Glücksinsel
Unwillkürlich ist man irritiert, wenn der Name Fukushima statt in einem Sachbuch im Titel eines Romans erscheint. «Heimkehr nach Fukushima» des Schriftstellers Adolf Muschg ist definitiv Belletristik, jüngst erst erschienen, an seinen Erstling «Im Sommer des Hasen» erinnernd, dem Reich-Ranicki unter dem Titel «Gruppe 47 im Kimono» einst eine kritische Rezension gewidmet hat. Schon vor 52 Jahren also ist Japan der Schauplatz eines Romans von ihm gewesen, wen wundert’s, ist der Schweizer doch mit einer Japanerin verheiratet. Nun also widmet er sich thematisch dem starken Erdbeben vom 11. März 2011, dem dadurch ausgelösten Tsunami und dem anschließenden Super-GAU in diesem japanischen Atomkraftwerk.
Der 62jährige Architekt und Schriftsteller Paul Neuhaus erhält von dem ehemaligen Stipendiaten Ken Temna und dessen Frau Mitsuko die Einladung zu einem Besuch in Fukushima, er soll nahe dem Unglücksmeiler eine Künstlerkolonie ins Leben rufen. Der dortige Bürgermeister erhofft sich davon eine mentale Unterstützung für die von der Regierung gewünschte Rückbesiedlung der kontaminierten Gebiete. Ken kann ihn wegen eines wichtigen Termins nicht auf seiner Reise in die verstrahlten Gebiete begleiten, und so reist er mit dessen Frau als Übersetzerin dorthin. Während ihrer mehrtägigen Besichtigungstour mit permanent bedrohlich tickendem Geigerzähler kommt es plötzlich und unvermittelt zu wildem Sex der Beiden, – die sich gleichwohl weiter siezen, eine Referenz an die japanische Schamhaftigkeit. Am Tage vor ihrer Rückreise taucht unerwartet plötzlich Ken auf, der gesundheitlich schwer angeschlagen ist. Ohne Abschied trennen sich am nächsten Tag die Wege von Paul und Mitsu, wie er sie nach dem phonetisch gleichlautenden Roman von Colette nennt. Er aber verbringt vor seinem Rückflug noch einen Erholungsurlaub in einem ruhigen Hotel in Hankone mit Blick auf den Fuji, er will an seinem Buch weiterschreiben. Der sehnlichst erwartete Anruf von Mitsu bleibt aus, doch kurz vor seinem Abflug erscheint sie doch noch im Frühstücksraum des Flughafenhotels. Als Abschiedsgeschenk hat sie die beiden frisch gereinigten Strahlenschutzanzüge bei sich, die sie sich gegenseitig vom Leibe gerissen hatten beim ersten Sex. Sie begleitet ihn noch zum Check-in, dort trennen sie sich dann mit einem rätselhaft wortkargen Abschied, der fast alles offen lässt.
Für das Gegenüber der westlichen und östlichen Kultur, für die tödliche Reaktorkatastrophe und ihre verheerenden Folgen sowie für die wenig emotionale Liebesgeschichte hat Muschg als literarischen Begleiter Adalbert Stifter auserkoren, dessen « Nachkommenschaften» Paul im Handgepäck hat. Daraus streut der Autor dann sehr häufig mehr oder weniger passende Zitate in seinen Text ein. «Adalbert der Langeweiler» hatte Susanne, Pauls auf Trennungskurs befindliche Lebensgefährtin, den ständigen Begleiter genannt, eine wie ich finde zutreffende Beschreibung dessen, was auch so manchen Leser befremden dürfte, zu abseitig sind doch diese altbackenen, biedermeierlichen Ergüsse. Informativ aber sind die Passagen, in denen detailliert die mit scharfem Blick aufgedeckte, hoffnungslose Situation der dauerhaften Unbewohnbarkeit beschrieben wird, ohne ins Fatalistische abzugleiten, während der unsichtbar lauernde Tod von den Japanern mit ihrer rigiden Schamkultur geradezu stoisch ignoriert wird.
Mit klugen Reflexionen über den Menschen und seinen unvernünftigen Umgang mit der Technik wird hier eine Katastrophe thematisiert, wie sie die Menschheit in ihrer unerbittlichen Zeitdimension noch nicht erlebt hat, die sie letztendlich auch weit überdauern wird mit in Jahrtausende berechneten, radioaktiven Zerfallszeiten. Auch wenn nicht alles schlüssig ist in diesem hoch ambitionierten Roman, so ist er doch bereichernd und vor allem so gut erzählt, dass sich die Lektüre lohnt, auch wenn man sich dabei literarisch nicht unbedingt auf einer Glücksinsel befindet, – das nämlich bedeutet «Fukushima» auf Japanisch.
Fazit: lesenswert
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