Batman: Hush (little baby, don’t you cry…)

Hush. Große Oper ist diese Batman Erzählung im  praktischen Taschenbuchformat von 15X23cm. Denn nicht nur, dass Batman in der Oper gegen Harley Quinn auftritt, nein, auch eine Vielzahl aller anderen seiner Widersacher setzt dem Dunklen Ritter in dieser famos illustrierten Geschichte zu. Aber es gibt einen, der die Fäden hinter all dem zieht. Nur, wer ist es?

Batman: ganz große Oper

Wir sind wohl beide zu alt geworden…“. Autor Jeph Loeb und Zeichner Jim Lee gaben für diesen Batman aus dem Jahre 2002 wirklich alles. Sie lassen nämlich neben den Schurken, die gegen die verkleidete Fledermaus aus Gotham City auftreten, auch alle seine Freunde vorbeischauen. Darunter ist neben dem Stählernen und einzigartigen Superman natürlich auch Nightwing, Robin, Huntress, Red Hood und Oracle auch James Gordon, der Batman davor zurückhält, einen furchtbaren Fehler zu begehen. Nachdem er sich bei einem Crash von einem Wolkenkratzer ernsthafte Verletzungen zugezogen hat, weil ihm jemand das Bastei durchgeschnitten hat, ist der Dunkle Ritter so heiß, dass er den Joker beinahe kurzerhand erwürgt.

Zwischen Selina und Talia al Guhl

Die aufgestaute Wut, die Schmerzen, die Verzweiflung über sein eigenes Liebesleben lassen ihn beinahe auf dasselbe Niveau seiner Widersacher herabsinken: Batman wird gerade nicht zum Mörder, dank seinem besten Freund Gordon. Abgesehen davon, dass er sein Alter in den Knochen spürt ist er auch noch zwischen zwei Frauen gefangen. Auf der einen Seite die altbekannte Liebesaffäre mit Selina Kyle als Catwoman, auf der anderen Seite die Tochter Ra’s al Ghuls, Talia. Das Gewicht seiner Erinnerungen trägt zusätzlich schwer, denn Batman weiß, wie er selbst sagt, dass er “das Schicksal aller Monster teilt: er ist allein“.

Batmans Freundeskreis

Nur weil du mich küssen darfst…bin ich noch lange nicht Dein Bat-Häschen“, flirtet Catwoman mit Batsy kokett. Also so allein ist er dann doch nicht. In die Oper geht er dann mit seinem alten Freund Elliot, dem Chirurgen, der ihm das Leben rettete. Aber eben auch mit Selina. Was folgt ist ganz großes Kino, denn auf die Idee die Reichen in der Oper auszurauben, darauf kann Harley Quinn unmöglich allein gekommen sein. Die Szene von Batmans Auftritt in der Oper ist sogar auf einer Doppelseite zu sehen, die bis ins letzte Detail alles zeigt. Aber auch düstere Momente werden entsprechend großformatig zelebriert. Das Begräbnis seines Freundes etwa, bei dem Bruce ausgerechnet Walt Whitman zitiert. Bilder, die man nicht so schnell vergisst…

Batmans Schurkenreigen

Neben Poison Ivy, Lady Shiva, Killer Croc, Double-Face, Ra’s al Ghul mit Tochter Talia, dem Riddler ist es aber vor allem eines, das Batman am meisten quält: sein eigenes gebrochenes Herz, wie Alfred, der gerade mal wieder seine äußeren Wunden verarztet, Selina klagt. Batman trägt Narben wie Erinnerungen, andere haben dafür Fotos, meint Selina überrascht, als sie seinen Körper sieht. Direkt über seinem Herzen, die Spuren von mehreren Krallen. “Ich… habe keine Erfahrung. Mit Freunden, Partnern“, resümiert Batman am Ende, “Alles endet mit Verrat und Tod. Wenn ich je dazu fähig war, dann vor der Nacht, in der meine Eltern ermordet wurden“.

Hush, hush, hush…

Wohl eines der besten Batman-Abenteuer, das je geschrieben wurde. “Hush” ist auch in der “DC Must-Have – Batman – Hush” und als “Batman – Hush (Deluxe Edition)” zu haben. Der Titel bezieht sich übrigens auf ein altes Schlaflied für Kinder und bedeutet so viel wie “Psst…!”, also Schweigen, Stille. Dabei sollte man es eigentlich ganz laut allen weitersagen, dass Hush mehr psychologischen Tiefsinn besitzt als so mancher dicke Schinken. “Hush, little baby, don’t you cryoderHushvon Deep Purple, wie man so will…

Jeph Loeb/Jim Lee
Panini Pocket – Batman – Hush
2025, Comics, 312 Seiten, Format: 15X23cm
ISBN: 9783741640858
Panini Verlag
16,99 €

 


Genre: Comic, Graphic Novel
Illustrated by Panini Comics

Der Problembär: Am Rande von Wien, Wanda und Wahnsinn

Der Problembär. Der Wiener Grind. Das popkulturelle Phänomen, das vor allem vom deutschen Feuilleton heubeigeschrieben wurde, bestand damals am Höhepunkt, 2015, vor allem aus Wanda, Nino, Voodoo Jürgens und Stefanie Sargnagel. Der Floridsdorfer Tausendsassa Stefan Redelsteiner, Musikmanager und Verleger, hatte beim Erfolg aller vier die Finger im Spiel.

Wiener Grind und Kind

In einer bisher so wohl noch nie dagewesenen Doppelconference legen der Falter-Musikjournalist Gerhard Stöger und Stefan “Plattenboss aus dem Plattenbau” Redelsteiner nun eine Erzählung vor, die “am Rande von Wien, Wanda und Wahnsinn” angelegt ist. Der eine erzählt, der andere schreibt auf und so entsteht eine authentische Geschichte, die so harmlos wie aufregend begann: 2008 tauchte das doch sehr eigenwillige Label “Problembär Records” auf, das mit “Der Nino aus Wien” erste Erfolge in der Wiener Indie-Szene feierte. Während sich dieser durchaus mit dem alten Austropop eines Wolfgang Ambros oder André Heller identifizieren konnte, legte Redelsteiner großen Wert auf Abgrenzung zu diesem Genre. Zu provinziell und Stadtrand, fast schon Land war dem aus der Vorstadt Floridsdorf stammenden Redelsteiner der Austropop. Nino stammt zwar ebenso aus “Transdanubien” wie Redelsteiner, nur der eine von der schöneren Seite, der Donaustadt, 1220, der andere eben aus Floridsdorf, dem proletarischen Flächenbezirk 1210. Anfangs wurden beide belächelt als Redelsteiner begann, Nino als österreichischen Bob Dylan zu präsentieren.

Rock`n´Roll mit Wiener Charme

Mittlerweile hat der schrullige Liedermacher mehr als ein Dutzend Alben veröffentlicht und ohne seine Vorarbeit würde es heute Bands wie Wanda oder Voodoo Jürgens wohl nicht geben, vor allem aber nicht das popkulturelle Phänomen namens Wiener Grind, das sich vor allem in Deutschland wie “warme Brötchen” (nicht Semmeln) verkaufte. “Bussi” hin oder her, aber: “Eine Gitarre richtig halten kann schnell wer”, verrät Redelsteiner sein Erfolgskonzept, “aber gebucht und gehypt wirst du über persönliche Beziehungen – die Wanda nicht hatten”. Eine echte deutschsprachige Rockband – das hatte bis dahin noch nicht gegeben. Und bei Wanda kam der Machismo des Rock`n´Roll mit Wiener Charme rüber, etwas das die Deutschen aufgrund ihrer Vergangenheits-Scham niemals zusammengebracht hätte, so Redelsteiner. Wenn einem so etwas einmal gelingt, dann kann es ja auch nur purer Zufall sein. Oder doch nicht?

Ausgebootet aber nicht ausgelotet

Stefan Redelsteiner gelang es gleich mehrmals hintereinander: Nino, Wanda, Voodoo Jürgens und Stefanie Sargnagel. Dennoch lebt er heute ein eher bescheidenes Leben, denn im entscheidenden Moment, als Wanda, die er aus ihrem Kunstuni-Milieu rausgeholt hatte, durchzustarten begannen, zerlegte er sich mit dem Schlagzeuger und wurde von seiner Ko-Managarin – quasi intrigant – ausgebootet. Die Freundschaft zwischen dem aus gutbürgerlichen Verhältnissen stammenden Bandleader und ihm, dem Floridsdorfer Indie-aner, nützte ihm letztendlich nichts, da dieser gerade selbst eine persönliche Krise hatte. Die Verträge, die aufgrund der Freundschaft der beiden aber nur mündlich bestanden, mussten gar nicht erst gekündigt werden, da sie nicht offiziell nicht existierten. Und so bekam Redelsteiner nicht einmal Tantiemen für die Wanda-Alben, an denen er beteiligt war. Aber das große Geld war für ihn ohnehin nie das treibende Motiv, ganz im Gegensatz zu Wanda himself, der die Band immer schon in der größten Wiener Konzerthalle, der Wiener Stadthalle (14.000 Plätze), sah.

Wiener Grind von innen

Dass Wanda aber aus ihrer Kunstblase über den Indie-Typen Redelsteiner im klassischen Mainstream landeten, gehört zu den unglaublichsten Popwundern, die wohl nur in der Walzerstadt Wien möglich sind. Davon und von noch viel mehr erzählt die vorliegende Geschichte, die vom Herausgeber Stöger in der Ich-Form wörtlich aufgeschrieben und von Redelsteiner erzählt wird. So erfährt man viele Details über die Senkrechtstarter Wanda, das soziokulturelle Milieu der Wiener Zehnerjahre und auch einige Intimitäten über andere Popschaffende wie Rudi Dolezal oder den Hintergrund des Sargnagel-Artikels in der Süddeutschen Zeitung damals, der hohe Wellen schlug in der kleinen Wiener Grind Welt.

Ach ja, und übrigens hat Marco Wanda immer noch die DVD-Sammlung der Fernsehserie “Columbo” von Redelsteiners Freundin, die der Band zu ihrem Hit “Columbo” verhalf. Das Buch erscheint in Zusammenarbeit mit dem Verlag RDE (Redelsteiner Dahimène Ed.), Redelsteiners Buchverlag, den er gemeinsam mit Ilias Dahimène immer noch leitet.

Die andere Seite kann man sich hier anhören und/oder hier anlesen!

Gerhard Stöger
Der Problembär
Die Abenteuer des Musikmanagers Stefan Redelsteiner am Rande von Wien, Wanda und Wahnsinn
2025, 304 Seiten, Softcover
ISBN: 978-3-99166-029-3
Falter Verlag
€ 24,90


Genre: Biographie
Illustrated by Falter

Woher ich kam

Woher ich kam. Ausgehend von ihrer Urururururgroßmutter Elizabeth Scott, die 1766 geboren wurde, rollt die Schriftstellerin Joan Didion (1934-2021) die Geschichte ihrer Familie – vor allem aber die Kaliforniens – neu auf. Zumeist ging der vielgerühmte “Pioniergeist” der Erschließung des amerikanischen Kontinents bis in den äußersten Westen allerdings auf Kosten der amerikanischen Regierung, wie Didion ernüchternd feststellt.

The West is the Best

Der amerikanische Westen, Kalifornien, gehört zum Mythos der ganzen Nation USA. “The Last Frontier” wurde bis an den Pazifik ausgedehnt und galt geradezu als zivilisatorisches Projekt. “Man suchte ein romantisches und entlegenes Land der Verheißung und wurde in der Wildnis der hiesigen Welt oft nur von Zeichen des Himmels geführt”, zitiert Didion Josiah Royce, der um die Jahrhundertwende lebte. Was für die Trecks nach Westen am wichtigsten war, lernte die junge Didion auch von ihrer Familie. “Nimm niemals eine Abkürzung und eile, so schnell du kannst, weiter”, so die Erzieherin Virginia Reed, eine Überlebende des legendären Donner-Trecks. “Sentiment wie Trauer und Unstimmigkeit, kostete Zeit. Ein Zögern, ein Moment des Zurückschauens, und der Gral war verwirkt”, so könnte man das Credo der Siedler in den Worten Didions umschreiben. Die sog. “erlösende Kraft der Überquerung” wurde aber nicht durch Liebe gestaltet, denn sie liebten ihr Land nicht, diese Pioniere. Sie bedienten sich eines eisernen Ungetüms, eines Leviathans, eingedenk, dass der eigentliche Octopus nicht die Eisenbahn, sondern die unbarmherzige und gleichgültige Natur selbst war. Wollten sie deswegen alles aus dem Boden rausholen, was rauszuholen war? Didion zeigt, dass sich schon früh Spekulanten bereicherten, etwa wenn sie staatliche Subventionen abgriffen, um ihren Reichtum zu vermehren. Die “subventionierte Monopolisierung Kaliforniens” geschah genauso, wie sich Chrysopylae (Golden Gate) sich ein Vorbild an der Chrysosokeras (Goldenes Horn) von Byzantium ein Vorbild genommen hatte: durch Raub.

Die Kehrseite des verheißenen Paradieses

Der kalifornische Wohlstand baute vor allem auf Flugzeugherstellern wie Hughes, Douglas, Rockwell auf. Aber “Mongolen, Indianern und Negern” war 1860 vom kalifornischen Landtag der Zugang zu öffentlichen Schulen untersagt. Der kalifornische Land Act von 1913 verbot sogar ausdrücklich allen Asiaten und auch ihren in den USA geborenen Kindern (!) Landbesitz. Im zweiten Teil ihrer Rückschau nimmt sich Didion Lakewood vor, eine aus dem Boden gestampfte Gemeinde, die vor allem von Beschäftigten dieses Wirtschaftssektors, der Rüstungsindustrie, bewohnt wurde. Didion stellt sich die Frage, was aus den Kindern dieser Bewohner wird. Antwort: Spur Posse. Schon ihre Mutter hatte Didion darauf aufmerksam gemacht, dass “dieses Wort” hier nicht gebraucht wird. “So denken wir nicht.” Die Rede ist von “Klasse”. Die Ausschreitungen von 1991 (die sog. “L.A. Riots”) bringt Didion in einen Zusammenhang, den andere nicht zu denken wagten. Denn die Auftragslage in der Rüstungsindustrie (sprich: Flugzeuge) war 1989 eingebrochen und Arbeitslosigkeit weit verbreitet. Zwischen 1988 und 1993 waren 800.000 Arbeitsplätze verloren gehangen, so Didion. Aus dem verheißenen Land wurde Ende des 20. Jahrhunderts ein Eldorado der Sozialhilfeempfänger, das 1998 Menschen, die aussiedeln wollten, sogar Prämien für Umzug etc. zahlte. Arbeitsplätze gab es nur mehr in der California Correctional Peace Officers Association, aber selbst die brachten ihr Personal größtenteils selbst mit. Im Jahr 2000 war das kalifornische Strafvollzugssystem mit 33 Zuchthäusern zum größten in der westlichen Hemisphäre geworden. 1995 gab Kalifornien mehr für seine Gefängnisse als für seine zwei großen Universitätssysteme, die UCLA und die California State, aus.

Joan Didion zeigt die Kehrseite der Medaille und verwebt das Schicksal ihres Bundesstaates und Geburtslandes mit dem ihrer eigenen Familie. Sie schreibt über den Tod: “Als mein Vater starb, machte ich weiter. Als meine Mutter starb, konnte ich das nicht.” Der Traum Amerikas, “die ganze Verzauberung”, schreibt sie, “unter der ich mein Leben zugebracht hatte”, fing an, “abwegig” auszusehen. Ein nachdenkliches Werk der 2021 leider verstorbenen Schriftstellerin und Intellektuellen, das zeigt, dass nicht alles gülden ist, was glänzt.

Joan Didion
Woher ich kam. Roman
(Originaltitel ‏ : ‎ Where I Was From)
Aus dem Amerikanischen von Antje Rávik Strubel
2019, Hardcover, 272 Seiten
ISBN: 978-3550050213
Ullstein Verlag
20.-€


Genre: Roman
Illustrated by Ullstein

100 Jahre The Great Gatsby

In der Reihe Modern Classics erschien dieses Jahr, 2025, die vorliegende Neuausgabe des großen Romans des Jazz Age. Tatsächlich sind es genau 100 Jahre her, dass The Great Gatsby erstmals erschien. Die Handlung spielt im New York des Jahres 1922.

Glitz and Glamour der 20er

James/Jay/Jimmy Gatsby (eigentlich: James Gatz residiert in seinem Anwesen auf Long Island und gibt sagenhafte Feste. Damit hofft er seine Jugendliebe Daisy heranzulocken, um ihr mit seinem neuerworbenen Reichtum, mit Swing und Champagner seine verlorene Liebe zu gestehen. Aber Daisy ist längst selbst liiert und kann ihm nur auf neutralem Territorium begegnen. Dieses bietet sich durch den Nachbarn Gatsbys, dem Junggesellen Nick Carraway. Tom Buchanan ist der Name des Glücklichen, der Gatsbys Jugendliebe Daisy geheiratet hat. Aber er behandelt sie alles andere als gut, wie der Leser:in bald feststellt. Denn Tom hat selbst eine weitere Freundin, Myrtle Wilson, die wiederum selbst mit George Wilson verheiratet ist. Ob das in den Zwanzigern gang und gebe war, verheiratet und dennoch eine/n Liebhaber:in zu haben, bleibt offen. Was aber ganz deutlich und klar feststellbar ist, ist, dass zwischen 17. Januar 1920 und 5. Dezember 1933 in den USA die Prohibition bestand. Dennoch wird im Roman ausgiebig gefeiert und es fließt dementsprechend viel Alkohol. Bei einer dieser “Spritztouren” nach downtown New York, wo ebenfalls nicht nur die Automobile ordentlich getankt werden, kommt es im Verlauf des Romans zu einer großen Katastrophe, einem tragischen Unfall. Myrtle Wilson gerät in einem Streit mit ihrem Ehemann George auf die Autostraße und wird dort von einem Auto erfasst: dem Auto von Gatsby. Aber nicht Gatsby hat das Automobil gelenkt, sondern Daisy und so hat sie – unwissentlich – ihre Rivalin bei Tom getötet.

Crime Fiction oder Autofiction?

Denn Ennui der Reichen und Gutgestellten hat F. Scott Fitzgerald – wohl auch aus eigener Erfahrung – treffend wie kein anderer geschildert. Dennoch war seinem großen Roman, heute ein “modern classic” bei Erscheinen gar kein Erfolg beschieden. Während Fitzgerald mit seinen Kurzgeschichten im selben Zeitraum für acht Erzählungen 30.000 Dollar von der Saturday Evening Post bezahlt bekam, schlug sich der Große Gatsby mit gerade einmal 5,10 Dollar zu Buche. Beim Verfassen seines posthum größten Erfolges war Fitzgerald gerade einmal 27 Jahre alt und hatte noch gute 13 Jahre schriftstellerisches Schaffen vor sich. 160 Kurzgeschichten hat Fitzgerald insgesamt verfasst, bis er 1940 das Zeitliche segnete. Er starb 1940 in Hollywood an seinem dritten Herzinfarkt – gerade einmal 44 Jahre alt. Als “world’s most misunderstood novel” bezeichnete unlängst die BBC den größten Erfolg Fitzgeralds. Dass Gatsby ein bootlegger war, der bis zum Hals in kriminellen Machenschaften steckte, sowie ein Stalker, wie man es ihn heute in PC-Zeiten nennen würde. Nix mit Romantik und so. Denn Gatsby hat sich sogar seine Villa vis a vis von Tom und Daisy bauen lassen. Freier Blick auf’s Mittelmeer oder die Manhasset Bay besser gesagt. Dass Fitzgerald’s Frau, Zelda, während F. Scott an seinem Roman arbeitete, einen Selbstmordversuch unternahm und nach einer Affäre mit einem Franzosen Schlaftabletten genommen hatte, zeigt wie lebensnah die Crime Fiction am Alltag des Autors war und dass das Jazz Age vielleicht sogar noch wilder war, als wir es in unseren Vorstellungen ausmalen wollen.

F.Scott Fitzgerald
Der große Gatsby
Mit einem Nachwort von Min Jin Lee. Aus dem amerikanischen Englisch von Bettina Abarbanell
2025, Hardcover, 256 Seiten
ISBN: 978-3-257-07337-9
Diogenes Verlag
€ (D) 19.00 / sFr 26.00* / € (A) 19.60


Genre: Roman
Illustrated by Diogenes

Dalí. BABY SUMO

Dalí. BABY SUMO. Sein aufgezwirbelter Schnurrbart wurde zum Synonym einer Geisteshaltung, die sich gleichzeitig über etwas mokiert und dabei verschmunzelt lächelt. Die Rede ist natürlich von Salvador Dalí und dem Surrealismus, einer Kunstrichtung die über das Reale hinaus nach den Träumen und dem Unbewussten forschte.

Traum und Wirklichkeit

Beeinflusst von Sigmund Freud und seiner Psychoanalyse sammelte André Breton Anfang des 20. Jahrhunderts zahlreich Künstler der verschiedensten Ausrichtungen um sich und gab ihnen einen politischen Touch. Die Welt und deren Bewusstsein sollte verändert und radikalisiert werden, um einen weiteren Weltkrieg zu verhindern. Dass dies nicht gelang, sondern ein noch viel schrecklicher Weltenbrand den Planeten verwüstete ist bekannt. Anders als andere Köpfe der Bewegung arrangierte sich Salvador Dalí mit dem Falangismus seiner Heimat, der spanischen Ausprägung des Faschismus unter “Caudillo” Francisco Franco Bahamonde. Gleichzeitig schuf Dalí aber auch eines der beständigsten und bekanntesten Werke des Surrealismus. Seine weichen Uhren, brennenden Giraffen und Hummertelefone zieren längst Werbekataloge, Poster oder sogar Polster und jeder kennt Dalí von dem der Satz “Le surrealisme: c’est moi” stammen könnte.

Dalí. BABY SUMO

Die vorliegende Collector’s Edition, limitiert auf 10.000 nummerierte Exemplare, widmet sich dem gesamten Werk des “Titanen der modernen Malerei”, als Performer, Designer und Visionär. Die Publikation präsentiert sein Werk im Format 36,7 x 50 cm und einem Detailreichtum, den man selten findet. Eine Chronologie, die mit Fotos, Skizzen und Magazinseiten seinen Weg von Katalonien über Paris nach Hollywood und zurück nach Hause dokumentiert geleitet durch das Werk eines der größten surrealistischen Künstler der Moderne. In seinem Spätwerk widmete er sich übrigens der klassischen Kunst und aktualisierte die Bildwelt der Renaissance in monumentalen Visionen, darunter auch stille, persönliche Hommagen an Michelangelo und Velázquez.

Dalí’s Lebenswerk in zwei Bänden

Die Reihe SUMO des TASCHEN Verlages schrieb schon 2005 – mit der Herausgabe eines monumentalen Bildbandes zum Werk des Fotografen Helmut Newton – Geschichte. Die Reihe “Baby SUMO” ist zwar nicht ganz so groß, aber ebenso monumental. Denn gezeigt werden in zwei Bänden Dalís wichtigste Werke in einer bisher in Druckform noch nie dagewesenen Größe und Detailtreue sowie ein Chronologieband mit Texten von Montse Aguer und Carme Ruiz von der Fundació Gala-Salvador Dalí in Figueres, der Heimatstadt des Künstlers. In Bezugnahme auf die neuesten Forschungsergebnisse erzählen die für diese Monumentalausgabe beauftragten Autorinnen die Geschichte der Kunst und des Künstlers mit zahlreichen Zitaten aus seinen eigenen Schriften, Briefen und zeitgenössischen Rezensionen, illustriert mit seltenen und ikonischen Porträtaufnahmen, Zeitschriftenartikeln, Skizzen und Buchillustrationen sowie weiteren Werken in verschiedenen Medien.

Galadîner mit Gala

Natürlich wird auch sein Verhältnis zu seiner Muse, die er in zahlreichen Gemälden – etwa dem Letzten Abendmahl – verewigte geklärt und beschrieben. Gemeinsam siedelten sie nach Amerika um, wo Dalí zu einer öffentlichen Persönlichkeit wird, in den Medien und auf den Society-Magazinseiten präsent ist. Er wirkte dort auch bei Theater- und Modeprojekten mit, ließ sich seinen zum Markenzeichen stilisierten legendären Schnurrbart wachsen und diniert in Hollywood mit Hitchcock und Disney. Nach dem Krieg inszenierten sich die beiden wieder in Spanien als Künstler, die Hof hielten und im Dalí-Theater-Museum in Figueres ein eigenes Vermächtnis schufen. „Ich habe nie versucht, meine Bilder zu erklären, aus dem einfachen Grund, dass ich sie selbst fast nie verstehe.“, so der Künstler in klassisch surrealistischer Manier über sein eigenes Werk

Hans Werner Holzwarth
Dalí. BABY SUMO
Collector’s Edition von 10.000 nummerierten Exemplaren
2025, Hardcover, 36,7 x 50 cm, 438 Seiten; mit Goldschnitt, Ausklappseiten, Goldprägung auf Titel- und Kapitelseiten, sowie einem 40-seitigen Begleitheft mit Abbildungsverzeichnis, 22 x 28,9 cm; in einer Clamshell-Box, 41 x 56,2 cm, gebunden in schwarzem Samt mit Goldfolienprägung und Tip-In; plus Chronologie mit Leineneinband, 22 x 28,9 cm, 624 Seiten; Gesamtgewicht 16 kg
Ausgabe: Englisch

TASCHEN Verlag
ISBN 978-3-8365-5281-3
€ 1.000


Genre: Kunst
Illustrated by Taschen Köln

101 Jahre Der Zauberberg

Ausgabe 2024 (vergriffen)

Der Zauberberg. Letztes Jahr, 2024, jährte sich Manns Jahrhunderroman zum 100. Mal und es erschien eine Geschenkausgabe in Leinen zum 100. Geburtstag. Dieses Jahr, 2025, wäre Thomas Mann am 6. Juni 150 Jahre alt geworden. Ein Grund mehr sein Werk zu lesen und den “Zigeuner im grünen Wagen” hochleben zu lassen.

Die Vorwegnahme der europäischen Katastrophe

Zigeuner im grünen Wagen” – so nannte ihn sein Vater, der sah, dass sein Sohn vom Schreiben einfach nicht lassen konnte. Noch dazu hatte er gerade ein miserables Schulzeugnis abgeliefert und mir nichts dir nichts Puppentheater gespielt. Aber im Zauberberg ist der bereits 50-jährige Schriftsteller bereits zur Höchstform aufgelaufen und schrieb einen Roman, der für eine ganze Epoche kennzeichnend werden sollte. “Ganz Europa stürzte mir in den Kopf”, soll Susan Sontag über das für sie wichtigste Buch der Epoche einmal geschrieben haben. Für die US-Kritikerin und Schriftstellerin war der Zauberberg gar das wichtigste Buch ihres Lebens. Ganz Europa ist im Roman “große Konfusion”, Ideologien, Überzeugungen und Positionen, die in einem Davoser Sanatorium unversöhnlich aufeinanderprallen werden zum spannenden Dialog und spalten die Zuhörer:innen in Kontrahenten und Zujubelt. Alles ist irgendwie komisch und tragisch zugleich, bis man sich irgendwann nur noch Schlagworte an den Kopf wirft. Wem das – 100 Jahre später – alles sehr bekannt vorkommt, der weiß, dass das Europa von 1924, als der Roman erstmals erschien, sich gar nicht so sehr vom Europa des 2024 unterscheidet. Zumindest was die politische Lage betrifft. Die Katastrophe auf die Europa damals zusteuerte, die Gereiztheit und Gewalt und das Geschwafel der Alphamänner, das unterscheidet sich vielleicht weniger als man hören möchte. Dabei sollte man vielmehr zuhören und weniger reden. Oder noch besser: den Zauberberg lesen.

Ein Jahrhundertroman als Warnung

Ausgabe 2025

Zum 100-jährigen Buchjubiläum gibt es nun diese limitierte Sonderausgabe – dem Anlass angemessen – im schneeweißen, glitzernden Leinen mit eisblauem Farbschnitt, tiefgeprägter Typographie, hochwertigem Vorsatzpapier und Lesebändchen. Der als Novelle geplante Jahrhundertroman mit mehr als 1000 Seiten gilt als einer der großen Romane der klassischen Moderne und ein eindringliches Porträt der europäischen Gesellschaft vor dem Ersten Weltkrieg. Der Einbruch der Katastrophe in eine sicher geglaubte Welt und die Nationalismen, die einen allzu plötzlich in einen Weltkrieg schlittern ließen, als hätte man mal kurz nicht aufgepasst, gehörten zur Tragödie des 20. Jahrhunderts, die nur noch durch den Nationalsozialismus in seiner Grausamkeit übertroffen wurde. Settembrini, Castorp und Naphta sind die männlichen Protagonisten, die gewissermaßen um die Ehre rittern, ein von Krankheit, Tod und Verwüstung bedrohtes Europa allein durch ihre geistigen Dispute zu erretten. Eine gewisse Clawdia Chauchat (man beachte die “claw” und die “chau(d) chat” im Namen) wird zur erotischen Herausforderung für den bisexuellen Castorp, der sich im Sanatorium in sie verliebt und statt den geplanten drei Wochen gleich sieben Jahre am Zauberberg bleibt. Einen Blick und Appetitanrager auf den Roman findet man noch bis 2025 hier!

Thomas Mann
Der Zauberberg
Roman. Geschenkausgabe in Leinen
2024, Hardcover, Sonderausgabe 100 Jahre Zauberberg, 1120 Seiten, 1448 g
ISBN: 978-3-10-397675-5
S.Fischer Verlag
€ 58.-


Genre: Roman
Illustrated by S.Fischer Frankfurt am Main

Heute kein Abschied

“Und jetzt ist er nirgendwo mehr. Jetzt ist er überall.” Der niederländische Autor, Journalist und Historiker legt mit “Heute kein Abschied” einen persönlichen Roman vor, der alle angeht. Denn jeder muss eines Tages von seinen Eltern Abschied nehmen: “Das gehört zum Älterwerden”.

Booze, Beans, Blow and Bad Decisions

Im Falle der der Geschwister Tessel, Moor und Cat ist es der Vater. Ihre Eltern, Elise und Oskar, haben sich vor langer Zeit getrennt. Die langen (beruflichen) Abwesenheiten Oskars in Hollywood, die Sprachlosigkeit und Stille wurden ihr langsam zu viel und so suchte sie Trost in den Armen eines langzeitigen Freundes, Cas. Aber für Oskar brach wohl eine Welt zusammen, denn er hätte sich nie vorstellen, können, dass eine Familie sich so einfach auflösen kann. Immerhin bekam er die Katze, das einzige, was Elise nicht bekam. “Alles würde er geben für eine Brücke, einen Blick, ein Winken, eine Einladung. Warum macht keiner von ihnen den ersten Schritt? Die Jüngste, Cat, wohnte zwar noch eine Weile bei ihm, aber er unterstützte sie dabei, sich bei der NYU zu bewerben. Dort lebt sie als die traurige Nachricht sie erreicht. Aber etwas ist seltsam: Warum hat ihr Vater gerade ihr, der Jüngsten, die Testamentsvollmacht erteilt? Gibt es etwa ein Familiengeheimnis, von dem alle nichts wissen? Und was meinte der Hollywood-Freund ihres Vaters, Gene Grift, mit den 4Bs eigentlich? “Er wollte wirklich wieder nach Amerika. Er hatte das Recht, hinzufliegen, darum ging es, um das Recht zu fliehen, nicht vor ihnen, sondern vor sich selbst.” Ihr Name war: Lucy.

Der Knick in der Kurve

“Die Sixties, der Zeit in der die Luft sauber und der Sex schmutzig war.” War es dieses Jahrzehnt, das die Ehe von Elise und Oskar zerstörte? Die Umwertung aller Werte? Mit einfühlsamen Worten und detailreichen Schilderungen taucht man ein in die Welt der Familie der Van Bohemens und ihres Oberhauptes, des Fotografen Oskar van Bohemen. “Fotografie war für ihn mehr als Journalismus und möglicherweise sogar mehr als Kunst. Sie war eine Methode, die absolute Wahrheit zu zeigen, womit sie sagen wollten: das, was nicht mehr geleugnet werden konnte”. In Rückblenden erfährt man vom Doppelleben der beiden Elternteile, Elise und Oskar, auch von der strengen Kindheit Oskars, dessen Vater ihn den “Knick in der Kurve” nannte und dafür oft bestrafte. In den Sechzigern wurde es dann besser, Oskar hoffte sogar, dass sein leben so bleiben würde wie es war: “Doch das sollte sich als Illusion erweisen, so wie jede Hoffnung, die auf Stillstand beruht”. Auch von den drei Geschwistern erfährt man viele persönliche Dinge und lernt die drei kennen, als ob sie eigene Bekannte wären.

Ein Leben wie im Film in Fotos

Auch eine literaturwissenschaftliche Ebene ergibt sich: der allmächtige Erzähler wird in Cats Studium zum zentralen Angelpunkt. “Nichts macht so einsam wie eine Begegnung”, “Nie Kinder bekommen, bedeutet niemals zu altern”, sind Stehsätze mit Hilfe derer sie ihr Privatleben ad acta legt. “Es ist nicht das Schneiden, das so schmerzt, sondern das Abgeschnittensein”, zitiert Tessel die Dichterin Vasalis. “Die Eltern sterben und man landet in einer elternlosen Welt. Diese Welt scheint identisch zu sein mit der, die man kennt.(…) Das Theaterstück ist dasselbe, aber die Rollenverteilung anders.(…) Man dürfe froh sein, dass das Stück noch eine Weile weitergeht.” Ein Roman wie ein Familienalbum, voller nützlicher Einsichten und vieler zärtlicher Momente. Wie wenig man über Menschen weiß, die man kennt, begreift man oft erst nach ihrem Ableben. “Nicht alles, was endet, ist ein Misserfolg. Nicht alles, was verloren ist, war ein Paradies.” Die drei Geschwister streifen durch ihr Elternhaus, um den Hausrat aufzuteilen und da entdecken sie auch die Kiste, die zu dem kleinen Schlüssel aus Cats Brief passt. Manche sagen das Leben sei ein Film, aber vielleicht hatte doch Oskar recht: “Das Leben besteht aus Fotos“.

Daan Heerma van Voss
Heute kein Abschied
Roman
Aus dem Niederländischen von Gregor Seferens
2025/2023, Hardcover, Leinen, 496 Seiten
ISBN: 978-3-257-07325-6
Diogenes Verlag
€ (D) 26.00 / sFr 35.00* / € (A) 26.80


Genre: Familiengeschichte, Roman
Illustrated by Diogenes

Moonlight Mile. Ein Fall für Kenzie & Gennaro

Moonlight Mile. Ein Fall für Kenzie & Gennaro. “Ich liebe es älter zu werden, verdammt.” Ein weiterer Fall für das Ermittler-Duo Patrick Kenzie und Angela Gennaro. Inzwischen sind sie verheiratet und Eltern einer vierjährigen Tochter. Das macht verletz- und erpressbar. Aber es ist nicht das erste Mal, dass Dennis Lehane seinen Lieblingskriminalisten durch einen intelligenten Coup aus der Patsche hilft.

Entführung oder Flucht?

Nun, das ist das Problem, wenn es um Kinder geht, oder? Wir haben keine Ahnung. Keiner von uns.” Die vier Jahre alte Amanda McCready wurde erstmals vor zehn Jahren entführt, aber von Angela und Patrick wiedergefunden. Nun ist Amanda als Teenager erneut verschwunden. Da Kenzie gerade “suppenküchenpleite” ist, nimmt er widerwillig den Auftrag an, die Verschollene wieder aufzustöbern. “Ich habe gehört, dass über Thanksgiving fünf Personen in einen Raum gegangen sind. Können Sie mir bisher folgen?“, bekommt er einen Hinweis oder ist das nur eine weitere Verwirrtaktik seiner Widersacher?

Aus Fünf mach’ vier!

Denn nur vier kamen wieder heraus. War Amanda eine davon? Dass auch noch eine Freundin von Amanda, Sophie, verschwunden ist, führt Kenzie dann auf die richtige Spur, denn ihr Vater, Brian, ist ein Plappermaul. Sophies Betreuer beim Amt für Kinder und Familien ist nämlich ein gewisser Andre Stiles und der hat selbst Dreck am Stecken. Ein Duell – Handy gegen Pistole – enthüllt die wahre Macht der neuen Medien, denn es gewinnt tatsächlich das Handy. Als dann auch noch die Russenmafia in Gestalt von Kyrill Borsakow auftaucht, der mit seinen Kumpels aus Mordwinien (sic!) Boston und Umgebung unsicher macht, wird es eng für Kenzie. Dabei zeigen die Herren aus der ehemaligen Sowjetrepublik durchaus Humor. Sie wollen einfach nur das belorussische Kreuz und ein Baby zurück. Das ist alles.

B.Trüger, R.Presser & Partner

All das, was unsere Väter für gegeben hielten, solange man nur hart arbeitete, das große Sicherheitsnetz und der faire Lohn und die goldene Uhr am Ende? Davon ist hier nichts mehr übrig, mein Freund.” Dennis Lehane, der wie viele seiner irischen Verwandten in Boston lebt gehört auch zu einer starken Stimme gegen den sozialen Untergang im Amerika von heute. Auch wenn der Roman im amerikanischen Original schon vor 15 Jahren – unter demselben Titel – erschienen ist, hat diese Kritik nichts von ihrer Authentizität verloren. Leider, möchte man sagen. Auch die Oxycontin- und Fentanyl-Krise in den USA spricht er am Schicksal einer Ärztin an. Die Schuldenspirale treibt auch sie in die Arme von “B.Trüger, R.Presser & Partner“. “Wir lernen nichts, wir ändern uns nicht, und dann sterben wir. Und schon nimmt die nächste Generation an Blendern unseren Platz ein. Und das? Das ist alles.

Moonlight Mile: Ein Fall für Kenzie & Gennaro

Ein düsteres Resümee, aber es ist kein Pessimismus, der da durchklingt, ganz im Gegenteil: “Ich liebe das, was kaputtgeht und nicht repariert werden kann. Was verloren geht und nicht ersetzt werden kann. Ich liebe meine Bürde.” Am Ende weiß auch Patrick Kenzie, was wirklich zählt und zieht seine Konsequenzen. Aber viele weitere Fälle von Kenzie & Gennaro sind ebenso beim Diogenes Verlag in deutscher Übersetzung zu lesen, ganz abgesehen natürlich von den anderen Werken Dennis Lehanes, die teilweise auch in Starbesetzung verfilmt wurden und ebenso bei Diogenes erhältlich sind. Übrigens spielt in Moonlight Mile auch Bubba wieder eine ehrenvolle Rolle. Und natürlich ein Album der Rolling Stones: Track 6.

Dennis Lehane
Moonlight Mile
Ein Fall für Kenzie & Gennaro
Aus dem amerikanischen Englisch von Peter Torberg
2025/2010, Paperback, 384 Seiten
ISBN: 978-3-257-30047-5
Diogenes Verlag
€ (D) 20.00 / sFr 27.00* / € (A) 20.60


Genre: Krimi
Illustrated by Diogenes Zürich

Eva schläft

Eva schläft. “Vielleicht ist es eines Tages gar nicht mehr so schlimm, ein Kind zu haben und unverheiratet zu sein”, hofft Gerda. Der Romanerstling “Eva schläft” der in Rom geborenen Autorin Francesca Melandri beschäftigt sich mit den sog. “Südtiroler Bummsern”, also den Separatisten, die in den Siebzigern Südtirol aus Italien zurück in ihr “Heimatland” Österreich bomben wollten. Aber auch eine Vater-Tochter Geschichte wird erzählt, die einmal mehr die Spannung zwischen dem Norden und dem Süden des Landes verdeutlicht. 1397 km trennen Vito und Eva.

Südtirols Befreiungskampf

Eva ist die Tochter von Gerda Huber und Vito. Nur, dass Eva ihren Vater gar nicht kennt. Sie macht sich auf die Suche nach ihm, reist nach Kalabrien und dazwischen wird in Rückblenden die Geschichte ihrer Mutter und der Provinz Alto Adige erzählt, die vor allem durch das weise Handeln von Silvius Magnago nach etlichen Konflikten zu einer gewissen Autonomie der Region führte. Die “Option” war eine zwischen Mussolini und Hitler ausgearbeitete Lösung, die die Südtiroler “heim ins Reich” holen sollte und Südtirol italianisieren sollte. Aus diesem Grund wurden auch aus dem Süden Italiens Menschen in den Norden umgesiedelt. Aber die, die blieben, ignorierte man, “man tat einfach so, als gäbe es sie überhaupt nicht”, Italienisch wurde zur Pflicht.

Die Suche nach einem (Landes-)Vater

Aus der “Los von Trient” Bewegung der Nachkriegszeit wurde bald eine “Los von Rom!” Bewegung, aber das gelang dann doch nicht ganz. Als Südtiroler war man ein Mensch zweiter Klasse im eigenen Land, die Behörden sprachen kein Deutsch, und als Südtirolerin wurde man zudem noch als “Matratze” diffamiert, besonders wenn man im Hotelgewerbe arbeitete. Die Männer schufteten in den Kalkwerken der Dolomiten und ruinierten sich ihre Gesundheit. Diejenigen die sich dagegen wehrten, wurden gefoltert, das kannte auch Silvius Magnago. “Dieser Mann war nicht nur ein erstklassiger Jurist, sondern ein echter Intellektueller“, schreibt Melandri. “Und vor allem war er jemand, dem, so erschöpft und zerstreut er sein mochte, nie ein Gemeinplatz über die Lippen kam“.

Duft von Stube und Heuboden

Si accusi bella ca si faciss’ nu pireto m’o zucass“, heißt ein sizilianisches Sprichwort, das Francesca Melandri dem Leser:in gerne ein paar Zeilen weiter übersetzt. Allein dafür lohnt es sich schon, diesen Romanerstling der Romanautorin zu lesen, die zuletzt mit einem sehr engagierten Essay, “Kalte Füße“, ebenfalls bei Wagenbach erschienen, auf sich aufmerksam machte. Sie erzählt vom Verbot der Mischehen, das bis 1971 bestand, den Grundfähigkeiten eines leidenschaftlichen Briefmarkensammlers und vom Duft von Stube und Heuboden, der aus einer handgeschnitzten Holzkiste strömt. Jedem Abschied wohnt ein Zauber inne, aber noch mehr dem Wiedersehen.

Eine Umarmung der Vergebung

Über 1397 km hinweg zelebriert sie das Wiedersehen zwischen Tochter und Vater, zwischen Eva und Vito, das durch ihr Mutter 30 Jahre lang hinausgezögert wurde. “Es ist ihre Schuld. Es ist alles ihre Schuld. Alles, aber wirklich alles ist ihre Schuld“. Aber wieviel Gnade und Wonne liegt im Vergeben und verzeihen: “Und jetzt umarme ich meine Mutter, denn nichts und niemand kann uns für das entschädigen, was wir verloren haben. (…) sich wieder umarmen zu können und nicht mehr länger und sei es nur für einen Augenblick, das große Glück zu vergessen, zu leben und zusammen sein zu dürfen.

Eine Roman zwischen Nord und Süd, zwischen Südtirol und Kalabrien. Die Streitbeilegungserklärung vom Juni 1992 zwischen Österreich und Italien und dem Schengener Abkommen von 1998, nach dem alle Schlagbäume am Brenner entfernt wurden, waren Ergebnisse eines langen Kampfes, den Melandri in bunten, duftenden Eindrücken voller poetischer Wendungen und sinnlichen Einwerfungen wie ihr eigenes Schicksal schildert. Wollen wir dieses vereinte Europa wirklich verlieren?

Francesca Melandri
Eva schläft. Roman
Aus dem Italienischen von Bruno Genzler
2025/2010, 440 Seiten, broschiert
ISBN 978-3-8031-2805-8
Wagenbach Verlag
16,– €


Genre: Roman
Illustrated by Wagenbach

Wut und Liebe

Der neue Suter: Wut und Liebe

Wut und Liebe. Camilla ist 31 und Buchhalterin. Sie füttert ihren Freund Noah, einen Maler, durch und hofft auf bessere Zeiten. Doch dann will sie plötzlich mehr vom Leben. Ihre allerbeste Freundin Liz macht es ihr vor, sie leitet ein Unternehmen. Auch Camilla will einen sicheren Lebensabend und verabschiedet sich von Noah und der Liebe und wählt die Sicherheit eines reichen Mannes.

In der Liebe und im Krieg: Alles erlaubt

Doch dann kommt alles anders in diesem temporeichen Roman voller Plot Twists. Nichts ist so wie man es erwartet und alles voller Täuschungen. In der Blauen Tulpe lernt der enttäuschte Noah eine ältere Dame kennen, wie ihn auf eine verhängnisvolle Idee bringt. Wenn er reich wäre, würde Camilla ei ihm bleiben, also muss er so schnell wie möglich reich werden. Am schnellsten wird man wohl reich, wenn man jemanden anderen um seinen Reichtum bringt, oder…? Richtig! Durch einen Auftragsmord. Betty Haller, seine neue Bekannte, kennt da einen gewissen Zaugg, dem sie einiges nachträgt. Er wäre ein willkommenes Opfer. Zaugg & Partner zudem eine Firma, die sich mit schmutziger Geldwäsche befasst, also auch ethisch-moralisch vertretbar. Aber umbringen? “Mir bleibt nicht mehr viel Zeit, mein Leben zu ändern“, sagt die über 60-jährige herzkranke Betty. Aber Noah? Der ist gerade einmal halb so alt wie sie und hat noch alles vor sich.

Keine Liebe ohne Lüge

In der Liebe ist das Ziel die Niederlage, die Selbstaufgabe. Auf beiden Seiten. Nicht die Eroberung“, belehrt Katy ihren Kurzzeitgefährten Noah, denn auch bei ihr findet der Künstler kurzfristig seinen Trost. “Bleib der du bist“, rät sie ihm, dann verliere er sie zwar als Frau, aber gewinne ihren Respekt, lautet ihre Lösung für den Konflikt mit Camilla. Guter Rat ist eben teuer, wenn es um die Liebe geht. Er trifft wieder Betty in der Blauen Tulpe und sie ist weise: “Ihr habt euch beide etwas vorgemacht. Das ist normal in der Liebe. Nicht schön, aber normal. Man will gut dastehen voreinander. In der Liebe ist die Lüge ein Liebesbeweis. Die Wahrheit ist für die vorbehelten, dein einem egal sind.” Ob Camilla vielleicht doch wieder zu Noah zurückkehren wird?

“Gegen Wut hilft Liebe”

Einen Einblick in die Absurditäten der Kunstwelt und die Welt der oberen 10.000 bietet dieser Roman des 1948 in Zürich geborenen Schriftstellers Martin Suter. Gekonnt spielt der Autor mit den Verästelungen der Liebe und zeigt, dass es die wahre Liebe wider Erwarten doch noch gibt. Das Motiv des Doppellebens, eine Vorstellung von weißen Männern aus den 70iger Jahren, verwendet Suter für eine rührende Geschichte aus dem Milieu der Mittelklasse, dessen größtes Dilemma darin besteht, zu viel zum Sterben aber zu wenig zum Leben zu besitzen. Seine beiden Protagonisten, Camilla und Noah, wollen beide nach oben, sie wollen dazugehören und auch ein besseres Leben führen. Das verbindet die beiden, auch wenn sie unterschiedliche Wege wählen, ihre Ziele zu verwirklichen. Aber dass das alles gar nicht so einfach ist und die vermeintlich Erfolgreichen ebenso ihre Problem haben, müssen sie eben an eigener Haut spüren, bevor sie sich eines besseren besinnen und wieder zur Vernunft kommen. Das gelingt allen am besten mit dem Unvernünftigsten, das es gibt: der Liebe. Notfalls kann sie einem sogar den erwünschten Reichtum ersetzen. Auch wenn man mit ihr die Miete nicht bezahlen kann: warm bleibt es trotzdem.

Martin Suters Romane (darunter ›Melody‹ und ›Der letzte Weynfeldt‹) und die ›Business-Class‹-Geschichten sind auch international große Erfolge. Seit 2011 löst außerdem der Gentleman-Gauner Allmen in einer eigenen Krimiserie seine Fälle, derzeit liegen sieben Bände vor. Er lebt mit seiner Tochter in Zürich.

Martin Suter
Wut und Liebe
Roman
2025, Hardcover Leinen, 304 Seiten
ISBN: 978-3-257-07333-1
Diogenes Verlag
€ (D) 26.00 / sFr 35.00* / € (A) 26.80

 


Genre: Roman
Illustrated by Diogenes Zürich

Ralph Gibson. Photographs 1960–2024

Ralph Gibson. Eine Werkschau über sechs Jahrzehnte des in L.A. aufgewachsenen “Marines”-Fotografen Ralph Gibson bietet der vorliegende Fotoband des TASCHEN Verlages. Es entstand in enger Zusammenarbeit mit dem Künstler selbst und ist das Ergebnis von mehr als sechs Jahrzehnten des Bildermachens. Von Gibsons ersten Fotografien in San Francisco, Hollywood und New York in den 1960er-Jahren bis hin zur Gegenwart: die bisher umfassendste Sammlung eines Fotografen, der noch bei Dorothea Lange und Robert Frank sein Handwerk gelernt hatte.

Schule des Sehens in New York

In New York eröffnete Gibson schon bald sein eigenes Atelier. Später erhielt er Stipendien des NEA und der Guggenheim-Stiftung und wurde 2002 von der französischen Regierung zum Commandeur de l’Ordre des Arts et des Lettres ernannt. “Es ist weder gut noch schlecht, kultiviert zu sein, aber L.A. fand ich nun einmal ein wenig zu primitiv”, schreibt er über seinen Neubeginn 1967 an der Ostküste, in New York. Er quartierte sich gleich im berühmt-berüchtigten Chelsea-Hotel ein und blieb dort die ersten drei Jahre seines New Yorker Lebens. Im Max’s Kansas City sah er die Celebrities, aber seine Motive fand er mit dem Bus, mit dem er uptown und downtown fuhr. Denn Ralph Gibson wollte von Anfang an das wahre Leben zeigen, Menschen, Situationen, Akte, Porträts, Stillleben. Er schlief tagsüber und arbeitete nachts, atonale Musik, konkrete Poesie und Nouveau Romane zogen ihn an und seine Bilder hatten einen “surrealistischen Beigeschmack”, wie er selbst schreibt oder wie man neudeutsch bei uns sagen würde: Touch. Mit der Zeit wurde ihm klar, schreibt er, dass er einen Traumzustand fotografiert hatte. “The Somnambulist”, sein erstes Fotobuch entstand im Chelsea Hotel, nach drei harten Jahren des Kampfes hatte er es geschafft. Obwohl das Fotobuch nur 48 Seiten hatte machte es ihn schnell in Fotografenkreisen bekannt und es kam erstmals richtig Geld ins Haus. Damit finanzierte er sich seine ersten Reisen nach Europa. “Die kulturelle Tiefe dieser alten Länder schien jemandem, der in Los Angeles geboren wurde, so viel Stoff zu bieten.”

Von New York in die Welt

Der Rücken eines Pferdes, ein Mann, der sich in einen Baum hineinschneuzt oder Nebel- und Wasserschwaden finden sich auf seiner aus den 70igern stammenden Serie “Déjà vu”. Ein weiblicher Aktausschnitt vor einem Wolkenhimmel zeigt er in Spanien am Strand. “Days at Zea” spielt mit Formen, Händen und Steinformationen, aber auch nackter Haut. “Infanta” nennt sich das Kapitel, das mit Schatangetan zu haben, währen in “L’histoire de France” wieder mehr der Surrealismus dominiert. Die Liebe zur Frankreich sei fast schon eine uralte amerikanische Tradition, schreibt er bezugnend m Goldfisch in einem Wasserglas gewidmet. “Chiaroscuro”, eigentlich eine alte Technik, nennt sich ein Ausschnitt seines fotografischen Werks aus den Jahren 1972-1998, die ebenfalls Bilder zeigen, die in Europa gemacht wurden. “Quadrants” nimmt Bezug auf das Format einer Fotoserie, die er für eine Ausstellung in New York konzipierte.

Gotham Chronicles, eine Anspielung auf New York natürlich, will das Königreich des Oberflächlichen und das kulturelle Zentrum der Zivilisation des des Abendlandes gegenüberstellen. Beides stellt für Gibson Gotham dar, eine mittelalterliche Stadt, wo weise Männer sich als Narren ausgaben, um die Steuer zu umgehen. “Haiku”, “In Situ”, “Pharaonic Light” entführen uns nach Japan, Ägypten, Brasilien und Dakar und Korea. Am Ende findet sich auch ein Résumé sowie weitere Tipps zu Büchern von Ralph Gibson, die u.a. auch beim TASCHEN Verlag erschienen sind. Ralph Gibson hat seinen Fotografien kurze Texte beigefügt und stellt sich den Dingen, lichtet sie auf eine fast meditative Weise ab, wie es nur die Stille eines Bildes mag wiederzugeben. Weitere Werke von Ralph Gibson finden Sie hier!

Ralph Gibson. Photographs 1960–2024
Ausgabe: Mehrsprachig (Deutsch, Englisch, Französisch)
2025, Hardcover, 21 x 27.5 cm, 2.65 kg, 552 Seiten
ISBN 978-3-7544-0268-9
TASCHEN Verlag
€ 60

 


Genre: Fotografie
Illustrated by Taschen Köln

Eigentum

Eigentum. “Bist bes auf mi, Mutti?” Neu erschienen als Taschenbuch ist auch der (vor-)letzte Roman des Sprachkünstlers Wolf Haas. Der Erfinder der “Brenner”-Krimireihe fischt dieses Mal in ganz anderen Gewässern. Genauer gesagt in fremden “Lechn“, hochdeutsch: Lehen. Denn immer strebt der Mensch nach Besitz, nach Eigentum und selbst wenn es dann nur 1,7 m2 werden, ist zumindest etwas zum Vererben da.

Lehen und Leute

Teilweise im Dialekt seiner Mutter (der Autor ist in Maria Alm am Steinernen Meer geboren) verfasst, dann wieder umgangssprachlich, österreichisch, sogar hochdeutsch bereitet Wolf Haas Leserinnen und Lesern wieder eine ganz besondere Lektüre. Zwei Tage vor dem Tod seiner Mutter, will er noch das Wichtigste aufschreiben, aber was ist angesichts des Todes noch wichtig? Der Autor tut es in gebohnert Manier: mit viel Humor und witzigen Wendungen, Sprachakrobatik und viel Kunstfertigkeit. “Ich will das hinschreiben, solange sie noch lebt, danach möchte ich mich nicht mehr damit beschäftigen“, schreibt er, “(…)dann machte ich diese verdammten Geschichten auch endlich begraben, was geht es mich an, dass ein Mensch, den ich gekannt habe, sein kleines Lechn immer wieder gegen ein größeres Lehn getauscht hat.” Die ironische Verkürzung des Lebens seiner Verwandten am Land auf “Geschichten” ist natürlich nur eine Schmerzvermeidungsstrategie. Aber anders als der eingangs zitierte Liedtext vermuten lässt, war seine Mutter gar nicht böse und schon gar nicht böse auf ihn, den Wolf. Sie war böse auf die Leute. “La gente“, wie der Sohnemann beflissen hinzufügt. Denn eigentlich hätte sie sich gar nicht vor denen jahrzehntelang verstecken müssen. Im Dorf war ohnehin nur mehr am Friedhof was los. Dort begleitet er sie nun hin und verabschiedet sich von ihr.

Lass weg, Haas!

Seine Mutter hatte viele Jobs, als Servierkraft zum Beispiel. Oder bei der Briefzensur während des Krieges. Dann hat sie nach dem Krieg auch in der Schweiz gearbeitet. Acht Jahre. Aber das Geld, das sie nach Hause schickte wurde in ein Haus investiert, das sie dann nicht mehr bewohnen durfte. Ihr Vater starb 1956, der älteste Sohn 1957. Als sie Jahrzehnte später von der Raika aus ihrem Haus vertrieben wird, mit 89 Jahren, wird das Haus aber gar nicht abgerissen, sondern in ein Hotel integriert. Die geplante Poetikvorlesung muss der Autor dann aber doch absagen, als seine Mutter wirklich stirbt, in dem Haus, in dem sie ihre Kinder geboren hatte. Haas findet nur lakonische Worte, als er am Friedhof ein Grab für sie bestellt. “Unsere Mutter, die ihr Leben lang auf den ersten Quadratmeter hingespart hatte, sollte ihr schlussendlich 1,7 Quadratmeter angewachsenes Grundstück voll ausnützen. Die 1,7 Quadratmeter in bester Lage stand ihr zu, platzsparende Konzepte sollten andere umsetzten.” Nachdem sie ihren Traum, ein eigenes Grundstück zu erwerben, nicht verwirklichen konnte, hatte etwas von ihr Besitz ergriffen, schreibt ihr Sohn: “Niedergeschlagenheit“. Sie besaß nichts, aber sie war ein bißchen besessen, meint er, denn sie konnte eigentlich alles, nur nicht mit den Leuten. La gente. Die Hochzeiten und Taufen werden weniger und man sieht die Verwandtschaft schließlich nur mehr bei Begräbnissen, moniert der Sohn, das Gemeinsame der drei Ereignisse seien selbstverständlich die Tränen.

Wolf Haas
Eigentum
2025, Taschenbuch, Klappenbroschur, 160 Seiten, 12,5×18,7cm
ISBN: 978-3-328-11156-6
Pinguin Verlag
€ 14,00


Genre: Roman
Illustrated by Penguin

65 Karten über Kacke

Der Herausgeber Goldeimer ist ein gemeinnütziges Unternehmen aus Hamburg, das sich für den weltweiten Zugang zu Klos und für eine nachhaltige Sanitärwende einsetzt. In vorliegender Publikation werden Fakten auf den Tisch gelegt, die mit einschlägigen Grafiken, Karten und Bildern drastisch veranschaulichen auf welchem Holzweg sich unsere Zivilisation schon lange befindet. In 65 Karten über Kacke geht es nicht nur um die Wurst, sondern auch um lukrative Geschäfte, um Fäkalsprache im Bundestag und um gefrorenen Kot auf dem Mount Everest.

Kacke: Diktatur oder Demokratie?

Der Rohstoff Phosphor spielt bei der Welternährung eine wesentliche Rolle. Nur dumm, dass hauptsächlich Diktaturen über die größten Phosphorreserven der Welt verfügen. Nichtzuletzt deswegen müssen spätestens ab 2032 alle Kläranlagen, di das Abwasser von mehr als 50.000 Anwohner:innen behandeln, auch den darin enthaltenen Phosphor zurückgewinnen. In Belgrad wird dies schwierig, ist doch die serbische Hauptstadt die einzige Europas, die über keine Kläranlage verfügt. Weswegen der Schwimmer und Chemieprofessor Andreas Fath es auf seiner jährlichen Donauwassertestreise (vom Schwarzwald zum Schwarzen Meer) auch vermeidet, durch Belgrad zu schwimmen. Aber das Problem der Kläranlagen ist in der ganzen Welt als ein soziales bekannt. In Indien zum Beispiel aber auch Afrika und Indonesien gibt es nicht einmal genügend öffentliche Toiletten, was zu Krankheiten und Vergewaltigungen führt.

65 Karten über Kacke

In Nordkorea hingegen muss jede/r Staatsbürger:in seine Fäkalien sogar sammeln. Eine sog. Fäkalsteuer ist allerdings in der ganzen Welt einzigartig, so die Autoren. Urin ist tatsächlich nützlich zur Gewinnung, so er von den Exkrementen getrennt aufgefangen wird. Städte die ihren Urin sammeln können ihre Treibhausemissionen um bis 47 Prozent, ihren Energieverbrauch um bis zu 41 Prozent und ihren Frischwasserverbrauch um etwa 50 Prozent reduzieren. Die Nähstoffbelastung der Abwässer (Stichwort: Ammoniak) könnte sogar um 64 Prozent reduziert werden. Ein Gamechanger, der leider immer noch sehr tabubelastet ist, könnte die Welt tatsächlich verändern. Zum Guten.

Tabu oder To Do: Kacke

Die Länge des deutschen Kanalisationsnetzes ist länger als der Weg zum Mond. 384,400km ist der Abstand zum Erdumkreiser, 619,291 die Länge der Kanäle, die sowohl Regenwasser, Schmutzwasser als auch Mischwasser auffangen und wohin leiten? Richtig, in die Flüsse. Aber noch schlimmer ist es, am Gipfel des Mount Everest zu stehen und dem Geruch menschlicher Ausscheidungen ausgeliefert zu sein. Laut einer Statistik Befinden sich bereits 3 Tonnen Kacke am “Dach der Welt”, das wohl bald zum höchsten Örtchen der Welt wird. Besucher:innen müssen seit 2024 ihre Abfälle aber ohnehin wieder runtertragen und bekommen eigens dafür präparierte Säckchen mit einem Pulver, das die Ausscheidungen trocknet. Im Basislager des Everest sind es bereits 21,7 Tonnen die davon abgegeben wurden.

Ein Furz geht um die Welt

Aber kommen wir zu unterhaltsameren Fakten und Karten: ein Elefant kackt etwa 50kg am Tag, der Mensch im Vergleich dazu nur 128g. Ein Elefant und eine Katze brauchen für ihr Geschäft nur jeweils 20 Sekunden, ein Mensch immerhin 120. Mit den Fürzen ist es vielleicht sogar noch lustiger: 0,5 Liter/Tag, das sind bei 84 Millionen Deutschen immerhin 42 Millionen Liter, mit denen man 12 Heißluftballons füllen könnte. Wenn das Montgolfiere gewusst hätte! Grauslich wird’s mit dem “Monster von Whitechapel”. So wurde der riesige Fettberg aus Speiseöl und anderen Ölen im Londoner Kanalsystem genannt. Darin enthalten: Klopapier, Binden, Kondome, Drogen, Windeln, Wattepads u.ä. Eine Playlist zum Buch zeigt die Vielseitigkeit der Unterhaltsamkeit der Thematik und lädt zum fröhlichen Mitsingen ein.

Und wo wir schon einmal beim Thema sind, hier noch eine andere passende Publikation des Katapult Verlages: Kochen für den Arsch

Goldeimer
65 Karten über Kacke.
Über unbekannte Unterwelten, große Geschäfte und unangenehme Wahrheiten
ISBN: 978-3-68972-001-8
2025, Hardcover, 245mmx195mm, 128 Seiten
KATAPULT-Verlag GmbH
24.-€


Genre: Entwicklung der Landwirtschaft, Ökologie, Wirtschaft, Wissenschaft
Illustrated by Katapult

Playlist zum Glück

Playlist zum Glück. 99,5 Songs zum glücklich werden. Michael Behrendt hat sie ausgewählt und erklärt warum gerade diese Musik ihn inspiriert, getröstet und vielleicht sogar therapiert hat. Ein Tempo von 100 bis 120 bpm scheint ideal für den Takt, den eine Herzmassage ab und zu einfach braucht!

Playlist zum Glück

Als wissenschaftlich erwiesen gilt auch die Vermutung, dass Musik Endorphine ausschüttet, anders ausgedrückt: Glückshormone wie Dopamin sorgen für ein Lächeln und Schmunzeln um die Mundwinkel und zaubern einen positiven Ausdruck in jede noch so müde Morgenmiene. “Auch den plötzlichen Optimismus und die Euphorie, die ein rauschhaftes Musikerlebnis wecken können,” schreibt Behrendt, “werden leidenschaftliche Musikfans nur zu gut kennen”. Jede verlorene Chance scheint wieder greifbar, wenn man nur die richtige Musik dazu hört. Oft sind es “bittersweet symphonies” die es laut einer kanadischen Studie schaffen, die Stimmung anzuheben, also eine Verbindung von Trauer und Glück, auch Pathos könnte man es nennen. Aber auch Ambient Musik erfüllt diesbezüglich ihren Zweck. Brian Eno lässt grüßen. Was oft als Muzak verschrieen wird, also Kaufhaushintergrundmusik, kann auf lange Frist durchaus positive Auswirkungen auf das Gemüt, wie auch Behrendt als eingefleischter Fan dieser Musik gesteht. Hätten Sie aber gewusst, dass Billie Eilish ein ASMR-Phänomen ist? ASMR steht für den neuesten musikalischen Trend: Autonomous Sensory Meridian Response. Das ist Musik die sowohl Ambient Geräusche als auch Flüstern u.ä. zu einer Soundcollage verbindet und so das Unterbewusstsein aktiviert.

99 ½ Songs für ein erfülltes Leben

Folgerichtig enthält die von Michael Behrendt hier vorgelegte Playlist zum Glück nicht nur fröhliche, positive Songs, sondern auch “nachdenkliche, traurig, sogar düstere Stücke”, wie er in seiner Einleitung schreibt. Auch “das Krachige, Schräge” könne eine eigene Schönheit, eine eigene konstruktive Wirkung entfalten. Songs stiften einfach Sinn und helfen bei der Persönlichkeitsentwicklung nicht nur von Jugendlichen. Songs sind ganz einfach Lebensbegleiter, entfalten eine positive Dynamik und können mitunter sogar für Ausgeglichenheit und mehr Zufriedenheit sorgen, sie fungieren als Ventil für Tränen ebenso wie Aggression. Michael Behrendt hat seine Playlist zum Glück nach bestimmten Gesichtspunkten strukturiert und in die Kapitel Das Universum und wir; Haltungen die das Leben erleichtern; Liebe und Partnerschaft; Resilienz; Veränderung managen und last not least Getting Started gegliedert. Zu jedem Kapitel sind es rund 20 Songs, die er vorstellt und mit weiterführenden stimmungsähnlichen Liedern ergänzt. So entsteht ein Rundumblick durch die Rock und Popgeschichte der letzten 70 Jahre, die sich natürlich allesamt in einer Playlist durchhören lassen. Den Link dazu finden Sie auf der Verlagsseite des Reclam Verlages!

Michael Behrendt
Playlist zum Glück.
99 ½ Songs für ein erfülltes Leben
Mit umfangreicher Playlist zum Buch
Originalausgabe
2025, Klappenbroschur. Format 13,5 × 21,5 cm, 272 S.
ISBN: 978-3-15-011508-4
Reclam Verlag
18,00 €


Genre: Kunst, Musik und Literatur
Illustrated by Reclam Verlag

E.M. Cioran, der Ketzer

E.M. Cioran. Um den 1911 in Rasinari bei Hermannstadt in Siebenbürgen als Sohn eines griechisch-orthodoxen Priesters geborenen rumänischen Schriftsteller ist es ruhig geworden. 2024, zum 30. Jahrestag seines Todes, erschien beim Suhrkamp Verlag eine Biographie mit dem Titel “Cioran, der Ketzer” von Patrice Bollon, die ihn ausgehend von dem verhängnisvollen Irrtum seiner Jugendzeit bis hin zu seinem bedeutenden Werk als Schriftsteller und Stilisten der französischen Sprache zeigt.

Läuterung eines Skeptikers

Am besten lässt sich der existentialistische Skeptiker anhand zweier anderer Bücher beim Suhrkamp Verlag entdecken. Mit “Vom Nachteil, geboren zu sein” (1979) und “Syllogismen der Bitterkeit” (1952) lässt sich der Verfasser zahlreicher Aphorismen als Meister der Klarheit, der Eleganz und der Gelassenheit erkennen, der frei von seinen Jugendsünden voller antisemitischer und hitlerfreundlicher Äußerungen vor allem den späteren Philosophen entdecken lässt. Cioran hatte von 1928 bis 1931 das Studium der Philosophie an der Universität Bukarest belebt, bis 1939 waren schon fünf Bücher in rumänischer Sprache von dem erst 28-Jährigen erschienen.

Cioran, der Ketzer

1937 kam Cioran als Stipendiat nach Paris, wo er als freier Schriftsteller lebte und ab 1945, dem Endes Krieges, begann, auf Französisch zu schreiben. Er starb am 20.6.1995 in Paris. Seine Bewunderung für Hitler und teilweise menschenverachtenden Aussagen stehen in einer Reihe anderer zeitgenössischer Schriftsteller wie etwa Louis Ferdinand Celine oder Curzio Malaparte, müssen allerdings von seinem Werk getrennt werden. Daran arbeitet sich auch die Biographie von Patrice Bollon ab, die den “Ketzer” im kulturellen und politischen Umfeld seiner Zeit porträtiert. Ballon zeigt, wie Cioran sich von seinen frühen Artikeln sowie jene verhängnisvolle Schrift über die “Verklärung Rumäniens” in einer lebenslangen Auseinandersetzung mit ebendiesem Irrtum von den “blutigen Possen” der Utopie und von jedem Glauben zu befreien suchte.

Rausch der Ausweglosigkeit

Bei Cioran ist ohnehin alles Lug und Trug. Selbst das Denken: “Alles ist Trug, ich habe es immer gewußt…” Auch das Denken selbst noch, das den Trug zu entlarven sich bemüht, entpuppt sich früher oder später als (Selbstbe-)Trug. Wer Nietzsche oder Georges Bataille gelesen hat, wird auch Cioran lieben, denn er verletzt und verstört ebenso alles, was uns bis vor kurzem noch als hoch und heilig galt. Der Geist ist stets “Indiskretion, Übergriff, Profanierung. Er `arbeitet´ nicht, er zersetzt. Die Spannung, die sein Vorgehen verrät, beweist Brutalität und Unerbittlichkeit. Ohne eine kräftige Dosis Grausamkeit könnte man keinen einzigen Gedanken zu Ende führen.” Harter Tobak also, wenn man seine Gedanken nicht mehr zensiert und sie so kreisen lässt, wie sie es wollen, wie es Cioran auch getan hat.

E.M. Cioran, der radikale Skeptiker

In seinen Aphorismen hat Cioran stets eine Position bezogen, die er selbst als die des Zweiflers, des radikalen Skeptikers bezeichnet. Darin kann er – jenseits aller intellektuellen weltanschaulichen Lager – sicherlich als Vorbild dienen, denn der Geist sollte keinen Tabus oder Beschränkungen ausgesetzt sein. Anders verhält es sich da schon mit der Tat. “Die Ideen”, schreibt er in “Vom Nachteil, geboren zu sein“, “eignen sich schlecht zur Agonie; sie sterben, das versteht sich, aber sie wissen nicht zu sterben, während ein Ereignis nur in Hinsicht auf sein Ende existiert. Das ist ein zureichender Grund, um die Gesellschaft der Historiker derjenigen der Philosophen vorzuziehen”, sagt der, der Philosoph.

Syllogismen der Bitterkeit

In der gleichnamigen Sammlung (im Französischen Original: Syllogismes de l’Amertume) widmet sich Cioran Themen die mit den Überschriften “Atrophie des Worts”, dem “Zirkus der Einsamkeit”, dem “Taumel der Geschichte” oder den “Quellen des Leeren” zusammengefasst wurden. Er schreibt auch “Über Musik”, den “Sog der Geschichte” oder den “Okzident”. “Wie sehr liebe ich die Geister zweiten Ranges, die aus Taktgefühl im Schatten des Genies der anderen lebten und ihr eigenes aus reiner Scheu ablehnten”, schreibt Cioran da einen Gedanken auf, der seine eigenen “stummen Tiefen” schon erahnen lässt. Im mit “Zirkus der Einsamkeit” übermittelten Kapitel geht es in seinen Aphorismen schon konkreter zur Sache: “Ich lebe nur, weil es in meiner Macht steht zu sterben, wann es mir belieben wird: ohne die /Idee/ des Selbstmords hätte ich mich schon längst getötet.” Die Verzweiflung bleibt für ihn Reportage, die Hoffnung Fiktion. Dennoch ziehe man aus dieser Fiktion die Nahrung zu leben. “Ohne Gott ist alles nichts; und Gott?”, schreibt der bei Priestern aufgewachsene Cioran, “Höchstes Nichts”.

Vitalität der Liebe

Schmeichelei betrachtet er als Waffe unsere Mitmenschen zu “knechten, demoralisieren und zu korrumpieren“. “Eine Liebe, die aufhört ist eine so reichliche philosophische Erfahrung, dass sie aus einem Friseur einen Konkurrenten des Sokrates macht“, in “Vitalität der Liebe”. Kurzum zu jedem Thema das uns wichtig erscheint, sind hier Gedanken und Aphorismen Cioran zusammengefasst, die uns in Unruhe versetzen können und die alteingesessenen Komfortzonen verlassen lassen. Das mag für manche unbequem sein, für andere die Essenz des Lebens. Oder wie sagt es Cioran: “Offen gestanden, kann man von irgendetwas anderem reden als von Gott oder von sich selber?

E. M. Cioran
Vom Nachteil, geboren zu sein
Aus dem Französischen von François Bondy
1979/2023, Broschur, 176 Seiten
ISBN: 978-3-518-37049-0
Suhrkamp Verlag
10,30.-€

Syllogismen der Bitterkeit
Bibliografische Angaben
1980/2016, Broschur, 90 Seiten
ISBN 978-3-518-371
Suhrkamp Verlag
11,00.-€


Genre: Aphorismen, Literatur
Illustrated by Suhrkamp Frankfurt am Main