Das Wetter vor fünfzehn Jahren

haas-2Silbersternchen

Ein Roman über einen Roman, das gab’s doch schon mal! Was für Thomas Mann mit «Die Entstehung des Doktor Faustus» recht war, kann für Wolf Hass nur billig sein, auch er hat einen Roman über einen Roman geschrieben, der nun allerdings nur fiktiv ist, anders als bei seinem weltberühmten Kollegen also. Und anders ist auch das literarische Niveau, einen Nobelpreis dürfte Wolf Hass wohl nie bekommen mit seinen Werken, jedenfalls mit denjenigen, die bis heute vorliegen. Er schreibt vielmehr äußerst originelle und spannende Bücher, wen wundert’s bei einem erfolgreichen Krimiautor, und sein Markenzeichen ist der geradezu überbordende Sprachwitz, der die Lektüre für den Leser so kurzweilig und amüsant macht.

Ungewöhnlich ist schon die Form, in der seine Geschichte angelegt ist, vom ersten bis zum letzten Wort als umfangreicher Dialog nämlich, über nicht weniger als fünf Tage sich hinziehend. Es ist das fiktive Protokoll eines akustischen Mitschnitts vom Interview einer Feuilleton-Journalistin mit einem Autor namens Wolf Hass, das sie für eine Literaturbeilage führt. Autor und Rezensentin im Zwiegespräch also, in dem das besprochene «Werk» geradezu seziert wird, ein Liebesroman auch noch, den Plot zu erzählen spare ich mir aber an dieser Stelle, schon um die Spannung nicht zu mindern. Dass Autoren in ihren Romanen selbst auftreten, sich also nicht feige hinter einem der Protagonisten verstecken, ist zwar nicht neu, mir fällt da spontan aus meiner Leseliste Felicitas Hoppe oder Clemens J. Setz zu ein, originell ist es aber trotzdem, vor allem wenn es wie hier auch noch in einer Art literarischem Werkgespräch geschieht. Genau in den darin immer wieder vorkommenden Erörterungen von dramaturgischen Strategien, vordergründig als unwichtig erscheinenden Textdetails, von all den kleinen Tricks und bösen Fallstricken beim Aufschreiben einer komplexen Geschichte, gerade dort liegt denn auch für mich eine der Stärken dieses amüsanten Buches. Mit seinen kunstvoll ineinander verschachtelten Erzählebenen ist dessen Plot geradezu halsbrecherisch konstruiert, ist damit sogar ziemlich anspruchsvoll, was die Aufmerksamkeit des Lesers anbelangt, ganz ähnlich wie bei einem Krimi (sic!). Aber wer den Fehler macht, hier nach Widersprüchen oder Ungereimtheiten zu suchen, der bringt sich selbst um das Lesevergnügen, was ja eigentlich schade ist.

Ernsthaftes, gar Tiefschürfendes ist hier nämlich absolut nicht zu finden, schon der Titel des Romans deutet darauf hin. «Das Wetter vor fünfzehn Jahren», exakt diese Daten für einen beliebigen Tag in einem bestimmten österreichischen Urlaubsort zu kennen, das ist der am Anfang der Geschichte stehende Anlass für einen TV-Auftritt in «Wetten, dass…?» bei Thomas Gottschalk. Diese titelgebende Fähigkeit des Wettkandidaten und Protagonisten gibt also schon die ungefähre Richtung vor, und damit auch das Niveau des Geschehens. Man muss häufig schmunzeln über Ironie und Humor von Wolf Haas, seinen durchaus auch sarkastischen Wortwitz, die vielen kleinen Aperçus und virtuos eingefügten Kuriositäten. Und wo es trivial wird, ist stets auch ein Augenzwinkern nicht zu übersehen in dieser ebenso trivialen wie spaßigen Geschichte, die ich als Satire gelesen habe, eine Parodie allseits bekannter, typischer Figuren und Geschehnisse aus dem realen Leben, eine Screwballkomödie, würde man den Stoff textnah verfilmen.

Ob sich die Lektüre lohnt kann man nur individuell beantworten, es hängt ganz von dem Spaßfaktor ab, den man erwartet als lustvoller Leser. Die bierernste Sorte literarischer Rezipienten wird sich gelangweilt oder auch empört abwenden, denen sei als Alternative oben genannter Roman von Thomas Mann empfohlen. Auf hedonistisch veranlagte Leser hingegen warten ein paar vergnügliche Lesestunden, mit Silbersternchen sozusagen, mit denen auch schon mal ein besonders gelungener Orgasmus bewertet wird in diesem originellen Roman.

Fazit: lesenswert

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by dtv München

Deutschstunde

lenz-1Als ob man selbst dabei war

Ist es Zufall, dass der Höhepunkt der antiautoritären Bewegung in Deutschland im Jahre 1968, in Zeiten einer quasi oppositionslosen großen Koalition also, gleichzeitig das Erscheinungsjahr des wichtigsten und erfolgreichsten Romans von Siegfried Lenz war, der «Deutschstunde»? Das Buch passte jedenfalls genau in diese Zeit, war eine feinsinnige Aufarbeitung der jüngeren Vergangenheit gerade auch in Hinblick auf die Frage nach der Anpassung des Individuums an die jeweilige gesellschaftliche Situation. Was die Achtundsechziger damals bekämpften war ja nichts anderes als das Wiedererstarken einer kritiklosen, obrigkeitsgläubigen deutschen Bevölkerung, die beflissentlich das tut, was man ihr sagt, ohne weiter darüber nachzudenken.

«Die Freuden der Pflicht» heißt denn auch treffend der Deutschaufsatz, den Siggi, der in einer Hamburger Besserungsanstalt einsitzende Ich-Erzähler, schreiben muss. Die Entstehung dieses Aufsatzes, zu dem er fast unbegrenzt viel Zeit hat, bildet den äußeren Rahmen der Handlung. Im Aufsatz des geradezu schreibwütigen Siggi, der inneren Geschichte, lesen wir von seiner Jugend am Deich, von seinem Elternhaus und den Nachbarn in schleswig-holsteinischen Rugbühl, wo sein Vater als Dorfpolizist den «nördlichsten Polizeiposten Deutschlands» innehat. Die unbeirrbare, sture, geradezu unmenschliche Auffassung des Vaters von Pflicht gipfelt in der Auseinandersetzung mit seinem Nachbarn und Freund Max, einem an Emil Nolde erinnernden, expressionistischen Maler, dem er 1943 das Malverbot aus Berlin überbringt, dessen Einhaltung er persönlich zu überwachen habe. Obwohl Max ihn als Jugendlicher vor dem Ertrinken gerettet hat, ist der Polizist geradezu zwanghaft bemüht, diesen Auftrag akribisch zu erfüllen, menschliche Regungen sind ihm völlig fremd in seiner unreflektierten Pflichterfüllung. Die übrigens noch lange über das Kriegsende hinaus fortdauert, nur weil man ihm nicht gesagt hat, dass damit auch sein Auftrag endet.

Lenz hat autobiografisch inspiriert in seiner schlichten, aber wirkmächtigen Sprache ein großartiges literarisches Portrait der Küstenlandschaft und ihrer Bewohner geschaffen, einer rauen Welt, die immer wieder äußerst detailreich und so liebevoll geschildert wird, dass sie selbst einem ortsfernen, süddeutschen Leser wie mir unwillkürlich ans Herz wächst. Der Plot ist raffiniert in Kapitel gegliedert, die das Geschehen aus verschiedenen Perspektiven beleuchten und mit Zeitsprüngen voranbringen. So wird zum Beispiel mehrfach das Manuskript eines jungen Psychologen mit einbezogen, in dessen Diplomarbeit das Seelenleben des arretierten Helden analysiert wird. Sehr amüsant sind die Einschübe, in denen Siggi als Autor über den Fortgang seiner Geschichte sinniert und damit den Leser an seinen Überlegungen beim Schreiben teilnehmen lässt. Überhaupt ist in diesen Roman voller Trauer und Bitternis häufig ein trockener Humor eingewoben, der die Lektüre angenehm locker werden lässt, ein markantes Merkmal der großartigen und anrührenden Erzählkunst von Siegfried Lenz. Wie er zum Beispiel einen Geburtstagstisch schildert oder minutiös über ungewöhnliche Riten und seltsame Angewohnheiten seiner wahrlich illustren Figuren berichtet, das zeugt von großer Scharfsicht und Lebensklugheit.

Der ruhige und genüssliche, weit ausholende Erzählstil des Autors hat mich tief in eine ereignisreiche «Deutschstunde» hineingezogen, in der die Spannung bis zum Ende anhält. Man mag manche Naturschilderungen als zu langatmig empfinden, die gleiche Detailtreue aber ist bei den vielen Figuren höchst erwünscht, lässt die fast durchweg sympathischen Protagonisten geradezu lebendig werden, man fühlt sich, als ob man selbst dabei war. Mehr kann man von einem Roman nun wirklich nicht erwarten.

Fazit: erstklassig

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by dtv München

Der schwedische Reiter

perutz-1Rundum gelungen

Der zwischen den beiden Weltkriegen recht erfolgreiche österreichische Schriftsteller Leo Perutz konnte 1939, seiner jüdischen Herkunft wegen, seinen Roman «Der schwedischer Reiter» nicht mehr veröffentlichen im Tausendjährigen Reich und geriet, nach dessen vorzeitigem Ende, in Vergessenheit. Inzwischen wurde er wiederentdeckt, dieser Band gehört zu den späten Meisterwerken eines für seine literarisch anspruchsvollen historischen Romane geschätzten Autors. Seine Handlungen seien, wie Egon Erwin Kisch lobte, mit «mathematischer Präzision» ausgearbeitet, – wen wundert’s, war er doch im Hauptberuf Mathematiker. Gleichwohl hat er als «größter magischer Realist unserer Sprache», wie Daniel Kehlmann ihn überschwänglich bezeichnete, seine Stoffe mit phantastischen Zutaten angereichert, die ins Märchenhafte weisen und seinen Geschichten damit eine ganz spezifische Stimmung verleihen.

Trickreich eröffnet Perutz seinen Roman mit einem «Vorbericht», in dem er den Schluss seiner Erzählung aus der Perspektive der Tochter seines Helden schildert und dann anmerkt: «Die Geschichte des ‚schwedischen Reiters’ soll nun erzählt werden». In den Nachwirren des Dreißigjährigen Krieges begegnen sich an einem bitterkalten Wintertag zu Beginn des Jahres 1701 in Schlesien ein berüchtigter Dieb und ein adliger schwedischer Deserteur, beide auf der Flucht vor dem Malefizbaron, ihnen droht der Galgen. In der Hoffnung, den Häschern so zu entgehen, tauschen sie ihre Identität, wobei der Dieb hinterlistig den arglosen Schweden über die wahre Gefahr täuscht. Während der Adlige in einem KZ-ähnlichen Arbeitslager des Bischoffs verschwindet, gelingt es dem Dieb, sich zum Hauptmann einer Bande aufzuschwingen, die als «Gottesräuber» jahrelang die Kirchen plündern. Mit den geraubten Schätzen gelingt es dem Hauptmann dann, als «schwedischer Reiter» auftretend ein herunter gekommenes Landgut zu übernehmen, die Tochter des ehemaligen Gutsherrn zu heiraten und schon bald den dort früher herrschenden Wohlstand wieder herzustellen. Die Idylle endet sieben Jahre später, als seine falsche Identität aufzufliegen droht und der namenlos bleibende Romanheld fliehen muss.

In einem ebenso klug erdachten wie berührenden Showdown endet dieses virtuose Spiel des Autors mit Identitäten. Seine archetypischen Figuren sind glaubhaft, aber zurückhaltend knapp beschrieben, ihr Handeln ist stets nachvollziehbar. Beides lässt dem Leser reichlich Raum für eigene Deutungen. Die Sympathie für die Figuren des Romans nährt sich vor allem auch aus den köstlichen Dialogen, mit denen im Übrigen der Plot auch sehr zielstrebig vorangetrieben wird. Er wird einsträngig und chronologisch in einer wunderbar der Epoche angepassten, ironisch überhöhten, bildreichen Sprache erzählt. Das Erzählte gründet auf eine kruden Moral, die den weitgehend rechtsfreien, barbarischen Zeitläuften jener Epoche entspricht, aber nicht diejenige der christlichen Kirchen ist. Eine blasphemische Traumsequenz des Diebes vor dem Gottesgericht gehört denn auch zu den köstlichsten Passagen dieses Romans. Sehr gekonnt ist auch die Figur des toten Müllers als Mittler zwischen den höheren Mächten und der irdischen Pein in die Geschichte eingebaut, der Roman erhält dadurch ein in die Märchenwelt weisendes magisches Element, passend zum weit verbreiteten Aberglauben jener Zeiten.

Dieser fesselnde Roman erzeugt einen erzählerischen Sog, dem man sich kaum entziehen kann als Leser, egal ob man ihn nun als historischen Roman, als Schelmenroman oder als Liebesroman liest. Dazu trägt im Wesentlichen das hervorragend eingefangene Zeitkolorit bei, aber natürlich auch der wohltuend stimmige Plot, dem man gerne folgt, und last not least dessen hervorragend gelungene sprachliche Umsetzung. Und die Frage schließlich, ob man sein Glück dauerhaft auf einer Schurkerei aufbauen kann, wird hier literarisch in einer Weise aufbereitet, die völlig ohne erhobenen Zeigefinger auskommt. Fürwahr ein rundum gelungener Roman!

Fazit: erstklassig

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by dtv München

Haus ohne Hüter

boell-2Zeit der Onkelehen

Unter den wenigen Lichtgestalten der deutschen Nachkriegsliteratur ist Heinrich Böll, Nobelpreisträger von 1972 und damit nach Hesse zweiter Deutscher, dem diese Ehrung nach dem Zweiten Weltkrieg zuteil wurde, zweifellos der bedeutendste. Zu seinem Frühwerk zählt der 1954 erschienene Roman «Haus ohne Hüter», einer seiner Gegenwartsromane, in denen er die «Gesellschaft von Besitzlosen und potenziellen Dieben», wie er das Deutschland des Wirtschaftswunders nannte, literarisch an den Pranger stellte. Ein unbeirrbar der Moral verpflichteter Schriftsteller, der sich auch politisch vehement einmischte und damit über seine Rolle als Chronist weit hinauswuchs.

In einer Stadt am Rhein leben Anfang der 1950er Jahre zwei Kriegerwitwen mit ihren elfjährigen Söhnen, die als Klassenkameraden eng miteinander befreundet sind. Während Martin im Wohlstand aufwächst im Hause seiner Großmutter, Inhaberin einer Marmeladenfabrik, erlebt Heinrich bitterste Armut und wird schon früh gezwungen, durch Schwarzmarktgeschäfte zum Lebensunterhalt beizutragen. Albert, ein Freund von Martins Vater Rai und Augenzeuge seines Todes, lebt ebenfalls in der Fabrikantenvilla. Rai hatte in Russland, als ein nassforscher junger Leutnant ihn duzte, zurückgefragt: «Haben wir Brüderschaft getrunken»? Er wurde von Leutnant Gäseler daraufhin zu einem Patrouillengang eingeteilt, ein unsinniges Himmelfahrtskommando, bei dem er seinen voraussehbaren Tod fand. Nella, Martins traumatisierte Mutter, führt ein unstetes Leben mit wechselnden Liebhabern, ist unglücklich, will nie mehr heiraten und flüchtet sich in Tagträume von einem Leben mit Rai, wie es hätte sein können. Heinrichs Mutter hat wechselnde Beziehungen mit Männern, von den Jungen als «Onkels» bezeichnet, die sie aber nicht heiraten will, weil sie dann die Kriegerrente verliert. Bölls Figuren sind lebensnah beschrieben, seine fünf Protagonisten wirken allesamt sympathisch, man lebt und leidet mit ihnen. Am Ende schließlich deutet er sehr vage eine Perspektive an, die eine Befreiung sein könnte aus unersprießlicher Situation, der Leser darf den Faden weiterspinnen.

Böll schildert äußerst detailreich und authentisch die Lebenswirklichkeit jener Jahre, er erzählt die Familiengeschichten aus wechselnden Perspektiven in einer wunderbar stimmigen, klaren und schnörkellosen Sprache. Ältere Leser werden vieles wiederfinden, was sie selbst erlebt haben, jüngere werden staunen über eine Vergangenheit, die so weit ja gar nicht zurückliegt. Bölls Sprache ist nüchtern, oft sogar lakonisch und mit einer Symbolik angereichert, die den rheinischen Katholizismus listig hinterfragt. Er beleuchtet die lange nachwirkenden Verheerungen, die von den Nazis angerichtet wurden in der vaterlosen Kriegsgeneration. Seine Liebe gilt den Opfern, er stellt sie den Tätern gegenüber, die schon bald als Opportunisten im Nachkriegsdeutschland Macht und Einfluss zurück gewonnen haben, jener Leutnant gehört dazu. Aber Nella, die sich rächen will an Gäseler, gibt resigniert auf, verzichtet auf Rache, weil die nichts ändern würde, ihre Verzweiflung nicht lindern kann.

Bölls melancholischer Familienroman ist geeignet, manches zu relativieren für uns Heutige, die wir Probleme beklagen, die gegen die damaligen geradezu läppisch sind. Insoweit ist er ein wichtiger Beitrag zur Erinnerungskultur eines Volkes, das gar zu gern die unrühmliche Vergangenheit ausblenden wollte und will. Der Roman ist keine Anklage, eher eine resignative Aufarbeitung des damaligen Geschehens und seiner fatalen Folgen. Sechzig Jahre später erscheint uns die Problematik der «Onkelehen» angesichts unserer Patchwork-Familien zwar als ganz nebensächlich, sie wirkt aber noch heute in die Lebensgeschichte vieler Älterer hinein, die in einem «Haus ohne Hüter» groß geworden sind und bleibend geprägt wurden. Davon zu lesen ist dank Bölls humorvoller Sprache nicht nur sehr bereichernd, sondern oft auch amüsant, ein Lesevergnügen mithin auf allerhöchstem Niveau.

Fazit: erstklassig

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by dtv München

Der Butt

grass-1Ilsebill salzte nach

Dieser Dreiwortsatz, der mir hier als Überschrift dient, leitet den neben «Die Blechtrommel» wichtigsten Roman von Günter Grass ein. Der Satz wurde dreißig Jahre nach dem Erscheinen von «Der Butt» in einer Internetumfrage zum schönsten ersten Satz eines deutschsprachigen Romans gekürt. Kann er Lust machen auf die folgenden fast siebenhundert Seiten, wie es seine Aufgabe ist, und halten diese Seiten dann auch, was er vorab verspricht?

Das bekannte Märchen «Vom Fischer und seiner Frau» liefert das Gerüst für eine sexistische Variante der Geschichte, die den Kampf der Geschlechter von der Jungsteinzeit bis in die Neuzeit, bis zur Guillaume-Affäre, episodenhaft beschreibt. Grass übernimmt den Namen Ilsebill als zeitlose Verkörperung der Frau, deren Mann, seinerseits stellvertretend für das männliche Prinzip, den Butt fängt. Zum Dank für seine Freilassung steht der ihm nun als gleichermaßen fachkundiger wie streitbarer Berater für die Sache der Männer zur Seite. Als zeitliches Handlungsgerüst fungiert in der ersten Erzählebene die Schwangerschaft von Ilsebill, Grass benennt seine Kapitel dementsprechend mit «Erster Monat» bis «Neunter Monat». In den so gegliederten Epochen tritt in der zweiten Erzählebene der Ich-Erzähler in immer wieder neuen Rollen als Mann auf, dem jeweils eine andere Frau als Köchin zu Seite steht, das weibliche Prinzip verkörpernd. «Bevor gezeugt wurde gab es Hammelschulter zu Bohnen und Birnen» erfahren wir auf der ersten Seite, womit gleich noch ein weiteres Leitmotiv dieses ambitionierten Romans anklingt, die Geschichte des Kochens nämlich. Dabei steht hier die kaschubische Küche im Blickpunkt, deren ungewohnt deftigen Rezepte, das sei mir, ganz subjektiv, gestattet zu sagen, uns Heutigen eher abschreckend erscheinen dürften als appetitanregend. Vor einem spöttisch geschilderten, weiblichen Tribunal, eine bissige Parodie des RAF-Prozesses, muss sich der Butt als Spiritus Rector der männlichen Sache verantworten, auch dies ein ständig wiederkehrendes Leitmotiv.

Es dürfte klar sein, dass «Der Butt» mit einem derart komplexen Aufbau nicht gerade als leicht lesbar bezeichnet werden kann. Unendlich viele Zeitsprünge ebenso wie das völlig ausufernde Figurenensemble mit – ich habe sie nicht gezählt – gefühlt hunderten von Namen erfordern volle Konzentration vom Leser. Durch häufiges, auch mehrmaliges Rekapitulieren von wichtigen Geschehnissen hat Grass allerdings, zumindest für die Hauptfiguren, die Zuordnung ein wenig erleichtert. Schwierig aber bleibt seine, mit unglaublich vielen umgangssprachlichen, mundartlichen, zeit- und ortsbezogenen, oft derben Wörtern und originellen Wortbildungen gespickte Sprache, die selbst vor vulgärsten Ausdrücken nicht zurückschreckt, was Elke Heidenreich einst mit «ekelhafte Altmännerliteratur» quittiert hatte. Wie auch immer, die Fülle an Details ist jedenfalls erdrückend, oft wird ein dutzend Bezeichnungen allein für eine bestimmte Rübe benutzt, und ähnliches gilt für die vielen geografischen Namen im einstigen Pommern, die nur Wenigen heute noch geläufig sein dürften, um von den diversen, geschichtlich kleinräumigen Ereignissen ganz zu schweigen.

Das Buch ist, in einer extrem dichten Sprache, aus unverkennbar männlicher Sicht geschrieben, auch wenn Günter Grass sich vordergründig ganz demonstrativ auf die Seite der Frau schlägt in seiner historischen Darstellung. Die heftige Kritik in Alice Schwarzers damals gerade neu gegründeter Zeitschrift «Emma» aber ist nachvollziehbar, er entlarvt sich des Öfteren selbst. Unverkennbar jedoch ist auch seine köstliche Ironie, die sich in vielen verblüffend lakonischen, ja beißend sarkastischen Wendungen zeigt, die den oft üppig ausschweifenden Roman wohltuend zu beleben vermögen. Weder Matriarchat noch Patriarchat scheinen die ideale Gesellschaftsform zu sein, so das wahrlich nicht überraschende Fazit dieser lesenswerten Emanzipations-Satire.

Fazit: erfreulich

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by dtv München

Wellen

keyserling-1Baltischer Fontane

Zu den wenigen bedeutenden Schriftstellern des Impressionismus, der den bis dato in der Literatur dominierenden Realismus abgelöst hat, gehört Eduard von Keyserling, dessen 1911 erschienener Roman «Wellen» ein beredtes Beispiel ist für eine ausgesprochen subjektive, dem Jetzt verpflichtete Erzählweise, die eine sehr persönliche Erfahrung der Wirklichkeit wiedergibt. Dieser in Vergessenheit geratene Roman des estnischen Autors, 1998 neu publiziert, wurde, nicht zuletzt durch eine bemerkenswert enthusiastische Besprechung im «Literarischen Quartett», zu einem Überraschungserfolg. Zu Recht?

Der Roman des «baltischen Fontane» reiht sich ein in jene Literatur des Fin de Siècle, die dem Leser eine Welt des Adels nahebringt, dessen Ende damals bereits absehbar war, zu der man aber aus lesewütigen bürgerlichen Kreisen gerne gaffend aufgeblickt hat, Identifikationsfiguren suchend, in die man sich für einige Lesestunden hineinversetzen konnte. Und so bevölkern denn auch standesgemäß Grafen und Barone, ein Geheimrat und ein Leutnant jenen kleinen Badeort an der Ostsee, der ihnen allen für einige Zeit als Sommerfrische in der unmittelbaren Nachbarschaft bodenständiger Fischer dient. Die liebevoll beschriebene äußere Idylle wird geschickt konterkariert durch eine sich anbahnende Tragödie, die der Autor sehr behutsam in Szene setzt, ganz ohne Effekthascherei.

Nach einer unglücklichen Ehe mit dem deutlich älteren Grafen Köhne ist Doralice, eine bildschöne junge Frau, ganz unstandesgemäß mit ihrem Portraitmaler durchgebrannt, wird seither von der Gesellschaft geächtet und hat sich mit ihrem Maler, – man habe in London geheiratet, heißt es -, in diese Abgeschiedenheit geflüchtet. Nachbar ist der erzkonservative Baron Butlär mit Gattin, seiner als Generalin titulierten Schwiegermutter Gräfin Palikow, dem jüngeren Sohn und zwei erwachsenen Töchtern sowie einem Schwiegersohn in spe, dem schneidigen Leutnant Hilmar. Trotz gesellschaftlicher Ächtung kommt es allmählich doch zu Kontakten mit Doralice, nicht zuletzt auch durch Vermittlung des buckligen alten Geheimrats Knospelius, der ebenfalls dort wohnt. Der voraussehbare Eklat, – man erahnt ihn beim Lesen -, den zu beschreiben ich hier aber aus Fairness potentiellen Lesern gegenüber lieber unterlasse, dieser Skandal also führt am Ende zu einer geradezu grotesken Situation, die aber nicht unlogisch ist und als nachdenklich machende Katharsis zurückbleibt.

Im stimmig geschilderten, sympathischen Figurenensemble fallen zwei Protagonisten besonders auf, sie liefern nämlich durch ihre köstlichen Beiträge in den erfrischend lebhaften, ungekünstelten Dialogen jenen Lesespaß, der Literatur zum reinen Vergnügen werden lässt. Da ist zum einen die verwitwete Generalin, hier wie sie beispielsweise Doralice die Leviten liest: «Mich hat zwar noch nie jemand entführt, ich hatte es auch nicht nötig, ich war mit meinem Palikow immer recht zufrieden, […] Aber mit dem Herrn, der einen entführt, leben, dass ist die Kunst. Glauben sie mir, man kann sehr gut leben, auch ohne dass ein Mannsbild immer vor einem auf den Knien liegt.» Und der gnomenhafte Knospelius räsoniert bei der Einladung zu seinem Geburtstag: «Na ja, das Älterwerden mag ja seine guten Seiten haben, aber zum Feiern wäre ja schließlich keine Veranlassung. Diese Welt hier ist zwar recht fragwürdig, allein besondere Eile herauszukommen hat man nicht […] Sehen sie, eine Welt ohne Knospelius und eine Welt mit Knospelius, das ist für mich ein gewaltiger Unterschied.» Es steckt viel handfeste Lebensweisheit in diesem wunderbaren Roman, der eine Behaglichkeit erzeugt beim Lesen, welche in der Tat stark an Fontane erinnert. Sprachlich allerdings ist der hier aus wechselnder Perspektive mit feinem psychologischen Gespür erzählende Keyserling deutlich moderner, es geht aber auch dramatischer zu bei ihm als beim Großmeister des Plaudertons. Wie schön für uns Leser, dass ein so großartiger Schriftsteller glücklich wiederentdeckt wurde.

Fazit: erstklassig

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by dtv München

Der Fangschuss

yourcenar-1

Tiefenwirkung

Die unter Pseudonym schreibende Autorin mit belgisch-französischen Wurzeln hat ihren 1939 erschienenen kurzen Roman «Der Fangschuss» in Sorrent verfasst, fernab vom Handlungsort ihrer Geschichte im Baltikum. Marguerite Yourcenar stellt ihren Ich-Erzähler, der morgens um fünf am Bahnhof von Pisa auf seinen Zug nach Deutschland wartet, auf den ersten eineinhalb Seiten kurz vor. «Es war die Dämmerstunde», schreibt sie, «in der schöne Seelen zu Bekenntnissen und Verbrecher zu Geständnissen neigen und in der selbst schweigsame Menschen gern Geschichten erzählen oder Erinnerungen auskramen, um nicht einzuschlafen».

Und nun erzählt Erich von Lhomond, ein vierzigjähriger ehemaliger preußischer Offizier, der in den Wirren nach dem Ersten Weltkrieg ein Jahrzehnt als Kommandeur an verschiedenen Fronten gekämpft hat, seinen beiden Kameraden eine Episode aus dem Bürgerkrieg gegen die Bolschewiken in Estland und Kurland, wo er ein Freikorps befehligt hat. Man ist als Leser sofort mitgerissen durch seinen, entfernt an Fontane erinnernden, ebenso angenehmen wie kurzweiligen Plauderton, den man förmlich hört, nicht liest. Marodierende Banden aus aufgelösten Truppenteilen sorgen für chaotische Zustände, der Tod ist allgegenwärtig. In diesem Schlamassel nimmt Erich mit seinen Männern Quartier im zerschossenen Schloss seines besten Freundes und Kampfgefährten Konrad von Reval und trifft dort auf dessen Schwester Sophie. «Auch in der Liebe bin ich, nebenbei bemerkt, fürs klassisch Einfache», sind seine Worte, und in der Tat erweist er sich im Verlauf der Geschichte als nahezu emotionsloser, kühl denkender Mensch, dem Frauen prinzipiell suspekt sind. Die burschikose zwanzigjährige Sophie aber, die nichts von jungen Männern hält, hat sich Hals über Kopf in ihn verliebt. Erich erfährt, dass sie Opfer einer Vergewaltigung war, spricht aber nie mit ihr darüber. Als sie ihm schon bald offen ihre Liebe erklärt und sich ihm unverblümt anbietet, ist er zwar in seiner Eitelkeit geschmeichelt, hält sie jedoch auf Abstand, lässt außer inniger Freundschaft keine intime Nähe entstehen – und stürzt sie damit in tiefste Seelenpein.

Sophie reagiert schließlich verzweifelt, sucht Abenteuer mit anderen Männern, nur um ihn eifersüchtig zu machen, seine Liebe zu erzwingen. Erichs bisexuelle Orientierung wird an lediglich einer Stelle nur sehr vage angedeutet. Eines Tages verschwindet sie überraschend ohne Abschied aus dem Schloss. Ihre Spur verliert sich schnell, einiges deutet jedoch darauf hin, dass sie sich den Bolschewiken angeschlossen hat. Nach einigen Monaten stehen beide sich ganz unerwartet plötzlich gegenüber. Der Showdown, und hier speziell die letzte Seite des Romans – ein wahrlich wirkungsstarker dramaturgischer Ablauf, erhebt in seiner aufwühlenden Tragik die ganze, überaus fesselnde Geschichte in die Problemsphären eines antiken Dramas, mehr will ich aber nicht verraten. Mich hat diese letzte Szene jedenfalls, obwohl ich nicht gerade zart besaitet bin, nicht nur zutiefst erschüttert, sie hat bei mir sogar körperliche Symptome ausgelöst, ist mir auf den Magen geschlagen, so ungeheuerlich fand ich das Geschehen. So was hat noch kein anderes Buch je geschafft.

«Das Geschehnis hat mich bewegt, und ich hoffe, dass es auch den Leser bewegt», schreibt Yourcenar im Nachwort, eine in Romanen ja recht selten anzutreffende Ergänzung des fiktionalen Textes, die sich hier als äußerst wertvoll erweist. Denn eine derart berührende Geschichte wirkt nach, wirft Fragen auf, und was könnte da hilfreicher sein als entsprechende Hinweise der Verfasserin? Ihre Geschichte beruhe auf einer wahren Begebenheit, erfahren wir, und auch ihre drei Hauptfiguren entsprächen im Wesentlichen der realen Vorlage. Deren Psychogramme sind fein durchdacht und wirken stimmig, überhaupt beweisen Handlung wie auch sprachliche Umsetzung der komplexen Geschichte große literarische Könnerschaft, die das Lesen zum Hochgenuss werden lässt.

Fazit: erstklassig

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by dtv München

Gruppenbild mit Dame

boell-3Fanal der Humanität

Der 1971 erschienene Roman «Gruppenbild mit Dame» habe den Anstoß dafür gegeben, konnte man in der «London Times» lesen, dass Heinrich Böll den Nobelpreis bekam für eine «Dichtung, die durch ihre Verbindung von zeitgeschichtlichem Weitblick und einfühlsamer Charakterisierung erneuernd in der deutschen Literatur gewirkt hat», wie die Stockholmer Jury schrieb. Als wichtigster Schriftsteller der deutschen Nachkriegsliteratur hat Böll hier mit dem Stilmittel der Darstellung historischer Ereignisse anhand ihrer Auswirkungen auf den Alltag der Menschen erzählt, auf deren Lebensweise, auf deren Schicksal. Die Würde des Menschen spielt auch im vorliegenden Roman eine entscheidende Rolle, wobei es dem Autor immer wieder darum ging, mittels seiner Kunst die Individualität in den Fokus zu rücken, seine Gestalten nicht als bloße Manövriermasse der Mächtigen darzustellen. Der dabei benutzte, für ihn typische Erzählstil ist scheinbar naiv, erweist sich aber genauer besehen als klug durchdacht, er ist zudem üppig mit köstlich amüsanter Ironie gespickt, die bei einem Menschenfreund wie Böll aber nie zynisch wird.

Wir haben es mit einem Geschichtsroman zu tun, der das Deutschland der Jahre 1922 bis 1970 beschreibt, wo die Nazizeit und der Zweite Weltkrieg als Zäsur bis lange in die Nachkriegszeit hineinwirken und Verdrängungsmechanismen hervorrufen, die im Wirtschaftswunder sehr schnell die Schuld der Vergangenheit kaschieren. Hauptschauplatz der Handlung ist (ungenannt) Köln, Protagonistin die titelgebende Dame jener Gruppe, die als Figuren in großer Zahl den Roman bevölkern. Der Autor schildert seine Heldin Leni als bildschöne blonde Frau mit blauen Augen, die prompt den Preis als deutschestes Mädel ihrer Schule gewonnen hat. Gutherzig, unglaublich naiv, ungebildet, gleichwohl intelligent, auch künstlerisch begabt, eigensinnig bis zur Sturheit, von den Männern (fast immer erfolglos) umschwärmt, durchlebt sie im Verlauf des Plots den Niedergang von der verwöhnten Tochter eines reichen Kriegsgewinnlers bis zur mittellosen WG-Betreiberin Ende Vierzig, deren Sohn im Gefängnis sitzt und die ungerührt der von Spekulanten betriebenen Zwangsräumung ihrer Wohnung entgegensieht, unterstützt allerdings von einer großen Helferschar, die ihr als von allen Verehrte selbstlos beistehen. Zentrale Episode der Geschichte ist ihre in Kriegszeiten lebensgefährliche Liaison mit einem russischen Zwangsarbeiter, von dem sie bald auch ein Kind hat, der dann aber kurz vor Kriegsende bei einem Grubenunglück stirbt.

Erzählt wird in der dritten Person von einem namenlosen, stets nur als Verf. bezeichneten Erzähler, der den Leser den Entstehungsprozess seiner Geschichte über Leni miterleben lässt, von seinen vielen Gesprächen, Recherchen und Reisen berichtet, mit denen er von Weggefährten seiner zwar lebenden, aber jede Auskunft verweigernden, wortkargen Heldin fleißig Informationen zusammenträgt, die ein möglichst authentisches Bild von ihr ermöglichen sollen. Obwohl zum größten Teil fiktional, sind gelegentlich auch reale Dokumente eingebaut in sein hauptsächlich aus Gesprächsnotizen bestehendes «Gruppenbild», eine Konstruktion, die dem Autor dazu dient, das Leben der damaligen Zeit aus allen möglichen Blickwinkeln zu beleuchten, verkörpert durch seine unglaublich einfühlsam beschriebenen, lebensechten Figuren. Deren Geschichten man en passant ebenfalls erzählt bekommt, wodurch das Ganze zu einem umfassenden Panorama einer unrühmlichen Epoche wird, welches aus der Realität des Alltags eines Volkes geschichtliche Geschehnisse und typische Charaktere widerspiegelt. So mancher ältere Leser dürfte da lang Vergessenes wiederfinden, für jüngere ist es allemal ein wertvolles Zeitzeugnis.

Militarismus, Katholizismus, Kapitalismus, der unbeirrte Moralist Böll baut seine großen Themen auch in diesen Roman ein, er sieht sich auch hier als Anwalt der kleinen Leute, ohne die großen deshalb zu verteufeln. Ein fürwahr grandioser Klassiker!

Fazit: erstklassig

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by dtv München

Leviathan

green-julien-1Ein Evergreen

Der 1929 erstmals erschienene Roman trägt als markanten Titel den Namen jenes mythologischen Meeresungeheuers, das in der Bibel bekanntlich gottfeindliche Mächte personifiziert. Leviathan ist, wen wundert’s also, deshalb nicht nur der Name auffallend vieler Kriegsschiffe, sondern findet sich auch häufig als Titel in der Literatur. Autoren wie Joseph Roth, Arno Schmidt und Thomas Hobbes mit seinem berühmten staatsphilosophischen Werk müssen da genannt werden, aber auch aus jüngerer Zeit das gleichnamige Theaterstück von Dea Loher. In Julien Greens Roman steht der Titel für Gottferne, mit einem unbenannten Provinznest in Frankreich als düsterem Handlungsort, in dessen unheilschwangerer Atmosphäre niemand eine glückliche Fügung erwarten kann, niemand eine Chance zu haben scheint.

Und so sind denn auch Greens Protagonisten allesamt schicksalhafte Figuren, deren Seelenleben bis in die äußersten Winkel durchleuchtet wird, wobei Unglaubliches zutage kommt. Wir lernen in Madame Londe eine herrschsüchtige Wirtin kennen, deren Obsession darin besteht, möglichst viel über ihre ausschließlich männlichen Gäste in Erfahrung zu bringen, einzig und allein, um eine gewisse Macht über sie zu erhalten. Als willige Spionin benutzt sie ihr blutjunges, ebenso hübsches wie naives Hausmädchen Angèle, die sie den Männern sexuell zur Verfügung stellt, ohne jeden Skrupel zwar, aber nicht des Geldes wegen, sondern um an Informationen über deren Privatleben zu gelangen. Seelisch nicht weniger verkorkst ist der linkische, schüchterne Hauslehrer Guerét, der überraschende Bösewicht des genial konstruierten Plots, und in der total verbitterten, kaltherzigen Mutter seines Privatschülers schlummert ebenfalls völlig unvorhersehbar ein glühendes Verlangen, das sie geradezu zwanghaft zur Komplizin eines gesuchten Mörders macht.

In weiten Teilen aus der Innensicht seiner Figuren erzählt, mit vielen inneren Monologen angereichert, entwickelt sich eine spannende Geschichte um Liebe der besonderen Art, nicht glückstrunken wie bei Romeo und Julia, sondern schwermütig und nichts Gutes verheißend, unabwendbar auf ein böses Ende hinführend. Die Schicksale der meisterhaft herausgearbeiteten Charaktere sind tragisch ineinander verwoben, sie haben von vornherein keine Chance, verirren sich in ihren seelischen Abgründen, zerstören sich selbst in oft sinnlosen Aktionen. Der Leser erlebt ambivalente Figuren in ausweglos erscheinenden Situationen, ein beklemmendes Drama menschlicher Schwächen und Seelenzustände, das aber nicht in eine Katharsis mündet, dessen Ausgang Julien Green bewusst offen lässt.

Kein leicht zu lesendes Buch mithin, natürlich auch kein froh stimmendes, aber ein Werk, das unter die Haut geht und den Leser unwillkürlich dazu zwingt, moralisch Stellung zu nehmen, von seiner erhabenen Warte herabzusteigen und sich selbst an dem zu messen, was ihm da an menschlichen Untiefen vorgeführt wird. Der französische Autor amerikanischer Abstammung wurde für seinen dritten Roman vom Feuilleton allenthalben überschwänglich gelobt, auch wenn, wie ich meine, der Lesespaß ein wenig zu kurz kommt bei dieser düsteren, schon fast depressiv machenden Thematik. Wen das nicht stört, der kommt voll auf seine Kosten, dieser immer wieder lesenswerte Roman ist genial erdacht und meisterhaft geschrieben, somit als gute Lektüre also absolut zeitlos. Völlig zu Recht könnte man deshalb sagen, wenn mir dies kleine Wortspiel mit dem Namen des Autors erlaubt ist: Ein Evergreen!

Fazit: erfreulich

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by dtv München

Unfall in der Nacht

modiano-1Der wassergrüne Fiat

«Leben heißt, beharrlich einer Erinnerung nachzuspüren» lautet ein Zitat, dem Nobelpreisträger Patrick Modiano in vielen seiner Werke als Leitgedanken folgt, so auch in dem Roman «Unfall in der Nacht». Peter Handke ist es zu danken, dass der in Frankreich hochangesehene Autor auch in Deutschland bekannt wurde, ohne allerdings den Durchbruch bei einem breiteren Lesepublikum erreichen zu können. Wie der vorliegende Roman eindrucksvoll belegt, ist eine derartige Zurückhaltung nicht nur unbegründet, sie stellt vielmehr einen unnötigen Verzicht der Leserschaft dar, ein Versäumnis besser gesagt, wird doch Modiano als skeptischer Romantiker schon zu Lebzeiten als ein Klassiker der Weltliteratur angesehen. Ein Schriftsteller, der eine Fülle zeitloser Kunstwerke geschaffen hat, denen zweifellos eine sehr individuelle, so nur ihm eigene schöpferische Intention zugrunde liegt.

In Form einer literarischen Collage beschreibt der Autor die Suche des zwanzigjährigen Ich-Erzählers, der als Fußgänger Opfer eines Autounfalls wurde, nach der jungen Lenkerin des Wagens und ihrem wassergrünen Fiat. Ein geheimnisvoller Mann, dessen Funktion zunächst unklar bleibt, im Roman als brünetter Klotz bezeichnet, hatte ihn und die Fahrerin nach dem Unfall in die Klinik begleitet, ihn später ein Dokument unterschreiben lassen und ihm einen Umschlag überreicht, in dem sich ein dickes Bündel Geldscheine befand. Die spannende Geschichte ist in den 1960ziger Jahren angesiedelt, und auch hier finden sich die für Modiano so typischen, minutiösen geografischen Angaben, denen andererseits recht vage Zeitangaben gegenüberstehen. Namen unzähliger Straßen und Plätze also, Cafés und Kneipen der französischen Metropole, die der orientierungslose Protagonist, stundenlang und oft nachts, seltsam rastlos durchstreift. Bei diesem odysseeähnlichen Herumstreifen begegnet er, von dessen Vergangenheit und gegenwärtigen Lebensumständen der Leser nur andeutungsweise etwas erfährt, einem mysteriösen Philosophen, der wie ein Guru eine Schar von Jüngern um sich versammelt, zu denen auch Hélène gehört, die Musik studieren will. Ihre kurze Zweisamkeit endet abrupt, als sie nach London geht. Geradezu traumverloren sucht der Held der Geschichte nach Orientierung, nach festem Boden unter dem Treibsand seines Lebens. «Und ich zählte», heißt es dazu im Roman, «auf den wassergrünen Fiat und seine Fahrerin, um ihn zu entdecken». Er findet schließlich beide, und ganz Modiano-untypisch geht die nebulöse Geschichte diesmal gut aus.

Der kurze Roman ist flüssig geschrieben, in einer eleganten Sprache, die stark der gesprochenen Sprache ähnelt, wie die Übersetzerin angemerkt hat, zugleich aber sehr poetisch sei, ohne deshalb jedoch in einen gehobenen Ton zu verfallen. Eine Fülle von Assoziationen drängt sich dem Leser auf, mysteriös ineinander verwoben, dem Ätherrausch ähnelnd, der sich leitmotivisch in der Geschichte findet und die Grenzen zwischen Realität und Traum, zwischen Vergangenheit und Gegenwart verwischt. Es ist eine leise Stimme, mit der Modiano da spricht, lakonisch oft von unwichtig scheinenden Dingen erzählend, die uns gleichwohl aber in Bann schlagen, die uns geradezu zwingen, dem Fluss der Erzählung zu folgen, die subtilen Prozessen des Seelenlebens nachzuspüren. Ihm ist es wichtig, Stimmungen einzufangen, das Vergessene wiederzuentdecken.

Mit den Anklängen an die «Ewige Wiederkehr» Friedrich Nietzsches, wie sie sich im Verschwinden der Fahrerin, der Freundin Hélène oder des unnahbaren Vaters, ja auch dem eines Hundes zeigt, mit dem stets Nebelhaften seiner Geschichte zudem, in der vieles nur angedeutet wird, fordert der Autor vom Leser ein reflektierendes Mitwirken über die bloße Lektüre hinaus. Wer dazu willens ist, wird reich belohnt.

Fazit: erfreulich

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by dtv München

Anna Karenina

tolstoi-2Literarische Zauberei

Ohne Zweifel ist «Anna Karenina» von Lew Tolstoi auch ein Eheroman, oft verglichen mit Fontanes «Effi Briest» oder Flauberts «Madame Bovary», primär aber ist er, was man ziemlich unbesorgt den größten Gesellschaftsroman der Weltliteratur nennen mag. Der 1878 erschienene, grandiose Roman bedeutet außerdem eine entscheidende Wegmarke hin zu dem radikalen Moralismus dieses russischen Schriftstellers, der sich dann bekanntlich, in seiner geradezu peinlichen Spätphase, ins völlig Absurde hineingesteigert hat. Hier aber, in diesem voluminösen Epos über die adelige russische Gesellschaft des 19ten Jahrhunderts, fungiert noch eine Art Räsoneur als Statthalter des Autors, ein Sinnsucher und – wie man heute sagen würde – unermüdlicher Querdenker, das Alter Ego von Tolstoi also mit nahezu kongruenter biografischer Konstellation, nur das Künstlertum fehlt seinem Helden Lewin. Genau diese unvergleichliche Begabung aber hat der literarische Olympier zunehmend negiert, hat von «all dem künstlerischen Geschwätz» gesprochen, mit dem sein Werk gefüllt sei und dem dessen Leser «eine unverdiente Bedeutung beimäßen».

Anna also ist nicht die Hauptfigur des Romans, auch wenn sie titelgebend ist und ihr unübersehbar die ganze Sympathie des Autors gilt. «Im Hause der Oblonskijs herrschte große Verwirrung» heißt es im – ursprünglich – ersten Satz, Annas Eingreifen verhindert jedoch das Auseinanderbrechen der Ehe ihres untreuen Bruders und führt zu einem verlogenen Modus Vivendi mit seiner Frau. Deren Schwester gibt Lewin einen Korb, der von ihr als sicher angesehene Heiratsantrag des strahlenden Helden Wronskij aber bleibt aus. Er hat sich nämlich in die mit einem ungeliebten Mann verheiratete Anna Karenia verliebt, ihr leidenschaftliches Verhältnis endet jedoch tragisch. Lewin endlich bekommt beim zweiten Versuch keinen Korb mehr und findet zu seinem späten Eheglück. In mehreren parallelen Handlungssträngen des achtteiligen Romans präsentiert Tolstoi die gescheiterte Ehe- und Liebesgeschichte von Anna Karenina, das heuchlerische Ehe-Arrangement ihrer Schwägerin und die geradezu idealtypisch erscheinende, glückliche Ehe von Lewin.

All das ist eingebettet in ein großartiges Panorama der Adelsgesellschaft Russlands, die in allen ihren Facetten dargestellt ist, mit unzähligen, wunderbar stimmig beschriebenen Figuren, deren mitreißende Dialoge uns Einblick in ihr innerstes Wesen geben. In diesem üppigen personalen Ensemble findet man sich als Leser aber jederzeit zurecht, so treffend skizziert sind Tolstois literarische Geschöpfe. Von denen der Gutsbesitzer Lewin mir regelrecht ans Herz gewachsen ist, verkörpert er doch, obwohl selbst adelig, den ländlichen Gegenpol zum Luxusleben des Champagner trinkenden städtischen Adels. Sein Wissensdrang, seine Gedankenwelt, seine zahlreichen Dispute, seine Geradlinigkeit und gutmütige Offenheit sind geradezu herzerfrischend, die vielen ihm gewidmeten Kapitel sind jedenfalls sehr amüsant zu lesen. Man lernt ihn letztendlich so gut kennen, dass man seine Reaktionen, seine Gedanken nicht nur nachvollziehen, sondern oft auch voraussehen kann. Und so findet er schließlich dann durch die Worte eines einfachen Bauern zu der Erkenntnis, dass wir nicht leben, «um unseren Wanst zu füllen», sondern dass man «für das Gute» lebt, ein außerhalb der Vernunft liegender Gedanke, für den der wissenschaftliche Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung nicht gilt. Ein Wunder also, das sich dem Verstande schlichtweg entzieht und doch von jedem begriffen wird.

Dieser Roman selbst aber ist auch ein Wunder, er ist literarische Zauberei, die alle Maßstäbe sprengt. Ich habe noch nie etwas Besseres gelesen!

Fazit: erstklassig

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by dtv München

Ansichten eines Clowns

boell-1Das muss ihm erst mal einer nachmachen

«Ich glaube, dass kein Buch so missverstanden worden ist wie die Ansichten eines Clowns. Es war eigentlich nur eine Liebesgeschichte, wirklich nicht mehr.» Darf man als Leser dem Autor widersprechen? Und dem Großkritiker Reich-Ranicki gleich mit, der vom «Alltag einer Liebe» sprach? Ich meine ja, denn für mich ist dieser berühmte Roman von Heinrich Böll keine Liebesgeschichte, es wäre nämlich eine lausig schlechte. Es geht um viel mehr in diesem Roman, die Liebe spielt keinesfalls die Hauptrolle, und wenn Böll das anders sieht, dann hat er das Grandiose in seinem Werk ungewollt und unbewusst geschaffen. – Was ja nicht weiter stört beim Lesegenuss!

Schon der Buchtitel spricht doch Bände: Es geht um Ansichten, also Subjektives, dem in der Regel andere Meinungen gegenüberstehen, was Streit bedeutet. Und es geht um einen Clown, eine komische Figur mithin, der immer auch Tragik anhängt, wo Lachen und Weinen zusammengehören, wie jeder weiß, der mal im Zirkus war. «Ich bin ein Clown», lässt Böll seinen Helden sagen, «und ich sammle Augenblicke». Und so ist es denn auch diese sehr spezielle Perspektive eines gesellschaftlichen Außenseiters, die entlarvend und anklagend zugleich ist und einem die Augen öffnet für die alltägliche Unmenschlichkeit, gestern wie heute, für das permanente Versagen Derjenigen, die Gottes Ebenbild sind, wie wir uns einreden lassen von der Bibel. Das ist Thema dieses Romans, nicht die Liebe zwischen Mann und Frau!

Fünfzig Jahre nach seinem Erscheinen ist Bölls Roman als hintersinnige Parabel auf die Gnadenlosigkeit der menschlichen Gesellschaft immer noch unvermindert gültig und nach wie vor ergreifend. Konformismus, Oberflächlichkeit, Scheinmoral, Heuchelei und Verlogenheit seiner Mitmenschen machen Bölls Protagonisten Hans Schnier, Clown von Beruf, wütend und angriffslustig, aber auch zutiefst melancholisch in einer Geschichte, die kein gutes Ende nehmen kann, das merkt der Leser schon am Anfang sehr deutlich. In der Ich-Perspektive, mit einfachen Worten und ohne komplizierte Syntax erzählt, in wenigen Stunden eines einzigen Nachmittags sich ereignend, zeigt uns der Roman in vielen Rückblenden, oft in Form ausgedehnter innerer Monologe, die Geschichte einer nur wenige Jahre andauernden Beziehung zwischen Hans und seiner Marie, eine von ihrer Umgebung argwöhnisch betrachtete, außereheliche Liaison, gemischt konfessionell obendrein.

Als Roman, was die Rezeption anbelangt, leicht verständlich also, schwer verdaulich allerdings, was die Thematik betrifft. Denn es gelingt dem begnadeten Erzähler Böll, dass der Leser sich, ungewollt und unbewusst zunächst, mit seinem Protagonisten identifiziert, die gleiche Ohnmacht spürt wie er, genau so leidet an der Lieblosigkeit und Gedankenlosigkeit vieler Mitmenschen, am damals wie heute fragwürdigen Zeitgeist, am Tanz ums Goldene Kalb. Getroffene Hunde bellen, und so war denn der Aufschrei der Katholiken im Erscheinungsjahr 1963 entsprechend laut, denn jede Form von Doppelmoral, die ganze verlogene Religiosität entlarvt Böll äußerst gekonnt aus einer ironisch-sarkastischen Perspektive. Als kleines Beispiel sei der ehrwürdige, hochangesehene Prälat genannt, in dessen Haus gleich mehrere gestohlene Madonnen stehen. Und dass der Hund am Wahlplakat der CDU sein Bein hebt und nicht nebenan bei der SPD, das kann doch auch kein Zufall sein. Trotz aller Tragik gibt es also öfter Grund zum Schmunzeln für den Leser dieses grandiosen Romans. Wenn am Ende der Clown als bettelnder Straßenmusikant am Bahnhof sitzt, ist er nicht gescheitert, sondern ist er selbst geblieben, hat sich nicht verbiegen lassen, allen Widrigkeiten zum Trotz. Respekt, das muss ihm erst mal einer nachmachen!

Fazit: erstklassig

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by dtv München

Frösche
by Mo Yan

yan-1Halluzinatorischer Realismus

Es ist wahrlich ein sperriges Sujet, an das sich Nobelpreisträger Mo Yan herangewagt hat mit seinem Roman «Frösche», und prompt sah er sich auch etlichen Anfeindungen ausgesetzt bei seiner literarischen Aufarbeitung der Ein-Kind-Politik Chinas. Wäre es besser gewesen, wenn der mit richtigem Namen Guan Moye heißende Autor seinem Pseudonym gefolgt wäre – Mo Yan bedeutet nämlich «Sprich nicht» – und geschwiegen hätte zu diesem äußerst schwierigen Thema? Politisch jedenfalls hat das rigide umgesetzte Staatsdogma «Ein Kind ist gut, zwei Kinder sind korrekt, drei Kinder schlecht» trotz vieler Ausnahmen die erwünschte Wirkung gehabt und das explosionsartige Bevölkerungswachstum stark gedämpft. Der Preis aber, den die einfachen Leute dafür haben zahlen müssen, war und ist zu hoch, ganz abgesehen von den diversen negativen Folgen für das soziale Gefüge der Gesellschaft und die Wirtschaft dieses Riesenstaates.

«Weil er mit halluzinatorischem Realismus Märchen, Geschichte und Gegenwart vereint» habe man Mo Yan den Preis zuerkannt, heißt es 2012 in der Begründung des Nobelkomitees. «Kaulquappe», der Ich-Erzähler, hinter dem man unschwer den Autor erkennen kann, beschreibt die turbulente Lebensgeschichte seiner Tante Gugu in Form eines vierteiligen Briefromans, wobei sein japanischer Briefpartner, wie wir im Nachwort des Autors erfahren, niemand Geringerer ist als Kenzaburō Ōe, der Nobelpreisträger von 1994, der ihn tatsächlich zu diesem Buch animiert hat. Die Protagonistin Gugu ist eine von allen hoch geachtete, wahrhaft begnadete Hebamme, die Tausenden von Babys auf die Welt hilft. Aus der Wohltäterin wird nach der Verkündung der Ein-Kind-Politik eine inzwischen zur Frauenärztin ausgebildete, gnadenlose Funktionärin, die für die Umsetzung dieser Doktrin in ihrem Distrikt verantwortlich ist. Unser Vorstellungsvermögen übersteigende Restriktionen, von der vorher einzuholenden Genehmigung beim Kinderwunsch über zwangsweise eingesetzte Spiralen, massenhafte Sterilisation von Männern bis hin zur staatlich mit allerlei Repressalien erzwungenen Abtreibung, manchmal sogar erst im spätesten Stadium der Schwangerschaft, all dies wird nüchtern und ohne viel Empathie erzählt. So indolente Charaktere wie in diesem Roman begegnen einem nicht oft in der Literatur, für mich war das sogar ein, alles andere als erfreuliches, Novum.

Die geradezu holzschnittartige Erzählweise in der ersten Hälfte des Romans verwandelt sich analog zur fortschreitenden Handlungszeit in einen moderneren Sprachstil, wodurch nicht zuletzt auch das Lesen flüssiger vonstatten geht. Man ist schließlich sogar froh, nicht vorzeitig aufgegeben zu haben bei der ebenso mühsamen wie unerquicklichen Lektüre. Das mag auch daran liegen, dass sich die Standpunkte wandeln. Gugu jedenfalls erkennt irgendwann ihre ungeheure Schuld und wird von Alpträumen geplagt, die ihren Höhepunkt an einem Froschteich erreichen, als sie von unzähligen Fröschen bedrängt wird, den Geistern der unzähligen Föten, die sie zu Tode gebracht hat als fanatische Funktionärin eines menschenverachtenden Regimes. Fast vergnüglich wird es dann im fünften Teil des Romans, der das Theaterstück enthält, welches aus den vier vorangehenden Teilen entstanden ist, in denen der Ich-Erzähler seine Geschichte seinem Brieffreund und uns Lesern in Prosaform geschildert hat. Berthold Brecht hat für seinen Azdak in «Der kaukasische Kreidekreis» den populären chinesischen Richter Bao Cheng als Vorlage verwendet, der nun auch bei Mo Yan ein gleichermaßen weises Urteil fällt in einem ähnlichen Mutterschaftsstreit.

Wie immer bei fremdsprachigen Romanen dürfte auch hier, leider unvermeidbar, einiges an sprachlichen Raffinessen der Übersetzung zum Opfer gefallen sein. Dazu kommt noch die völlig fremde Mentalität und der fehlende Erfahrungshintergrund, dessen Konventionen und Moralverstellungen einem westlichen Leser absolut nicht vertraut sind. Gerade deshalb aber lohnt es sich trotzdem, den Roman zu lesen, man taucht ein in eine völlig andere Welt und wird, so man aufnahmefähig und –willig ist, zu allerlei Recherchen animiert, wobei das Nachwort des Autors wie auch die Anmerkungen am Ende eine erste Anlaufstelle bilden.

Fazit: lesenswert

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by dtv München

Teufelsbrück

kronauer-1Im Prinzip Ja

Fast alle Werke der Belletristik schmücken sich heute spätestens im Stadium der Taschenbuchausgabe verkaufsfördernd mit Zitaten des Feuilletons auf dem Umschlag, die, manchmal trickreich aus dem Gesamttext einer Rezension oder aus einem Interview herausgelöst, einen Kauf des Buches dringend nahelegen. Die ehemalige Deutschlehrerin Brigitte Kronauer trat nach langen Jahren im literarischen Untergrund 1980 erstmals mit einem Roman an die breite Öffentlichkeit und hatte dann 1983 mit «Berittener Bogenschütze» ihren literarischen Durchbruch, die Zahl der Ehrungen seither ist ebenso beeindruckend wie ihr vielschichtiges Œuvre. Über den schon zum Alterswerk zählenden, im Jahre 2000 erschienenen Roman «Teufelsbrück» schrieb die ZEIT: «Dieser Roman wird Literaturgeschichte machen». Der Literaturpapst seliger Zeiten MRR wird kurz und bündig im Klappentext zitiert: «Brigitte Kronauer ist die beste Prosa schreibende Frau der Republik». Stimmt das alles, grübelt man resümierend, nachdem man, neugierig geworden, das Buch glücklich zu Ende gelesen hat. Im Prinzip Ja, würde ich wie Radio Eriwan antworten, aber …

Der Roman ist in die drei Kapitel «EEZ», «Holunderburg» und «Schnee» eingeteilt, die jeweils wieder in drei durchnummerierte und mit «Abend» betitelte Unterkapitel gegliedert sind. Damit wird zeitlich die Erzählsituation umrissen, die Ich-Erzählerin Maria Frauenlob spricht an jenen neun Abenden zu einer imaginären Zuhörerin, deren Identität sich dem Leser erst ganz am Ende erschließt. Es geht um die Liebe zu einer Art Traummann, auf den Maria an einem äußerst profanen Ort trifft, im Konsumtempel des Elbe-Einkaufs-Zentrums. Leo verkörpert für sie das Idealbild eines Mannes mit einer maskulinen Ausstrahlung, der sie rauschhaft verfallen ist. Ihre Romanze erreicht den Höhepunkt auf einer gemeinsamen Reise nach Heidelberg, kühlt dann aber, einem Naturgesetz? folgend, allmählich ab und endet schließlich, ein für Maria langer mentaler Prozess, im Gebirge, in Fels, Eis und Schnee. So weit und so profan die Story, die wir auswendig kennen, so oft haben wir sie schon gelesen, da ändern auch zwei Tote und ein erfolgloser Selbstmörder nichts dran!

Gleich auf den ersten paar Seiten wird dem Leser klar, dass hier nicht der Plot im Mittelpunkt stehen wird, dass er es vielmehr mit der geradezu manischen Beschreibungswut einer kreativen Schriftstellerin zu tun hat, deren Phantasie und Wortgewalt in der Tat ihresgleichen sucht in der deutschen Literatur. Hier geht es nicht um Realität oder Plausibilität, hier wird ausnahmslos der inneren Wirklichkeit gehuldigt ohne Rücksicht auf zeitliche, räumliche oder logische Gesetze. Wir befinden uns hier im märchenhaften Reich der Poesie und Phantasie, im Zentrum von Marias romantischer Gedankenwelt, die sie genüsslich vor ihrer imaginären Zuhörerin ausbreitet. Das Alles ist durchtränkt von Anspielungen, Wahrnehmungen, Sehnsüchten aus Marias Innerstem, dem Unterbewussten. Die üppige Symbolik dieses Romans beginnt schon bei der Namensgebung der Figuren, sie bezieht deren berufliche Tätigkeiten ebenso mit ein wie den besonderen Charakter der Handlungsorte oder die grenzenlos ausschweifenden Exkursionen in Flora und Fauna, die selbst kleinste Details nicht aussparen und ihnen, geradezu beflügelnd, metaphysische Bedeutungen zuweisen.

Um auf Radio Eriwan zurückzukommen bleibt die Erkenntnis, dass dieser Roman in der Tat ein glänzendes Stück Prosa ist, weit über den Niederungen massentauglicher Romanproduktion schwebend, aber genau damit nun wirklich nur eine äußerst kleine, aufnahmefähige und –bereite Leserschaft erreichend, die elitär der «hohen» Literatur huldigt. Das ist nicht jedermanns Sache, dafür braucht man auch mehr als nur Spaß am Lesen, am angenehm unterhalten werden, man braucht Entdeckergeist auf der Suche nach neuen Horizonten, nach dem, was als in der Regel unsagbar in den Köpfen anderer vorgeht, so wie hier als berauschende Illusion in dem von Maria Frauenlob.

Fazit: erfreulich

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by dtv München

Reise im Mondlicht

szerb-1Was noch geschehen kann

Er wolle nicht als Literaturhistoriker gesehen werden, sondern als Schriftsteller, «dessen Thema vorübergehend die Literaturgeschichte war», notierte Antal Szerb in sein Tagebuch; bis heute ist er einer der meistgelesenen ungarischen Autoren des 20ten Jahrhunderts. Sein belletristisches Œuvre ist überschaubar klein und wurde erst spät auch in Deutschland entdeckt, als sein bedeutendstes episches Werk gilt der vorliegende, 1937 in Ungarn veröffentlichte Roman, der erst 40 Jahre später auf Deutsch herausgegeben wurde, in Neuübersetzung dann 2005 unter dem Titel «Reise im Mondlicht». «Szerb nicht gekannt zu haben ist ein Versäumnis» hieß es in der Süddeutschen Zeitung. Nach der Lektüre kann ich dem nur beipflichten, soviel vorab.

Mich an den Spielfilm «Brot und Tulpen» erinnernd geht auch hier auf einer Reise durch Italien die Frau verloren, nur ist es diesmal eine Hochzeitsreise. Der 36-jährige Mihály erzählt während der Fahrt seiner frisch angetrauten Erzsi von der Jugendzeit, von den Rollenspielen mit den Geschwistern Támas und Éva im Hause der Familie Ulpius, die ausnahmslos vom Tod handelten in immer neuen Varianten. Auf der Fahrt nach Rom steigt er nach einer Kaffeepause in den falschen Zug und landet allein in Ravenna. Schon in Venedig hatte er gemerkt, dass Erzsi seine große Begeisterung für die antiken Kulturen nicht teilen konnte, und so besichtigt er jetzt die berühmten Mosaiken in Ravenna allein. Er beschließt sogar kurzerhand, auch alleine weiter zu reisen, seine Sehnsucht nach Italien voll auszuleben, den bürgerlichen Konventionen und Zwängen vollends zu entfliehen, sein früheres Bohemeleben wieder aufzunehmen. So kommt er also nicht nur seiner Frau abhanden, sondern auch sich selbst, auf der Suche nach seiner wahren Identität einer rebellischen Jugendzeit nachtrauernd, die der angepasst lebende Unternehmersohn nach der Heirat nun endgültig entschwinden sieht.

In seiner Weltfremdheit zwischen Traum und Realität herumirrend, diffus einer «Reise im Mondlicht» gleichend, holen ihn seine Jugendträume immer wieder ein. Während seine Frau Erzsi die Realität verkörpert, steht sein bester Freund Támas für alle Utopien, seine Gedanken kreisen häufig um dessen Freitod. Er besucht seinen ins Kloster gegangenen Jugendfreund Ervin, trifft schließlich in Rom Éva wieder, seine Jugendliebe, die auch jetzt unerreichbar bleibt. Szerb baut um seine Protagonisten eine Reihe von wunderbaren Randfiguren auf, liebevoll gezeichnet und stimmig in die Handlung integriert. Es sind allesamt markante Typen wie der «Taschendieb» und Luftikus János Szepetneki, der als «brennender Tiger» erscheinende persische Potentat, der überaus verständnisvolle englische Arzt, die naive amerikanische Studentin, der exzentrische Religionswissenschaftler, schließlich Vannina, das magere römische Mädchen, die hellseherische Fähigkeiten zu haben scheint und ihn am Ende als Kindspate in die Realität zurückholt im Verlaufe einer typisch italienischen Familienfeier. Die wahrhaft klassisch zu nennende Katharsis endet mit den Worten: «Und solange man lebt, weiß man nicht, was noch geschehen kann».

Antal Szerb erzählt seine sentimentale Geschichte über die Zwänge des Lebens, über Liebe und Tod in einer klaren, unverschnörkelten Sprache, die so perfekt gegliedert ist, dass Kapitel und Abschnitte in fast schon mathematischer Logik stets punktgenau aufeinanderfolgen. Einen derart perfekt aufgebauten Plot erlebt man nicht so oft als Leser, man merkt ihm an, dass da ein Wissenschaftler am Werke war. Es ist eine Menge Lebensweisheit drin enthalten, viel Alltagsphilosophie bei einer sehr realitätsnahen Suche nach dem Sinn des Lebens, die sich oft in überaus stimmigen Dialogen artikuliert. Eine besinnliche Lektüre mithin, die viele Leser nicht unberührt lassen dürfte, was übrigens auch für die mitreißende Beschreibung von Bella Italia gilt, die mich in ihrer ehrfürchtigen Bewunderung unwillkürlich an Goethe erinnert hat.

Fazit: erfreulich

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by dtv München