Halluzinatorischer Realismus
Es ist wahrlich ein sperriges Sujet, an das sich Nobelpreisträger Mo Yan herangewagt hat mit seinem Roman «Frösche», und prompt sah er sich auch etlichen Anfeindungen ausgesetzt bei seiner literarischen Aufarbeitung der Ein-Kind-Politik Chinas. Wäre es besser gewesen, wenn der mit richtigem Namen Guan Moye heißende Autor seinem Pseudonym gefolgt wäre – Mo Yan bedeutet nämlich «Sprich nicht» – und geschwiegen hätte zu diesem äußerst schwierigen Thema? Politisch jedenfalls hat das rigide umgesetzte Staatsdogma «Ein Kind ist gut, zwei Kinder sind korrekt, drei Kinder schlecht» trotz vieler Ausnahmen die erwünschte Wirkung gehabt und das explosionsartige Bevölkerungswachstum stark gedämpft. Der Preis aber, den die einfachen Leute dafür haben zahlen müssen, war und ist zu hoch, ganz abgesehen von den diversen negativen Folgen für das soziale Gefüge der Gesellschaft und die Wirtschaft dieses Riesenstaates.
«Weil er mit halluzinatorischem Realismus Märchen, Geschichte und Gegenwart vereint» habe man Mo Yan den Preis zuerkannt, heißt es 2012 in der Begründung des Nobelkomitees. «Kaulquappe», der Ich-Erzähler, hinter dem man unschwer den Autor erkennen kann, beschreibt die turbulente Lebensgeschichte seiner Tante Gugu in Form eines vierteiligen Briefromans, wobei sein japanischer Briefpartner, wie wir im Nachwort des Autors erfahren, niemand Geringerer ist als Kenzaburō Ōe, der Nobelpreisträger von 1994, der ihn tatsächlich zu diesem Buch animiert hat. Die Protagonistin Gugu ist eine von allen hoch geachtete, wahrhaft begnadete Hebamme, die Tausenden von Babys auf die Welt hilft. Aus der Wohltäterin wird nach der Verkündung der Ein-Kind-Politik eine inzwischen zur Frauenärztin ausgebildete, gnadenlose Funktionärin, die für die Umsetzung dieser Doktrin in ihrem Distrikt verantwortlich ist. Unser Vorstellungsvermögen übersteigende Restriktionen, von der vorher einzuholenden Genehmigung beim Kinderwunsch über zwangsweise eingesetzte Spiralen, massenhafte Sterilisation von Männern bis hin zur staatlich mit allerlei Repressalien erzwungenen Abtreibung, manchmal sogar erst im spätesten Stadium der Schwangerschaft, all dies wird nüchtern und ohne viel Empathie erzählt. So indolente Charaktere wie in diesem Roman begegnen einem nicht oft in der Literatur, für mich war das sogar ein, alles andere als erfreuliches, Novum.
Die geradezu holzschnittartige Erzählweise in der ersten Hälfte des Romans verwandelt sich analog zur fortschreitenden Handlungszeit in einen moderneren Sprachstil, wodurch nicht zuletzt auch das Lesen flüssiger vonstatten geht. Man ist schließlich sogar froh, nicht vorzeitig aufgegeben zu haben bei der ebenso mühsamen wie unerquicklichen Lektüre. Das mag auch daran liegen, dass sich die Standpunkte wandeln. Gugu jedenfalls erkennt irgendwann ihre ungeheure Schuld und wird von Alpträumen geplagt, die ihren Höhepunkt an einem Froschteich erreichen, als sie von unzähligen Fröschen bedrängt wird, den Geistern der unzähligen Föten, die sie zu Tode gebracht hat als fanatische Funktionärin eines menschenverachtenden Regimes. Fast vergnüglich wird es dann im fünften Teil des Romans, der das Theaterstück enthält, welches aus den vier vorangehenden Teilen entstanden ist, in denen der Ich-Erzähler seine Geschichte seinem Brieffreund und uns Lesern in Prosaform geschildert hat. Berthold Brecht hat für seinen Azdak in «Der kaukasische Kreidekreis» den populären chinesischen Richter Bao Cheng als Vorlage verwendet, der nun auch bei Mo Yan ein gleichermaßen weises Urteil fällt in einem ähnlichen Mutterschaftsstreit.
Wie immer bei fremdsprachigen Romanen dürfte auch hier, leider unvermeidbar, einiges an sprachlichen Raffinessen der Übersetzung zum Opfer gefallen sein. Dazu kommt noch die völlig fremde Mentalität und der fehlende Erfahrungshintergrund, dessen Konventionen und Moralverstellungen einem westlichen Leser absolut nicht vertraut sind. Gerade deshalb aber lohnt es sich trotzdem, den Roman zu lesen, man taucht ein in eine völlig andere Welt und wird, so man aufnahmefähig und –willig ist, zu allerlei Recherchen animiert, wobei das Nachwort des Autors wie auch die Anmerkungen am Ende eine erste Anlaufstelle bilden.
Fazit: lesenswert
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Im Prinzip Ja
Was noch geschehen kann
Kompliment an die Literatur
Auf Empfehlung eines Freudes, der im Berliner Auswärtigen Amt seinem Leben als Berufsbeamter frönt, habe ich dieses Buch verspeist. Im Vorfeld wurde mir gesagt, es sei erstaunlich, wie exakt der Autor den Zustand im Bauche der deutschen Diplomatie beschrieben habe.
Nahezu überschwappend dieser Irrsinn. Der arme Mr McCormick, ein Gejagter seiner inneren Richter, der Unfähigkeit Sexualität als etwas Normales sehen und fühlen zu können, eine übermächtige Mutter, eine ebenfalls psychisch kranke große Schwester. Dann die Jahrzehnte, in denen der Millionär weggesperrt leben muss. Wechselnde Psychiater, die “Redekuren” verordnen, sprich Psychoanalyse, die damals völlig unbekannt war, dazwischen einer, der die Affen und ihre Sexualität im Park des Anwesens erforscht. Sehr schräg, amüsant und gut gemacht. 

Wenn der junge Andrew Gage frühstückt, so läuft dies nach einem streng geordneten, komplizierten Ritual ab: Zunächst gibt es Rührei und Kaffee, dann folgen eine Tasse Kräutertee kombiniert mit Pfefferminzgelee auf Weizentoast; ein halbes Brötchen mit einer Scheibe Speck wird abgelöst von Orangensaft mit Honigpops und das Mahl endet schließlich mit einem Teller gesalzener Radieschen. Nun ist es keineswegs so, dass Andy ein unmäßiger Vielfraß wäre, nein, er leidet an einer multiplen Persönlichkeitsstörung. Hervorgerufen durch extremen Missbrauch in der Kindheit haben sich nach und nach immer wieder verschiedene Teile seiner Psyche verselbständigt und diese verschiedenen „Seelen“, männlich wie weiblich, alt und jung leben alle in seinem Körper. Andy hat sich damit arrangiert und die Situation einigermaßen im Griff, kommt gut zurecht, denn er hat im Kopf ein Haus errichtet, in dem alle Bewohner Platz und Zuflucht finden.
m September 1958: Der rheinische Architekt Heinrich Fähmel begeht seinen 80. Geburstag, es ist die Zeit für Erinnerungen, für Rückblenden, nicht nur für ihn, sondern für die ganze Familie. Seine Frau, die im Irrenhaus lebt, ohne verrückt zu sein; sie erträgt nur das „normale“ Leben nicht und will endlich Rache nehmen (muss haben ein Gewehr) für die toten Kinder. Sein Sohn Robert, ebenfalls Architekt, der die vom Vater erbaute Abtei St. Anton in den letzten Kriegstagen sprengte, aus Hass auf die Nazis und ihre Kollaborateure, Mönche, die die Lämmer nicht geweidet haben, sondern stattdessen die Lieder der Faschisten sangen. Und auch Heinrich Fähmel selbst erinnert sich schmerzlich daran, wie er sein Lachen verlor, weil er erfahren musste, dass Ironie nicht ausreichte und nie ausreichen würde.