Bis wieder einer weint

Ein schreckliches Kind

Eine der frühen Neuerscheinungen dieses Jahres, der zweite Roman von Eva Sichelschmidt, spielt mit seinem Titel «Bis wieder einer weint» auf die Warnung der Erwachsenen an, wenn Kinder übermütig herumalbern. Weil ja, wer kennt das nicht, oft das Kichern und Getobe plötzlich umschlägt. Die nach Bekunden der Autorin autobiografisch gefärbte Geschichte, beginnend in der Adenauerzeit und bis in die frühen neunziger Jahre hineinreichend, schildert Aufstieg und Fall einer westdeutschen Unternehmerfamilie am Rande des Ruhrgebiets.

«Am 29. Juni 1971 hat niemand fotografiert» heißt es zu Beginn des Romans, es war der Tag, an dem die Mutter der damals knapp zehn Monate alten Ich-Erzählerin beerdigt wurde. An diesen Tag glaubt Suse sich später erinnern zu können, sie hatte eine Blumenvase umgerissen und ihren Laufstall damit unter Wasser gesetzt. Diese nonverbale Erinnerung bezeichnet ein Kinderpsychologe, dem sie am Ende privat von ihrem verkorksten Leben erzählt, als das bekannte Phänomen ‹emotionaler Erinnerung› in Bildern. In permanentem Wechsel zwischen personalem und auktorialem Erzähler wird zunächst die Geschichte von Inga und Wilhelm erzählt, dem glamourösen Elternpaar von Suse. Schönheit und Reichtum kamen da zusammen, die siebzehnjährige Tochter eines praktizierenden Augenarztes eine geradezu strahlende Erscheinung, der zwölf Jahre ältere Bräutigam glamouröser Dressurreiter und erfolgreicher Geschäftsmann. Inga stirbt bald nach Suses Geburt an Leukämie, das Baby wird zu den mütterlichen Großeltern gegeben, ihre sechs Jahre ältere Schwester bleibt beim Vater. Der holt dann aber auch die inzwischen achtjährige Suse wieder zu sich, sie kommt damit unter die Fuchtel der pietistischen Großmutter und leidet sehr darunter. Was sich dann in einer permanenten Widerborstigkeit im familiären Umgang ausdrückt und ebenso in einem eklatanten schulischen Versagen. Sie entwickelt sich zu einer allerseits gemiedenen Außenseiterin und weist keinerlei erkennbare Talente auf, ihre Zukunft bleibt bis zum Ende ungewiss.

Das chronologisch erzählte Geschehen nimmt seinen Anfang in den Jahren der zunehmend prosperierenden BRD, deren wirtschaftlicher Aufschwung auch Wilhelms mittelständische Maschinenfabrik mitreißt. Ein Erfolg, den er in vollen Zügen genießt, er wirft geradezu um sich mit dem reichlich vorhandenen Geld, verwöhnt seine junge Frau und nach deren Tod auch die beiden Töchter. Mit einer überbordenden Fülle an Details, vor allem aus der schillernden Konsumwelt, erzählt die Autorin, den Leser damit auf Dauer ermüdend, Alltägliches aus jener Zeit, – vieles davon ist unübersehbar klischeehaft. Diese materielle Dominanz beeinträchtigt narrativ leider allzu sehr das Seelenleben ihrer Figuren. Deren Psyche bleibt auffallend blass, es wird auch nicht angemessen differenziert beim Blick auf die verschiedenen Charaktere. Denn auch Wilhelm hat seine dunklen Seiten. Vor allem hat er eine heimlich ausgelebte homosexuelle Prägung, er ist mit der ahnungslosen Inga einmal sogar als Gast geladen zu einem Empfang von Arndt von Bohlen und Halbach in der Essener Villa Hügel.

In der zweiten Hälfte kommt endlich ein wenig Schwung in die bis dahin eher langweilige, deutlich zu breit ausgewalzte Geschichte, die Lebenslügen werden entlarvt, die glamouröse Fassade bekommt zunehmend Risse. Denn irgendwann endet auch Wilhelms Firma im Konkurs, die Zeiten haben sich geändert, für ihn eine harte Landung nach den Höhenflügen der glorreichen Vergangenheit. Wilhelm ist zum Alkoholiker geworden, leidet an verschiedenen Krankheiten, er lässt sich nahezu willenlos von seinem Liebhaber finanziell ausnehmen. Den Töchtern bleibt nur die Flucht aus dieser Misere in ein selbstbestimmtes Leben, das für sie ganz bei Null anfängt. Dieser Gesellschaftsroman endet mit dem an Suse gerichteten, resignierenden Satz ihrer Tante: «Du warst wirklich ein schreckliches Kind». Und das ist es auch schon, was sich dem Leser eingeprägt hat am Ende, mehr ist da nicht.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Rowohlt

Einer von vielen

Alles hängt mit allem zusammen

Wer das Buch von Norbert Zähringer mit dem Titel «Einer von vielen» aufschlägt, den empfängt auf dem Vorsatzblatt eine organigramm-artige Handskizze mit dem Namen Edison Frimm im Zentrum eines großen Netzes mit dutzenden von Namen. Damit wird grafisch das dem Plot dieses komplexen Romans zugrunde liegende «Kleine-Welt-Phänomen» der sozialen Vernetzung von Stanley Milgram verdeutlicht, nach dem alle Menschen über eine Kette von durchschnittlich nur sechs Zwischenkontakten miteinander verbunden sind. Und das gilt natürlich unter dem Aspekt von Vorsehung und Zufall auch für die vielen Figuren dieses narrativ äußerst virtuos konzipierten Romans mit seiner Schicksalsthematik.

In einer Art Rahmenhandlung wird im ersten und letzten der 56 Kapitel des siebenteiligen Romans vom Suizidversuch des achtzigjährigen, gerade aus dem Gefängnis entlassenen Edison Frimm an einem Dezembermorgen des Jahres 2003 erzählt. Mit einem atemberaubenden Konstrukt von Rückblenden und Zeitsprüngen in diversen Handlungssträngen entwickelt der Autor seine actionreiche Geschichte. Sie beginnt mit dem Großen Kantō-Erdbeben vom 1. September 1923, als in Tokio ein junger Polizist seine Eltern verliert, während gleichzeitig in Berlin Siegfried Heinze als Sohn eines strammen Nazis das Licht der Welt erblickt und in der Mojave-Wüste Kaliforniens die Zentralfigur ‹Eddi› Frimm geboren wird. Dessen abwechslungsreiches Leben als Komparse während der Stummfilmzeit in Hollywood und über die Zeit des Zweiten Weltkriegs hinweg bildet den roten Faden des Romans. Parallel verlaufen, oft lose miteinander verknüpft und abwechselnd erzählt, eine Fülle von kleinen Geschichten, Anekdoten und Szenen mit all den anderen Figuren, zu denen ‹Siggi› Heinze ebenso gehört wie der nazifeindliche Kriminalkommissar Mauser, der schwule Filmschauspieler und Pilot Scott LaMont, der japanische Expolizist und zen-buddhistische Gärtner Koga, ferner der idealistische Sektengründer Dan Schmidt mit seiner Wüsten-Gemeinde Josua Ridge, in deren Gemeinschaftsküche ‹Eddi› zur Welt kommt. Als prominente Figur ist ein Ölmillionär und Filmmogul eingebunden, für den Howard Hughes Pate gestanden hat, aber auch Ronald Reagan und Willy Brand haben ihr Cameo. Politisch ist die Handlung insbesondere durch den Angriff der Japaner auf Pearl Harbor, den Bombenkrieg der Alliierten, die Invasion in der Normandie, das dramatische Kriegsende in Berlin und die turbulente Nachwendezeit geprägt.

Die oft lediglich assoziative Verknüpfung der diversen Erzählfäden dieses komplexen Romans über die Ironie der Geschichte erfordert in Verbindung mit dem riesigen Figurenensemble die volle Aufmerksamkeit des Lesers. Dabei wird dieses achtzig Jahre umfassende Panorama der Geschichte auch noch aus verschiedenen Blickwinkeln erzählt. Die sieben Romanteile werden jeweils mit einem Kapitel eingeleitet, in dem ein Ich-Erzähler, von dem man nicht viel mehr erfährt, als dass er bei einer Berliner Wach- und Schließgesellschaft arbeitet, im Jahr 2003 von Geschehnissen aus seiner Clique berichtet, was eine reizvolle zweite Perspektive bildet.

Mit seinem Sprachwitz erinnert der temporeiche, unterhaltsame Roman an den journalistisch knappen, manchmal lakonischen Erzählstil einiger amerikanischer Autoren. Wobei die überbordende Fülle des Stoffs es mit sich bringt, dass vieles nur angerissen werden kann, tiefer ausgeleuchtet hätten sonst auch doppelt so viele Buchseiten kaum ausgereicht. ‹Eddi› und ‹Siggi› bilden den Kontrapunkt des Plots, sie sind in einer Szene am Kriegsende als Feinde schicksalhaft nur wenige Meter voneinander entfernt, ohne jedoch aufeinander zu treffen, – eine raffiniert angelegte Schlusspointe. Und so ist denn dieser ebenso amüsante wie spannende Roman ein süffig zu lesender Pageturner, originell erdacht und viel Obskures erzählend. «Was macht die Zeit mit uns» heißt die Kernfrage dieses Romans, und «Alles hängt mit allem zusammen» lautet hier eine der möglichen Antworten.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Rowohlt

Middlemarch

Der Weg ist das Ziel

In Deutschland bis heute weitgehend unbekannt geblieben ist «Middelmarch», das 1871/72 in acht Fortsetzungen unter dem Pseudonym George Eliot erschienene Opus magnum von Mary Anne Evans mit dem Untertitel «Eine Studie über das Leben in der Provinz». Zum zweihundertsten Geburtstag der englischen Schriftstellerin sind 2019 gleich zwei Neuübersetzungen dieses nach Meinung von 82 internationalen Literatur-Experten bedeutendsten britischen Romans erschienen, was manchen Leser denn doch animieren dürfte, sich an die Lektüre dieses berühmten, dickleibigen Klassikers der Weltliteratur heranzumachen.

Handlungsort der mehrsträngig erzählten Geschichte ist die titelgebende, fiktive Kleinstadt Middelmarch, Erzählzeit der Beginn der Industrialisierung im ersten Drittel des 19ten Jahrhunderts. In einem familiär eng verflochtenen Figurenensemble werden vor allem die Beziehungen der verschiedenen Charaktere untereinander thematisiert, wobei dem Individuum hier übermächtig die rigide viktorianische Gesellschaft gegenübersteht, an der viele scheitern. Besonders Liebesnöte und unglückliche Ehen nehmen dabei einen breiten Raum ein, aber auch ökonomische, politische und soziale Aspekte werden im historischen Kontext äußerst facettenreich beleuchtet. Es beginnt mit der schönen Dorothea, die zum Entsetzen der Familie und gegen alle Vernunft einen doppelt so alten, verschrobenen Theologen heiratet und erwartungsgemäß in einem albtraumartigen Ehedrama landet, aus dem sie nur der frühe Tod ihres drögen Mannes errettet. Scheitern muss auch der zweite Protagonist, der ehrgeizige, aber mittellose Landarzt Lydgate, der die verwöhnte Tochter des Bürgermeisters ehelicht, sich in Schulden stürzt und schließlich resigniert alle wissenschaftlichen Ambitionen aufgeben muss. Er geht nach London und wird dort widerwillig Modearzt, um seiner Frau das komfortable Leben bieten zu können, auf das sie Anspruch zu haben meint.

Größte Stärke dieses grandiosen Gesellschaftsromans sind seine psychologisch tiefgründigen Charakterstudien. Das üppige Figuren-Ensemble besteht aus diversen ebenso liebevoll wie ironisch beschriebenen Archetypen, von denen viele ebenfalls scheitern. Den frömmelnden, unredlichen Bankier zum Beispiel holt seine fragwürdige Vergangenheit ein, gesellschaftlich geächtet muss er Middelmarch verlassen. Ein fauler Tunichtgut muss erkennen, dass er keine Chance hat, seine Liebste zu ehelichen, wenn er sein unstetes Lotterleben nicht radikal ändert, – was er dann notgedrungen auch tut. Amüsanteste Figur ist Mrs. Cadwallader, die gleich zu Beginn in einer köstlichen Szene versucht, die sich abzeichnende Mesalliance von Dorothea im letzten Moment doch noch zu verhindern. Der Nachbar, Pfarrer Farebrother, verkörpert den grundgütigen, selbstlosen Menschen, der sich immer wieder helfend und schlichtend einbringt in den intrigenreichen Mikrokosmos dieses Romans, der von naiver Religiosität, Standesdünkel und doppelter Moral geprägt ist, die ständig neue menschliche Schwächen offenbaren.

Unübersehbar ist bei alledem die kritische, feministische Sichtweise der Autorin, die ja schon damit beginnt, dass sie unter einem männlichen Pseudonym veröffentlichen musste, um literarisch ernst genommen zu werden. Die Frauen in diesem viktorianischen Epos sind allesamt ungebildete Weibchen, dem Manne untertan. Häufig schweift George Eliot zu kontemplativen Exkursionen über politische, künstlerische, philosophische und auch wissenschaftliche Themen ab. In ihrem komplexen Handlungsgeflecht nimmt dabei auch die Medizin breiten Raum ein und zeugt von ihren erstaunlichen Kenntnissen auf diesem Gebiet. Zum Lesegenuss des intellektuell äußerst anspruchsvollen und raffiniert konstruierten Romans trägt nicht wenig auch die kongeniale Übersetzung von Melanie Walz bei, in der subtil der köstliche englische Humor zum Tragen kommt. Die mehr als zwölfhundert Buchseiten vergehen somit wie im Fluge, denn auch hier gilt mal wieder: «Der Weg ist das Ziel».

Fazit: erstklassig

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Genre: Roman
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Der Wolkenatlas

Von Kultur zur Barbarei

Mit dem Roman «Der Wolkenatlas» hatte der britische Schriftsteller David Mitchell 2004 seinen literarischen Durchbruch, er ist bis heute sein bekanntestes und erfolgreichstes Werk, das mit seiner fragmentarischen Erzählweise charakteristisch ist für diesen Autor. So gibt es hier nicht nur sechs eigenständige Erzählebenen, fünf davon sind auch noch in jeweils zwei Hälften geteilt, deren zweite sich in umgekehrter Reihenfolge an den durchgehend erzählten Mittelteil anschließt. Die Unterbrechungen erscheinen willkürlich, in einem Fall endet der erste Teil sogar mitten im Satz und setzt sich ebenso unvermittelt nach nicht weniger als 562 Seiten im zweiten Teil fort, an genau dieser Textstelle und ganz einfach mit dem nächsten Wort. Diese sechs Erzählungen sind inhaltlich auf verschiedene Art miteinander verbunden, durch ein Déjà-vu-Erlebnis zum Beispiel oder andere narrative Details. Zudem unterscheiden sie sich radikal im Duktus voneinander und sind zeitlich in ganz unterschiedlichen Epochen angesiedelt, vom 19ten Jahrhundert über die Jetztzeit bis in eine ferne, post-apokalyptische Zukunft hinein. Dass ein derart unkonventionell aufgebauter Roman umstritten ist, das liegt auf der Hand.

Es beginnt mit dem Tagebuch eines Anwalts, der zur Zeit des Goldrauschs Mitte des 19ten Jahrhunderts auf der Heimfahrt von Australien nach San Francisco die christliche Seefahrt mit all ihren Beschwernissen und Gefahren schildert. Es schließt sich der Briefzyklus eines schwulen Musikstudenten an, der sich 1931 im belgischen Städtchen Zedelgem als Assistent eines berühmten Komponisten verdingt, allerlei Irrungen und Wirrungen miterlebt und ganz nebenbei ein ultramodernes Sextett mit dem Titel «Wolkenatlas» komponiert. Die dritte Geschichte aus den 1970er Jahren ist ein furioser Krimi um eine Journalistin, die im Milieu der Atom-Mafia in den USA einem Skandal auf der Spur ist. Ein alternder Verleger schließlich hat großen Erfolg mit «Faustfutter», dem Roman eines Autors, der wegen Mordes im Gefängnis sitzt, und wird nach allerlei fiesen Machenschaften in die Psychiatrie weggesperrt. Der dystopische fünfte Teil ist eine Geschichte um Klone und Duplikanten, die in Form eines Verhörs erzählt wird und inhaltlich allenfalls für enthusiasmierte Genreleser goutierbar ist, die Mehrheit muss sich frustriert durchbeißen oder aufgeben. In noch fernerer Zukunft schließlich, nach der Apokalypse, ist im durchgehend erzählten Mittelteil die Menschheit auf eine äußerst primitive Lebensform zurückgeworfen. Diese in Ich-Form und in einem radikal vereinfachten Slang von einem Ziegenhirten auf Hawaii erzählte Geschichte berichtet vom barbarischen Ende der Zivilisation.

David Mitchell hält der Menschheit, die unbelehrbar primitivsten Ur-Instinkten folgend nach Macht giert, was dann stets Unterdrückung und Ausbeutung nach sich zieht, mit diesem deprimierenden Roman den Spiegel vor. Dabei zeigt er das permanente Unrecht nur auf, ohne es zu erklären oder gar die Moralkeule zu schwingen. Die mangelnde menschliche Einsicht verdeutlicht er durch die chronologische Abfolge seiner Geschichten, in denen sich die Missstände und Probleme der verschiedenen Gesellschaftsstufen jeweils verschärfen statt verringern.

Es gibt zahlreiche narrative Verbindungen innerhalb des Romans und auch etliche intertextuelle Bezüge. Auf die Reinkarnation als Thematik weist bereits der Romantitel hin, der als Metapher für die Kartographie der wandernden Seelen benutzt wird. Die überaus kreative Erzähltechnik ist sicherlich das wesentlichste Merkmal dieses außergewöhnlichen Romans, der narrativ alles will und es mit der Postmoderne denn doch ziemlich übertreibt. Letztendlich also L’art pour l’art, diesem virtuosen Balanceakt zwischen Kultur und Barbarei mangelt es nämlich schlicht an Substanz, um Kontemplation beim Leser anzuregen. Anders als an einer Stelle im Buch zitiert geht es in der Literatur tatsächlich doch nicht nur um das ‹Wie›, sondern auch um das ‹Was›!

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
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Der Schnee auf dem Kilimandscharo

Schnee auf dem Kilimandscharo: „Karawong! Karawong! Karawong!“, kracht das Gewehr des Francis Macomber als er auf einen Löwen anlegt. Mit seiner Frau Margot hat er bei Robert Wilson eine Safari gebucht, die ihn verwandelt, aber auch beflügelt. Afrika ist eben kein Land für Feiglinge. Aber als er seine Angst verliert, verliert er auch seine Frau. Oder sein Leben.

Der Schnee auf dem Kilimandscharo

In „Das kurze glückliche Leben des Francis Macomber“, der letzten Geschichte dieser Short Stories Sammlung von Ernest Hemingway, verachten sich alle drei Protagonisten gegenseitig. Margot ist nur mit Francis zusammen, weil er Geld hat und er mit ihr nur, weil sie schön ist. Robert wiederum verachtet beide, aber er bekommt Geld dafür, dass er sie auf wehrlose Tiere schießen lässt. Der Jäger als Prostituierte. Afrika als Wildpark für besitzende Weiße. Diese Zeiten sind lange vorbei, aber als Hemingway seine Geschichten schrieb, schien die Macht des weißen Mannes noch ungebrochen. Nicht nur in Afrika. Auch „Schnee auf dem Kilimandscharo“, der titelgebenden Story dieses Sammelbandes, spielt in Afrika, nahe dem Ngaje Ngai, Haus Gottes, wie die Masai den westlichen Gipfel des höchsten Berges Afrikas nennen. In dieser Geschichte geht es auch um ein Paar, diesmal ist sie die Reiche und er der Mittellose. Harry, der Schriftsteller, der sein eigenes Talent verrät, weil er die ganze Zeit trinkt, statt zu arbeiten. „Es gab so viel zu schreiben. (…) Er war dabei gewesen, und er hatte es beobachtet, und es war seine Pflicht, darüber zu schreiben; aber jetzt würde er das nie mehr tun.“ Kann seine Frau ihn noch retten?

Die Sorgen eines Boxers vor seinem letzten Kampf

Mr. Frazer, der Spieler in „Der Spieler, die Nonne und das Radio“, findet sein Opium in der Revolution: „Revolution ist eine Katharsis; eine Ekstase, die nur durch Tyrannei verlängert werden kann“. Nicholas Adams, der gleich in zwei Geschichten vorkommt, wiederum tingelt mit seinem Sohn durch Amerika und schießt auf Eichhörnchen und Wachteln. Er hatte bei den Ojibwa gelernt, aber sein Sohn will seinen Großvater besuchen. Auch in „Die Killer“ ist Nick Adams ein Protagonist, der eine unheilschwangere Botschaft an Ole Andersen überbringt. Und in „Wie Du niemals sein wirst“ dient Nick an der Front in Italien, auf dem Weg nach Fornaci. „Fünfzigtausend“ wettet der Boxer Jack Brennan in der gleichnamigen Story gegen sich selbst. Vor seinem letzten Kampf denkt er an seine Sorgen, seine Immobilien, seine Aktien, seine Kinder, seine Frau. 11 Runden hält er durch, bis sein Trainer ihm zuruft: „Jimmy, pass auf!“.

Ernest Hemingway schreibt über Paare, Soldaten, Boxer und Jäger. Aber auch über Frauen. Stets ist sein Ton distanziert und dennoch voller Einfühlungsvermögen. Denn er kennt auch die Gedanken seiner Protagonistinnen. Alle Stories in diesem Band: Schnee auf dem Kilimandscharo; Ein sauberes, gut beleuchtetes Café; Ein Tag Warten; Der Spieler, die Nonne und das Radio; Väter und Söhne; In einem anderen Land; Die Killer; Wie du niemals sein wirst; Fünfzigtausend; Das kurze glückliche Leben des Francis Macomber.

Ernest Hemingway

Schnee auf dem Kilimandscharo. Storys.

Aus dem Englischen von Werner Schmitz

1939, 1950, 1977, 2015;

ISBN: 978 3 499 27286 8

Rowohlt Taschenbuch Verlag


Genre: Abenteuer, Literatur, Short Stories
Illustrated by Rowohlt

Unter dem Vulkan

Der Trinker als soziologische Parabel

Fest zum Kanon englischsprachiger Literatur gehört der berühmte Klassiker «Unter dem Vulkan» von Malcom Lowry. Mit dem ‹Ulysses› hat er gemeinsam, dass nur ein einzelner Tag im Leben des Protagonisten geschildert wird, hier ist es Allerseelen im Jahre 1938, Dia de Muertos, einer der wichtigsten Feiertage in Mexiko. Weitere Gemeinsamkeiten sind eine nur rudimentär vorhandene Handlung sowie die Erzählweise als Bewusstseinsstrom, also als eine ungeordnete Folge von Gedankenfetzen und spontanen Wahrnehmungen. Diese oft eruptiv aufscheinenden und damit auf den Titel verweisenden Erinnerungsfetzen sind hier scheinbar willkürlich aneinander gereiht und zusätzlich mit einer Fülle von häufig fremdsprachigen Zitaten angereichert. Zwischen dem Autor und seiner Hauptfigur gibt es biografische Parallelen, beide sind Alkoholiker mit gescheiterten Ehen, und wie der Autor soll auch sein tragischer Held auf Wunsch seiner Frau mit ihr in Kanada in einer einsamen Blockhütte am See leben. Lowry selbst hatte die vierte Fassung seines Romans nach zehn Jahren Schreibarbeit 1947 in einer solchen einfachen Squatterhütte in der Nähe von Vancouver fertig gestellt.

Ort des Roman-Geschehens ist Cuernavaca, die Stadt des ewigen Frühlings, wie Alexander von Humboldt sie des milden Klimas wegen genannt hat, titelgebender und von dort aus ständig sichtbarer Vulkan, ein leitmotivisch häufig verwendetes, drohendes Symbol, ist der 5452 Meter hohe Popocatepetl. In einem vorspielartigen ersten Kapitel unterhalten sich ein Regisseur und ein Arzt über das tragische Schicksal des alkoholkranken britischen Ex-Konsuls Geoffrey Firmin, der im Roman fast ausschließlich ‹der Konsul› genannt wird. Der lebte nach der Scheidung von seiner Frau Yvonne, einer ehemals erfolgreichen Filmschauspielerin, ziel- und tatenlos vor sich hin. Bis vor genau einem Jahr – und damit beginnt der eigentliche Plot – seine Ex-Frau plötzlich aus den USA anreiste. In einem letzten Versuch will sie ihm aus seiner Säuferkarriere heraushelfen und in eine – alkoholfreie – Wildnis Kanadas locken. Am Dia de Muertos kommt auch sein jüngerer Halbbruder Hugh von einer Reise zurück, ein dem Sozialismus zugeneigter Journalist mit einer abenteuerlichen Vergangenheit als Musiker und Seemann, der seinen jetzigen Job zutiefst verachtet.

In einem Vorwort betont Malcom Lowry seine Absicht, damit «den Zugang zu diesem Buch zu erleichtern». Und weiter: «Jedenfalls sind diese Seiten nicht gedacht, Ihre Intelligenz zu kränken. Sie zeigen vielmehr, dass an mancher Stelle der Autor die seine in Frage stellt». Sein Buch sei «auf zahlreichen Ebenen geschrieben», es sei «eine Prophetie, eine politische Warnung, ein Kryptogramm, ein irrer Film, ein Menetekel, eine Wandparole». Was wir lesen in diesem Roman sind unzählige Einzelszenen aus dem Leben des Konsuls, wechselweise erzählt aus den Perspektiven der drei Protagonisten. Wobei Vieles in einer üppigen Symbolik versteckt ist, zu der das Riesenrad auf dem Fest gehört, mit dem man sinnlos immer an der gleichen Stelle vorbeikommt, ebenso die verwilderten Gärten als ewige Verlierer im Kampf mit der grandios geschilderten Natur. Als der Konsul irgendwo gefragt wird, warum er hier eigentlich stehe, erklärt er nonchalant: «Da die Welt sich dreht, warte ich hier so lange, bis mein Haus vorbeikommt».

Die selbstzerstörerische Höllenreise des versoffenen Konsuls steht stellvertretend für das Unvermögen eines aus den Fugen geratenen, ebenso trunkenen Kapitalismus. In dieser großartigen Parabel wird eindringlich ein erschreckendes Bild der neurotischen Aspekte einer modernen Welt vermittelt. Aber die scheint hundert Jahre später, das heutige Mexiko mit ungebremster Korruption, Drogenkartellen und Migrationsthematik zeugt davon, keinen Deut besser zu sein. In der Tat, dieser halluzinatorische Sturzbach von Erinnerungen eines notorischen Trinkers ist nicht leicht zu lesen, – aber es lohnt sich, und zwar in jeder Hinsicht!

Fazit: erstklassig

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Genre: Roman
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Metropol

Geistige Wegbereiter der DDR

Acht Jahre nach seinem erfolgreichen Debütroman ist nun von Eugen Ruge mit «Metropol» ein Prequel erschienen, der nach dem berühmten Moskauer Hotel benannte Roman geht seiner DDR-Saga zeitlich voraus und behandelt die stalinistischen Säuberungen von 1936/37. Die Erzählung wird durch einen Prolog eingeleitet, in dem der in Russland geborene Autor berichtet, auf welch unglaublich kompliziertem Weg er zu den Kopien der Kaderakte seiner Großmutter Charlotte gekommen ist, 246 Blatt handschriftlich durchnummeriert, als ‹Streng geheim› klassifiziert und mit ‹Aufgehoben› übergestempelt. Diese Unterlagen sind Grundlage seiner Geschichte, über deren auf Fakten beruhenden und fiktional kräftig angereicherten Erzählstoff er im Klappentext erklärt: «Die wahrscheinlichen Details sind erfunden, die unwahrscheinlichsten aber sind wahr». Und das trifft auch gleich auf den Prolog zu, in dem man auf knapp vier Seiten beispielhaft ablesen kann, woran der Kommunismus letztendlich gescheitert ist, – an seiner grotesken Bürokratie nämlich, der Charlotte ihr eher unwahrscheinliches Überleben verdankt.

Auf der Flucht vor den Nazis ist die überzeugte, linientreue Kommunistin mit ihrem Lebensgefährten Wilhelm nach Moskau emigriert, sie ist dort unter dem Decknamen Lotte Germaine für den Nachrichtendienst der Komintern tätig, der Weltorganisation der kommunistischen Parteien, und Wilhelm arbeitet als Agent für deren Geheimdienst. Als während der stalinistischen Säuberungen einem ihrer Bekannten als Volksfeind der Prozess gemacht wird, geraten auch sie ins Visier des NKWD, der allmächtigen, an kein Gesetz gebundenen politischen Polizei. Sie werden vom Dienst suspendiert, müssen ihre Wohnung verlassen und werden ins Hotel Metropol eingewiesen. Dort verbringen sie wartend 477 Tage, ohne Verhör, ohne Anklage, ehe dann völlig überraschend ihre Ausreise nach Frankreich verfügt wird. Neben Charlotte gibt es mit Hilde, der ersten Frau von Wilhelm, die als Sekretärin arbeitet für einen hohen Funktionär mit direktem Draht zu Stalin, einen abwechselnd erzählten zweiten Handlungsstrang. Hilde hat Charlotte denunziert, hat jedoch weniger Glück als sie. In größeren Abständen wird in einem dritten Strang schließlich von Wassili Wassiljewitsch Ulrich erzählt, dem mächtigen Vorsitzenden der Moskauer Schauprozesse, der während dieser Terrorzeit mehr als 30.000 Todesurteile unterzeichnet hat.

Letzteres erfährt man aus dem Epilog, diesem zusammen mit dem Prolog außerhalb des Romans stehenden Rahmentext, wo näher erläutert wird, wie das Buch entstanden ist, welche Ergebnisse die umfangreiche Recherche von Eugen Ruge erbracht hat und welches Schicksal die einzelnen Figuren dann tatsächlich erlitten haben, soweit das bekannt geworden ist. Der Fokus jedoch liegt auf Charlotte, der dreizehn von zwanzig Kapiteln des Romans gewidmet sind. Die eineinhalb Jahre im Hotel Metropol, in dem auch der Richter Ulrich residiert, erscheinen als beklemmende Zeit voller Angst und böser Ahnungen, niemand traut mehr irgendwem, man bespitzelt sich gegenseitig und denunziert den anderen, es herrscht grenzenlose Willkür. In der kommt es dann auch zu unkalkulierbar grotesken Zufällen, wie das aus einer Laune heraus gefällte Todesurteil für Hilde exemplarisch belegt.

Der Mikrokosmos der Hotels Metropol, in dem kurzzeitig auch Lion Feuchtwanger als willfähriger Prozessbeobachter direkt neben Charlotte und Wilhelm wohnt, wird hier atmosphärisch dicht, aber leider nicht ganz klischeefrei beschrieben. Besonders aufschlussreich sind die Passagen, in denen die Psyche der diversen Akteure mit ihrer ständigen Angst, vielleicht als nächster abgeholt zu werden, durchaus stimmig geschildert wird, oft im Stil der erlebten Rede. Eugen Ruge füllt hiermit eine Lücke, die deutschen Kommunisten in Moskau als geistige Wegbereiter der DDR werden literarisch hierzulande ja eher selten thematisiert. Insoweit ist dieser Roman wichtig und als bereichernde Lektüre unbedingt zu empfehlen.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Rowohlt

Ich bin dir halt ein bißchen zu revolutionär

„Ich bin dir halt ein bißchen zu revolutionär“

Briefwechsel zwischen Hannah Arendt und Dolf Sternberger

„Ich bin Dir halt ein bißchen zu revolutionär“  ist der dokumentierte Briefwechsel zwischen Hannah Arendt und Dolf Sternberger, der in Buchform von Udo Bermbach herausgegeben wurde.

Da dieser Artikel immer mehr Raum, Seiten und Wörter einnahm, habe ich daraus nun eine Kurzrezension und einen längeren Artikel zum Buch geschrieben. Der längere Artikel unterscheidet sich insofern, dass er zusätzlich einen Überblick über die Lebensläufe von Hannah Arendt, Dolf Sternberger und Udo Bermbach beinhaltet, kurz auf die Essays eingeht und Zitate enthält.

„Ich bin dir halt ein bißchen zu revolutionär“

Das Buch ist in folgende Teile gegliedert.

Hannah Arendt und Dolf Sternberger: Eine Freundschaft
Briefwechsel 1946 – 1975
„Organisierte Schuld“ von Hannah Arendt
„Konzentrationsläger“ von Hannah Arendt
„Rede an die Freunde“ von Dolf Sternberger
Anhang (Personenregister, Lebenslauf Hannah Arendt und Dolf Sternberger, Bildnachweis)

Bevor ich näher auf den Inhalt eingehe, möchte ich die Lebensläufe von Hannah Arendt, Dolf Sternberger und Udo Bermbach ein wenig näher betrachten und die Gemeinsamkeiten herausfiltern. Im Anschluß werde ich zwei oder drei wichtige Punkte des Briefwechsels versuchen, herauszuarbeiten.

Hannah Arendt (1906-1975)

Hannah Arendt gehört zu den wichtigsten Philosophinnen des 20. Jahrhunderts. Gerade in der heutigen Zeit werden ihre Werke zur Theorie der totalen Herrschaft viel gelesen.

Dolf Sternberger (1907-1989)

Dolf Sternberger wurde als Adolf Sternberger geboren, legte das A aber schon vor der Machtergreifung der Nazis ab.

Er lernte Hannah Arendt kennen, als er 1927 von der Universität Kiel, über Frankfurt zu Karl Jaspers nach Heidelberg wechselte.

Die „Die Wandlung“Die Zeitschrift Die Wandlung erschien von November 1945 bis Herbst 1949 monatlich. Sie wurde Karl Jaspers, Dolf Sternberger, Werner Krauss und Alfred Weber gegründet.

In „Die Wandlung“publizierten Berthold Brecht, Thomas Mann, Martin Buber, Carl Zuckmayer, T. S. Elliot, N. H. Anden, Jean Paul Sartre, Albert Camus und viele weitere.

Udo Bermbach (geb. 1938)

Udo Bermbach war Assistent bei Dolf Sternberger. Von 1971 bis 2001  war er Professor für Politische Theorie an der Universität Hamburg.

Zum Briefwechsel – oder –
Was verbindet Hannah Arendt mit Dolf Sternberger

Dolf Sternberger schrieb nach dem Krieg am 31.05.1946 den ersten dokumentierten Brief an Hannah Arendt.

In der Zeit von 1948 bis 1975 trafen sich die Beiden mehrfach, entweder in Deutschland oder in den USA.

In beider Werke spielen Aristoteles, Heinrich Heine, Niccolo Machiavelli und Augustinus eine große Rolle.

Keineswegs einig waren sich die beiden Freunde in der Beurteilung Heideggers und seiner Philosophie. Sicherlich lag das auch daran, dass Dolf Sternberger nicht darüber hinwegsehen mochte, dass sich Heidegger zum Nationalsozialismus bekannt hatte und Dolf Sternberger seine jüdische Frau nur mit großer Mühe, Glück und der Hilfe Alexander Mitscherlichs vor der Deportation retten konnte.

Hannah Arendt hatte die Größe die Person Heidegger und seine Philosophie getrennt betrachten und bewerten zu können.

Aus den Briefen ist auch zu entnehmen, dass das Ehepaar Sternberger einige Pakete mit begehrten Waren nicht nur für sich selbst, sondern auch für Freunde auf postalischem Weg überreicht bekam.

Sicherlich mag es zwischen Hannah Arendt und Dolf Sternberger Freundschaft, aber doch ein wenig eine ungleiche Beziehung, gewesen sein. Beim Lesen der Briefe fällt auf, dass Dolf Sternberger, der Forderndere war. Er wollte, dass Hannah Arendt mehr Artikel für „Die Wandlung“ schriebe und eine redaktionelle Rolle bei „Der Wandlung“ einnähme. Hannah Arendt lehnt das ab.

Zu den Essays von Hannah Arendt und der Rede von Dolf Sternberger

Von Hannah Arendt wurden insgesamt sechs Essays in „Die Wandlung“ veröffentlicht, die 1948 vom Springer Verlag unter dem Titel „Sechs Essays“ veröffentlicht wurde.

In „Ich bin dir halt ein bißchen zu revolutionär“ wurden die Essays „Organisierte Schuld“ und „Konzentrationsläger“ und eine Rede Dolf Sternbergers aufgenommen.

Ausführlicherer Beitrag zu „Ich bin dir halt ein bißchen zu revolutionär“

Meine Schlussgedanken „Ich bin dir halt ein bißchen zu revolutionär“

Die Herausgabe dieses Briefwechsels zwischen Hannah Arendt ist  eine Ergänzung des bisherigen Materials über die großartige Philosophin und ihre freundschaftlichen Beziehungen.

Für jeden, der an der Nachkriegszeit, Hannah Arendt, Dolf Sternberger oder an Philosophie überhaupt interessiert ist, ist dieser Briefwechsel lesenswert. Vor allem lässt sich aus diesen Briefen herauslesen, welch große Bedeutung Hannah Arendt schon damals hatte.

Bemerkenswert ist sicherlich auch, dass man in den Briefen vergeblich nach einem „Gespräch“ über die Zeit im dritten Reich sucht. Wahrscheinlich wollten beide dieser Zeit nicht noch mehr Raum zugestehen.

Udo Bermbach ist es gelungen, diesen Briefwechsel in Buchform mit ausführlichem Zusatzmaterial, wie den Essays, den Lebensläufen und einer lesenswerten Einleitung herauszugeben. Das Schönste sind die zahlreichen Bilder! Es handelt sich um ein bereicherndes Dokument der Zeitzeugen!

Vielen Dank!


Genre: Biographien, Briefe, Memoiren
Illustrated by Rowohlt

Hawking

Oder
das Leben Stephen Hawkings als Graphic Novel

 

„Hawking“ stellt das Lebenswerk von Stephen Hawking mit passenden und ansprechenden Zeichnungen von Leland Myrick, die von Rachel Polk koloriert wurden und Texten von Jim Ottaviani, aus dem Englischen übersetzt von Ebi Naumann, vor.

Das Duo Ottaviani und Myrick veröffentlichte im Mai 2013 schon ein Graphic Novel über Richard Feynman. Die Physik und ihre Stars liegen den beiden am Herzen.

Stephen Hawking ist für mich schon seit vielen Jahren mein Idol, Held und großes Vorbild. Vor allem, wie er mit seiner Behinderung umging, fand ich bemerkenswert. Er war ein Mann, der immer ein Lächeln auf den Lippen hatte, mit dem er die Menschen für sich gewann. Ich liebe seine Auftritte in „Big Bang Theory“ oder das Pokerspiel mit Isaac Newton, Albert Einstein und Data auf dem Holo Deck der Star Treck Serie. Das Pokerspiel findet ihr auf meiner Youtube Playlist am Ende des Beitrags.

Als ich das Graphic Novel „Hawking“ entdeckte, dachte ich sofort, das hätte ihm gefallen. Ich ging mit gemischten Erwartungen an die Lektüre. Ich kannte zwar einige Graphic Novels aus dem Fantasybereich, aber funktioniert das auch mit einer Biographie?

Hawking Ottaviani graphic novel schwarze Löcher

Was steckt hinter dem Begriff Graphic Novel?

Ich hatte eigentlich gar keine Ahnung, was wirklich hinter dem Begriff Graphic Novel steht. Kann man Graphic Novel als Comic für Erwachsenen bezeichnen? War es so einfach? Beim Recherchieren fand ich die Informationsseite von Graphic Novel und folgende Erläuterung:

„Graphic Novels gehören der literarischen Gattung der Comics an und erzählen ihre Geschichten mit den Mitteln desselben. Graphic Novels sind, vergleichbar mit Romanen, längere, komplexere Geschichten von mehrteiligem Aufbau. Sie sind in sich abgeschlossen. Das unterscheidet sie von beispielsweise Comicserien, die von vornherein ganz anders, eben auf die serielle Erscheinungsweise, angelegt sind. Graphic Novels können allerdings, genau wie Romane, mehrere Bände umfassen.“

https://graphic-novel.info/was-sind-graphic-novels/

Also gut, ein Roman in Form eines Comics. Ich war gespannt.

Das Cover

„Hawking“ hat auch Hawking auf dem Cover. Das gefällt mir sehr gut. Jeder interessierte Leser kann sofort entscheiden, ob ihm diese Art an Zeichnung, bzw. der individuelle Zeichenstiftstil gefällt. Ich finde den Stil frech und humorvoll. Das passt gut.

Stephen Hawking wird genauso dargestellt, wie man ihn von Fotos und Filmen kennt. Man identifiziert die Zeichnung sofort mit ihm.

hawking schrödingers Katze
Wer hat noch nicht von Schrödingers Katze gehört?

 

„Hawkings Leben in Bildern“

„Hawking“ beginnt mit einer Wette: Gibt es Leben auf anderen Planeten? Hawking wettete, dass es das gibt. Schade, dass er nicht mehr beweisen konnte, ob er richtig liegt.

Für ihn war es ein Zeichen, dass er genau auf den Tag 300 Jahre nach Isaac Newtons Tod zur Welt kam. Immerhin ist es ihm gelungen, den Lucasischen Lehrstuhl zu übernehmen. Und endlich erfahren wir auch, warum Stephen Hawking so ein begnadeter Astrophysiker wurde. Auf Isobel Hawkings Nachttisch lag während der Schwangerschaft ein Astronomieatlas? Ach, wenn es doch so einfach wäre.

Aus Stephen Hawkings Privatleben werden Stationen der Kindheit und Jugend, der Verlauf der Krankheit ALS, seine Ehe, die Kinder, die Scheidung und die erneute Heirat sachlich nüchtern, ohne es zu bewerten, gezeigt. Auch die Jahre, in denen die Familie Hawking mit finanziellen Schwierigkeiten zu kämpfen hatte, werden beschrieben.

Aber den größten Teil des Graphic Novels nimmt die Wissenschaft der Theoretischen Physik und die Astrophysik, Hawkings Lebenswerk ein.

Der Leser findet am Ende des Buches einen Nachweis über Bücher und Videos und ein Verzeichnis über die Aufsätze, das chronologisch angelegt ist. Kurz und gut – die Lektüre dieser Aufsätze

„für den Fall, dass Sie die Entwicklung der Ideen im Verlauf der (Raum-)Zeit verfolgen wollen – wird Ihnen, falls Sie sie in der U-Bahn lesen, den Anschein absoluter Hochgelehrtheit verschaffen.“

“Hawking” Seite 302

Mein Fazit zu “Hawking”

Ich bin sehr an Zukunftstechnologien, moderner Physik, vor allem Quantentheorie und allem, was dazu gehört, interessiert. Ich besitze fast alle Bücher Stephen Hawkings und natürlich las ich auch darin und sicherlich habe ich nur Weniges wirklich verstanden, aber ich weiß jetzt, um so viel mehr, was ich nicht weiß. „Hawking“ hat mir mittels dieser Art der Übermittlung – das visuelle Gedächtnis funktioniert bei mir besser, als wenn ich nur Buchstaben lese oder etwas höre – wirklich den einen oder anderen Sachverhalt deutlicher gemacht.

Stephen Hawking starb am 14. März 2018 und erlebte die Veröffentlichung des Graphic Novels nicht mehr. Umso schöner, dass Jim Ottaviani und Leland Myrick von Stephen Hawking am 4. Juli 2012 empfangen wurden und er das Projekt „absegnete“.

Comicartig werden nicht nur die einzelnen Stationen aus Stephen Hawkings Leben dargestellt, wobei der Schwerpunkt auf dem wissenschaftlichem Teil liegt, sondern der Leser erhält zudem einen Abriß der Geschichte der modernen Physik. Von Benjamin Franklin über Isaac Newton, Albert Einstein, Carl Sagan, bis zu Richard Feynman, Roger Penrose und Stephen Hawking. Es macht Freude Wissenschaftsgeschichte auf diese Weise präsentiert zu bekommen.

Das Buch zeigt auch die Dynamik der Erkrankung ALS, wie die Krankheit zu Beginn seines Studiums diagnostiziert wurde, wie er während seines Aufenthalts in Cern, wegen eines lebensnotwendigen Luftröhrenschnitts, die Fähigkeit zu sprechen verlor. Leser wird wieder einmal klar, was für ein herausragender Mensch Stephen Hawking war, nicht nur, weil er den Menschen einen riesigen Erkenntnisfortschritt lieferte, sondern auch, weil er, trotz seiner bestimmt nicht leichten Beeinträchtigungen, nie die Freude am Leben und den Humor verlor. Er hat den Menschen das Universum, verpackt in einer Nussschale, näher gebracht. Wenn du nähere Information möchtest, besuche die offizielle Website.

Dieses Buch gefällt mir gut. Es passt zu Stephen Hawking und ich kann mich nur noch den Anmerkungen des Verfassers anschließen!

„{…} In unserem Gedächtnis ist er noch immer sehr lebendig. Möge dieses Buch dazu beitragen, dass er das auch bei Ihnen bleiben wird.“

“Hawking” Seite 302

Hier findest du eine Playlist mit passenden Beiträgen auf Youtube.

 

Links zum Buch

Graphic Novel

Die offizielle Stephen Hawking Website

Mehr darüber bei Rowohlt Verlag


Genre: Comic, Graphic Novel
Illustrated by Rowohlt

Traum von China

Satirische Dystopie

Der neue Roman des chinesischen Schriftstellers und Dissidenten Ma Jian trägt seinen Titel «Traum von China» nach einer Losung von Xi Jinping, dem Präsidenten des asiatischen Riesenreichs, die sogar offiziell Eingang in die Verfassung gefunden hat. Sie zielt darauf ab, den «Schlafenden Löwen» China zur Weltmacht aufsteigen zu lassen und letztendlich auch die kommunistische Weltherrschaft zu erringen. Der seit zwanzig Jahren in London lebende und als berühmtester Exilautor seines Landes geltende Ma Jian wird als literarisches Pendant zu Ai Weiwei bezeichnet, dem weltbekannten Konzeptkünstler. Der hatte ihm bei einer Begegnung freundlich angeboten, das Cover für sein neues Buch zu gestaltet, – welche Ehre für Autor und Buch! Mit der Widmung «Für George Orwell, der alles vorausgesagt hat» wird deutlich darauf hingewiesen, dass es sich hier um eine Dystopie handelt, – also eher Albtraum als Traum! Aber keine Sorge, auf den Leser wartet keine niederschmetternde Schreckensvision, es handelt sich um eine köstliche Satire bei diesem Roman, es gibt bei allem Horror also auch viel zu schmunzeln.

«In dem Moment, da Ma Daode, der Direktor des neugeschaffenen Traum-von-China-Amts, aus seinem Schlummer erwacht, stellt er fest, dass sein jugendliches Ich, von dem er eben noch geträumt hat, nicht verschwunden ist, sondern direkt vor ihm steht». In diesem ersten Satz steckt bereits die Problematik dieses Mannes, denn er hat für nichts weniger als dafür zu sorgen, dass ein kollektives Gedächtnis das individuelle jedes einzelnen Chinesen ersetzt. Eine schwierige Aufgabe, wie er an seinen eigenen Gedanken merkt. Denn die holen ihn aus seiner privilegierten Gegenwart als hoher Beamter mit repräsentativem Büro, zu dem auch ein Schlafzimmer mit Privatbad gehört, immer wieder ungewollt in die Vergangenheit zurück. Sie erinnern ihn an die Gräuel der von Mao Tse-tung ausgelösten Kulturrevolution. Er gehörte damals zu den Roten Brigaden, die Schrecken und Terror verbreitet haben, mit unzähligen Toten. Schon damals ging es darum, einen neuen Menschen zu schaffen, nun soll, mehr als vier Jahrzehnte später, durch die Traum-von-China-Bewegung die Vergangenheit komplett verdrängt werden, um das neue China zu schaffen. Dazu sind von seinem Amt viele verschiedene Maßnahmen geplant, erläutert Ma Daode in einer Sitzung der beteiligten Behörden, «… außerdem werden wir mit der Arbeit an einem Neuroimplantat beginnen, dem sogenannten Traum-von-China-Chip, der die privaten Träume der Menschen durch den kollektiven Traum von China ersetzen wird».

Der Plot des Romans schildert vordergründig die bevorstehende Räumung eines armseligen Dorfes, das als Bauland benötigt wird für eine Industrieansiedlung. Die Bewohner kämpfen mit allen Mitteln dagegen an, auch der Leiter des Traum-von-China-Amts vermag sie nicht von einer besseren Zukunft zu überzeugen. Viel Raum im Roman nimmt außerdem das ausufernde Liebesleben des Protagonisten ein, er hat unzählige Geliebte, die er demnächst auf zehn zu begrenzen gedenkt, eventuell sogar nur auf fünf, – der besseren Übersicht wegen. Das Narrativ wird durch häufige Rückblenden beherrscht, welche, als Bewusstseinsstrom erzählt, die Gedankenwelt von Ma Daode abbilden, mit den Schwerpunkten Politik und Weiber. Sprachlich dürfte die zweifache Übersetzung Chinesisch-Englisch-Deutsch dem Roman allerdings geschadet haben, brillant geschrieben ist er jedenfalls nicht.

Mit dem Mittel des schwarzen Humors prangert der Autor sarkastisch den Überwachungsstaat in seiner Heimat an, der seine Ziele mit methodischer Desinformation und brutaler Unterdrückung Andersdenkender zu erreichen sucht. «Ein Volk, das sich seiner Geschichte nicht erinnert, ist dazu verurteilt, sie erneut durchleben zu müssen», hat George Santayana dazu geschrieben. Daran wird auch das kommunistische China letztendlich scheitern, dieser zwischen viel Realität und sparsam eingesetzter Dytopie angesiedelte Roman gibt einen Vorgeschmack darauf.

Fazit: lesenswert

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Rowohlt

Jeder stirbt für sich allein

Mehr Helligkeit hätte Lüge bedeutet

Nomen est omen beim Pseudonym Hans Fallada, der abgeschlagene Pferdekopf des Grimmschen Märchens ist Wahrheitskünder ebenso wie der Schriftsteller Rudolf Ditzen selbst, dessen letzter Roman «Jeder stirbt für sich allein», nach einem grandiosen Comeback im Ausland, 2011 auch in Deutschland wiederentdeckt wurde. Mit seinen realistisch-nüchternen Werken gilt Fallada als typischer Vertreter der Neuen Sachlichkeit, die im vorliegenden Roman den Widerstand gegen das NS-Regime nicht auf der Ebene der Eliten, sondern aus der Masse der kleinen Leute heraus behandelt. Die neue, ungekürzte Originalfassung des 700-Seiten-Romans, den der Autor kurz vor seinem Tode in nur vier Wochen niederschrieb, erscheint nun derber, widerborstiger, und damit auch authentischer als die zensierte Erstausgabe von 1947. Seine anfängliche Ablehnung diesem Romanprojekt gegenüber hat Hans Fallada in einem Brief so begründet: «Einmal wegen der völligen Trostlosigkeit des Stoffes: zwei ältere Leute, ein von vornherein aussichtsloser Kampf, Verbitterung, Hass, Gemeinheit, kein Hochschwung». Er hat dann diese und andere Schwierigkeiten aber doch überwunden, es sei ihm «seit ‹Wolf unter Wölfen› wieder der erste richtige Fallada» gelungen, verkündete er frohlockend.

Der Stoff basiert «in großen Zügen» auf der authentischen Geschichte eines Berliner Arbeiter-Ehepaares, das in den Jahren 1940 bis 1942 seine Abscheu gegen das Naziregime durch handgeschriebene Postkarten äußert, die heimlich in belebten Geschäftshäusern der Stadt ausgelegt werden. Nach zweijährigen vergeblichen Ermittlungen kann die Gestapo sie nach einer Denunziation verhaften, beide werden im Zuchthaus Plötzensee hingerichtet. In vier Teilen mit insgesamt 73 Kapiteln entwickelt Hans Fallada daraus seinen Roman eines ohnmächtigen Kampfes gegen das Dritte Reich, beginnend mit den beiden Tätern, deren grenzenlose Wut ausgelöst wird, als sie die Feldpost mit der Todesnachricht von ihrem an der Ostfront kämpfenden Sohn erreicht. Nach und nach führt der Autor immer weitere Figuren in seine Geschichte ein, von der Briefträgerin mit ihrem arbeitsscheuen Mann und der Freundin des toten Sohnes bis zu den Mitbewohnern des Hauses, dem ständig vor der Haustür herumlungernden Denunzianten und Kleinganoven, dem versoffenen Nazi mit den drei gewalttätigen Söhnen, der alten Jüdin im obersten Stockwerk, dem pensionierten Richter. Ein durchaus sympathisch beschriebener Gestapo-Kommissar steht mangels Fahndungserfolg seinerseits unter schlimmen Repressalien durch seine wutschnaubenden Vorgesetzten, aber auch nach einer schmählichen Strafversetzung findet sein Nachfolger die Kartenschreiber nicht, – bis «Kommissar Zufall» hilft.

«Das beste Buch, das je über den deutschen Widerstand geschrieben wurde» schwärmte Primo Levi. Dieser bildstarke Zeitroman, in dem auch die Metropole Berlin eine nicht unwesentliche Rolle spielt, ist allerdings keine große Literatur, sein kitschiges Finale ist geradezu peinlich. Aber er schildert sehr anschaulich die Befindlichkeiten und Ängste seiner manchmal etwas schablonenhaften Figuren, beschreibt deren Leben unter den ständigen Pressionen einer verbrecherischen Diktatur. Zwischen verschiedenen Handlungssträngen wechselnd wird der Spannungsbogen gekonnt aufrechterhalten, auch wenn der Ausgang ja von vornherein bekannt ist.

Mit seiner Schilderung der existentiellen Nöte des weitaus größten Teils der deutschen Bevölkerung im Tausendjährigen Reich, die zumeist nur Resignation und stille Duldung ausgelöst haben, bestenfalls passiven Widerstand, hat Hans Fallada einen wichtigen Beitrag zur Kahlschlag-Literatur nach dem Zweiten Weltkrieg geleistet. In seinem Vorwort schreibt er entschuldigend: «Etwa ein gutes Drittel dieses Buches spielt in Gefängnissen und Irrenhäusern, und auch in ihnen war das Sterben sehr im Schwange. Es hat dem Verfasser oft nicht gefallen, ein so düsteres Gemälde zu entwerfen, aber mehr Helligkeit hätte Lüge bedeutet».

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Rowohlt

Der traurige Gast

Als Leser in der Titelrolle

Mit «Der traurige Gast» spielt der neuen Roman von Matthias Nawrat im Titel auf das Gedicht «Selige Sehnsucht» an, das zu den «geheimnisvollsten der lyrischen Gedichte Goethes» gehört und interpretatorisch einige Schwierigkeiten bereitet. Dieser Roman stellt seine Leser in gleicher Weise vor Probleme, auch hier ist eine Hürde der Gelehrsamkeit zu überwinden, um an seinen poetologischen Kern vorzustoßen und sich an dem Erzähltalent seines Autors erfreuen zu können, der darin kühn nichts Geringeres als den Weltschmerz thematisiert.

In drei Teilen mit vielen kurzen Kapiteln erzählt der Autor getreu dem Goetheschen Sinnspruch «Stirb und werde!» von der Krise des Subjekts in der Gegenwart, man schreibt das Jahr 2016. Der in Berlin wohnende Ich-Erzähler, Schriftsteller natürlich, autofiktional geprägt also, gehört dem Typus des Flaneurs an, er streift aufmerksam beobachtend durch die Großstadt, in die es ihn nach seiner Emigration aus Polen über einige Zwischenstationen schlussendlich verschlagen hat. Man erfährt kaum etwas über ihn, er ist verheiratet, kinderlos und lebt von seiner Schriftstellerei, scheint sich aber in einer Art Schreibblockade zu befinden, denn er hat alle Zeit der Welt zu Streifzügen durch die Metropole. Diese Figur fungiert als überwiegend zuhörender Gesprächspartner, als lethargischer Stichwortgeber zumeist für die eigentlichen Protagonisten, deren erste die Architektin Dorata ist, eine faszinierende, äußerst skurrile Intellektuelle. Sie stammt wie der namenlose Ich-Erzähler aus dem polnischen Opole, und der eigentliche Grund ihres Zusammentreffens, die Umgestaltung seiner Wohnung nämlich, tritt sehr schnell völlig in den Hintergrund, wird schließlich vollends vergessen. Denn Dorata, die kaum noch aus dem Haus geht und ihren Stadtteil niemals verlässt, erzählt mehr oder weniger ihr ganzes, ereignisreiches Leben, berichtet von den philosophischen Erkenntnissen, zu denen sie mit den Jahren gekommen ist. Überraschend endet dieser erste Teil abrupt mit ihrem Suizid.

In einer Art Zwischenspiel werden dann im zweiten Teil «Die Stadt» sensibel erfasste Gegenwartserlebnisse und Alltagsbetrachtungen beschrieben, bevor unter der Überschrift «Der Arzt» im dritten Teil mit Dariusz wieder eine Person im Fokus steht, ein Chirurg, dem wegen Alkoholismus die Approbation entzogen wurde und der nun als Kollege des Ich-Erzählers an einer Tankstelle arbeitet. Mit ihm erweitern sich auch die geografischen Radien der Geschichte, er erzählt nämlich in einem weiten Bogen von seiner Reise auf den Spuren seines in Mexico bei einem Badeunfall umgekommenen Sohnes. In viele dieser der Erinnerung gewidmeten, allzu eintönig monologisch erzählten Abschnitte baut Matthias Nawrat immer wieder die Gegenwart mit ein, und zwar in Form von kurzen Alltagsbegebenheiten im geradezu sezierend scharfen Blickfeld seines emphatischen Helden.

Es ist ein weites Feld, das da bearbeitet wird, denn Leben und Tod sind die großen Themen. Dabei wechseln sich das Schicksal der Kreatur und seine deprimierende Bedeutungslosigkeit angesichts der Geschichte mit dem belanglos Alltäglichen ab. Letzteres wiederum ist allenfalls für das Individuum selbst relevant, das schlussendlich aber auch nichts anderes ist als kompliziert zusammengesetzte, belebte Materie, deren Aggregatzustand jederzeit wandelbar ist, «Asche zu Asche, Staub zu Staub». Die philosophische Vermischung von Einzelschicksalen mit der historischen Wirklichkeit insbesondere der Immigranten ergeben in diesem Roman ein Bild der Gegenwart, dessen erschreckende Brüche ebenso unvermeidbar erscheinen wie rätselhaft. Als Identitätssuche angelegt scheitert er jedoch, weil er zu viel auf einmal will und sich im Geäst seiner ambitionierten Reflexionen hoffnungslos verheddert. Und so ist der Leser bei seiner Lektüre insoweit auch nur «der traurige Gast», wird aber gut unterhalten und zuweilen sogar kognitiv bereichert.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Rowohlt

Nacht des Orakels

Paul Auster »Nacht des Orakels«

Paul Auster beschreibt in »Nacht des Orakels« einen Schriftsteller, der nach lebensbedrohender Erkrankung wieder zurück ins Schreiben finden will. Auf einem Spaziergang durch Brooklyn trifft er auf einen kleinen Papierladen, dessen prachtvoll dekorierte Auslagen ihn locken. Er betritt das Geschäft, schaut sich um und entdeckt ein dunkelblaues Notizbuch portugiesischer Provenienz, das ihn anspricht. Nach ein paar Worten mit dem Geschäftsinhaber, einem alten Chinesen, erwirbt er das Büchlein und beginnt schon bald, darin zu schreiben. Weiterlesen


Genre: Erzählung, Romane
Illustrated by Rowohlt

Mephisto

Nur ein ganz gewöhnlicher Schauspieler

Vergeblich hat Klaus Mann, einer der wichtigsten Schriftsteller der Exilliteratur während der Nazidiktatur, immer wieder beteuert, sein 1936 in Holland erschienener «Mephisto» sei kein Schlüsselroman. Außer dem Protagonisten, in dem selbst Laien Gustav Gründgens erkennen, finden sich darin nicht weniger als fünfzehn weitere, nur unzureichend kaschierte Figuren aus dessen Umfeld, die eindeutig zu identifizieren sind. Dazu gehören unter anderem auch Manns berühmter Vater und seine Schwester Erika, die einige Zeit mit Gründgens verheiratet war und für deren Schulfreund er sogar selber Pate stand als Figur. Das Buch löste nach dem Krieg einen Literaturskandal aus, sein Vertrieb wurde 1966 gerichtlich verboten, eine Entscheidung, die fünf Jahre später vom Bundesverfassungsgericht in seiner sogenannten «Mephisto-Entscheidung» bestätigt wurde. De jure war es damit endgültig mit einem Veröffentlichungsverbot belegt. Das wurde de facto dann zehn Jahre später mit einer auf Betreiben von Erika erfolgenden, äußerst erfolgreichen Neuveröffentlichung ignoriert, – nunmehr aber rechtlich unangefochten bleibend als postmortale Ehrverletzung. Der 43jährig in Cannes durch Suizid aus dem Leben geschiedene, unbehauste und bindungsängstliche Klaus Mann war zeitlebens nicht nur durch seinen übermächtigen Vater seelisch vorbelastet, sondern auch durch seine Homosexualität und seine Drogensucht.

Dem charismatischen Schauspieler Hendrik Höfgen gelingt nach einer umjubelten Faust-Inszenierung im Hamburger Künstlertheater, bei der er den Mephisto spielt, der Sprung nach Berlin, und auch dort kann er in seiner Paraderolle brillieren. Als er bei Dreharbeiten in Madrid von der Machtergreifung der Nazis überrascht wird, denen er als junger Kommunist ablehnend gegenübersteht, zögert er wochenlang, nach Deutschland zurückzukehren. Erst als ihm die Folgenlosigkeit seiner kultur-bolschewistischen Jugendsünden möglich scheint, traut er sich wieder nach Berlin zurück. Der Chef der «Werbe-Abteilung» bei den Nazis, der allmächtige Propagandaminister, ist zwar sein erbitterter Feind, Höfgen aber ist als Protegé des zweiten Mannes im Staate, des preußischen Ministerpräsidenten, der im Roman «Der Dicke» genannt wird, nunmehr unangreifbar und legt eine steile Karriere hin, steigt zum Intendanten auf. Auch als seine langjährige SM-Liaison mit der «Schwarzen Venus» aufzufliegen droht, von der er sich als Sklave demütigen lässt, hält der Dicke schützend seine Hand über ihn und sorgt dafür, dass die dunkelhäutige Juliette ihm nicht mehr gefährlich werden kann. Sein kometenhafter Aufstieg in dem verhassten System, mit dem er sich der Karriere wegen arrangiert hat, bedrückt ihn trotz aller Erfolge zusehends. Er fühlt sich minderwertig als ehrloser Nazi-Kollaborateur und ist überfordert von dem moralischen Druck, der auf ihm lastet. Nach einer traumatischen Begegnung, bei der ihm sein zweifelhaftes Verhalten bewusst wird, klagt er am Schluss tränenüberströmt: «Was wollen die Menschen von mir? Warum verfolgen mich alle? Weshalb sind sie so hart? Ich bin doch nur ein ganz gewöhnlicher Schauspieler!»

Diese Charakterstudie eines Karrieristen ist in einer konventionellen, uninspirierten Sprache geschrieben, die von einem Pathos gefärbt ist, welches heute stilistisch als ziemlich altbacken rüberkommt. Gut beschrieben sind die vielen Figuren in einem Theaterbetrieb, den Klaus Mann nur zu gut kannte und dessen Interna dem Leser im wahrsten Sinne des Wortes einen Blick hinter die Kulissen bieten. Inwieweit der Roman neben der politischen Abrechnung mit dem Mördersystem auch eine persönliche Abrechnung des Autors mit seinem Ex-Schwager war, das ist heute kaum noch relevant, der Tipp zu dieser Parabel der Korrumpierbarkeit kam jedenfalls nachweislich von Hermann Kesten. Diskussionsstoff jedoch bietet dieser Roman reichlich, was ja durchaus auch für ihn spricht.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Rowohlt

Der Zeitdieb

Unwiederbringliche, gestohlene Zeit

Im europäischen Vergleich ist Island eine Hochburg der Buchleser, ein fruchtbarer Boden also für die in ihrer Heimat populäre, vielgelesene Schriftstellerin Steinunn Sigurðardóttir. Mit ihrem ersten auf Deutsch erschienenen Roman «Der Zeitdieb» hatte die Autorin auch bei uns großen Erfolg, ihre in verschiedene Sprachen übersetzte Geschichte einer obsessiven Liebe wurde in Frankreich mit prominenten Stars verfilmt. Anders aber als in den üblichen Romanen dieses Genres wird das Thema hier im engen Kontext mit den großen Sinnfragen des Menschseins behandelt, wird Liebe als sinnstiftendes Element unseres Daseins geistvoll hinterfragt.

Alda Ívarsen stammt aus einer bourgeoisen Familie in Reykjavík, ihren Job als Lehrerin betrachtet sie eher als schönes Hobby denn als Berufung oder gar als Broterwerb, die ebenso attraktive wie sinnliche junge Frau ist finanziell unabhängig. «Ich bin zu früh da, denn meine Uhr geht nach» heißt es unter dem Titel «Feierlicher Schulbeginn» flapsig gleich im ersten Satz. Vor der Kirche trifft die Ich-Erzählerin dann auf den neuen Kollegen Anton, der künftig Geschichte unterrichten wird, ein gut aussehender Mann, etwas jünger als sie. Ihr Kollegium überrascht sie anschließend im Lehrerzimmer mit einer Geburtstagstorte, sie ist 37 Jahre alt geworden an diesem 18ten Oktober. Seit einiger Zeit hat die lebenslustige Alda ein Verhältnis mit Steindór, dem Lateinlehrer, der verheiratet ist und drei kleine Kinder hat. Er will unbedingt noch mit zu ihr an diesem Abend, denn sie hat angekündigt, sich von ihm zu trennen, um seine Familie nicht zu zerstören, – was er aber nicht wahr haben will. Am nächsten Morgen findet man ihn tot am Strand, und sie macht sich Vorwürfe, seine Kinder nun doch vaterlos gemacht zu haben. Einige Wochen später, «am kürzesten Tag des Jahres», beginnt zwischen ihr und Anton, dem neuen Geschichtslehrer, eine leidenschaftliche Affäre, die große Liebe, – die dann genau hundert Tage dauert. Am ersten April nämlich geschieht ihr das, was Steindór geschehen ist, sie wird verlassen, und zwar ebenfalls endgültig. War das Rache, waltet da eine überirdische Gerechtigkeit? «Der Abschiedskuss ist seiner Natur nach langgezogen und hat einen salzigen Beigeschmack. Da möchte ich doch lieber den ersten Kuss in Erinnerung behalten», sinniert die Atheistin unbeirrt.

Was diesem ersten Drittel des Romans folgt ist ein in Form innerer Monologe und fiktiver Briefe artikuliertes, endloses Lamento der aus der Bahn geworfenen, fassungslosen Alda. Deren weiteres Leben ist nun von immer neuen, fantasierten Szenarien dessen bestimmt, was gewesen wäre, hätte er sich anders entschieden. Und sie findet in ihren rastlosen Gedankenschleifen – durchaus selbstbewusst – ständig neue Argumente dafür, warum er sich anders hätte entscheiden können, – ja müssen! Sie bleibt allein, von wenigen kurzen Affären abgesehen, Anton war absolut der einzige Mann, für den sie ihre Freiheit je geopfert hätte. Er wird später Kultusminister, sie liest zuweilen in der Zeitung von ihm, sieht ihn aber nie wieder. Die immer noch schöne, selbstbewusste Frau unternimmt häufig ausgedehnte Reisen, ohne dabei allerdings ihre Liebessehnsucht je überwinden zu können.

Aus ironischer Selbstdistanz, schon fast lakonisch, aber immer amüsant erzählt, strömt Aldas Leidensgeschichte in vielerlei Facetten wie ein Redeschwall auf den Leser ein. Wobei besonders nach dem Bruch der Beziehung stilistisch zunächst die lyrischen Elemente dominieren, ehe dann im letzten Drittel allmählich diese wunderbar leichtfüßige, poetische Prosa wiederkehrt. In wie hingehaucht wirkenden, lebensklugen Reflexionen stehen da neben der Liebe das Alter und das Sterben im Fokus. Die inzwischen recht betagte Alma hat hellsichtig vorgesorgt für einen selbstbestimmten Tod und hortet im Nachttisch reichlich Schlaftabletten und Malzbier – zum Runterspülen. Sie wird letztendlich an der unwiederbringlichen, gestohlenen Zeit sterben!

Fazit: erstklassig

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Genre: Roman
Illustrated by Rowohlt