” hört Bettina heute noch ihre Mutter sagen, so als ob sie es immer schon geplant hätte. Aus den Erlebnissen ihrer Reise ins heutige Polen, den Tagebüchern und Dokumenten ihrer Familie und ihren eigenen Erinnerungen erschafft Bettina Flitner vorliegenden Roman, der näher an der Realität liegt als man sich wünschen möchte.

Meine Schwester

Noch persönlicher als das Nachfolgewerk “Meine Mutter” ist allerdings der Vorgänger aus dem Jahre 2023, “Meine Schwester”. Die Autorin beschreibt darin sachlich und zugleich erschütternd ihre Beziehung zu ihrer Schwester, die ebenfalls Suizid beging. Susanne, ihre ältere Schwester, war eine Art “trauriger Clown”. Sie konnte meisterhaft andere nachahmen und sich über alles und jeden lustig machen. Auch ihr Vater hatte ein komödiantisches Talent und als er bei der Ford Foundation in New York einen Job bekommt, geht die ganze Familie mit. “Wir vier”, denkt sich Bettina oft, aber bald schon muss sie feststellen, dass sie einer Fiktion unterliegt. Denn der Vater geht fremd und bald auch die Mutter. In den Siebziger Jahren als die beiden Schwestern aufwuchsen war dies eine Normalität. Bettina sucht in ihrem Text nach den Vorzeichen für den bevorstehenden Selbstmord, den ersten Anzeichen, wann es begann und natürlich steht die Frage im Raum, ob es nicht vielleicht doch genetisch sein könnte? Oder waren die Depressionen der Mutter eine gewollte Flucht? Wieder zurück in Deutschland besuchen sie Waldorfschule, ihre Schwester dann auch die Montessori-Schule. Als die Eltern sich sogar vor den Kindern streiten, beginnen auch die beiden sich zu zanken. Wenn Flitner das Bild des Familienautomobils als faradayschen Käfig zeichnet, wird deutlich, wie sich die Emotionen entwickelt hatten. Und bald muss sie erkennen, dass Liebe etwas war, das man mit Demütigung bezahlte, “etwas, das einen am Ende vernichten konnte”.

Eine beeindruckende Lebensbeichte, die man nur schwerlich als Roman bezeichnen kann, denn dafür sind die beiden Erzählungen zu Nahe an der Realität. Als ihre Mutter sich ohne Abschied aus der Welt nahm, machten die beiden Töchter gerade erst Abitur. Ihr damaliger Freund heiratete sechst Wochen nach ihrem Tod ihrer Mutter eine neue Frau.

Bettina Flitner
Meine Mutter
2025, Hardcover, 320 Seiten
Lieferstatus: Lieferzeit 1-2 Tage
ISBN: 978-3-462-00849-4
Kiepenheuer&Witsch
24,00 €

Meine Schwester
Verlag: KiWi-Taschenbuch
2023, Hardcover, 320 Seiten
ISBN: 978-3-462-00521-9
Kiepenheuer & Witsch
24,00 €


Genre: Biographie, Familiengeschichte, Roman
Illustrated by Kiepenheuer & Witsch Köln

Sam Shaw: Dear Marilyn

Sam Shaw: Dear Marilyn

Sam Shaw: Dear Marilyn. Am 1.6.2026 wäre die in Los Angeles geborene Norma Jeane Baker 100 Jahre alt geworden. Grund genug jetzt schon das Marilyn Monroe Jubiläum auszurufen und mit vorliegendem, großformatigen Bildband die Schauspielerin und Produzentin zu feiern.

Sam Shaw: Unveröffentlichte Briefe und Fotos von Marilyn

Sam Shaw: Roxbury, CT, 1957

Was zumeist untergeht, ist, dass MM  (1926-1962) nicht nur als Fotomodell und Schauspielerin arbeitete, sondern 1954 die Marilyn Monroe Productions Incorporated in New York gründete und am Actors Studio studierte. Sie hatte alle ihre Hollywoodverträge aufgelöst “Der Prinz und die Tänzerin”, in dem sie auch die Hauptrolle spielte. Mit “Misfits – Nicht gesellschaftsfähig” gelang ihr 1961 der Wechsel ins ernste Rollenfach und sie schrieb erneut Geschichte. Der vorliegende Band ist aber ganz ihrer Filmkarriere gewidmet und zeigt hinreißende Bilder und Dokumente, die bisher noch nicht bekannt waren.

Blowing Skirt Fotos und mehr verflixte Bilder

NEW YORK – SEPTEMBER 1954: Marilyn Monroe with the skirt of her white dress blowing as she stands over a subway grate at the corner of 51st Street and Lexington Avenue in September, 1954 during the filming of “The Seven Year Itch” in New York, New York. (Photo by Sam Shaw/Shaw Family Archives/Getty Images)

Kaum zu glauben, aber es gibt sogar von Marilyn Monroe – sie gilt als die meistfotografierte Person des 20. Jahrhunderts –  immer noch Dinge, die nicht bekannt sind. Sam Shaw, der Hollywoodphotograph, Produzentenkollege und enge Freund Marilyns schoß 1954 die sog. “blowing skirt-Photos” über dem New Yorker Subway-Schacht für die Promotion des Films “Das verflixte 7. Jahr”. Aufgrund eines Rechtsstreits waren diese Bilder allerdings jahrzehntelang blockiert. Um genau zu sein: ganze 71 Jahre! Nachdem dieser Rechtsstreit nun endlich beigelegt ist, veröffentlicht die Familie des 1999 verstorbenen Photographen seine Marilyn-Bilder zusammen mit unveröffentlichten Briefen, in einem großen hochqualitativen Bildband. Insgeheim wird die vorliegende Publikation im Format einer Schallplatte jetzt schon als Auftakt zum Marilyn Centennial 2026 gehandelt.

Dear Marilyn: eine Ikone der Frauenbewegung?

Sam Shaw: Roxbury, CT, 1957

Auf 240 Seiten werden 77 Farb- und 180 Schwarzweiß-abbildungen gezeigt, die Marilyn Monroe beim Telefonieren, am JFK Airport, bei Dreharbeiten über besagtem New Yorker U-Bahn Schatz, mit Arthur Miller vor der Queensboro Bridge, zuhause beim Tanzen in Roxbury, CT oder auch an der Amagansett Beach in NY zeigen. Egal auf welchem Foto und in welcher Position: immer sieht sie frisch wie aus dem Ei gepellt hat, zeigt ihr volles Charisma und erstrahlt. Alle Fotos zeigen eine atemberaubend schöne, selbstbewusste, fröhliche, versonnene, immer überraschende Marilyn, ganz so, wie man sie in Erinnerung behalten möchte. Sam Shaw hatte die Gelegenheit, Marilyn Monroe von 1950 bis in die 1960er Jahre zu begleiten, photographierte sie am Set und privat, korrespondierte mit ihr – damals noch in Briefen – und hielt seine eigenen Erlebnisse in Tagebüchern fest. “Dear Marilyn” – so der liebevoll gemeinte Buchtitel –  schildert den Weg vom Starlet über den Superstar zur unabhängigen Produzentin in drei Akten. Ein eigenes Kapitel ist auch der Entstehung des blowing skirt-Photos gewidmet. zeigen eine atemberaubend schöne, selbstbewusste, fröhliche, versonnene, immer überraschende Marilyn.

Vermächtnis und Ausblicke auf das Jubiläumscentennial 2026

AMAGANSETT, NY – 1957: Marilyn Monroe on the beach in 1957 in Amagansett, New York. (Photo by Sam Shaw/Shaw Family Archives/Getty Images)

Sam Shaw (1912, New York City – 1999, Westwood, New Jersey) begann als Illustrator für Zeitschriften und war ab den 1940er Jahren Photojournalist für Collier’s, Life und Look. In den 1950er Jahren arbeitete er als Setphotograph in Hollywood, u.a. für Elias Kazan (Endstation Sehnsucht, Viva Zapata! mit Marlon Brando) und Billy Wilder (Das verflixte 7. Jahr) und war ab den 1960er Jahren als Produzent, u.a. der Filme von John Cassavetes (Husbands, Eine Frau unter Einfluss, Opening Night, Gloria) tätig. Marilyn Monroe, geb. am 1.6.1926 in Los Angeles als uneheliche Tochter einer Filmcutterin, wuchs bei Verwandten und diversen Pflegefamilien auf. Nachdem sie Ende der 1940er Jahre als Fotomodell und Nachwuchsschauspielerin in Hollywood Aufsehen erregt hatte, gelang ihr 1950 der Durchbruch als Filmschauspielerin. Von 20th Century Fox auf den Typ der naiven, lasziven Blondine festgelegt, avancierte sie mit Filmen wie Niagara, Blondinen bevorzugt, Wie angelt man sich einen Millionär? oder Das verflixte 7. Jahr Anfang der 1950er Jahre zum größten Star in Hollywood und zu einer der bekanntesten und meistfotografierten Frauen der Welt. Ihre wohl berühmteste Rolle ist die Ukulelespielerin Sugar Kane in der Billy Wilder-Komödie Manche mögen’s heiß von 1959, für die sie mit dem Golden Globe ausgezeichnet wurde.

Ihr trauriges Ende – sie starb an einer Überdosis Barbituraten – ist bis heute ungeklärt. Sie starb mit nur 36 Jahren in Brentwood, Los Angeles. Weitere interessante Annäherungen an Mythos und Legende Marilyn Monroe stammen etwa von Joyce Carol Oates und der nach ihren Aufzeichnungen gedrehte gleichnamige Film von Andrew Dominik “Blond”.

SAM SHAW
DEAR MARILYN
DIE UNVERÖFFENTLICHTEN BRIEFE UND PHOTOGRAPHIEN
Mit einem Vorwort von Meta Shaw und Edie Shaw
und einem Text des Photographen
Aus dem Englischen von Haide Paul
240 Seiten, 77 Farb- und 180 Schwarzweißabbildungen
ISBN 978-3-82961046-9
Schirmer/Mosel Verlag
€ 49,80 € (Ö) 51,20 CHF 57,30


Genre: Bildband, Biographie, Fotobuch, Fotografie
Illustrated by schirmer/mosel

Katzentage

Ewald Arenz: Katzentage

Katzentage. “Manchmal ist das so. Dann ist die ganze Welt nur Kulisse für das eine kurze Stück, das unser Leben heißt.” Der Oktober steht  vor der Tür und damit die schönste Jahreszeit, mit so vielen Schattierungen, wie die Blätter Farben haben. Von Ewald Arenz stammen die herbstlichen Worte, von Florian Bayer die verführerischen Bilder.

Eine wunderschöne Erzählung, so leicht wie…

Ewald Arenz hat eine wunderschöne Erzählung, so leicht wie ein Radausflug an einem sonnigen Herbsttag geschrieben. Zwei Fremde, Paula und Peter, landen aufgrund eines Bahnstreiks – ungewollt und unverhofft – in dem Mainstädtchen Würzburg. Sie beschließen, das Beste aus der Situation zu machen und nehmen sich ein malerisches B&B in einem Garten. Peter, den Paula ursprünglich für einen langweiligen Juristen hielt, entpuppt sich als witziger Gesellschafter und Reisegefährte. Er arbeitet in der Verwaltung derselben Klinik, wo sie eine Arztstelle hat. Aber außer ein paar gemeinsamen Kantinenbesuchen hatte sich zwischen ihnen nicht so viel getan. Alles rein freundschaftlich natürlich, denn die Arbeit läßt mehr als das kaum mehr zu. Doch dann bietet sich ihnen da dieses Fenster: eine Auszeit, eine Flucht aus ihrem Leben und ihrem Alltag. “Katzentage“, nennt der Autor diese Seinsform, “ein paar gestohlene Oktobertage“, eine Auszeit vom Alltag.

…Ein Radausflug an einem sonnigen Herbsttag

Im Herbst wird man immer ein wenig atemlos von der Schönheit, die man so besonders nur jetzt mit allen Sinnen aufnimmt“, sagt Peter, der Poet. “Das sind die leuchtenden Tage, die am Ende entscheiden, ob ein Leben gut war oder nicht“, erwidert Paula, die Sinnliche. Bei einem ersten Spaziergang prickelt es zwischen den beiden schon und das mag nicht nur am Wein liegen. Ein Kuss am Friedhof, was für Peter immer ein Spielplatz der Kindheit war und immer noch, Jahrzehnte später, das Gefühl des Nachhausekommens bei ihm auslöst, verbindet die beiden. “Manches muss ja im Herbst gesät werden“, sagt Peter hoffnungsvoll, “dass es im Frühjahr blüht und Frucht im Sommer trägt“. Aber Paula zögert noch, ziert sich, denn sie will vor allem den Moment, den Augenblick genießen und sich nicht zu viele Gedanken über die Zukunft machen. Ein gemeinsames Wochenende haben sie und so mieten sie sich zwei Fahrräder und genießen den Herbst und seine “tausend Schattierungen“. “Jeder muss für sich selbst entscheiden, ob er Glück oder Wehmut, Abschied oder Anfang bedeutet”, meint Peter verheißungsvoll, doch dann taucht plötzlich eine Katze auf, die alles verändern wird. Vor allem das Leben der beiden.

Einfach Katzentage im Oktober…

Eine bestechende Geschichte, bebildert mit verführerischen Illustrationen, die das schöne Leben genauso feiern wie die Liebe. Die Leichtigkeit des Seins zelebriert mit einem rührenden Ende. Eine Katze müsste man sein. Oder zumindest wieder einmal ein paar solcher Katzentage erleben.

Ewald Arenz/Florian Bayer
Katzentage
Illustrierte Erzählung
ISBN: 978-3-7558-0056-9
2025, Hardcover, 128 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag, farbigem Vorsatzpapier und Lesebändchen
DuMont Verlag
22,00 €

Ewald Arenz, 1965 in Nürnberg geboren, hat englische und amerikanische Literatur und Geschichte studiert. Er arbeitet als Lehrer an einem Gymnasium in Nürnberg. Seine Romane und Theaterstücke sind mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet worden. Mit ›Alte Sorten‹ (DuMont 2019) stand er auf der Liste »Lieblingsbuch der Unabhängigen« 2019 und ›Der große Sommer‹ (DuMont 2021) erhielt 2021 ebenjene Auszeichnung. Zuletzt erschien ›Zwei Leben‹ (DuMont 2024).

Florian Bayer ist freier Illustrator aus Esslingen bei Stuttgart. Seit 2007 illustriert er u. a. für Der Spiegel, Die Zeit, Süddeutsche Zeitung und FAZ. Seit 2023 ist er Professor für Illustration an der Merz Akademie, Hochschule für angewandte Kunst, Design und Medien, Stuttgart. Seine Arbeiten wurden mehrfach ausgezeichnet, u. a. mit dem World Illustration Award, dem European Design Award und dem German Design Award.


Genre: Erzählung, Illustrationen
Illustrated by DuMont

Das Bildnis des Dorian Gray

Das Bildnis des Dorian Gray

Die Jugend lächelt auch ohne Grund. Das ist einer ihrer Reize“, so der Lebemann Lord Henry, der eine wichtige Rolle in dem Dark-Romance Klassiker von Oscar Wilde spielt, der zu einem Kultbuch seiner Generation und darüber hinaus wurde. Schließlich prägte er darin nicht nur den Begriff des Dandy, sondern auch den Verfall des viktorianischen Zeitalters.

Fin de siècle – Fin du globe

Dieses “hirnlose, schöne Geschöpf”, wie Lord Henry Dorian Gray bezeichnet, wird von Basil Hallward in einem unvergleichlichen Bild porträtiert. Aber das Gemälde entwickelt schnell ein Eigenleben. Statt dass das Modell, Dorian, altert, altert das Bild und legt sich wie ein Fluch über das Leben des jungen Adonis. Denn nicht nur dass er ewig jung bleibt, es schaden ihm auch keine Exzesse oder Versuchungen mehr, allein sein Porträt nimmt Schaden. Alsbald in den Dachboden verdammt spielt es die Rolle, die Freud dem “Es” zuteilte: in den Keller damit. Bei Oscar Wilde wird das Bild zum Sinnbild der Seele, der Lebemänner wie Lord Henry längst abgeschworen haben. “Das einzig Schreckliche in der Welt ist ennui, Darian. Das ist die einzige Sünde für die es keine Vergebung gibt”, ermuntert Lord Henry seinen jungen Schützling zu immer weiteren Exzessen. “Nein, wir haben den Glauben unseren Glauben an die Seele aufgegeben. Spiel mir etwas! Spiel mir ein Nocturne”, fordert Lord Henry Dorian Gray am Ende des Romans dann nochmals auf, bevor er zu einer Lobpreisung der Jugend ansetzt und Dorian in den White’s Klub einlädt. Denn die Jugend wird von Lord Henry wie ein neuer Gott angebetet, allein, sie bleibt auch für ihn unwiederbringlich, der den armen Dorian in seinen eigenen Abgrund mitreißt. Lord Henry ist aber auch die bunteste und schillerndste Figur des vorliegenden Romans. Seine Sinnsprüche und Weisheiten vor allem über die Frauen aber auch das Leben sind Legende. “Pünktlichkeit stiehlt einem nur die Zeit” sagt Lord Henry oder “Vielleicht sieht man nie so gut aus, wie zu der Zeit, in der man eine Rolle zu spielen hat”. Über das andere Geschlecht scheint er ganz besonders Bescheid zu wissen: “Frauen lieben uns wegen unseren Fehlern. Wenn wir derer genug haben, verzeihen sie uns alles, selbst unseren Verstand.” Oder: “Ein Mann kann mit jeder Frau glücklich sein – solange er sie nicht liebt.” Doch genau das geschieht mit Dorian, denn er verliebt sich in die junge Schauspielerin Sybil Vane, die sich wegen ihm das Leben nimmt. Daraufhin beginnt das Bild von Basil zu altern, denn jedes Mal dann, wenn sich Dorian Versuchungen und Sünden ergibt, nimmt nicht er Schaden, sondern das Porträt. “Eine wilde Angst vor dem Tod hatte ihn erfasst und dabei war ihm das Leben gleichgültig geworden”, schreibt Oscar Wild in Vorwegnahme der noch kommenden Ereignisse. Seinen Dark Romance Klassiker schrieb er auf einem Vulkan, 1891, wenige Jahre später versiegte er: 1900, die Jahrhundertwende erlebte er gerade noch. Für ihn wurde das Fin de siècle allerdings zum Fin du globe – dem Ende seiner Welt.

Ein Roman und seine Folgen

Oscar Wilde rächt sich aber auch an der Provinz und der dem Untergang geweihten Gesellschaftsschicht, dem Adel: “Auf dem Lande kann jeder gut sein, da gibt es keine Versuchungen. Das ist der Grund warum die Leute, die nicht in der Stadt wohnen, so ganz und gar ohne Kultur sind. Kultur ist eine Sache, die keineswegs leicht zu erreichen ist. Es gibt nur zwei Wege, zu ihr zu kommen. Der eine heißt Bildung, der andere Verdorbenheit. Die Leute auf dem Lande haben zu beiden keine Gelegenheit, darum stagnieren sie.”, lässt er Lord Henry sagen. Und seine Schwester, die Herzogin Gladys Wotton legt noch nach: “Wissen wäre verhängnisvoll. Die Ungewissheit reizt einen. Ein Nebel macht die Dinge wundervoll.” Die vorliegende Ausgabe des von Hedwig Lachmann und Gustav Landauer übersetzten Romans wurde von Benjamin Lacombe illustriert. Im Anhang befindet sich auch ein Bilderzyklus der zeigt, wie der Verfall des Gemäldes von Basil Hallward ausgesehen haben könnte. Außerdem wurde das lesenswerte Nachwort vom Neffen von Oscar Wilde, Merlin Holland, verfasst, der darin die Entstehungsgeschichte des einzigen vollendeten Romans seines Großvaters nachzeichnet. Oscar Wilde hatte ihn mit 35 geschrieben, verheiratet, zwei Kinder, von Rezensionen von Büchern und Theaterstücken lebend und – schwul. Für den Dorian Gray wurde er vom Vater seines Liebhabers Alfred Douglas, dem Marquess von Queensberry, der Sodomie beschuldigt. Wilde’s Klage ging nach hinten los und brachte ihn um seinen Ruf und seine Freiheit. Die vom Gericht inkriminierten Passagen, die ein homosexuelles Verhältnis zwischen Basil und Dorian suggerieren, sind in vorliegender Ausgabe in eckige Klammern gesetzt. Auch dadurch ergibt sich eine besonders delikate Lektüre. Gerade wenn man bedenkt, was Wilde in einem Brief geschrieben hatte: “Basil Hallward ist das was ich denke, Lord Henry ist das, was die Welt von mir denkt; Dorian Gray ist das, was ich gerne sein würde.” In den Bau ging Oscar Wilde schließlich nicht wegen dem Roman Dorian Gray, sondern wegen Unzucht. Aber Dorian hatte ihn davor auch nicht bewahren können: Oscar Wilde war gesellschaftlich ruiniert. Ihm fehlte die Bühne.

Oscar Wilde
Das Bildnis des Dorian Gray
Übersetzung von Hedwig Lachmann und Gustav Landauer
Mit Illustrationen von Benjamin Lacombe
Serie: Papillon Noir
2024, Hardcover, Halbleinen mit Kupferprägung. Mit transluziden Seiten und durchgehender Vierfarbigkeit
ISBN-13: 9783964282231
Verlagshaus Jacoby Stuart
€ 51.-

 


Genre: Illustrationen, Krimi, Roman, Romance
Illustrated by Coppenrath

What Goes Up Must Come Down. Kleine Geschichte der Popmusik

Whatever goes up must come down Eine kleine Geschichte der Popmusik

Der österreichische Musiker und inzwischen auch Schriftsteller Hans Platzgumer bezieht sich im Titel seines neuesten Buches auf einen Song von Blood, Sweat & Tears. Sein Essay über das “Gravitationsgesetz des Pop” wird mit einer Playlist und einem “Hidden Track” ergänzt und erschien im Frühjahr 2025 in der Reihe “Bibliothek des Alltags//Beutezüge im Bekannten” im Wiener bahoe books Verlag in einem poppigen Cover mit Goldleineneinband.

Auf Schreien folgt Schweigen. Reverse.

Abgesehen von seiner eigenen Lebensgeschichte als Frontman diverser Bands wie Capers, KÖB, H.P. Zinker, Convertible u.v.a.m. und Beispielen aus der Popwelt der Sechziger bis heute, verwendet Platzgumer als kulturtheoretischen Klebstoff auch den Klassiker von Guy Debord, “Gesellschaft des Spektakels”, das schon 1967 die wesentlichen Elemente unserer heutigen Realität vorwegnahm, als Grundlagen für sein lesenswertes Essay. Guy Debord formulierte quasi als erstes, dass unsere direkte Erfahrung schrittweise durch mediale Repräsentationen verdrängt wird. Widerstand und Kritik könnten dem nur durch eigenes Handeln entgegengesetzt werden. Wer sich das umfangreiche Oeuvre des Autors und Musikers ansieht, sein Lebenswerk, wird zugeben müssen, dass der aus dem kleinstädtischen Milieu des Innsbrucks der Achtziger Jahre genau das getan hat. Vom aufbegehrenden Punkmusiker seiner ersten Platte “Tod der CD” entwickelte sich der inzwischen 56-jährige Musiker zu einem New Yorker Grungerockmusiker der frühen Neunziger hin zu einem elektronischen Musiker, der sich Jahre später dann doch wieder die Gitarre umschnallte. Auf John Cage rekurrierend, der schon 1952 mit “4’33” die Grundlagen für das legte, was später als Ambient oder Musique concrète bezeichnet wurde, darf man vielleicht auch Platzgumer eine gewisse Entwicklungsfähigkeit in seinem musikalischen Schaffen attestieren. Denn auf den Lärm (des Punks und Rocks) folgte auch bei ihm die Stille (des Schriftstellers). Auf Schreien, Schweigen. Und umgekehrt.

Pop zwischen Ursache und Wirkung

Seine Grundannahme ist, dass der Mainstream auch durch den Underground beeinflusst werde und es ohne den Austausch der beiden keine Entwicklung im Pop gebe. Platzgumer bemerkt außerdem, dass jede Rebellion ihren Sound gehabt hätte und es diese heute einfach nicht mehr gebe. Dabei verwechselt er tatsächlich Ursache und Wirkung, denn nicht der Sound macht die Rebellion, sondern die Rebellion erzeugt den Sound. Im Sinne des Ressource Mobilization Ansatzes der US-amerikansichen Sozialbewegungsforschung sind es nämlich tatsächlich die frei werdenden Ressourcen und Bündnisfähigkeiten, die den Erfolg einer sozialen Bewegung ermöglichen. Die Ästhetik des Punk wurde etwa z.B. wesentlich durch das Billigerwerden von Kopierern bestimmt, die es ermöglichte Flugblätter massenhaft zu erzeugen und zu verbreiten. House resp. Techno entstand wiederum durch das Billigerwerden des Roland Sytnhies. Damit wären wir auch wieder bei Guy Debord. Denn die heutigen Ressourcen sind ganz klar von social media bestimmt und erzeugen somit auch deren Ästhetik. In Platzgumers Fall war es übrigens ein altes Röhrenradio, an das er seine erste Gitarre anschloss, was ihn dann zum Punk führte. Der von Platzgumer angenommene Austausch zwischen Oben und Unten, also Mainstream und Underground, unterliegt allerdings vielmehr der Akzeleration der Verwertungsmechanismen des postfordistischen Akkumulationsregimes des Spätkapitalismus, in dem ganz einfach alles dem Profit untergeordnet ist. Und das eben immer schneller. Die Akzeleration (Beschleunigung des Wachstums) ist heutzutage durch social media sogar so schnell, dass es gar keinen Mainstream oder Underground mehr gibt, die Grenzen verwischen. Was nicht bedeutet, dass oben=unten oder unten=oben.

Smells like… Akzelaration

Dass nämlich ausgerechnet Kathleen Hanna der Grrrls Riot Band Bikini Kill für den Jahrhunderthit “Smells Like Teen Spirit” von Nirvana verantwortlich zeichnet und der Mainstream und Underground 1991 dank permanenter MTV-Rotation zu einer schrillen Synthese verschmolz, ist sicherlich ein Beweis für die immer schneller werdende Akzeleration des Kapitals. Durch die Seismographen des Internets kann etwas Neues aus dem sog. Underground sofort zu einem Mainstream-Trend werden. Sozialveränderndes Potential traut Platzgumer allein noch dem Hip Hop zu, der in immer neuem Gewande die Mainstreamkultur aufbreche. Die Sex Pistols im Vorprogramm (als “support act”) von Guns’n’Roses in diesem Wiener Sommer im Wiener Prater Stadion vor 43.000 Leuten ist somit nur ein weiteres Beispiel für die Richtigkeit von Debords Theorie der Gesellschaft des Spektakels: als Menschen treten wir nicht mehr direkt in Beziehung zur Wirklichkeit oder zueinander, sondern vor allem zu Bildern, Repräsentationen und Inszenierungen. Realität wird als Spektakel vermittelt – durch Medien, Werbung, Konsum, Politik in Form von Bildern und Inszenierungen, so Debord 1967 (!). “What Goes Up Must Come Down” von Hans Platzgumer ist ein interessantes Essay, das die mit Popmusik assoziierte Rebellion in den Mittelpunkt stellt – sowohl als eigene Lebenserfahrung des Autors als auch als neues Akkumulationsregime des Spätkapitalismus spätestens seit den Sechzigern. Auch diese Wechselbeziehung beruht im übrigen auf der Ausbeutung von Ressourcen.

Hans Platzgumer
What Goes Up Must Come Down
Kleine Geschichte der Popmusik
2025, Hardcover mit Goldleineneinband, 128 Seiten, Format 14x22cm
ISBN 978-3-903478-41-1
bahoe books
€ 24,00


Genre: Essay
Illustrated by Bahoe Books

ELLA – nichts haben, alles ändern

ELLA – nichts haben, alles ändern

ELLA. Anhand der Erzählungen Ella Rollniks – einst Mitglied der Bewegung 2. Juni – in ausführlichen Gesprächen zwischen 2022 und 2024 in Hamburg, entstand die vorliegende Geschichte des bewaffneten Widerstands in den Siebziger Jahren, die Michael Weber aufschrieb und ZAZA Uta Röttgers beeindruckend illustrierte.

Die Aufbruchstimmung der Sechziger

Als ihr kleiner Bruder mit acht Jahren an Krebs starb, war plötzlich alles fragwürdig. Ella war gerade 14 und sie fragte sich, was das alles noch sollte, “die Schule und alles“. Sie war bei weitem nicht die einzige, die damals begann, alles in Frage zu stellen, denn die Aufbruchstimmung der Sechziger Jahre sorgte für ordentlichen Trommelwirbel. Der erste physische Wohlstand führte dazu, den psychischen Zustand in Frage zu stellen, denn die meisten waren ja Kinder von Überlebenden der Nazigräuel, also entweder Opfer oder doch eher Täter. Eine ganze Generation begann Fragen zu stellen und legitimierte sich aufgrund fehlender schlüssiger Antworten auch ihren Widerstand damit. Als erst Benno Ohnesorg (2.Juni 1967), dann Rudi Dutschke (11.April) erschossen oder angeschossen wurden, war es ganz klar, dass man sich dagegen wehren musste. Schließlich hatte “der” Staat zuerst geschossen und man befand sich in einer Art Verteidigungshaltung. Zudem gab es den bewaffneten Widerstand ja auch in andern Länder, die zumeist gegen ihre Kolonialherren aufstanden. Selbst die Boxlegende Mohammed Ali schloss sich dem Widerstand an: “No Vietcong ever called me Nigger“. “Ist doch absurd jetzt noch Gewaltdiskussionen zu führen nach dem Dutschke-Attentat, nachdem sie Petra Schelm und Georg von Rauch letzte Woche erschossen haben“, heißt es in vorliegender Graphic Novel, die tief in den deutschen Underground der Siebziger Jahre eintaucht.

Welle des bewaffneten Widerstands in Westeuropa

Tatsächlich gab es auch in Europa noch einige Diktaturen: Portugal, Spanien, Griechenland, Türkei. Wer also gegen Faschismus kämpfte, befand sich auf der richtigen Seite der Geschichte, das zeigte die gesamte Weltlage. In Italien formierten sich die Brigate Rosse, in Frankreich die Action Directe und in Deutschland die Rote Armee Fraktion (RAF) und eben die Bewegung 2. Juni. Die doktrinäre und autoritäre Führung der RAF  wurde von der Bewegung 2. Juni stets abgelehnt. Sie versuchte sich immer wieder von dem sinnlosen Morden zu distanzieren: “Wann begann unser Scheitern? Wenn es damals diskutiert worden wäre, von allen, die bewaffnet kämpften, dann wäre diese ganze Eskalation, die es später gegeben hat, dass politische Aktionen nur noch darin bestanden, Funktionsträger des Systems zu töten, vielleicht verhindert worden“, sagt Ella. Dafür hätte es allerdings mehr Treffen in Wienerwald-Restaurants bedurft, damals ein beliebter Treffpunkt für RAF-Sympathisanten. Die Entführung Peter Lorenz und des österreichischen Strumpfwarenherstellers Palmers gehen ebenso auf das Konto der Bewegung 2. Juni wie ein Gefängnisausbruch und diverse Banküberfälle. “Damit sich irgendwas ändern kann in der Welt, muss die Hegemonie des Westens gebrochen werden“, meint Ella an einer Stelle. Dass dies fast ein halbes Jahrhundert tatsächlich geschieht und eine Zeitenwende unter ganz anderen Vorzeichen eingeleitet wurde, hätten sich die damaligen Aktivist:innen vielleicht doch anders vorgestellt.

Kulturelle und politische Zeitenwende(n)

Die Zeit nach dem Widerstand, also im Gefängnis, wird in vorliegendem Comic ebenfalls thematisiert und – ausnahmslos beeindruckend – illustriert. Die Rede ist von sensorischer Deprivation, Folter, Selbstmord u.ä., aber auch von Hungerstreiks, bei denen die behandelnden Ärzte von der Regierung so unter Druck gesetzt worden wären, dass sie gezwungen gewesen wären, gegen ihren Eid zu verstoßen. Einer dieser Ärzte hielt diesem Druck nicht mehr stand und beendete sein Leben selbst. Eines der wohl traurigsten Kapitel der Geschichte des “bewaffneten Widerstands” ist wohl, dass viel Unschuldige hineingezogen wurden. Sigurd Debus und Dr. Leschhorn: “Ich zähle ihn zu den wirklich guten Menschen, die ich in meinem Leben getroffen habe“, so Ella. Im Anhang befindet sich ein Glossar mit den wichtigsten Begriffen der damaligen Zeit und natürlich einige Literaturhinweise, darunter auch “Nach dem bewaffneten Kampf”.

Michael Weber/ZAZA Uta Röttgers
ELLA – nichts haben, alles ändern
Herausgegeben von der Galerie der abseitigen Künste
2025, Hardcover, 212 Seiten
ISBN 978-3-948478-21-6
Galerie der abseitigen Künste
€ 28.00


Genre: Comic, Graphic Novel
Illustrated by Galerie der abseitigen Künste

Marco Wanda: Dass es uns überhaupt gegeben hat

Marco Wanda. Marco Wanda,der Sänger und Songwriter der “größten österreichischen Rockband“, Wanda, die sich nach der Zuhälterin Wanda Kuchwalek benannte, hat ein Buch geschrieben. Dass er nicht zufällig Frontman und auch Texter der deutschsprachigen Chartstürmer wurde, beweist er in seiner Rockstarlebensbeichte durch sein ausgeklügeltes Erzähltalent.

Aufstieg, Ruhm und Läuterung

Der ehemalige Student der Sprachkunst an der Universität für angewandte Kunst in Wien hatte mit Wanda so viel Erfolg, dass er sein Studium kurzerhand abbrechen musste. Allerdings wurde der steile Aufstieg und anhaltende Hype und der damit verbundene Ruhm bald zu einer Bedrohung für den 1987 in Wien geborenen Popbarden. Der Weg zur Weisheit ist schließlich mit guten Absichten gepflastert: Alkohol, Hasch, DMT, XTC, MDMA, Psychodelia und auch Kokain gehörten zum Benzin des kometenhaften Aufstiegs an die Spitze der deutschsprachigen Charts. “Man fühlt sich aus verschiedenen gründen schuldig und ist dankbar endlich dafür bestraft zu werden“. In der American Bar (“Die Bar”) ertränkt er sich mit Whisky Sour. “Man richtet sich hin und glaubt man feiert das Leben“, so Marco Wanda in der Synthesis seiner Rockerjahre. Aber der inzwischen 38-jährige zeigt sich durchwegs geläutert von seinem schnellen Aufstieg und dem damit verbundenen Rock’n’Roll Leben. Schon auf den ersten Seiten bekennt er, dass er Alkoholiker ist und hoffentlich bald war, denn inzwischen macht er eine Therapie. Auf dem Weg ganz nach oben hat er viele lieben Freunde verloren, vor allem aber auch seinen Vater und den Keyboarder seiner Band, Christian, der neben dem Gitarristen Manu zum Gründungsmitglied der „vielleicht letzten wichtigen Rock’n’Roll-Band unserer Generation“ (Musikexpress) avancierte. Immer wieder spielt der Tod in seinem Buch eine Rolle, es scheint fast, als wäre er ein ständiger Begleiter dieser Band aus dem Wiener Milieu, einer Stadt, die unheimlich vom Hype um diesen ersten großen Wiener Musikexport profitierte. Denn vor Wanda gab es außer Austropop nicht viel auf das man sich als junger Mensch beziehen konnte. Aber auch der war schon seit Jahrzehnten: tot.

Wanda als kollektive Sehnsucht

Wir werden von dem geleitet was wir nicht wissen wollen, etwas das uns kränkt und verletzt, davon laufen wir davon in die Wüste unserer Unwissenheit.” Als Wanda begannen sich zu formieren, sagen wir mal ca. 2010, war in Wien eigentlich nichts mehr los. Was die Bandmitglieder schnell verband, war das “Das Gefühl dieser entleerten Wiener Langeweile etwas entgegenhalten zu müssen. Irgendetwas musste passieren“. Kokett fügt er hinzu, dass es schließlich sie – Wanda – waren, die endlich “passierten“. Aber seine Selbsteinschätzung kommt nicht angeberisch, eher verwegen daher, denn Marco Wanda versteht es, immer wieder, zu betonen, wie viele andere Menschen, also Freunde und Freundinnen, am Erfolg von Wanda mitgebastelt haben. Trotz allen Stolzes ist ihm natürlich bewusst, wem er das alles zu verdanken hat und so wirkt auch seine Selbstüberschätzung durchwegs sympathisch da sie mit der Wien-typischen Selbstironie daherkommt. In Wien nennt man sowas nämlich Humor und vielleicht ist es genau das, was den meisten anderen Bewohner:innen der (Bundes-)Länder so abgeht. Selbst in der düstersten Stunde, als er von Schicksalsschlägen getroffen auf der Bühne immer noch weitermachen muss und er sich sein Rückgrat ruiniert, lacht er noch: “Endlich machte ich Bekanntschaft mit etwas, was sich gut anfühlte: legale Drogen“. Der Mick Jagger und alle bekommen es, meint sein Arzt, ein Allheilmittel für alle Künstler und Künstlerinnen, die es mal wieder übertrieben haben. Die Rede ist von Fentanyl, den höheren Weihen des Rockolymps legal zugänglich. Dieser Humor, dieses Schmunzeln, dieses “Singen auf der Folter” macht “Dass es uns überhaupt gegeben hat” zu einem hörenswerten Buch gerade weil es vom Autor selbst gelesen wird, der gerne auch die Stimmen anderer Prominenter imitiert. Auch dadurch wird sein literarisches Debüt zu einem echten literarischen Leckerbissen.

Reisen, Rockstars und Remedy

Dem Prinzip, dass nahezu alles, außer der Liebe, einen Preis hat, ist in diesem Leben nicht zu entkommen.“ Was seine Geschichten so einzigartig macht ist ihr Aufbau, teilweise lesen/hören sie sich wie erzählte Anekdoten an, einfach zu gut um wahr zu sein, da die Pointen wirklich sitzen. Egal ob er von seinen Reisen nach Kairo, Paris, London, New York, Koh Yao Yai oder Georgien erzählt oder einfach nur die Bandgeschichte vervollständigt, dieser Mensch hat einen Drive, einen Vibe, einen erzählerischen Ductus, der selbst seine politischen Ausführungen und Stellungnahmen nachvollziehbar machen. “Jede Erinnerung die kein sinnliches Gefühl heraufbeschwört ist falsch. Die einzig wahre Erinnerung ist die Liebe. Alles zerfällt außer unserer Liebe.” Sein Plädoyer gegen die Spaltung unserer Gesellschaft, die seit der Pandemie zugenommen hat, rechtfertigt tatsächlich die Absenz seiner Band von der Tagespolitik. Denn Wanda wollten immer einschließen, zusammenbringen und nicht auseinanderdividieren. Natürlich verwehrt er sich auch gegen jedwede politische Vereinnahmungen von links oder rechts. Letzteres sind sie mit Sicherheit nicht, auch wenn sie Lederjacken und Jeans wie die Ramones tragen. Es ist einfach toll, dass sie es geschafft haben, denn damit wurde wieder einmal der Beweis erbracht, dass die größte Kraft (in Wien) immer noch die Vorstellungskraft ist. Endlich ist “wieder etwas passiert“. In Wien.

Marco Wanda geht mit seinem Debüt auf Tournee und ist in folgenden Städten LIVE selbst zu erleben: Lestermine. Bis dahin: das Hörbuch oder der Hörbuchdownload sind ein guter Zeitverkürzer!

Marco Wanda
Dass es uns überhaupt gegeben hat
Hörbuch, ungekürzte Lesung
Sprecher*innen: Marco Wanda
2025, Hördauer: 10h 35min, Hörbuch Download
ISBN: 978-3-7599-0142-2
Penguin Books
€ 24,95

 


Genre: Biographie, Roman
Illustrated by Penguin

Batman: Hush (little baby, don’t you cry…)

Hush. Große Oper ist diese Batman Erzählung im  praktischen Taschenbuchformat von 15X23cm. Denn nicht nur, dass Batman in der Oper gegen Harley Quinn auftritt, nein, auch eine Vielzahl aller anderen seiner Widersacher setzt dem Dunklen Ritter in dieser famos illustrierten Geschichte zu. Aber es gibt einen, der die Fäden hinter all dem zieht. Nur, wer ist es?

Batman: ganz große Oper

Wir sind wohl beide zu alt geworden…“. Autor Jeph Loeb und Zeichner Jim Lee gaben für diesen Batman aus dem Jahre 2002 wirklich alles. Sie lassen nämlich neben den Schurken, die gegen die verkleidete Fledermaus aus Gotham City auftreten, auch alle seine Freunde vorbeischauen. Darunter ist neben dem Stählernen und einzigartigen Superman natürlich auch Nightwing, Robin, Huntress, Red Hood und Oracle auch James Gordon, der Batman davor zurückhält, einen furchtbaren Fehler zu begehen. Nachdem er sich bei einem Crash von einem Wolkenkratzer ernsthafte Verletzungen zugezogen hat, weil ihm jemand das Bastei durchgeschnitten hat, ist der Dunkle Ritter so heiß, dass er den Joker beinahe kurzerhand erwürgt.

Zwischen Selina und Talia al Guhl

Die aufgestaute Wut, die Schmerzen, die Verzweiflung über sein eigenes Liebesleben lassen ihn beinahe auf dasselbe Niveau seiner Widersacher herabsinken: Batman wird gerade nicht zum Mörder, dank seinem besten Freund Gordon. Abgesehen davon, dass er sein Alter in den Knochen spürt ist er auch noch zwischen zwei Frauen gefangen. Auf der einen Seite die altbekannte Liebesaffäre mit Selina Kyle als Catwoman, auf der anderen Seite die Tochter Ra’s al Ghuls, Talia. Das Gewicht seiner Erinnerungen trägt zusätzlich schwer, denn Batman weiß, wie er selbst sagt, dass er “das Schicksal aller Monster teilt: er ist allein“.

Batmans Freundeskreis

Nur weil du mich küssen darfst…bin ich noch lange nicht Dein Bat-Häschen“, flirtet Catwoman mit Batsy kokett. Also so allein ist er dann doch nicht. In die Oper geht er dann mit seinem alten Freund Elliot, dem Chirurgen, der ihm das Leben rettete. Aber eben auch mit Selina. Was folgt ist ganz großes Kino, denn auf die Idee die Reichen in der Oper auszurauben, darauf kann Harley Quinn unmöglich allein gekommen sein. Die Szene von Batmans Auftritt in der Oper ist sogar auf einer Doppelseite zu sehen, die bis ins letzte Detail alles zeigt. Aber auch düstere Momente werden entsprechend großformatig zelebriert. Das Begräbnis seines Freundes etwa, bei dem Bruce ausgerechnet Walt Whitman zitiert. Bilder, die man nicht so schnell vergisst…

Batmans Schurkenreigen

Neben Poison Ivy, Lady Shiva, Killer Croc, Double-Face, Ra’s al Ghul mit Tochter Talia, dem Riddler ist es aber vor allem eines, das Batman am meisten quält: sein eigenes gebrochenes Herz, wie Alfred, der gerade mal wieder seine äußeren Wunden verarztet, Selina klagt. Batman trägt Narben wie Erinnerungen, andere haben dafür Fotos, meint Selina überrascht, als sie seinen Körper sieht. Direkt über seinem Herzen, die Spuren von mehreren Krallen. “Ich… habe keine Erfahrung. Mit Freunden, Partnern“, resümiert Batman am Ende, “Alles endet mit Verrat und Tod. Wenn ich je dazu fähig war, dann vor der Nacht, in der meine Eltern ermordet wurden“.

Hush, hush, hush…

Wohl eines der besten Batman-Abenteuer, das je geschrieben wurde. “Hush” ist auch in der “DC Must-Have – Batman – Hush” und als “Batman – Hush (Deluxe Edition)” zu haben. Der Titel bezieht sich übrigens auf ein altes Schlaflied für Kinder und bedeutet so viel wie “Psst…!”, also Schweigen, Stille. Dabei sollte man es eigentlich ganz laut allen weitersagen, dass Hush mehr psychologischen Tiefsinn besitzt als so mancher dicke Schinken. “Hush, little baby, don’t you cryoderHushvon Deep Purple, wie man so will…

Jeph Loeb/Jim Lee
Panini Pocket – Batman – Hush
2025, Comics, 312 Seiten, Format: 15X23cm
ISBN: 9783741640858
Panini Verlag
16,99 €

 


Genre: Comic, Graphic Novel
Illustrated by Panini Comics

Der Problembär: Am Rande von Wien, Wanda und Wahnsinn

Der Problembär. Der Wiener Grind. Das popkulturelle Phänomen, das vor allem vom deutschen Feuilleton heubeigeschrieben wurde, bestand damals am Höhepunkt, 2015, vor allem aus Wanda, Nino, Voodoo Jürgens und Stefanie Sargnagel. Der Floridsdorfer Tausendsassa Stefan Redelsteiner, Musikmanager und Verleger, hatte beim Erfolg aller vier die Finger im Spiel.

Wiener Grind und Kind

In einer bisher so wohl noch nie dagewesenen Doppelconference legen der Falter-Musikjournalist Gerhard Stöger und Stefan “Plattenboss aus dem Plattenbau” Redelsteiner nun eine Erzählung vor, die “am Rande von Wien, Wanda und Wahnsinn” angelegt ist. Der eine erzählt, der andere schreibt auf und so entsteht eine authentische Geschichte, die so harmlos wie aufregend begann: 2008 tauchte das doch sehr eigenwillige Label “Problembär Records” auf, das mit “Der Nino aus Wien” erste Erfolge in der Wiener Indie-Szene feierte. Während sich dieser durchaus mit dem alten Austropop eines Wolfgang Ambros oder André Heller identifizieren konnte, legte Redelsteiner großen Wert auf Abgrenzung zu diesem Genre. Zu provinziell und Stadtrand, fast schon Land war dem aus der Vorstadt Floridsdorf stammenden Redelsteiner der Austropop. Nino stammt zwar ebenso aus “Transdanubien” wie Redelsteiner, nur der eine von der schöneren Seite, der Donaustadt, 1220, der andere eben aus Floridsdorf, dem proletarischen Flächenbezirk 1210. Anfangs wurden beide belächelt als Redelsteiner begann, Nino als österreichischen Bob Dylan zu präsentieren.

Rock`n´Roll mit Wiener Charme

Mittlerweile hat der schrullige Liedermacher mehr als ein Dutzend Alben veröffentlicht und ohne seine Vorarbeit würde es heute Bands wie Wanda oder Voodoo Jürgens wohl nicht geben, vor allem aber nicht das popkulturelle Phänomen namens Wiener Grind, das sich vor allem in Deutschland wie “warme Brötchen” (nicht Semmeln) verkaufte. “Bussi” hin oder her, aber: “Eine Gitarre richtig halten kann schnell wer”, verrät Redelsteiner sein Erfolgskonzept, “aber gebucht und gehypt wirst du über persönliche Beziehungen – die Wanda nicht hatten”. Eine echte deutschsprachige Rockband – das hatte bis dahin noch nicht gegeben. Und bei Wanda kam der Machismo des Rock`n´Roll mit Wiener Charme rüber, etwas das die Deutschen aufgrund ihrer Vergangenheits-Scham niemals zusammengebracht hätte, so Redelsteiner. Wenn einem so etwas einmal gelingt, dann kann es ja auch nur purer Zufall sein. Oder doch nicht?

Ausgebootet aber nicht ausgelotet

Stefan Redelsteiner gelang es gleich mehrmals hintereinander: Nino, Wanda, Voodoo Jürgens und Stefanie Sargnagel. Dennoch lebt er heute ein eher bescheidenes Leben, denn im entscheidenden Moment, als Wanda, die er aus ihrem Kunstuni-Milieu rausgeholt hatte, durchzustarten begannen, zerlegte er sich mit dem Schlagzeuger und wurde von seiner Ko-Managarin – quasi intrigant – ausgebootet. Die Freundschaft zwischen dem aus gutbürgerlichen Verhältnissen stammenden Bandleader und ihm, dem Floridsdorfer Indie-aner, nützte ihm letztendlich nichts, da dieser gerade selbst eine persönliche Krise hatte. Die Verträge, die aufgrund der Freundschaft der beiden aber nur mündlich bestanden, mussten gar nicht erst gekündigt werden, da sie nicht offiziell nicht existierten. Und so bekam Redelsteiner nicht einmal Tantiemen für die Wanda-Alben, an denen er beteiligt war. Aber das große Geld war für ihn ohnehin nie das treibende Motiv, ganz im Gegensatz zu Wanda himself, der die Band immer schon in der größten Wiener Konzerthalle, der Wiener Stadthalle (14.000 Plätze), sah.

Wiener Grind von innen

Dass Wanda aber aus ihrer Kunstblase über den Indie-Typen Redelsteiner im klassischen Mainstream landeten, gehört zu den unglaublichsten Popwundern, die wohl nur in der Walzerstadt Wien möglich sind. Davon und von noch viel mehr erzählt die vorliegende Geschichte, die vom Herausgeber Stöger in der Ich-Form wörtlich aufgeschrieben und von Redelsteiner erzählt wird. So erfährt man viele Details über die Senkrechtstarter Wanda, das soziokulturelle Milieu der Wiener Zehnerjahre und auch einige Intimitäten über andere Popschaffende wie Rudi Dolezal oder den Hintergrund des Sargnagel-Artikels in der Süddeutschen Zeitung damals, der hohe Wellen schlug in der kleinen Wiener Grind Welt.

Ach ja, und übrigens hat Marco Wanda immer noch die DVD-Sammlung der Fernsehserie “Columbo” von Redelsteiners Freundin, die der Band zu ihrem Hit “Columbo” verhalf. Das Buch erscheint in Zusammenarbeit mit dem Verlag RDE (Redelsteiner Dahimène Ed.), Redelsteiners Buchverlag, den er gemeinsam mit Ilias Dahimène immer noch leitet.

Die andere Seite kann man sich hier anhören!

Gerhard Stöger
Der Problembär
Die Abenteuer des Musikmanagers Stefan Redelsteiner am Rande von Wien, Wanda und Wahnsinn
2025, 304 Seiten, Softcover
ISBN: 978-3-99166-029-3
Falter Verlag
€ 24,90


Genre: Biographie
Illustrated by Falter

Woher ich kam

Woher ich kam. Ausgehend von ihrer Urururururgroßmutter Elizabeth Scott, die 1766 geboren wurde, rollt die Schriftstellerin Joan Didion (1934-2021) die Geschichte ihrer Familie – vor allem aber die Kaliforniens – neu auf. Zumeist ging der vielgerühmte “Pioniergeist” der Erschließung des amerikanischen Kontinents bis in den äußersten Westen allerdings auf Kosten der amerikanischen Regierung, wie Didion ernüchternd feststellt.

The West is the Best

Der amerikanische Westen, Kalifornien, gehört zum Mythos der ganzen Nation USA. “The Last Frontier” wurde bis an den Pazifik ausgedehnt und galt geradezu als zivilisatorisches Projekt. “Man suchte ein romantisches und entlegenes Land der Verheißung und wurde in der Wildnis der hiesigen Welt oft nur von Zeichen des Himmels geführt”, zitiert Didion Josiah Royce, der um die Jahrhundertwende lebte. Was für die Trecks nach Westen am wichtigsten war, lernte die junge Didion auch von ihrer Familie. “Nimm niemals eine Abkürzung und eile, so schnell du kannst, weiter”, so die Erzieherin Virginia Reed, eine Überlebende des legendären Donner-Trecks. “Sentiment wie Trauer und Unstimmigkeit, kostete Zeit. Ein Zögern, ein Moment des Zurückschauens, und der Gral war verwirkt”, so könnte man das Credo der Siedler in den Worten Didions umschreiben. Die sog. “erlösende Kraft der Überquerung” wurde aber nicht durch Liebe gestaltet, denn sie liebten ihr Land nicht, diese Pioniere. Sie bedienten sich eines eisernen Ungetüms, eines Leviathans, eingedenk, dass der eigentliche Octopus nicht die Eisenbahn, sondern die unbarmherzige und gleichgültige Natur selbst war. Wollten sie deswegen alles aus dem Boden rausholen, was rauszuholen war? Didion zeigt, dass sich schon früh Spekulanten bereicherten, etwa wenn sie staatliche Subventionen abgriffen, um ihren Reichtum zu vermehren. Die “subventionierte Monopolisierung Kaliforniens” geschah genauso, wie sich Chrysopylae (Golden Gate) sich ein Vorbild an der Chrysosokeras (Goldenes Horn) von Byzantium ein Vorbild genommen hatte: durch Raub.

Die Kehrseite des verheißenen Paradieses

Der kalifornische Wohlstand baute vor allem auf Flugzeugherstellern wie Hughes, Douglas, Rockwell auf. Aber “Mongolen, Indianern und Negern” war 1860 vom kalifornischen Landtag der Zugang zu öffentlichen Schulen untersagt. Der kalifornische Land Act von 1913 verbot sogar ausdrücklich allen Asiaten und auch ihren in den USA geborenen Kindern (!) Landbesitz. Im zweiten Teil ihrer Rückschau nimmt sich Didion Lakewood vor, eine aus dem Boden gestampfte Gemeinde, die vor allem von Beschäftigten dieses Wirtschaftssektors, der Rüstungsindustrie, bewohnt wurde. Didion stellt sich die Frage, was aus den Kindern dieser Bewohner wird. Antwort: Spur Posse. Schon ihre Mutter hatte Didion darauf aufmerksam gemacht, dass “dieses Wort” hier nicht gebraucht wird. “So denken wir nicht.” Die Rede ist von “Klasse”. Die Ausschreitungen von 1991 (die sog. “L.A. Riots”) bringt Didion in einen Zusammenhang, den andere nicht zu denken wagten. Denn die Auftragslage in der Rüstungsindustrie (sprich: Flugzeuge) war 1989 eingebrochen und Arbeitslosigkeit weit verbreitet. Zwischen 1988 und 1993 waren 800.000 Arbeitsplätze verloren gehangen, so Didion. Aus dem verheißenen Land wurde Ende des 20. Jahrhunderts ein Eldorado der Sozialhilfeempfänger, das 1998 Menschen, die aussiedeln wollten, sogar Prämien für Umzug etc. zahlte. Arbeitsplätze gab es nur mehr in der California Correctional Peace Officers Association, aber selbst die brachten ihr Personal größtenteils selbst mit. Im Jahr 2000 war das kalifornische Strafvollzugssystem mit 33 Zuchthäusern zum größten in der westlichen Hemisphäre geworden. 1995 gab Kalifornien mehr für seine Gefängnisse als für seine zwei großen Universitätssysteme, die UCLA und die California State, aus.

Joan Didion zeigt die Kehrseite der Medaille und verwebt das Schicksal ihres Bundesstaates und Geburtslandes mit dem ihrer eigenen Familie. Sie schreibt über den Tod: “Als mein Vater starb, machte ich weiter. Als meine Mutter starb, konnte ich das nicht.” Der Traum Amerikas, “die ganze Verzauberung”, schreibt sie, “unter der ich mein Leben zugebracht hatte”, fing an, “abwegig” auszusehen. Ein nachdenkliches Werk der 2021 leider verstorbenen Schriftstellerin und Intellektuellen, das zeigt, dass nicht alles gülden ist, was glänzt.

Joan Didion
Woher ich kam. Roman
(Originaltitel ‏ : ‎ Where I Was From)
Aus dem Amerikanischen von Antje Rávik Strubel
2019, Hardcover, 272 Seiten
ISBN: 978-3550050213
Ullstein Verlag
20.-€


Genre: Roman
Illustrated by Ullstein

100 Jahre The Great Gatsby

In der Reihe Modern Classics erschien dieses Jahr, 2025, die vorliegende Neuausgabe des großen Romans des Jazz Age. Tatsächlich sind es genau 100 Jahre her, dass The Great Gatsby erstmals erschien. Die Handlung spielt im New York des Jahres 1922.

Glitz and Glamour der 20er

James/Jay/Jimmy Gatsby (eigentlich: James Gatz residiert in seinem Anwesen auf Long Island und gibt sagenhafte Feste. Damit hofft er seine Jugendliebe Daisy heranzulocken, um ihr mit seinem neuerworbenen Reichtum, mit Swing und Champagner seine verlorene Liebe zu gestehen. Aber Daisy ist längst selbst liiert und kann ihm nur auf neutralem Territorium begegnen. Dieses bietet sich durch den Nachbarn Gatsbys, dem Junggesellen Nick Carraway. Tom Buchanan ist der Name des Glücklichen, der Gatsbys Jugendliebe Daisy geheiratet hat. Aber er behandelt sie alles andere als gut, wie der Leser:in bald feststellt. Denn Tom hat selbst eine weitere Freundin, Myrtle Wilson, die wiederum selbst mit George Wilson verheiratet ist. Ob das in den Zwanzigern gang und gebe war, verheiratet und dennoch eine/n Liebhaber:in zu haben, bleibt offen. Was aber ganz deutlich und klar feststellbar ist, ist, dass zwischen 17. Januar 1920 und 5. Dezember 1933 in den USA die Prohibition bestand. Dennoch wird im Roman ausgiebig gefeiert und es fließt dementsprechend viel Alkohol. Bei einer dieser “Spritztouren” nach downtown New York, wo ebenfalls nicht nur die Automobile ordentlich getankt werden, kommt es im Verlauf des Romans zu einer großen Katastrophe, einem tragischen Unfall. Myrtle Wilson gerät in einem Streit mit ihrem Ehemann George auf die Autostraße und wird dort von einem Auto erfasst: dem Auto von Gatsby. Aber nicht Gatsby hat das Automobil gelenkt, sondern Daisy und so hat sie – unwissentlich – ihre Rivalin bei Tom getötet.

Crime Fiction oder Autofiction?

Denn Ennui der Reichen und Gutgestellten hat F. Scott Fitzgerald – wohl auch aus eigener Erfahrung – treffend wie kein anderer geschildert. Dennoch war seinem großen Roman, heute ein “modern classic” bei Erscheinen gar kein Erfolg beschieden. Während Fitzgerald mit seinen Kurzgeschichten im selben Zeitraum für acht Erzählungen 30.000 Dollar von der Saturday Evening Post bezahlt bekam, schlug sich der Große Gatsby mit gerade einmal 5,10 Dollar zu Buche. Beim Verfassen seines posthum größten Erfolges war Fitzgerald gerade einmal 27 Jahre alt und hatte noch gute 13 Jahre schriftstellerisches Schaffen vor sich. 160 Kurzgeschichten hat Fitzgerald insgesamt verfasst, bis er 1940 das Zeitliche segnete. Er starb 1940 in Hollywood an seinem dritten Herzinfarkt – gerade einmal 44 Jahre alt. Als “world’s most misunderstood novel” bezeichnete unlängst die BBC den größten Erfolg Fitzgeralds. Dass Gatsby ein bootlegger war, der bis zum Hals in kriminellen Machenschaften steckte, sowie ein Stalker, wie man es ihn heute in PC-Zeiten nennen würde. Nix mit Romantik und so. Denn Gatsby hat sich sogar seine Villa vis a vis von Tom und Daisy bauen lassen. Freier Blick auf’s Mittelmeer oder die Manhasset Bay besser gesagt. Dass Fitzgerald’s Frau, Zelda, während F. Scott an seinem Roman arbeitete, einen Selbstmordversuch unternahm und nach einer Affäre mit einem Franzosen Schlaftabletten genommen hatte, zeigt wie lebensnah die Crime Fiction am Alltag des Autors war und dass das Jazz Age vielleicht sogar noch wilder war, als wir es in unseren Vorstellungen ausmalen wollen.

F.Scott Fitzgerald
Der große Gatsby
Mit einem Nachwort von Min Jin Lee. Aus dem amerikanischen Englisch von Bettina Abarbanell
2025, Hardcover, 256 Seiten
ISBN: 978-3-257-07337-9
Diogenes Verlag
€ (D) 19.00 / sFr 26.00* / € (A) 19.60


Genre: Roman
Illustrated by Diogenes

Dalí. BABY SUMO

Dalí. BABY SUMO. Sein aufgezwirbelter Schnurrbart wurde zum Synonym einer Geisteshaltung, die sich gleichzeitig über etwas mokiert und dabei verschmunzelt lächelt. Die Rede ist natürlich von Salvador Dalí und dem Surrealismus, einer Kunstrichtung die über das Reale hinaus nach den Träumen und dem Unbewussten forschte.

Traum und Wirklichkeit

Beeinflusst von Sigmund Freud und seiner Psychoanalyse sammelte André Breton Anfang des 20. Jahrhunderts zahlreich Künstler der verschiedensten Ausrichtungen um sich und gab ihnen einen politischen Touch. Die Welt und deren Bewusstsein sollte verändert und radikalisiert werden, um einen weiteren Weltkrieg zu verhindern. Dass dies nicht gelang, sondern ein noch viel schrecklicher Weltenbrand den Planeten verwüstete ist bekannt. Anders als andere Köpfe der Bewegung arrangierte sich Salvador Dalí mit dem Falangismus seiner Heimat, der spanischen Ausprägung des Faschismus unter “Caudillo” Francisco Franco Bahamonde. Gleichzeitig schuf Dalí aber auch eines der beständigsten und bekanntesten Werke des Surrealismus. Seine weichen Uhren, brennenden Giraffen und Hummertelefone zieren längst Werbekataloge, Poster oder sogar Polster und jeder kennt Dalí von dem der Satz “Le surrealisme: c’est moi” stammen könnte.

Dalí. BABY SUMO

Die vorliegende Collector’s Edition, limitiert auf 10.000 nummerierte Exemplare, widmet sich dem gesamten Werk des “Titanen der modernen Malerei”, als Performer, Designer und Visionär. Die Publikation präsentiert sein Werk im Format 36,7 x 50 cm und einem Detailreichtum, den man selten findet. Eine Chronologie, die mit Fotos, Skizzen und Magazinseiten seinen Weg von Katalonien über Paris nach Hollywood und zurück nach Hause dokumentiert geleitet durch das Werk eines der größten surrealistischen Künstler der Moderne. In seinem Spätwerk widmete er sich übrigens der klassischen Kunst und aktualisierte die Bildwelt der Renaissance in monumentalen Visionen, darunter auch stille, persönliche Hommagen an Michelangelo und Velázquez.

Dalí’s Lebenswerk in zwei Bänden

Die Reihe SUMO des TASCHEN Verlages schrieb schon 2005 – mit der Herausgabe eines monumentalen Bildbandes zum Werk des Fotografen Helmut Newton – Geschichte. Die Reihe “Baby SUMO” ist zwar nicht ganz so groß, aber ebenso monumental. Denn gezeigt werden in zwei Bänden Dalís wichtigste Werke in einer bisher in Druckform noch nie dagewesenen Größe und Detailtreue sowie ein Chronologieband mit Texten von Montse Aguer und Carme Ruiz von der Fundació Gala-Salvador Dalí in Figueres, der Heimatstadt des Künstlers. In Bezugnahme auf die neuesten Forschungsergebnisse erzählen die für diese Monumentalausgabe beauftragten Autorinnen die Geschichte der Kunst und des Künstlers mit zahlreichen Zitaten aus seinen eigenen Schriften, Briefen und zeitgenössischen Rezensionen, illustriert mit seltenen und ikonischen Porträtaufnahmen, Zeitschriftenartikeln, Skizzen und Buchillustrationen sowie weiteren Werken in verschiedenen Medien.

Galadîner mit Gala

Natürlich wird auch sein Verhältnis zu seiner Muse, die er in zahlreichen Gemälden – etwa dem Letzten Abendmahl – verewigte geklärt und beschrieben. Gemeinsam siedelten sie nach Amerika um, wo Dalí zu einer öffentlichen Persönlichkeit wird, in den Medien und auf den Society-Magazinseiten präsent ist. Er wirkte dort auch bei Theater- und Modeprojekten mit, ließ sich seinen zum Markenzeichen stilisierten legendären Schnurrbart wachsen und diniert in Hollywood mit Hitchcock und Disney. Nach dem Krieg inszenierten sich die beiden wieder in Spanien als Künstler, die Hof hielten und im Dalí-Theater-Museum in Figueres ein eigenes Vermächtnis schufen. „Ich habe nie versucht, meine Bilder zu erklären, aus dem einfachen Grund, dass ich sie selbst fast nie verstehe.“, so der Künstler in klassisch surrealistischer Manier über sein eigenes Werk

Hans Werner Holzwarth
Dalí. BABY SUMO
Collector’s Edition von 10.000 nummerierten Exemplaren
2025, Hardcover, 36,7 x 50 cm, 438 Seiten; mit Goldschnitt, Ausklappseiten, Goldprägung auf Titel- und Kapitelseiten, sowie einem 40-seitigen Begleitheft mit Abbildungsverzeichnis, 22 x 28,9 cm; in einer Clamshell-Box, 41 x 56,2 cm, gebunden in schwarzem Samt mit Goldfolienprägung und Tip-In; plus Chronologie mit Leineneinband, 22 x 28,9 cm, 624 Seiten; Gesamtgewicht 16 kg
Ausgabe: Englisch

TASCHEN Verlag
ISBN 978-3-8365-5281-3
€ 1.000


Genre: Kunst
Illustrated by Taschen Köln

101 Jahre Der Zauberberg

Ausgabe 2024 (vergriffen)

Der Zauberberg. Letztes Jahr, 2024, jährte sich Manns Jahrhunderroman zum 100. Mal und es erschien eine Geschenkausgabe in Leinen zum 100. Geburtstag. Dieses Jahr, 2025, wäre Thomas Mann am 6. Juni 150 Jahre alt geworden. Ein Grund mehr sein Werk zu lesen und den “Zigeuner im grünen Wagen” hochleben zu lassen.

Die Vorwegnahme der europäischen Katastrophe

Zigeuner im grünen Wagen” – so nannte ihn sein Vater, der sah, dass sein Sohn vom Schreiben einfach nicht lassen konnte. Noch dazu hatte er gerade ein miserables Schulzeugnis abgeliefert und mir nichts dir nichts Puppentheater gespielt. Aber im Zauberberg ist der bereits 50-jährige Schriftsteller bereits zur Höchstform aufgelaufen und schrieb einen Roman, der für eine ganze Epoche kennzeichnend werden sollte. “Ganz Europa stürzte mir in den Kopf”, soll Susan Sontag über das für sie wichtigste Buch der Epoche einmal geschrieben haben. Für die US-Kritikerin und Schriftstellerin war der Zauberberg gar das wichtigste Buch ihres Lebens. Ganz Europa ist im Roman “große Konfusion”, Ideologien, Überzeugungen und Positionen, die in einem Davoser Sanatorium unversöhnlich aufeinanderprallen werden zum spannenden Dialog und spalten die Zuhörer:innen in Kontrahenten und Zujubelt. Alles ist irgendwie komisch und tragisch zugleich, bis man sich irgendwann nur noch Schlagworte an den Kopf wirft. Wem das – 100 Jahre später – alles sehr bekannt vorkommt, der weiß, dass das Europa von 1924, als der Roman erstmals erschien, sich gar nicht so sehr vom Europa des 2024 unterscheidet. Zumindest was die politische Lage betrifft. Die Katastrophe auf die Europa damals zusteuerte, die Gereiztheit und Gewalt und das Geschwafel der Alphamänner, das unterscheidet sich vielleicht weniger als man hören möchte. Dabei sollte man vielmehr zuhören und weniger reden. Oder noch besser: den Zauberberg lesen.

Ein Jahrhundertroman als Warnung

Ausgabe 2025

Zum 100-jährigen Buchjubiläum gibt es nun diese limitierte Sonderausgabe – dem Anlass angemessen – im schneeweißen, glitzernden Leinen mit eisblauem Farbschnitt, tiefgeprägter Typographie, hochwertigem Vorsatzpapier und Lesebändchen. Der als Novelle geplante Jahrhundertroman mit mehr als 1000 Seiten gilt als einer der großen Romane der klassischen Moderne und ein eindringliches Porträt der europäischen Gesellschaft vor dem Ersten Weltkrieg. Der Einbruch der Katastrophe in eine sicher geglaubte Welt und die Nationalismen, die einen allzu plötzlich in einen Weltkrieg schlittern ließen, als hätte man mal kurz nicht aufgepasst, gehörten zur Tragödie des 20. Jahrhunderts, die nur noch durch den Nationalsozialismus in seiner Grausamkeit übertroffen wurde. Settembrini, Castorp und Naphta sind die männlichen Protagonisten, die gewissermaßen um die Ehre rittern, ein von Krankheit, Tod und Verwüstung bedrohtes Europa allein durch ihre geistigen Dispute zu erretten. Eine gewisse Clawdia Chauchat (man beachte die “claw” und die “chau(d) chat” im Namen) wird zur erotischen Herausforderung für den bisexuellen Castorp, der sich im Sanatorium in sie verliebt und statt den geplanten drei Wochen gleich sieben Jahre am Zauberberg bleibt. Einen Blick und Appetitanrager auf den Roman findet man noch bis 2025 hier!

Thomas Mann
Der Zauberberg
Roman. Geschenkausgabe in Leinen
2024, Hardcover, Sonderausgabe 100 Jahre Zauberberg, 1120 Seiten, 1448 g
ISBN: 978-3-10-397675-5
S.Fischer Verlag
€ 58.-


Genre: Roman
Illustrated by S.Fischer Frankfurt am Main

Heute kein Abschied

“Und jetzt ist er nirgendwo mehr. Jetzt ist er überall.” Der niederländische Autor, Journalist und Historiker legt mit “Heute kein Abschied” einen persönlichen Roman vor, der alle angeht. Denn jeder muss eines Tages von seinen Eltern Abschied nehmen: “Das gehört zum Älterwerden”.

Booze, Beans, Blow and Bad Decisions

Im Falle der der Geschwister Tessel, Moor und Cat ist es der Vater. Ihre Eltern, Elise und Oskar, haben sich vor langer Zeit getrennt. Die langen (beruflichen) Abwesenheiten Oskars in Hollywood, die Sprachlosigkeit und Stille wurden ihr langsam zu viel und so suchte sie Trost in den Armen eines langzeitigen Freundes, Cas. Aber für Oskar brach wohl eine Welt zusammen, denn er hätte sich nie vorstellen, können, dass eine Familie sich so einfach auflösen kann. Immerhin bekam er die Katze, das einzige, was Elise nicht bekam. “Alles würde er geben für eine Brücke, einen Blick, ein Winken, eine Einladung. Warum macht keiner von ihnen den ersten Schritt? Die Jüngste, Cat, wohnte zwar noch eine Weile bei ihm, aber er unterstützte sie dabei, sich bei der NYU zu bewerben. Dort lebt sie als die traurige Nachricht sie erreicht. Aber etwas ist seltsam: Warum hat ihr Vater gerade ihr, der Jüngsten, die Testamentsvollmacht erteilt? Gibt es etwa ein Familiengeheimnis, von dem alle nichts wissen? Und was meinte der Hollywood-Freund ihres Vaters, Gene Grift, mit den 4Bs eigentlich? “Er wollte wirklich wieder nach Amerika. Er hatte das Recht, hinzufliegen, darum ging es, um das Recht zu fliehen, nicht vor ihnen, sondern vor sich selbst.” Ihr Name war: Lucy.

Der Knick in der Kurve

“Die Sixties, der Zeit in der die Luft sauber und der Sex schmutzig war.” War es dieses Jahrzehnt, das die Ehe von Elise und Oskar zerstörte? Die Umwertung aller Werte? Mit einfühlsamen Worten und detailreichen Schilderungen taucht man ein in die Welt der Familie der Van Bohemens und ihres Oberhauptes, des Fotografen Oskar van Bohemen. “Fotografie war für ihn mehr als Journalismus und möglicherweise sogar mehr als Kunst. Sie war eine Methode, die absolute Wahrheit zu zeigen, womit sie sagen wollten: das, was nicht mehr geleugnet werden konnte”. In Rückblenden erfährt man vom Doppelleben der beiden Elternteile, Elise und Oskar, auch von der strengen Kindheit Oskars, dessen Vater ihn den “Knick in der Kurve” nannte und dafür oft bestrafte. In den Sechzigern wurde es dann besser, Oskar hoffte sogar, dass sein leben so bleiben würde wie es war: “Doch das sollte sich als Illusion erweisen, so wie jede Hoffnung, die auf Stillstand beruht”. Auch von den drei Geschwistern erfährt man viele persönliche Dinge und lernt die drei kennen, als ob sie eigene Bekannte wären.

Ein Leben wie im Film in Fotos

Auch eine literaturwissenschaftliche Ebene ergibt sich: der allmächtige Erzähler wird in Cats Studium zum zentralen Angelpunkt. “Nichts macht so einsam wie eine Begegnung”, “Nie Kinder bekommen, bedeutet niemals zu altern”, sind Stehsätze mit Hilfe derer sie ihr Privatleben ad acta legt. “Es ist nicht das Schneiden, das so schmerzt, sondern das Abgeschnittensein”, zitiert Tessel die Dichterin Vasalis. “Die Eltern sterben und man landet in einer elternlosen Welt. Diese Welt scheint identisch zu sein mit der, die man kennt.(…) Das Theaterstück ist dasselbe, aber die Rollenverteilung anders.(…) Man dürfe froh sein, dass das Stück noch eine Weile weitergeht.” Ein Roman wie ein Familienalbum, voller nützlicher Einsichten und vieler zärtlicher Momente. Wie wenig man über Menschen weiß, die man kennt, begreift man oft erst nach ihrem Ableben. “Nicht alles, was endet, ist ein Misserfolg. Nicht alles, was verloren ist, war ein Paradies.” Die drei Geschwister streifen durch ihr Elternhaus, um den Hausrat aufzuteilen und da entdecken sie auch die Kiste, die zu dem kleinen Schlüssel aus Cats Brief passt. Manche sagen das Leben sei ein Film, aber vielleicht hatte doch Oskar recht: “Das Leben besteht aus Fotos“.

Daan Heerma van Voss
Heute kein Abschied
Roman
Aus dem Niederländischen von Gregor Seferens
2025/2023, Hardcover, Leinen, 496 Seiten
ISBN: 978-3-257-07325-6
Diogenes Verlag
€ (D) 26.00 / sFr 35.00* / € (A) 26.80


Genre: Familiengeschichte, Roman
Illustrated by Diogenes

Moonlight Mile. Ein Fall für Kenzie & Gennaro

Moonlight Mile. Ein Fall für Kenzie & Gennaro. “Ich liebe es älter zu werden, verdammt.” Ein weiterer Fall für das Ermittler-Duo Patrick Kenzie und Angela Gennaro. Inzwischen sind sie verheiratet und Eltern einer vierjährigen Tochter. Das macht verletz- und erpressbar. Aber es ist nicht das erste Mal, dass Dennis Lehane seinen Lieblingskriminalisten durch einen intelligenten Coup aus der Patsche hilft.

Entführung oder Flucht?

Nun, das ist das Problem, wenn es um Kinder geht, oder? Wir haben keine Ahnung. Keiner von uns.” Die vier Jahre alte Amanda McCready wurde erstmals vor zehn Jahren entführt, aber von Angela und Patrick wiedergefunden. Nun ist Amanda als Teenager erneut verschwunden. Da Kenzie gerade “suppenküchenpleite” ist, nimmt er widerwillig den Auftrag an, die Verschollene wieder aufzustöbern. “Ich habe gehört, dass über Thanksgiving fünf Personen in einen Raum gegangen sind. Können Sie mir bisher folgen?“, bekommt er einen Hinweis oder ist das nur eine weitere Verwirrtaktik seiner Widersacher?

Aus Fünf mach’ vier!

Denn nur vier kamen wieder heraus. War Amanda eine davon? Dass auch noch eine Freundin von Amanda, Sophie, verschwunden ist, führt Kenzie dann auf die richtige Spur, denn ihr Vater, Brian, ist ein Plappermaul. Sophies Betreuer beim Amt für Kinder und Familien ist nämlich ein gewisser Andre Stiles und der hat selbst Dreck am Stecken. Ein Duell – Handy gegen Pistole – enthüllt die wahre Macht der neuen Medien, denn es gewinnt tatsächlich das Handy. Als dann auch noch die Russenmafia in Gestalt von Kyrill Borsakow auftaucht, der mit seinen Kumpels aus Mordwinien (sic!) Boston und Umgebung unsicher macht, wird es eng für Kenzie. Dabei zeigen die Herren aus der ehemaligen Sowjetrepublik durchaus Humor. Sie wollen einfach nur das belorussische Kreuz und ein Baby zurück. Das ist alles.

B.Trüger, R.Presser & Partner

All das, was unsere Väter für gegeben hielten, solange man nur hart arbeitete, das große Sicherheitsnetz und der faire Lohn und die goldene Uhr am Ende? Davon ist hier nichts mehr übrig, mein Freund.” Dennis Lehane, der wie viele seiner irischen Verwandten in Boston lebt gehört auch zu einer starken Stimme gegen den sozialen Untergang im Amerika von heute. Auch wenn der Roman im amerikanischen Original schon vor 15 Jahren – unter demselben Titel – erschienen ist, hat diese Kritik nichts von ihrer Authentizität verloren. Leider, möchte man sagen. Auch die Oxycontin- und Fentanyl-Krise in den USA spricht er am Schicksal einer Ärztin an. Die Schuldenspirale treibt auch sie in die Arme von “B.Trüger, R.Presser & Partner“. “Wir lernen nichts, wir ändern uns nicht, und dann sterben wir. Und schon nimmt die nächste Generation an Blendern unseren Platz ein. Und das? Das ist alles.

Moonlight Mile: Ein Fall für Kenzie & Gennaro

Ein düsteres Resümee, aber es ist kein Pessimismus, der da durchklingt, ganz im Gegenteil: “Ich liebe das, was kaputtgeht und nicht repariert werden kann. Was verloren geht und nicht ersetzt werden kann. Ich liebe meine Bürde.” Am Ende weiß auch Patrick Kenzie, was wirklich zählt und zieht seine Konsequenzen. Aber viele weitere Fälle von Kenzie & Gennaro sind ebenso beim Diogenes Verlag in deutscher Übersetzung zu lesen, ganz abgesehen natürlich von den anderen Werken Dennis Lehanes, die teilweise auch in Starbesetzung verfilmt wurden und ebenso bei Diogenes erhältlich sind. Übrigens spielt in Moonlight Mile auch Bubba wieder eine ehrenvolle Rolle. Und natürlich ein Album der Rolling Stones: Track 6.

Dennis Lehane
Moonlight Mile
Ein Fall für Kenzie & Gennaro
Aus dem amerikanischen Englisch von Peter Torberg
2025/2010, Paperback, 384 Seiten
ISBN: 978-3-257-30047-5
Diogenes Verlag
€ (D) 20.00 / sFr 27.00* / € (A) 20.60


Genre: Krimi
Illustrated by Diogenes Zürich