Soutines letzte Fahrt

dutli-1Manchmal kommt das Beste eben zum Schluss!

Nicht jeder Bücherfreund wird mit dem Namen Chaim Soutine etwas anfangen können, es sei denn, er kennt sich gut aus in der Welt der Malerei. Spätestens mit der Lektüre des Romans «Soutines letzte Fahrt» von Ralph Dutli, dem Erstling dieses als Lyriker bekannten Schweizer Autors, dürfte sich das entscheidend ändern. Schon das vollformatige, bunte Titelbild wirkt ja erhellend, zeigt es doch des Malers wohl berühmtestes und in seiner speziellen Malweise für ihn typisches Gemälde, «Der Konditorjunge von Céret». In einer geschickt zwischen historischen Fakten und phantasievoller Fiktion hin und her pendelnden Erzählung schildert der Autor das turbulente Leben dieses weißrussischen Malers jüdischer Konfession in seinen Höhen und Tiefen, und sein Ende natürlich auch, auf das ja der Romantitel schon hinweist, seine «letzte Fahrt» nämlich.

«Die Welthauptstadt der Malerei» ist in dieser Biografie der eigentliche Schauplatz des Geschehens, das Paris der ersten Jahrzehnte des zwanzigsten Jahrhunderts, die Metropole des Expressionismus und Surrealismus. In den Cafés von Montmartre tummelt sich eine illustre Gesellschaft von Schriftstellern und Malern, viele bekannt Namen sind darunter, und Soutine ist einer von ihnen, erlebt in seinem Atelier die Höhen und Tiefen des Künstlertums jener Zeit. Bis dann der zweite Weltkrieg und die Besetzung der Stadt durch die Deutschen ihn als Juden in die Illegalität zwingt, er muss sich verstecken, schließlich aufs Land fliehen. Ein Magengeschwür, an dem er schon jahrelang leidet, zwingt ihn zur heimlichen Rückkehr, nur eine sofortige Operation in Paris könnte ihn eventuell noch retten. Und so wird er auf Nebenwegen, ständig den allgegenwärtigen Kontrollen der Besatzer ausweichend, in einem Leichenwagen versteckt nach Paris gebracht, begleitet von Marie-Berthe Aurenche, von ihm «Ma-Be» genannt, die ehemalige Frau von Max Ernst, die sich seiner wie ein Schutzengel angenommen hat.

Im Delirium ziehen während dieser beschwerlichen Fahrt die Stationen seines Lebens an dem unter Morphium stehende Maler vorbei, ein endloser innerer Monolog, von der frühesten Jugend in Smilowitschi bei Minsk über Wilna bis ins Mekka der Malerei, in die Stadt an der Seine. Halluzinierend durchlebt er noch mal die bitteren Hungerjahre seiner erbärmlichen Existenz, er erinnert sich an seine enge Freundschaft mit Amedeo Modigliani, an seinen langjährigen Kunsthändler Zborowski, an die glückhafte Entdeckung schließlich durch den amerikanischen Kunstsammler Barnes, der Dutzende seiner Werke kauft und ihm damit erstmals ein weniger bedrückendes Leben ermöglicht. In dieser an bizarren Details reichen Biografie kommt sogar das wegen der Gurlitt-Affäre hochaktuelle Thema Raubkunst zur Sprache, auch in Paris werden natürlich viele Kunstwerke für Görings «Carinhall» und für das geplante Linzer Führermuseum konfisziert. Bei Soutines Beisetzung schließlich auf dem Montparnasse stehen Max Jakob, Jean Cocteau und Pablo Picasso an seinem Grabe, und auch seine beiden letzten Frauen, «Mademoiselle Garde», mit der er eine uneheliche Tochter hat, und «Ma-Be» natürlich.

Ralph Dutli ist es gelungen, den Schreibstil seines Romans perfekt dem Sujet anzupassen, der expressiven Malkunst von Chaim Soutine. Beides jedoch dürfte nicht jedermanns Sache sein, die Malkunst wie die Sprachkunst. Letztere, und nur davon soll hier die Rede sein, leistet sich viele Längen, nervt zuweilen sogar mit den ausufernden Morphium-Fantasien. Und so ist denn auch das letzte Kapitel des Romans für mich das erfreulichste, denn überraschend tritt da plötzlich der Autor als Ich-Erzähler auf und erläutert seine Motive, seine Faszination für diesen Stoff, trifft dann auch noch auf einen mysteriösen, ehemaligen Geheimagenten, der einst bei der Beerdigung Soutines anwesend war und ihm einiges Denkwürdige sagt, sogar zum Thema innerer Monolog übrigens. Manchmal kommt das Beste eben zum Schluss!

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Wallstein Göttingen

Der Fall Deruga

huch-1Ein Brot-und-Butter Werk

«Die erste Frau Deutschlands» nannte Thomas Mann 1924 seine Schriftsteller-Kollegin Ricarda Huch anlässlich ihres 60ten Geburtstages. Im riesigen Œuvre der damals überaus angesehenen und vielfach geehrten Autorin nimmt der 1917 erschienene Roman «Der Fall Deruga» als Kriminalroman eine besondere Rolle auch deshalb ein, weil sie selbst in einem Brief an eine Freundin von einer «Schundgeschichte» sprach, die sie nur des Geldes wegen geschrieben habe. Der Stoff wurde zweimal verfilmt und entspricht so gar nicht den Erwartungen eines Krimilesers, die typischen Ingredienzien dieses literarischen Genres fehlen hier jedenfalls völlig. Wesentlich treffender erscheint mir der Begriff «Gesellschaftsroman» für diese Erzählung, die zwar einen vor dem Schwurgericht München verhandelten Mordfall zum Gegenstand hat, in der jedoch die auftretenden Figuren selbst im Fokus stehen, beispielhaft als typische Vertreter der vor dem Untergang stehenden Gesellschaft jener Zeit.

Und so sind denn auch die lebendigen und häufig auch bewertenden Personenschilderungen in diesem Roman das Wesentliche. Der Plot entwickelt sich nämlich aus der weitgehend in Dialogform erzählten Geschichte einer Mordanklage heraus, der sich der italienischstämmige Arzt Deruga gegenübersieht. Er soll seine seit 17 Jahren von ihm geschiedene Ehefrau Mingo aus Habsucht mit dem in Südamerika als Pfeilgift genutzten Curare ermordet haben, um in den Besitz einer beträchtlichen Erbschaft zu kommen. Die wohlhabende Exfrau hatte ihn testamentarisch zum Alleinerben bestimmt, die gemeinsame Tochter war viel zu früh verstorben. Weiteres zu erzählen verbietet sich natürlich bei einem Roman wie diesem, der von seiner Spannung lebt, die sich hier tatsächlich auch idealtypisch zum Ende hin stetig steigert und in einem vorab vom Leser kaum vorhersehbaren Schluss endet. Gleichwohl versteht es die Autorin, dem Leser ein angenehmes Gefühl der Überlegenheit zu vermitteln, weil er immer ein wenig mehr weiß als die meisten Beteiligten der Gerichtsverhandlung, denen sich die komplizierten Zusammenhänge erst allmählich erschließen.

Das Figurenensemble, welches wir hauptsächlich vor Gericht in Aktion erleben, repräsentiert die verschiedenen Gesellschaftsschichten des Fin de Siècle vom Bettler und Straßenhändler über die Dienstboten, Handwerker und kleinen Händler bis zur Bourgeoisie und dem niederen Adel. In einer feinfühligen Sprache, in wohl formulierten Dialogen zumeist, entlarvt die Autorin scharfsichtig Standesdünkel, Marotten, Vorurteile und Gesinnungen ihrer Zeitgenossen, die ihr hier als Protagonisten dienen und deren Fehler und Schwächen sie uns verdeutlicht, ohne das man ihr dabei einen ironischen Unterton nachsagen könnte. Zwiespältigste und weitaus interessanteste Figur ist dabei Deruga selbst, ein idealtypischer Gutmensch auf der einen Seite, der aber depressiv veranlagt ist und häufig total aus der Rolle fällt, seine Mitmenschen damit über die Maßen düpierend in seinem Furor auf die Gesellschaft.

Ricarda Huch gilt als bedeutende Vertreterin der deutschen Neoromantik mit einer ausgesprochen Vorliebe für Wunderbares und Geheimnisvolles, das sie in einer kunstvoll verfeinerten Sprache erzählt. Die Psyche der Personen ist ihr im vorliegenden Roman wichtiger als die kriminologischen Details ihrer Geschichte oder die juristische Seite eines Prozesses, dessen Verhandlungsführung nicht immer stimmig zu sein scheint, zumindest aus heutiger Sicht. Als Zeitzeugnis konnte ich dem Melodram jedenfalls wenig abgewinnen. Das Ganze wirkt erzählerisch altväterlich, es ist zuweilen maßlos überhöht und regelrecht trivial. Insoweit scheint die selbstkritische Einstufung der Autorin für ihr Werk als «Schundroman» auch nicht ganz unbegründet. Zugutehalten muss man ihr jedoch, dass sie ein auch heute noch ganz aktuell und heftig diskutiertes Grundproblem menschlichen Daseins thematisiert hat, mit einer allzu kitschig ausgefallenen Geschichte allerdings.

Fazit: miserabel

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Genre: Roman
Illustrated by Insel Frankfurt am Main

Der Virtuose

moor-1Ein Trockenstoß

Mit Caravaggios Gemälde I Musici auf dem Frontdeckel und dem Titel «Der Virtuose» ist die Thematik des Romans von Margriet de Moor gekonnt verdeutlicht, auch die Zeit des Barock ist damit bereits benannt. Aber es geht um mehr als nur Musik, zu den Genüssen dieser als sinnenfroh beschriebenen Epoche gesellt sich hier als weiterer Aspekt die Liebe, in der reduzierten Spielart einer bedenkenlos ausgelebten und virtuos praktizierten Sexualität allerdings, beides bedingt sich geradezu. Den besonderen Kick aber erhält diese thematische Gemengelage noch dadurch, dass ausgerechnet ein Kastrat als Protagonist hier Virtuose und Liebhaber in Personalunion ist.

Der Erlös aus dem Verkauf seines Sohnes Gasparo ist der Einsatz in einem Spiel, welches sein spielsüchtiger Vater verliert. Der Sohn, mit einer wunderschönen Stimme gesegnet und von Carlotta maßlos bewundert, verschwindet daraufhin für immer aus dem Dorf, er landet in einem der einschlägig bekannten Internate für Kastraten. Jahre später trifft ihn Carlotta, lebenshungrige Tochter des damaligen Spielgewinners und inzwischen mit dem wesentlich älteren und wohlhabenden Berto verheiratet, in Neapel wieder, er ist ein gefeierter Sänger geworden. Binnen kurzem macht sie den unerfahrenen Jüngling zu ihrem Geliebten, ihr heißes Begehren ist unverkennbar auch musikalisch inspiriert. Denn sein betörendes Äußere als unmännlich schön erscheinender Adonis wirkt ebenso anziehend auf sie wie die himmlische Stimme, mit der er sein ihm zu Füßen liegendes Publikum verzaubert.

Mit viel Sachverstand schildert de Moor den Opernbetrieb jener Zeit, in der das Geschehen auf der Bühne zuweilen skurrile Formen annahm, bis hin zu – auf offener Bühne ausgetragen – Rivalitäten zwischen den Sängern. Allzu häufige Exkursionen in die tiefsten Geheimnisse der Phonetik und in die Besonderheiten zeitgenössischer Partituren, samt deren diverser Varianten der Interpretation, überfordern musiktheoretische Laien wie mich allerdings hoffnungslos, sie tragen daher auch rein gar nichts zum Lesegenuss bei. Eher kommen Voyeure auf ihre Kosten, sie erfahren immerhin, dass Sex mit Kastraten sehr wohl möglich ist, was auch ich nicht wusste, und was ein «Trockenstoß» ist. Carlotta lebt ihre hedonistische Maxime erfrischend offen aus, Musik und Sex, und zwar in Kombination miteinander, bilden nun mal ihr ganzes Lebensglück. Diese Hymne auf die Wollust ist eine Bejahung des menschlichen Daseins ohne Wenn und Aber. Emotional allerdings ist ihr Lover eine herbe Enttäuschung, mehr als freundschaftliche Zuneigung empfindet er nicht für sie, die Musik steht an erster Stelle in seinem Leben, und Frauen als solche sind ihm ebenfalls nicht so wichtig, ein schöner Gesangsschüler lockt ihn nicht weniger, ist am Ende sogar wichtiger für ihn als Carlotta. Sexuelle Anziehungskraft, eine Binsenweisheit ja eigentlich, hat eine kurze Halbwertszeit, sie taugt auf Dauer nicht als Bindemittel.

Der Roman ist in einer lebhaften, kurzweiligen Art geschrieben, sprachlich gekonnt und leicht lesbar mit gedanklichen Sprüngen, die den Leser zuweilen fordern, ohne ihn allerdings je den Faden verlieren zu lassen. Das Lokalkolorit ist plastisch eingefangen, bis auf ein kurzes Intermezzo über das Leben von Carlottas Zofe bildet der Kleinadel Neapels den gesellschaftlichen Hintergrund und die barocke Oper dessen alles beherrschende Projektionsfläche. Dabei wird dann auch klar, warum die Frauenrollen damals mit Kastraten besetzt waren, die man heute bei der Aufführung Alter Musik nur unzureichend durch Countertenöre zu ersetzen sucht. Was jedoch den Sex anbelangt, hätte der musikalischen Kunst eher die Erotik als Liebeskunst entsprochen, mit vergleichbaren emotionalen Empfindungen. Der Roman hingegen fokussiert das Geschehen einseitig auf den fleischlichen Akt, von dem wir ja wissen, dass er im vorliegenden Fall stets mit einem Trockenstoß endet, ein mit der fehlenden Erotik in dieser Geschichte durchaus vergleichbares Manko.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by dtv München

Wunsiedel

buselmeier-1Metamorphose eines Miesepeters

Das Theater in der kleinen, fränkischen Stadt, nach der dieser Roman benannt ist, eine saisonale Sommerbühne im Luisenburg-Felsenlabyrinth, auf der man im Rahmen jährlich stattfindender Festspiele den »Götz von Berlichingen« und ähnlich Volkstümliches spielt, nennt Michael Buselmeier »abstoßend, heruntergekommen, eine subventionierte Abgeschmacktheit«. Starker Tobak also, was der Autor da so schreibt in seinem als Theaterroman deklarierten Werk mit unverkennbar autobiografischem Hintergrund, kaum camoufliert jedenfalls. Bisher nur von Wenigen hauptsächlich als neoromantischer Lyriker wahrgenommen, ist er durch seine Nominierung für den Deutschen Buchpreis 2011 nun auch einem breiteren, zur Prosa hin orientierten Publikum bekannt geworden, zu dem ich mich ausdrücklich auch selber zähle.

In diesem Roman wird die Geschichte eines jungen Theatermenschen geschildert. Der Ich-Erzähler Moritz Schoppe, Schauspieler und Regieassistent, scheitert grandios – unpragmatisch wie er ist – bei seinem ersten Engagement, teils an den selbstgesetzten Ansprüchen, aber auch an seiner Unbelehrbarkeit. Als Misanthrop schimpft er nicht nur auf fast alles, was mit Theater zu tun hat, auch an der Stadt Wunsiedel und an seinen Bewohnern lässt er kaum ein gutes Haar. Nur die fränkische Natur und einige wenige Lichtgestalten des Theaters wie Gustav Gründgens lässt der Außenseiter gelten, bewundert außerdem fast grenzenlos Wunsiedels Dichtersohn Jean Paul. Bei einer Aufführung von Goethes »Torquato Tasso« fühlt er inniglich mit Will Quadflieg, «da litt ein Dichter, ein Fremder genauso wie ich, an der Welt und an den Menschen«.

Nach 44 Jahren kehrt der Gescheiterte, inzwischen als Schriftsteller (sic!) tätig, an die Stätte seiner Niederlagen zurück. Und findet wieder nur Negatives, die Verödung des Bahnhofs in Wunsiedel, die Trübsal des Kurortes Alexandersbad mit Konzerten im Musikpavillon vor einem größtenteils debilen Publikum. Alles ist ein einziges Scheitern, ein Desaster in diesem Roman, der Frust ist riesengroß. Sogar Ulla, ehemalige Freundin, »notorisch erfolglos, so gut wie nichts gelang ihr«, wie er anmerkt, die Frau also, die ihn damals verlassen hatte, stirbt einsam einen schlimmen Krebstod und wird, obwohl aus begütertem Hause, in einem anonymen Grab beigesetzt. Ich dachte an dieser Stelle, da fehlt jetzt eigentlich nur noch eine schadenfrohe Anmerkung im Sinne von »selber schuld, wäre sie damals mal lieber bei unserem Romanhelden geblieben«!

Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass hier ein ausgewiesener Solipsist vorgeführt werden soll, das literarische Alter Ego des Autors vermutlich, der fast gar nichts gelten lässt neben sich. Benutzt man den Begriff Kritik im kantschen Sinne für Analyse und Prüfung, schlägt die Rundum-Schelte voll auf den Autor zurück. In einer holperigen, unbeholfen wirkenden Sprache, ja im Stile eines Schüleraufsatzes wird die belanglose Geschichte eines unsympathischen Außenseiters erzählt, ohne irgendwelche Höhepunkte, ohne jede sprachliche Finesse, ohne einen Funken von Humor, üppig angereichert nur mit kitschiger Naturromantik. Das alles ist wegen seiner miesepetrigen Stimmung sehr unerfreulich zu lesen, es ist auch nicht wirklich bereichernd, man erfährt kaum Neues in diesem langweiligen Plot. Positiv ist eigentlich nur, dass man nach lediglich 158 Seiten das Buch erleichtert zuklappen kann.

Fazit: miserabel

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Genre: Roman
Illustrated by Wunderhorn

Der Verrückte des Zaren

kross-1Wahrheit als Menetekel

Aus dem estnischen Sprachraum sind nur wenige Schriftsteller einer breiteren Leserschaft bekannt, Jaan Kross nimmt dabei zweifellos den Spitzenplatz ein. Er gilt als führender Nationaldichter seines Landes und wurde zeitweise sogar als Nobelpreis-Kandidat angesehen. Sein Roman «Der Verrückte des Zaren» ist sein erfolgreichstes Werk, es wurde in viele Sprachen übersetzt und behandelt, wie die meisten seiner Werke, einen historischen Stoff. Was auch hier die ewige Frage aufwirft, wie viel von dem Erzählten denn nun authentisch ist und wie viel fiktional. Kroos hat seinem Buch nicht nur ein mehrseitiges Nachwort beigefügt, wo diese Fragen geklärt werden, sondern auch zwei umfangreiche Verzeichnisse mit Orten und weiterführenden Anmerkungen.

Ich-Erzähler des Romans ist die fiktive Figur Jakob Mättik, ein aus einfachen Verhältnissen stammender Bauernjunge, der aber auf Druck des Vaters mit seiner Schwester Eeva früh lesen und schreiben gelernt hat. Was wir lesen als Roman ist Jakobs Tagebuch, beginnend am 26. Mai 1827. Er hat es begonnen, als der – historisch belegte – Gutsbesitzer Timotheus von Bock zum Entsetzen des Adels Eeva zur Frau nimmt. Timo hat als Offizier in Sankt Petersburg Karriere gemacht und wurde als Oberst Flügeladjutant des Zaren Alexander I, der ihn aufforderte, ihm stets die Wahrheit zu sagen. In einer vielseitigen Denkschrift, die beinahe dem Entwurf einer neuen Verfassung gleich kommt, benennt Timo nun gravierende Missstände und innere Widersprüche im russischen Reich und weist auf die Mitschuld des Zaren hin. Prompt wird er verhaftet und an einem unbekannten Ort interniert. Unter Zar Nikolaus I wird er schließlich acht Jahre später für verrückt erklärt und unter strengen Auflagen auf sein Gut verbannt. Bald hält Timo es in dieser bedrückenden Situation nicht mehr aus und beschießt, ins Ausland zu flüchten, was sich aber als ein recht schwieriges Unterfangen erweist, das mehrmals widriger Umstände wegen abgebrochen werden muss. Als schließlich dann irgendwann alles günstig steht für eine Flucht, beschließt Timo im letzten Moment, doch in seiner Heimat zu bleiben, nicht feige zu flüchten. Sieben Jahre später stirbt er unter mysteriösen Umständen.

Der Ich-Erzähler zitiert in dieser zentralen Geschichte zahlreiche Dokumente und ergänzt sein Tagebuch mit einem Geflecht aus Rückblenden, historischen Begebenheiten und Ereignissen in seinem eigenen Leben, wobei das Leben des Adels im russischen Feudalismus ebenso anschaulich geschildert wird wie das Alltagsleben auf einem estnischen Gutshof. Das im Roman behandelte Problem der absoluten Wahrhaftigkeit, an dem der ebenso naive wie unberechenbare Held scheitert, ist ein – jeden einzelnen Menschen betreffendes – moralisches Dilemma, ohne Notlüge zumindest wäre unser Leben ja schlichtweg nicht vorstellbar. Kross schreibt in einer klaren, komprimierten Sprache ohne Schnörkel, wobei insbesondere die vielen Dialoge sehr lebensecht wirken, man fühlt sich dadurch regelrecht hineingezogen in diese Geschichte, so als wäre man dabei. Die Figuren sind glaubwürdig beschrieben und wirken allesamt sympathisch, ihr Seelenleben jedoch bleibt ausgeklammert, ihre Emotionen werden nicht thematisiert. Das gilt insbesondere auch für den «Verrückten», dessen Geisteszustand bis zuletzt nicht ganz zweifelsfrei geklärt ist. In seinem Sohn, der ein linientreuer Offizier des Zaren geworden ist, erkennt Timo am Ende resignierend seine Ohnmacht, der Wahrhaftigkeit zum Sieg verhelfen zu können.

Kann die kritiklose Befolgung gesellschaftlicher Normen kompromisslose Idealisten zu vermeintlichen Irren machen, die schließlich sogar selber glauben, verrückt zu sein? Kross wirft hier eine philosophische Frage auf, die nicht nur in totalitären Systemen wie dem feudalistischen Russland relevant ist und allen Anlass zum vertiefenden Weiterdenken gibt. Auch deshalb ist dieser bis hin zum Nachwort spannend bleibende Roman eine bereichernde, überaus lohnende Lektüre.

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Hanser

Das periodische System

levi-1Belletristik vs. Populärwissenschaft

Chemie war im Gymnasium, lang ist’s her, eines der unerfreulichsten Fächer für mich, und so habe ich «Das periodische System» von Primo Levi denn auch einigermaßen skeptisch zur Hand genommen. Zum Teil mag es an meiner inzwischen gewachsenen Aufnahmebereitschaft liegen, ohne Zweifel jedoch ist es dem italienischen Chemiker und Schriftsteller vor allem gelungen, mit seinem diesbezüglichen Erzähltalent mein Interesse für den einst verschmähten Unterrichtsstoff zu wecken, mir die damals vergällte Lehre von den Stoffen – mangels Fachkenntnissen natürlich nur rudimentär – verständlich und damit auch einigermaßen zugänglich zu machen. Denn in den 21 Kapiteln seines autobiografischen Buches, deren jedes nach einem chemischen Element benannt ist, finden sich wahrhaft spannende Geschichten, – insoweit sollte das Buch Pflichtlektüre sein für Chemielehrer, deren Schüler einzuschlafen drohen.

Es sind nicht nur spannende Geschichten, die der jüdische Autor und Auschwitz-Überlebende zu erzählen weiß, es sind auch sehr bewegende Episoden aus seinem Leben, chronologisch lose aneinandergereiht, meist ohne direkten Zusammenhang. Beginnend mit einem Rückblick auf seine Vorfahren, dem er das träge Gas «Argon» als Kapitelüberschrift vorangestellt hat. «Das Wenige, was ich von meinen Vorfahren weiß, lässt sie diesen Gasen ähnlich erscheinen» schreibt er im ersten Kapitel, bei dem die Überlieferung innerhalb der Familie oder die Fantasie des Autors, vermutlich jedoch beides zusammen, in Anekdoten verpackt wahrhaft skurrile Ahnen aufzeigt, die eher Karikaturen sind als reale Figuren. Schon im zweiten Kapitel «Wasserstoff» geht es dann aber um Chemie, ein missglückter Laborversuch bei seinem Schulfreund, der mit einem Knall endete und bei dem Wasserstoff eine Rolle spielte, wie Levi richtig vorausgesagt hatte. Im Laufe seines Lebens als Chemiker wird er immer wieder mit Phänomenen konfrontiert, für die es zunächst keine logische Erklärung gibt, oder mit Problemen in der Produktion, die schwer in den Griff zu bekommen sind. Es ist tatsächlich auch für Laien interessant, wenn der Autor beschreibt, wie er sich dem Thema genähert, welche Erklärungen, welche Lösungen sich ergeben haben. Das erinnert sehr stark an kriminaltechnische Untersuchungen, man verfolgt viele Spuren, die alle nichts ergeben, bis dann endlich die richtige Fährte gefunden ist, die zum Erfolg führt.

Sicherlich das am meisten berührende Kapitel unter der Überschrift «Cer» handelt von seiner Zeit in Auschwitz, wo er als Häftling für die IG-Farben in einem Labor beschäftigt war. Unter Lebensgefahr hat er sich dort mit einem Freund zusammen durch Diebstahl von Cereisen und Umarbeitung zu runden Feuersteinen, wie sie für Feuerzeuge gebraucht werden, ein für ihr Überleben wichtiges Tauschgut geschaffen, mit dem sie genug Brot eintauschen konnten, bis schließlich die Rote Armee im Januar 1945 das KZ befreit hat. In einem ebenfalls beklemmenden Kapitel schildert er seinen geschäftlichen Kontakt zu einem ehemaligen Angestellten der IG-Farben, der ihn damals in Auschwitz fachlich überwacht hatte und nun, allerdings vergeblich, mit dem schweren Erbe seiner Vergangenheit umzugehen versucht.

Levi schreibt so begeistert von seinem Beruf, «der eigentlich ein Sonderfall, eine besonders wagemutige Form von Lebenskunst sei», dass auch der Leser unwillkürlich mitgerissen wird. Weniger beeindruckend ist allerdings die sprachliche Umsetzung seiner Geschichten, sein Schreibstil ist sachlich und schlicht, die Handlung geradlinig simpel, seine blutleeren Figuren bleiben unkonturiert, sie vermögen kaum Empathie zu wecken, und alles Private ist weitgehend ausgeblendet. Zwei deutlich früher entstandene, nicht autobiografische Kapitel hätte der Autor besser ganz weggelassen, sie wirken literarisch fast peinlich. Populärwissenschaft also, oder doch Belletristik? Ich bin mir da nicht so ganz sicher bei diesem zwiespältigen Buch!

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by dtv München

Das Konzert

lange-1Unerhörtes aus dem Totenreich

Als «Geheimtipp» hat Hartmut Lange sich selbst mal ironisch in einem Interview bezeichnet und ein zwischen kurzfristigem Hochjubeln und totalem Vergessen polarisierendes Feuilleton beklagt: «In so einer Atmosphäre können Sie Literatur nur aus Triebtäterschaft machen.» Sein Œuvre besteht seit Anfang der achtziger Jahre zum überwiegenden Teil aus Novellen, jene literarische Gattung, zu der Goethe angemerkt hat, sie berichte typischer Weise über eine «unerhörte Begebenheit.» Insoweit ist «Das Konzert» ganz klassisch konzipiert, mit einer konzisen Darstellung des uralten Themas von Schuld und Vergebung, hier exemplarisch an einem surrealen Aufeinandertreffen von Tätern und Opfern im Totenreich dargestellt. «Wer unter den Toten Berlins Rang und Namen hatte, wer es überdrüssig war, sich unter die Lebenden zu mischen, wer die Erinnerung an jene Jahre, in denen er sich in der Zeit befand, besonders hochhielt, der bemühte sich früher oder später darum, in den Salon der Frau Altenschul geladen zu werden, und da man wusste, wie sehr die elegante, zierliche, den Dingen des schönen Scheins zugetane Jüdin dem berühmten Max Liebermann verbunden war, schrieb man an die Adresse jener Villa am Wannsee, in der man die Anwesenheit des Malers vermutete.» Mit diesem Satz beginnt die Exposition dieser 1986 erschienenen Novelle.

Hauptfigur der Geschichte ist der 28jährige, hochbegabte Pianist Rudolf Lewanski, der während der Naziherrschaft in Litzmannstadt durch Genickschuss getötet wurde. Die Salondame alter Schule mit dem beziehungsreichen Namen wurde ebenfalls ermordet und nackt, mit verrenkten Gliedern, in eine Grube geworfen. Ihr ganzes Streben als Tote richtet sich nun darauf, ein Konzert in der Philharmonie zu veranstalten, in dem Lewanski die E-Dur-Sonate op. 109 von Ludwig van Beethoven spielen soll. Ein für ihn schwieriges Stück, für das er sich nicht reif genug fühlt als ewig 28Jähriger, er scheitert immer wieder an einer bestimmten Stelle. Als er nach intensivem Üben sich dem Konzert dann doch gewachsen fühlt, landet er auf dem Weg zur Philharmonie im zugeschütteten Bunker der ehemaligen Reichskanzlei. «Mein Mann und ich sind voller Sorge, dass es Ihnen nicht gelingen könnte, uns zu verzeihen.» Die da spricht ist die frisch verheiratete Eva Braun, und so spielt Lewanski nach einigem Zögern vor den versammelten toten Nazigrößen. Wieder scheitert er an der kritischen Stelle. «Litzmannstadt … Litzmannstadt » platzt es aus ihm heraus, «Sie hören es selbst: Um dies spielen zu können, sollte ich erwachsen sein. Man hat mich zu früh aus dem Leben gerissen.»

Der ermordete Schriftsteller Schulze-Bethmann, der ebenfalls in jenem Salon verkehrt, sieht keinen Grund, den Kontakt mit seinem eigenen Mörder, einem schwarz uniformierten SS-Mann, zu meiden. Und zum Konzert erklärt er: «Ich kann kein Unglück darin sehen, dass der Pianist Rudolf Lewanski den Mut, oder sagen wir, die Gelegenheit hatte, vor seinen Mördern auf dem Klavier zu spielen. Der Täter und sein Opfer – was bleibt uns im Tode anderes übrig, als in Betroffenheit beieinander zu sitzen und darüber zu staunen, welche Absurditäten im Leben allerdings und unwiderruflich geschehen sind.»

Der Autor versteht es, uns Lesern ohne aufdringliche Moral ein fürwahr schwieriges Thema nahe zu bringen, über das es sich weiterzudenken lohnt. Nur der Blick aus dem Totenreich vermag dabei hilfreich sein, nur so wird deutlich, dass die Untaten den Tätern ja letztendlich gar nichts nützen. Nur ewiges Bereuen und ewiges Verzeihen ist die Folge. Dieses surreale erzählerische Konstrukt erweist sich als wunderbar stimmig in Hinblick auf die hochgradig emotionsgeladene Holocaust-Thematik, die mit Sühne und Vergebung als ewigem Menetekel belastet ist. Ein, wie die Liebe und anderes mehr, nur dem Menschen eigenes, in der Natur, im Universum, nicht vorhandenes transzendentales Kriterium. Schade, dass es nur so wenige Leser gibt für eine derart tiefgründige Thematik.

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Diogenes Zürich

Mitsou

colette-1Comment l’esprit vient aux filles

Der Roman «Mitsou», 1919 erschienen, ist einer der größten literarischen Erfolge der französischen Schriftstellerin Sidonie Gabrielle Colette, die später nur unter dem Autorennamen «Colette» veröffentlicht hat. Eine schillernde Persönlichkeit, dreimal verheiratet, Männern und Frauen gleichermaßen zugetan, skandalumwitterte Tänzerin und  Schauspielerin, als Journalistin und vielseitige Autorin mit Geistesgrößen ihrer Zeit verkehrend, hochgeehrt als Präsidentin der Académie Goncourt und Mitglied der von Napoleon gestifteten Ehrenlegion. Über die «Grande Dame» der französischen Literatur äußerte sich Jean Cocteau: «Colettes Leben. Skandal auf Skandal. Und dann nimmt alles eine neue Wendung, und sie wird zum Idol.» Dem dann, so möchte ich hinzufügen, ein ehrendes Staatsbegräbnis zuteil wurde.

Marcel Proust schrieb nach der Lektüre dieses kleinen Liebesromans: «Ich, der ich durch viele Jahre hindurch nicht geweint habe, brach in Tränen aus, als ich die Briefe Mitsous an ihren Leutnant las». Und in der Tat ist Mitsou, Heldin des melancholischen Kurzromans, als Figur derart berührend, geradezu bezaubernd angelegt, dass man als Leser ein literarisches Pendant kaum wird finden können. Die Geschichte ist in einem Milieu angesiedelt, welches der Autorin bestens vertraut war, hat sie doch auch, wie ihre Protagonistin, als Revuegirl in Paris gearbeitet. Vor dem prekären Dasein als kleine Modistin war die brave und naive Mitsou einst in die bunte Welt des Theaters geflüchtet, um dort bescheidenen Erfolg auf der Bühne zu haben. Ein mit fünfzig Jahren doppelt so alter Liebhaber sorgt für ein wenig Luxus, stellt ihr sogar ein Auto zur Verfügung, ein wohlfeiles Klischee, das scheinbar unverzichtbar zu diesem etwas anrüchigen Milieu dazugehört, auch bei Colette.

Im Mai 1917 nun, mitten im Ersten Weltkrieg, begegnet Mitsou in ihrer Garderobe einem 24jährigen Leutnant in blauer Uniform, der auf Fronturlaub ist. Aus der flüchtigen Begegnung ergibt sich ein Briefwechsel, in dem die Beiden einander näher kommen, sich am Ende sogar ihre Zuneigung gestehen. Als der «blaue Leutnant», wie sie ihn in ihren Briefen nennt, nach zwei Monaten wieder für kurze Zeit in Paris ist, kommt es zu einer beglückenden Liebesnacht. Noch vor dem Morgengrauen aber wird ihm klar, dass er Mitsous naive Liebesträume nicht wird erfüllen können, zu sehr hat der Krieg den jungen Mann geprägt, er gehört der «Verlorenen Generation» an. Aber auch sie wird seinen Erwartungen nicht gerecht werden können, ist ihm zu naiv, ungebildet, oberflächlich. Als er ihr brieflich seine unter nichtigem Vorwand erfolgte, sofortige Abreise mitteilt, sind die schönen Illusionen von Mitsou zerstört, hat die harte Realität sie eingeholt. «Comment l’esprit vient aux filles», schon der Untertitel in der französischen Originalausgabe deutet sinngemäß darauf hin: Aus einem Mädchen ist eine Frau geworden. Sie weiß das auch, aber sie gibt ihre Hoffnung nicht auf: «Mein Liebster, ich will versuchen, dein Traum zu werden» schreibt sie ihm in ihrem letzten Brief, mit dem der Roman endet.

Wie eine Textvorlage in einem Boulevardstück beginnend, als berührender Briefroman gekonnt weitergeführt und durch konventionelle Erzählweise sinnvoll ergänzt, ist «Mitsou» ein geschickt angelegter, zwischen den Erzählstilen virtuos pendelnder, geradezu federleichter Roman. Die an sich ja nicht gerade neue Thematik der problematischen ersten Verliebtheit wird durch eine klug durchdachte und stilistisch ausgefeilte Prosa erschlossen, die selbst Verächter von Liebesromanen literarisch überzeugen kann. Besonders berührend war es für mich, die sich behutsam entwickelnde Liebe zwischen den Beiden anhand ihrer Briefe unmittelbar miterleben und nachvollziehen zu können, literarisches wahrhaftig ein Kabinettstück. Die mit ihren Frauenthemen bekannt gewordene Autorin verfügt über ein beachtliches psychologisches Feingefühl, das sie in diesem lesenswerten Roman gekonnt eingesetzt hat.

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Süddeutsche Zeitung München

Niemand, der mit mir geht

gordimer-1Nichts Halbes und nichts Ganzes

Der Grande Dame der südafrikanischen Literatur wurde 1991 der Nobelpreis verliehen, «für ihre epische Dichtung, die der Menschheit einen großen Nutzen erwiesen hat und durch die tiefen Einblicke in das historische Geschehen dazu beiträgt, dieses Geschehen zu formen.» Nadine Gordimer und ihr umfangreiches Œuvre sind geradezu ein Synonym für den Kampf gegen die Apartheid, als liberale Weiße hat sie ihr Leben lang gegen die Diskriminierung der schwarzen Bevölkerung angeschrieben, ohne sich jedoch als Propagandistin politisch vereinnahmen zu lassen. Insoweit ist auch der Roman «Niemand, der mit mir geht» für ihre Art zu schreiben typisch, wobei sich mir nach der Lektüre die Frage aufdrängt, ob hier Gordimers spezielle Thematik – ihre Heimat und deren politisches Unrechtssystem – geehrt wurde oder ihre literarische Kunst. Letztere nämlich fand ich vor Jahren schon, in dem Erzählband «Clowns im Glück», bereits wenig überzeugend, und daran hat dieser Roman leider auch nichts ändern können.

Vera Stark, nomen est omen, ist die toughe Protagonistin in diesem Plot, der in den privaten Konflikten seiner Figuren die brutale Rassentrennung Südafrikas und ihre verheerenden Folgen spiegelt. Sie ist als weiße Juristin erfolgreich in einer Stiftung tätig, wo sie im Streit zwischen den besitzlosen Schwarzen und den burischen Farmern engagiert vermittelt und dabei ihr Privatleben völlig hintanstellt. Ihr Mann Ben scheitert beruflich, sie trennt sich am Ende von ihm. Eine weitere starke Frau ist die Schwarze Sibongile, deren Mann als Held des Widerstands im neuen System nicht mehr gebraucht wird, während seine Frau politisch schnell aufsteigt. Beide Frauen erleben den allgegenwärtigen Terror dieser politischen Übergangszeit hautnah, Vera wird bei einem Überfall angeschossen, Sibongile steht auf einer Todesliste und fühlt sich ihres Lebens nicht mehr sicher. Veras private Probleme, die Scheidung ihres Sohnes, das Coming-out ihrer lesbischen Tochter, die Entfremdung von ihrem einstigen Liebhaber und zweiten Mann münden in einer Einsamkeit, die sie letztendlich als Preis für ihr unbeirrtes Engagement akzeptiert, das ihr andererseits aber auch zur ersehnten persönlichen Freiheit verhilft. Gleichwohl ist dies ein Roman des Scheiterns, beide Paare kommen mit den weitreichenden politischen Umbrüchen nicht zurecht.

Ihrer selbst gewählten Rolle als Seismograph der Apartheid kommt die Autorin im vorliegenden Roman also dadurch nach, dass sie aufmerksam deren Erschütterungen registriert und literarisch weiterverarbeitet im Schicksal ihrer diversen Figuren. Der handlungsarmen Geschichte jedoch, die da erzählt wird, mangelt es an Spannung selbst in den wenigen dramatischeren Szenen. Einen weiten Raum nehmen demgegenüber endlos scheinende, langweilige Schilderungen der diversen Komitees, Ausschüsse und Kongresse ein. Die allesamt auch noch sehr oberflächlich bleiben, uns Leser also nicht wirklich hinter die Kulissen der Macht blicken lassen, – immerhin rangieren ja beide Heldinnen weit oben in der politischen Hierarchie, Vera am Ende sogar im verfassungsgebenden Komitee. Ich vermute hier mal, dafür fehlte der Autorin ganz einfach das nötige Insiderwissen.

Der komplexe Roman ist im Stil des psychologischen Realismus geschrieben, seine in verschiedenen Zeitebenen erzählte Geschichte eines politischen Umbruchs ist flüssig zu lesen und gewährt Einblicke nicht nur in die Lebenswirklichkeit der Weißen, sondern – in bescheidenerem Maße – auch die der farbigen Bevölkerung. Empathie zu ihren Figuren vermag die Autorin mit ihrem nüchternen und zuweilen leicht ironischen Schreibstil allerdings kaum zu wecken, was nicht zuletzt wohl auch auf deren zauderndes Verhalten zurückzuführen ist, man bleibt jedenfalls auf Distanz als Leser. Und die sprachliche Realisierung vermag fürwahr nicht auszugleichen, was dem Plot substantiell fehlt und die Lektüre über das rein Informative hinaus auch erfreulich machen könnte.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Suhrkamp Frankfurt am Main

Der Schmerz

duras-1Das auf ewig Unfassbare

Die französische Autorin Marguerite Duras ist als prägende Vertreterin des «Nouveau Roman» bekannt, ein Begriff, den Roland Barthes für eine neue Gattung in der Literaturwelt etabliert hat. Mit dem Band «Der Schmerz» hat sie 1985, wie sie im Vorwort schreibt, alte Texte veröffentlicht, die sie vier Jahrzehnte nach der Niederschrift in ihrem Landhaus wiedergefunden hatte, an deren Existenz und erst recht an deren Entstehung sie sich absolut nicht mehr erinnern konnte. «Ich stand vor einer phänomenalen Unordnung des Denkens und des Fühlens, an die ich nicht zu rühren wagte und der gegenüber ich die Literatur als beschämend empfand». Der Stil, in dem sie verfasst sind, weist allerdings schon deutlich auf ihre später erschienene Prosa einer distanziert beschriebenen, eigengesetzlichen Welt hin.

Im ersten, fast die Hälfte des gesamten Buches umfassenden Teil mit dem Titel «Der Schmerz» schreibt die Autorin in chronologischer, tagebuchartiger Form über die albtraumhafte Trennung von ihrem Mann, der kurz vor Kriegsende als Mitglied der Résistance von den Nazis nach Deutschland deportiert wurde. Nach der Befreiung des KZs Buchenwald im April 1945 wartet sie verzweifelt auf ein Lebenszeichen von ihm, sie klammert sich wie eine Ertrinkende an jeden Strohhalm, verfolgt unbeirrt jede Spur, geht jedem Gerücht nach. Ein Auf und Ab der Gefühle, sie will wenigstens Gewissheit, und wenn es nur die im höchsten Grade wahrscheinliche Bestätigung seines Todes ist. Eines Tages kommt dann ein Anruf von Morland, einem Mitstreiter aus der Résistance, der in Wirklichkeit François Mitterand heißt, der spätere Staatspräsident Frankreichs: Ihr Mann lebe, man habe ihn im KZ Dachau aufgespürt. Halbtot wird er nach Paris gebracht, er ist nur noch ein menschliches Wrack, sterbenskrank, ohne realistische Überlebenschancen. Das Unwahrscheinliche geschieht gleichwohl, er überlebt und kommt ganz allmählich wieder zu Kräften, schreibt schließlich sogar ein Buch über seine Erlebnisse in Deutschland. Nach langen Monaten der Rekonvaleszenz kann sie ihm dann schließlich sagen, dass sie sich scheiden lassen müssen, dass sie ein Kind wolle, von einem anderen Mann. Trotzdem sitzt das Trauma ihrer durchlittenen Ängste auch nach mehr als einem Jahr immer noch so tief, dass sie schon zu weinen anfängt, sobald sie nur seinen Namen hört. Das Schreiben über diese Rückkehr, ihr Versuch, etwas über diese erloschene Liebe zu sagen, löst allmählich ihre ungeheuren inneren Spannungen. Und so schreibt sie, geradezu erleichtert, als Schlusssatz: «Ich wusste, dass er es wusste – dass er wusste, dass ich zu jeder Stunde eines jeden Tages dachte: Er ist nicht im Konzentrationslager gestorben.»

Der zweite Teil beginnen mit der Geschichte eines Gestapomannes, der am 1. Juni 1944 ihren Mann verhaftet hat, «eine bis in die Einzelheiten wahre Geschichte», wie sie im Vorwort schreibt. Durch den Kontakt mit ihm erhofft sie sich Informationen über ihren Mann, aber auch die Résistance profitiert davon. Beide belauern sich gegenseitig, es ist ein permanentes Katz-und-Maus-Spiel – bis zur Befreiung von Paris durch die Alliierten. Es folgen zwei Geschichten, im Vorwort als «heilige Texte» bezeichnet, über die sie dort schreibt: «Thérèse, das bin ich. Die, die den Denunzianten foltert, das bin ich. Die, die gern mit Ter, dem Milizionär, schlafen möchte, ebenfalls ich». Es folgen zum Schluss zwei weitere kleine, fiktionale Texte.

Mit der für sie charakteristischen schlichten, geradezu kargen Sprache und den besonders im Tagebuchteil vorherrschenden, stakkatoartigen Kurzsätzen wahrt Marguerite Duras die Distanz zu dem Grauen, über das sie schreibt und das den Leser, vermutlich gerade dadurch, besonders tief berührt. Ein lesenswerter Beitrag zum unmöglich erscheinenden Verständnis des auf ewig Unfassbaren!

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by dtv München

Das Buch von Blanche und Marie

enquist-1Omnia vincit amor

Auch in seinem 2004 erschienenen Roman «Das Buch von Blanche und Marie» geht der schwedische Schriftsteller Per Olof Enquist, wie oft in seinem Œuvre, von historischen Personen aus, die ihm als Bindeglied für seinen Plot dienen. Herausgekommen ist dabei ein pseudo-dokumentarischer Roman, dessen wahrer Kern nicht nur fiktional ausgeschmückt ist, sondern fast untergeht vor allzu unbekümmert Hinzuphantasiertem.

Vergils «omnia vincit amor», Liebe besiegt alles, steht auf dem Deckel einer braunen Mappe mit dem Titel «Fragebuch», das drei Notizbücher enthält. Das lateinische Motto bezeichnet Enquist als Arbeitshypothese, seine Handlung baut auf diesen Notizbüchern von Blanche Wittmann auf, berühmte Patientin von Professor Jean Martin Charcot, dem Leiter der psychiatrischen Anstalt Salpêtrière in Paris, im Jahre 1862 mit 4000 Patientinnen größtes Hospiz in Frankreich. In seiner regelmäßig veranstalteten, eher als Show inszenierten Vorlesung zu seinem Forschungsthema Hysterie dient ihm Blanche als williges Medium. Einer seiner Assistenten ist Sigmund Freud, und die gaffenden Zuschauer sind nicht nur Studenten, sondern viele berühmte Leute aus ganz Europa. Die titelgebende zweite Protagonistin des Romans ist Marie Skłodowska Curie, die berühmte Wissenschafterin polnischer Herkunft, Entdeckerin des Radiums, zweifache Nobelpreisträgerin sowohl für Physik (1903) als auch für Chemie (1911). Nach dem Unfalltod ihres Mannes hat sie eine stürmische Liebesbeziehung mit einem verheirateten Physikprofessor, die als Langevin-Affäre in Frankreich hohe Wellen schlägt und fortan als ewiger Makel an ihr hängen bleibt.

Soweit die Fakten. Postfaktisch hingegen, um eine dümmliche Wortschöpfung unserer Tage auch mal zu benutzen, ist die jahrelang unterdrückte Liebesbeziehung zwischen Blanche und Professor Charcot. Nach dessen Tod wird sie Assistentin bei Marie Curie, erleidet durch hohe Strahlungen bei ihrer Arbeit schwere gesundheitliche Schäden, beide Beine und der linke Arm müssen amputiert werden, sie sitzt als Torso fortan in einer rollenden Kiste. Die beiden Frauen werden enge Freundinnen, zu denen sich als dritte Jane Avril gesellt, kurzzeitig ebenfalls Patientin von Professor Charcot, später dann im Moulin Rouge berühmt gewordene Tänzerin, vielfach portraitiert von Toulouse Lautrec und auf ihren Plakaten omnipräsent bis heute.

«Die Liebe kann man nicht erklären. Aber wer wären wir, wenn wir es nicht versuchten?» Dieser Versuch ist hier misslungen, mit der Liebe als Zentralthema hat sich Enquist total verhoben. Marie scheitert kläglich mit ihrer ehebrecherischen Liaison, Blanche verkümmert in ihrer unerfüllten und, sieht man von einer irrealen Schlussszene ab, ewig platonischen Liebe zu Charcot. Dem uralten Thema Liebe gewinnt der Autor keine neuen Facetten ab, er verfällt vielmehr zusehends in peinliches Pathos dabei. Schon eher ist da die Aufdeckung der schaurigen Frühgeschichte der Psychiatrie zu loben, der tadelnde Hinweis auf die mühsame Emanzipation der Frauen, die Kritik des naiven Fortschrittsglaubens jener Zeit. Das Interessanteste aber, die faszinierende Figur der genialen Forscherin Marie Curie, wird kaum gebührend gewürdigt, sie ist als Romanfigur weitgehend auf ihre Liebesaffäre reduziert.

Schon ein Blick ins Inhaltsverzeichnis, das die einzelnen Kapitel als Gesänge bezeichnet, macht stutzig und kündet von Esoterischem. Der melancholische Plot verstört durch unmotivierte zeitliche und gedankliche Sprünge und lästige Wiederholungen, deren nervigste, geradezu sadistisch anmutende für mich der gefühlt hundertmal erwähnten Torso in der rollenden Kiste war. Vollends fragwürdig aber wird dieser Roman durch seinen holzschnittartigen Sprachstil, durch verstümmelte Sätze mit merkwürdiger Interpunktion, die das Verständnis behindern statt es zu fördern. Liebe und leidenschaftliche Forschung belegen, das ist mein Fazit aus dieser Lektüre, nun mal keine gleichen Areale in unserer Seele, sie sind wesensfremd.

Fazit: miserabel

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Genre: Roman
Illustrated by Hanser

Das Hotel New Hampshire

irving-1Mit Sonnenuntergang

Der US-amerikanische Schriftsteller John Irving ist einer jener polarisierenden Autoren, deren Romane man entweder ganz toll findet, um sich damit jubelnd in die zugehörige Fan-Gemeinde einzureihen, oder eher miserabel, womit man sich in der Rolle des schwarzen Storches befindet, also ein störender Andersartiger ist inmitten weißer Artgenossen. Auch nach zwei Jahrzehnten Abstand habe ich beim Wiederlesen seines wohl bekanntesten Romans, «Das Hotel New Hampshire», 1982 auf Deutsch erschienen, keinen Zugang gefunden zu dieser Art des Erzählens, – von der misslungenen Verfilmung mal ganz abgesehen. Mein Unvermögen also?

Es handelt sich um einen klassischen Coming-of-Age-Roman. Die Geschichte wird strikt aus der Ich-Perspektive erzählt, von John Berry, der anfangs zehn Jahre alt ist, und sie erstreckt sich zeitlich über etwa dreißig Jahre, von Anfang der vierziger bis Ende der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, deckt also seine späte Kindheit ab bis zur Heirat mit vierzig. Um diese zentrale Figur herum gruppiert Irving eine geradezu absurd skurrile Familie mit fünf Kindern und einem Großvater sowie diversen Gestalten mit wunderlichen Namen wie Susie der Bär, Freud, Kreisch-Annie, Die Alte Billig, Die Dunkle Inge, Ernst der Pornograph, Schraubenschlüssel, Schwanger, Fräulein Fehlgeburt und viele andere mehr. In diesem dubiosen Panoptikum fällt auf, dass den starken Frauenfiguren wie zum Beispiel Franny, Johns ein Jahr älterer Schwester, die der intellektuelle Mittelpunkt der Familie ist, schwache Männer gegenüberstehen wie der antriebslose John oder sein schwuler Bruder Frank. Gleiches gilt für die jüngere, kleinwüchsige Schwester Lilly, die einen erfolgreichen Roman schreibt, und den jüngsten Bruder Egg, der ziemlich einfältig erscheint nicht nur durch seine Schwerhörigkeit. Zum typischen Instrumentarium dieses Autors gehören ferner literarische Versatzstücke, die sich auch in manchen anderen Romanen von ihm finden: Männersportarten wie Football, Motorräder, Bären, Zirkus, Prostitution, Homosexualität, Vergewaltigung, Inzest, Macho-Sex. Nicht sehr abwechslungsreich sind auch seine autobiografisch geprägten Lieblingsschauplätze, hier New Hampshire, New York und Wien, und seine bevorzugten Milieus wie Hotels, Schulen, Bordelle.

Aus all dem entwickelt der Autor seine handlungsreiche, trotz einiger überraschender Wendungen aber merkwürdig spannungsarme Geschichte, man schwimmt als Leser mit im Erzählfluss, hat aber nie Schwierigkeiten, das dicke Buch beiseite zu legen für eine längere Lesepause. Wir erleben diese chaotische Familie und all die skurrilen Randfiguren in ihren drei Hotels, lesen von diversen Schicksalsschlägen: Flugzeugabsturz der Mutter und des jüngsten Sohnes, Attentatsversuch auf das Wiener Opernhaus, Erblindung des Vaters, Selbstmord der jungen Schriftstellerin. Irving erzählt seine ausufernd pralle Geschichte in einer anspruchslosen, äußerst vulgären Sprache, mit der er seinen Figuren den ordinären Jargon der Halbstarken und des Rotlichtmilieus in den Mund legt, erweist ihr damit aber einen Bärendienst, der seine moralische Intention konterkariert. Er wäre nämlich kein typisch amerikanischer Autor, wenn er nicht zu guter Letzt eine wohlfeile Botschaft verbreiten wollte, wobei er den «Gatsby» seines Kollegen Fitzgerald als maßlos bewundertes Vorbild heranzieht. «Bleib immer weg von offenen Fenstern» heißt es rührselig bei Irving, womit gebetsmühlenartig eine unbeirrbar optimistische Lebensmaxime bekräftigt wird, sich ja nie unterkriegen zu lassen, egal wie dick es kommt.

Ordinär verbalisierter Sex ersetzt in dieser naiv märchenhaften Erzählung die Liebe, sämtliche Beziehungen zwischen den Protagonisten wirken seltsam oberflächlich, Trauer und Schmerz, seelische Verletzungen werden nassforsch weggebügelt von einer alles übertönenden Zuversichtlichkeit im «Land der unbegrenzten Möglichkeiten». Ein Roman wie ein lauter, kitschiger Hollywoodfilm, mit Sonnenuntergang am Ende.

Fazit: miserabel

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Genre: Roman
Illustrated by Diogenes Zürich

Jugend an der Isar

ben-chorin-1Eine Trouvaille

«Je älter man wird, desto näher rückt einem die Jugend» heißt es im Vorwort zur dritten Auflage der Jugenderinnerungen von Shalom Ben-Chorin. Mit den beiden Zwiebeltürmen der Frauenkirche und dem Turm des Alten Peters ist der Ort des Geschehens auf dem Titelbild unschwer als München zu erkennen, der Heimatstadt des damals 15-Jährigen Autobiografen. Nur der Name will nicht so recht zu Bayern passen, aber zu jener Zeit hieß er ja noch Fritz Rosenthal, Sohn jüdischer Eltern, der früh den Vater verlor und in diesem Buch seine Jahre als Pennäler bis zu seiner Emigration nach Jerusalem beschreibt. Für einige wenige Eingeweihte als Journalist, Schriftsteller und Religionswissenschaftler bekannt, dürfte sein Name den meisten heute aber nichts mehr sagen, so war es bei mir jedenfalls, bis mir dann zwei Zufälle auf die Sprünge halfen. Vor einigen Jahren wurde ich beim Spaziergang auf eine kleine Menschansammlung aufmerksam, und als dann auch noch Musik ertönte, gesellte ich mich unter die Zuschauer. Eine neue Münchner Straße wurde im Rahmen einer kleinen Feier nach Ben-Chorin benannt. Und beim Stöbern im Buchantiquariat stieß ich kürzlich nun wieder auf den fremdartigen Namen und erwarb spontan diese Jugenderinnerungen.

Dramaturgisch wirkungsvoll beginnt die Erzählung mit dem Weihnachtsfest 1928, als Fritz seiner Mutter kategorisch erklärt: «Ich mache diesen Klimbim nicht mehr mit». Irritiert von der Gedankenlosigkeit, mit der jüdische Familien Weihnachten ganz selbstverständlich auch feierten, genau wie die Christen, rebellierte er und verließ auf der Stelle das Haus. Obdachlos in eisiger Nacht fand er vorerst Unterschlupf bei einer orthodoxen jüdischen Familie. Um aber bald zu begreifen, dass vieles in der dort praktizierten Ausübung der Religion zur Farce erstarrt war, zu liturgischer Geste und sinnlosem Brauchtum verkümmert. Diese frühen Erfahrungen des Autors und seine weitere Entwicklung bis hin zur sieben Jahre später erfolgenden Emigration ist fulminant erzählt und von einer derartigen Fülle an Eindrücken, Erkenntnissen, Erlebnissen und Begegnungen, dass es kein Wunder ist, wenn das Namensregister des Buches fast vierhundert Persönlichkeiten auflistet. Darunter alles, was Rang und Namen hatte in der deutschsprachigen Literatur und natürlich in der Münchner Szene der Intellektuellen.

Die jüdische Religion und der Zionismus, die Bemühungen jener Zeit um einen eigenen jüdischen Staat nehmen breiten Raum ein in dieser Autobiografie, die rein persönlichen Belange des Autors und seiner Lebensumstände treten da deutlich zurück. Aber es gibt auch köstliche Schilderungen vom schulischen und studentischen Leben in München, Festen in Schwabing, schönen Stunden auf dem Monopteros im Englischen Garten, ja sogar als Filmschauspieler in Geiselgasteig hat sich der Autor versucht. Das alles unter dem drohenden Unheil des Nationalsozialismus, dessen Gefahren er schon früh geahnt hat. Und so ist er, als die Repressionen zunahmen, mit Hilfe der Familie seiner Frau nach Jerusalem ausgewandert, solange das noch ging. Dort nahm er später den Namen an, unter dem er dann bekannt wurde, was im neuen Staate Israel damals ausdrücklich gefördert wurde, um die schnelle Integration der Neuankömmlinge auch durch die jüdischen Namen zu festigen.

Über sieben bewegte Jahre eines jungen, dem Judentum und der Literatur verpflichteten Mannes wird hier klug, detailreich und in wohl formulierter Sprache berichtet, eine lohnende Lektüre also, die vielen Lesern neue Horizonte öffnen dürfte.

Fazit: lesenswert

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Genre: Biographien
Illustrated by dtv München

Marbot

hildesheimer-1Die Fiktion als Wahrheit

Jene Figur, die Wolfgang Hildesheimer in seinem 1981 erschienenen Band «Marbot. Eine Biographie» erschaffen hat, könnte man als einen literarischen Homunkulus bezeichnen, so lebensecht erscheint uns sein Held, quasi als reale historische Persönlichkeit. Der Autor führt seine Leser gekonnt an der Nase herum, versteckt die Fiktion trickreich unter einer Fülle historischer und wissenschaftlicher Fakten, deklariert seinen Text als Biografie, nicht als Roman, obwohl Letzteres weit eher zutreffend wäre. Es ist der originelle Versuch, eine Lebensgeschichte zu erfinden, die als Wirklichkeit wahrgenommen wird, wobei den Leser hier nicht das amüsante Spiel eines ironischen Erzählers mit der Realität erwartet, der Biograf vermittelt uns vielmehr bis zur letzten Zeile durchaus überzeugend historische Fakten, eine Wahrheit also, in die er seine Figur nahtlos integriert hat.

«Für mich ist nur das Wahre wahr, das Wahrscheinliche dagegen Schein» sagte der 24jährige Sir Andrew Marbot am 4. Juli 1825 bei einem Besuch in Weimar zu Goethe. Wir Leser, damit auf das Folgende eingestimmt, erfahren davon gleich auf der ersten Seite. Der umfassend gebildete junge Mann, privilegierter Sohn eines reichen englischen Gutsherrn, von einem Jesuitenpater erzogen, widmet sich, nachdem er sein eigenes Unvermögen als Künstler erkannt und akzeptiert hat, mit ganzer Leidenschaft der Malerei, entwickelt sich zum scharfsinnigen Kritiker und Experten dieser Kunstgattung. Er hat Talent, ist aber kein Genie. Auf seinen Studienreisen durch halb Europa trifft er viele Geistesgrößen jener Zeit, verkehrt in kunstsinnigen Salons und besichtigt immer wieder öffentliche Gemäldegalerien und private Sammlungen. Bei seinen Theorien über Ästhetik und Interpretationen berühmter Gemälde bezieht Marbot erstmals Aspekte der Psychoanalyse mit ein, interessiert sich vor allem für die Bedingtheit von Werk und Maler und die kathartische Wirkung von Kunst.

Schon als Kind hatte Andrew eine tiefe Abneigung gegen seinen bodenständigen, sich fast ausschließlich der Jagd und Fischerei widmenden Vater, dafür aber eine umso innigere Beziehung zu seiner schönen Mutter. Es kommt zum Inzest, den beide unbeirrt ausleben, ein Tabu, dessen skandalträchtige Problematik sie in ein unlösbares Dilemma stürzt, sodass sie ihrer verzehrenden, fast grenzenlosen Liebe nach zwei Jahren notgedrungen endgültig abschwören. Andrew verlässt England für immer, nach mehreren Zwischenstationen lässt er sich schließlich im italienischen Urbino nieder, im Gebiet des Montefeltro. Wo er schließlich, inzwischen 29jährig, eines Morgens das Haus verlässt und für immer spurlos verschwindet, nur sein Pferd steht am nächsten Morgen wieder auf dem Hof. Da eine seiner beiden Pistolen fehlt, geht man von Selbstmord aus, ein zweiter Tabubruch also, eine weitere Todsünde nach dem Dogma der katholischen Kirche.

Dieser Plot jedoch ist beinahe nebensächlich in einer Biografie, die sich in epischer Breite, bis ins kleinste Detail, mit Kunst beschäftigt. Der Autor treibt seine Camouflage so weit, dass er zur Vorspiegelung von Authentizität eine Fülle englischer Zitate einstreut, für die er dann hilfreich gleich noch die Übersetzung mitliefert. Zu diesem Spiel mit der Fiktion gehört ferner der Hinweis, dass 1888 eine erste Biografie über Marbot erschienen sei, außerdem wird an vielen Stellen die mangelhafte Quellenlage beklagt. Vor allem aber soll uns das sachbuchartige Register berühmter Geistesgrößen, die mit Marbot in Verbindung standen, in die Irre führen. Mit alldem ist Hildesheimer ein überzeugendes Bild des exzentrischen britischen Kunstkritikers gelungen. Gleichzeitig aber nutzt er, der ja selbst Malerei studiert hat, sein Buch als Forum für ausufernde kunsttheoretische Betrachtungen. Damit jedoch überfrachtet er den Stoff gewaltig, nur wenige Leser dürften das erforderliche Fachwissen besitzen, um diesen geistigen Höhenflügen im Detail folgen zu können, das Buch also mit Gewinn zu lesen.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Suhrkamp Frankfurt am Main

Transit

seghers-1Chaos auch damals

Sie hatte alles selbst erlebt auf ihrer Flucht vor den Nazis, die in Deutschland ihre Bücher verbrannt hatten und vor denen sie sich als KPD-Mitglied ins unbesetzte Frankreich gerettet hatte, nach Marseille. Der Roman «Transit» der unter Pseudonym schreibenden Schriftstellerin Anna Seghers ist insoweit ein fiktional angereichertes, autobiografisch inspiriertes Zeitzeugnis einer schlimmen Epoche, die in jenem Frühjahr 1940 ihren Anfang nahm und als Vichy-Regime unrühmlich in die Geschichte einging. Eine politische Katastrophe, die damals viele Flüchtlinge nach Südfrankreich fliehen ließ mit seinem für eine Auswanderung wichtigen Überseehafen. Dieses der «Neuen Sachlichkeit» verpflichtete, 1941/42 geschriebene Frühwerk gehört zu den bedeutenden Werken der Exilliteratur. Die Autorin übersiedelte 1950 in die DDR, hatte dort etliche offizielle Funktionen inne und wurde mit Ehrungen für ihr umfangreiches Œuvre geradezu überhäuft, ihrer unbeirrbaren Linientreue wegen allerdings auch heftig kritisiert.

In einer Pizzeria in Marseille lädt ein namenlos bleibender Ich-Erzähler, ein 27jähriger Deutscher, einen Unbekannten zum Essen ein, ganz offensichtlich sucht er jemanden, dem er seine Geschichte erzählen kann. Er sei aus einem KZ in Deutschland geflohen, habe den Rhein durchschwommen und sei dann in Frankreich in einem Arbeitslager in der Nähe von Rouen inhaftiert worden. Beim Näherrücken der Front gelingt einer Gruppe deutscher Häftlinge der Ausbruch, auf der Flucht werden sie von den vorrückenden deutschen Truppen überrollt. Er schlägt sich ins besetzte Paris durch, wo Freunde ihn aufnehmen. Dort trifft er einen ehemaligen Mithäftling, der ihn bittet, einem Dichter namens Weidel einen Brief zu überbringen. Aber der hat sich das Leben genommen, man bittet ihn, den Koffer des Toten seinen Verwandten zu bringen. Als die Übergabe scheitert, behält er den Koffer und entdeckt darin neben Briefen von dessen Frau, die mit ihm nach Mexico auswandern wollte, ein Manuskript. «Aus lauter Langeweile fing ich zu lesen an. Ich las und las. Vielleicht, weil ich bisher noch nie ein Buch zu Ende gelesen hatte. Ich war verzaubert» erzählt er. «Und plötzlich, so in den dreihundert Seiten, brach alles für mich ab. Ich erfuhr den Ausgang nie». Als ihm in Paris die Gefahr zu groß wird, entdeckt zu werden, flieht er schließlich nach Marseille. Als er dort den Koffer im mexikanischen Konsulat abgeben will, hält man durch ein Missverständnis ihn selbst für Weidel.

Wir erleben einen wahrhaft kafkaesk anmutenden Kampf der Flüchtlinge um Visa, Transits, Schiffstickets, Testate und anderes mehr mit einer unwilligen Verwaltung, von den Menschen spöttisch als «Konsulatszauber» und «Visatanz» bezeichnet. Über weite Teile des Romans wird dieser bürokratische Wahnsinn von Vorbedingungen und Fristen geschildert, die sich häufig gegenseitig ausschließen und die Menschen zur Verzweiflung treiben, den coolen Erzähler selbst jedoch wenig beeindrucken. Er beobachtet eine Frau, die rastlos durch Marseille streift und jemanden zu suchen scheint. Schließlich lernt er sie als Freundin eines Arztes kennen, sie ist Weidels Frau, die ihren Exmann wegen der Auswanderungspapiere sucht. Er verliebt sich in sie, hilft dem Arzt und ihr gleichwohl bei den Formalitäten für ihre Ausreise, und als er sie schließlich über den Tod ihres Mannes informiert, glaubt sie ihm nicht. Enttäuscht verzichtet er auf die für ihn unerreichbare Frau und entschließt sich endgültig, zu bleiben.

Der kunstvoll konstruierte Plot ist sehr informativ in einer angenehm zu lesenden Sprache erzählt, mit stimmig erscheinenden, originellen Figuren, deren in immer neuen Varianten geschilderter, meist erfolgloser Kampf mit der Bürokratie irgendwann jedoch ziemlich langweilig wird. Das abrupte Ende in Weidels Manuskript scheint sich hier zu wiederholen, «Ich werde eher des Wartens müde als sie der Suche nach dem unauffindbaren Toten.» lautet der letzte Satz des resignierenden Helden.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Aufbau Taschenbuch Berlin