Alles Licht, das wir nicht sehen

Gute Unterhaltung

Der Roman «Alles Licht, das wir nicht sehen» des amerikanischen Schriftstellers Anthony Doerr wurde von seinen Landsleuten begeistert aufgenommen und erhielt den Pulitzer Prize des Jahres 2015. Die Begeisterung in den deutschen  Feuilletons hielt sich in Grenzen, was daran liegen mag, dass Romane aus dem Zweiten Weltkrieg hierzulande viel häufiger veröffentlich werden und das Thema den meisten Lesern vertraut sein dürfte. Wenn man es nicht wüsste, würde man wohl kaum darauf kommen, dass dieses Buch nicht von einem Deutschen oder Franzosen geschrieben wurde, so vertraut ist einem das Erzählte, so wenig «schimmert» der Amerikaner durch als Autor.

In zwei Haupt-Ebenen wird mit vielen Rückblenden die Geschichte zweier junger Leute erzählt. Da ist zum einen Werner, ein deutscher Waisenjungen aus dem Ruhrgebiet, dessen früh erkannte, technische Begabung für Radiogeräte dazu führt, dass er in eine Nationalpolitische Lehranstalt kommt und später mit strengem Drill zum Spezialisten für die Wehrmacht ausgebildet wird. Im Laufe des Krieges wird er an verschiedenen Orten in den von Deutschland besetzten Gebieten dazu eingesetzt, die mit Rundfunk-Sendern bewerkstelligte Kommunikation feindlicher Partisanen und Spione mittels Peilempfängern aufzuspüren und auszuschalten. In Paris lebt die blinde Halbwaise Marie Laure bei ihrem Vater, der sich rührend um sie kümmert. Er ist als Schlosser im riesigen Nationalmuseum der Hauptstadt tätig und für tausende von Schlüsseln verantwortlich, eine absolute Vertrauensstellung. Als die Nazis auf Paris vorrücken und er emigrieren will, soll er einen ungeheuer kostbaren Diamanten aus dem Bestand des Museums mitnehmen. Von dem sind drei wertlose Duplikate angefertigt worden, die von drei weiteren Vertrauens-Personen ebenfalls in Sicherheit gebracht werden sollen, wobei keiner von ihnen weiß, wem der echte Stein anvertraut wurde.

Marie Laure emigriert mit ihrem Vater nach Saint-Malo an der Atlantikküste zu einem etwas wunderlichen Onkel, der dort mit einer Wirtschafterin in einem fünf Stockwerke hohen Haus zurückgezogen lebt. Er besitzt dutzende von Radioapparaten und hat auf dem Dachboden einen Sender mit einer ausklappbaren Antenne installiert, die man nach dem Betrieb gleich wieder zusammen klappen kann, womit sie für den Feind praktisch unsichtbar bleibt. Nach der Invasion der Alliierten wird Werner mit seinem Team darauf angesetzt, diesen Sender der Résistance aufzuspüren. Den betreibt inzwischen Marie Laure, die ihre Dossiers im Brot versteckt täglich von der Bäckerin bekommt. Genau dorthin wird Werner versetzt, um diesen Spionagesender endlich aufzuspüren. Aber auch ein Edelstein-Experte der Nazis, der dem berühmten Diamanten auf der Spur ist, taucht in Saint-Malo auf und dringt in das Haus ein. Werner hat die ausklappbare Antenne entdeckt, hat Marie Laure kennen und lieben gelernt, kommt jetzt ebenfalls in das Haus und erschießt den Nazi-Schergen.

In dem nie ins Kitschige abgleitenden Plot wird geschickt ein Spannungsbogen aufgebaut, der den Leser bis zum Schluss gefangen hält, Mit einer der Thematik angepassten, nüchternen Sprache werden viele Facetten der Zeit zwischen Frankreichs Besetzung durch Nazi-Deutschland und der Befreiung durch die Alliierten aufgezeigt, was interessant ist, auch wenn man Vieles natürlich schon weiß. Bemerkenswert und erfreulich ist auch die zwischen gut und böse differenzierende Figurenzeichnung, zu der die durchweg stimmigen Dialoge ebenfalls beitragen. Übertrieben und ins Kitschige abgleitend aber sind die vielen Zufälle, die den Plot schon fast in Märchenhafte steigern. Zu denen zählen die geschilderte Sonder-Begabung von Werner ebenso wie die wissenschaftlichen Kenntnisse von Marie Laure über Wasser-Schnecken. Gut unterhalten aber wird man trotzdem, man liest diesen Roman gerne bis hin zum überraschenden Ende!

Fazit:   lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by C.H. Beck München

Seinetwegen

Literarisch ein Zwitter

Das Memoir «Seinetwegen» der Schriftstellerin Zora del Buono befasst sich mit der Leerstelle in ihrem Leben, welche sich aus dem Unfalltod ihres Vaters ergeben hat. Ihr Buch wurde für den Deutschen Buchpreis 2024 nominiert und in den Feuilletons positiv kommentiert. Der 33 Jahre alte Radiologe am Kantonsspital in Zürich, Dr. med. Manfredi del Buono, starb am 18. August 1963 im Alter von 33 Jahren und hinterließ seine Frau und Zora, seine acht Monate alte Tochter. In ihrem erzählenden Sachbuch berichtet die inzwischen sechzigjährige Autorin reportageartig im Präsenz von ihren Recherchen über den Unfall-Verursacher und über die Veränderungen, die gleichzeitig dabei mit ihr geschehen.

Die Mutter wie auch die Tochter haben kaum je über den Vater gesprochen. Und nun ist es zu spät, die demente Mutter ist in einem Pflegeheim und erkennt oft nicht mal mehr die eigene Tochter. Außer einem kritischen, ziemlich umfangreichen Leserbrief, der sich über das unglaublich geringe Strafmaß empört, findet sie bei ihrer Mutter nichts Schriftliches, das sie weiterbringen könnte. Der 28jährige Unfallverursacher, den die Autorin anfangs mit E. T. umschreibt, hatte in einem billig erworbenen, alten Chevrolet auf einer Landstrasse in der Nähe der Schweizer Kantons-Hauptstadt Glarus einen Heuwagen überholt. Dabei hatte er den entgegen kommenden VW-Käfer übersehen, in dem ihr Onkel am Steuer saß und ihr Vater als Beifahrer. Der «Töter», wie Zora den Unfallverursacher bezeichnet, war voll geständig, er wurde wegen fahrlässiger Tötung zu zwei Jahren auf Bewährung und zu 200 Franken Geldstrafe verurteilt.

Was ist aus E. T. geworden, fragt sich die Ich-Erzählerin. Lebt er noch, inzwischen 88jährig? Hat er je Kontakt zu seinem «Opfer» gesucht? Wie ist er ein Leben lang mit dieser schweren Schuld umgegangen? Je mehr sie über den «Töter» erfährt, desto erschreckender wird ihr bewusst, dass sie herzlich wenig über ihren Vater weiß. Von ihm existieren zwar einige auch im Buch abgedruckte Fotos, aber was für ein Mensch er war über das rein Berufliche hinaus, das bleibt für immer im Dunkeln. Aber auch die Fakten geben Rätsel auf. Der alte Chevrolet hatte 2200 Franken gekostet und war kurz vor dem Unfall für über 4600 Franken in der Werkstatt, woher hatte der junge Mann so viel Geld? Und warum waren trotz Werkstattbesuch die Reifen völlig abgefahren und die Bremsbeläge bis auf die Nieten herunter verbraucht? Der überholte Heuwagen erwies sich im Nachhinein als von einem Kind gelenkter Milchwagen, der im Gegensatz zu einem hoch aufgetürmten Heuwagen dem Unfall-Verursacher volle Sicht auf die Gegenspur ermöglicht hat? Besonders erfolgreich erwies sich neben allerlei eigenen Recherche-Ergebnissen schließlich ein Historiker, der Einblicke in viele Archive hat und Zora weitere Details auch über ihre Familie liefert.

In eine Liste der «Deformationen» hat die Autorin unter anderem ihre immer dann aufkommenden Irritationen eingereiht, wenn irgendwo von «schweren Schicksalsschlägen» die Rede ist. Ebenso in dieser Liste findet sich auch ihr «Befremden über intakte Familien». Sie enthält zudem die Probleme der unverheiratet gebliebenen, lesbischen Zora mit «Zweierbeziehungen». In ihren wilden Jahren habe sie aber immerhin zwei Jahre mit einem schwulen Mann zusammen gelebt, fügt sie keck hinzu. In gelegentlichen, durchnummerierten Einschüben unter dem Titel «Im Kaffeehaus» diskutiert die Autorin in kleinem Kreis mit wechselnder Besetzung über verschiedenste, ihr Leben prägende Aspekte psychologischer Art, zum Beispiel über «frühe Bindungen». Der in einer sachlich kühlen Sprache geschriebene Text aus essayartigen Kapiteln und Einschüben mit soziologischen und psychologischen Fragestellungen ist ein freies Spiel mit Assoziationen. All das aber ist als Lektüre keineswegs überzeugend, weder als unterhaltsame Erzählung noch als wirklich ernst zu nehmendes Sachbuch. Ein misslungenes Memoir eben, und literarisch ein Zwitter!

Fazit:   miserabel

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Genre: Memoir
Illustrated by C.H. Beck München

Von Norden rollt ein Donner

Schäferidylle kontra Wolf

Es sind ganz verschiedene Motive, die den Schriftsteller Markus Thielemann dazu bewogen haben, seinen zweiten Roman «Von Norden rollt ein Donner» zu schreiben, wie er in einem Interview mit den NDR erklärt hat. «Ich schreibe gerne über Landschaften» hat er über sein Grundthema gesagt. Und in zweiter Linie sei der Wolf für ihn eine Inspiration zum Schreiben gewesen, «die Idee von Idylle und Gewalt», die hier räumlich so nahe beieinander seien. Ein düsteres Bild deutet ihm zufolge auch der Titel des Buches an, denn es gehe eben nicht um einen Gewitter-Donner, sondern um den Donner von Granaten aus der naheliegenden Munitionsfabrik von Rheinmetall. «Das fand ich ein unheimliches Bild».

Mit einem Heide-Gedicht von Theodor Storm als Vorwort wird aus der Perspektive des 19jährigen Jannes eine Geschichte erzählt, die zeitlich 2015 im Milieu einer Schäferfamilie auf der Lüneburger Heide angesiedelt ist. Der formal noch dem Opa gehörende Hof der Familie besitzt 42 Ziegen und lebt im Wesentlichen von der Schafzucht, die Herde besteht aus 357 Heidschnucken. Durch Einwanderung und Wiederansiedlung ist in der Heide mit der Zeit eine Population von Wölfen heran gewachsen, die immer bedrohlicher wird für die Schäfer. Der Opa von Jannes kann kaum noch mitarbeiten und verbringt seine Zeit vor dem Fernsehgerät. Der Vater, immer häufiger von Demenz-Ausfällen geplagt, ist deshalb öfter am Schreibtisch als auf der Heide anzutreffen. Die Arbeit mit den Schafen lastet damit also weitgehend auf den Schultern von Jannes, manchmal unterstützt von seiner Mutter, die sich ansonsten um den Hof kümmert und den Haushalt führt. Jannes ist gerne Schäfer, er ist in diese Arbeit hineingewachsen seit frühester Kindheit und kann sich gar nicht vorstellen, etwas anderes zu tun oder gar in die Stadt zu gehen und einen Beruf zu erlernen wie seine beiden Freunde.

In sehr ausführlichen und anschaulichen Beschreibungen schildert der Autor die einmalige Natur, in der Jannes einsam und bei oft unwirtlichem Wetter arbeiten muss. Mit Hilfe seiner beiden Hütehunde treibt er seine Herde manchmal kilometerweit zu den Weideplätzen. Er beobachtet aufmerksam die Tiere, die er alle kennt, und unwillkürlich auch die weitere Umgebung, wo er den Wolf vermutet. Es gab nicht nur Spuren von ihm, sondern auch schon Risse. Die Emotionen prallen heftig aufeinander in den Dörfern, befeuert von den einseitig ökologisch orientierten Umweltschützern, für die der Wolf ganz selbstverständlich zu dieser archaischen Naturidylle gehört. Logisch denkende Realisten halten dem entgegen, dass die Zeiten, in denen der Wolf hier heimisch war, längst vorbei sind, es gibt keinen Platz mehr für ihn in der dicht besiedelten, modernen Industrielandschaft. Und die Schäferei wiederum ist erforderlich, um die Heide zu erhalten, die einzig und allein durch den Verbiss der Schafe baumfrei mit ihrem typischen Bewuchs erhalten bleibt. Natürlich nutzt die politische Rechte diese Thesen gegen den Wolf propagandistisch weidlich aus, und es bildet sich bald auch schon eine dörfliche Interessen-Gemeinschaft.

Die Schäferidylle nimmt einen weiten Raum ein in diesem Roman, der auf der Shortlist für den  Deutschen Buchpreis 2024 steht. Man bewundert die fast schon intelligent wirkenden Hütehunde und erschrickt über die tagelange Einsamkeit des jungen Schäfers bei seiner Arbeit. Gegen den Wolf wird vom Vater ein extra hoher Wolfzaun aufgestellt, und versuchsweise wird auch ein spezieller Schutzhund eingesetzt. Leider passiert aber sonst nur wenig, außer dass Jannes von Trugbildern und mythischen Visionen geplagt wird, die bis zum Schluss andauern. Es wird dazu aber nur vage angedeutet, dass von den Nazis dort früher Fremdarbeiter eingesetzt wurden. Deutlich zu Vieles aber bleibt unerzählt und der eigenen Fantasie überlassen. Und es werden immer wieder weitschweifig die eintönigen Tage des Schäfers geschildert, so dass man sich leider bald auch ziemlich langweilt mit diesem Roman!

 Fazit:  lesenswert

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Genre: Roman
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Revanche

Revanche. Wie Putin das bedrohlichste Regime der Welt geschaffen hat. Mit einem neuen Kapitel. Das schon 2023 zum Bestseller avancierte Sachbuch des außenpolitischen Korrespondenten der ZEIT wird 2024 mit einem neuen Kapitel zur Stabilität von Putins Herrschaft nach dem Aufstand und Tod Prigoschins neu aufgelegt. Michael Thumann ist einer der besten Russlandkenner und lebt in Moskau.

Neuauflage zur Ukraine-Krise in Europa

Russland kennt Michael Thumann schon aus Studienzeiten, als er u.a. an der Moskauer Lomonossow Universität studierte. Schon die grundlegend überarbeitete und aktualisierte Taschenbuchausgabe enthält bislang unveröffentlichte Einsichten über Putins Verhältnis zu den radikalen Nationalisten im eigenen Land und die Stabilität seiner Herrschaft nach dem Aufstand und dem Tod seines Widersachers Prigoschin. Im März 2024 erscheint eine erweiterte Neuauflage, die den Absturz Russlands in eine zunehmend totalitäre Diktatur und den Weg in Putins imperialistischen Krieg aus nächster Nähe nachzeichnet. Der Titel des Buches, Revanche, beschreibt das eigentliche Motiv des russischen Präsidenten, nämlich Rache zu nehmen für die demokratische Öffnung nach 1991. Die vermeintliche Demütigung durch den Westen hat Putins Herrschaft weiter radikalisiert. “Unter Wladimir Putin verabschiedet sich Russland, das eigentlich größte europäische Land, aus Europa. Erneut senkt sich ein Eiserner Vorhang quer durch den Kontinent. Reise ich in dieses Land, werde ich am Flughafen in aller Regel aufgehalten. Der Grenzbeamte hält meinen Pass fest und telefoniert lange mit seinen Vorgesetzten. Ein Mensch im dunklen Anzug, wahrscheinlich Geheimdienst, holt mich ab und führt mich in einen Kellerraum. Darin ein Schreibtisch, eine alte Matratze mit Sprungfedern, kaputte Stühle, Staub in den Ecken. Ich muss Fragen beantworten: Wo wohnen sie? Was denken sie über die Militäroperation? Was haben sie vor in Russland? Ich antworte knapp und frage mich selbst: Komme ich überhaupt noch in das Land? Und komme ich wieder heraus?”, so Michael Thumann.

Revanche: “Wir haben uns geirrt”

“Revanche” liest sich wie ein moderner Thriller. Es waren vor allem westliche Gutgläubigkeit, Kumpanei, ein riesiger Vertrauensvorschuss, die Putin groß gemacht hätten, schreibt Thumann. Eine wichtige Rolle spielte dabei der deutsche Kanzler Gerhard Schröder der Putin noch 2004 einen “lupenreinen Demokraten” genannt hatte. Ob er dafür den Aufsichtsratjob bei Gazprom bekam? 2014 überfiel Putin die Krim und der Ukraine-Krieg nahm seinen Anfang. Die “militärische Operation” in der Ukraine wie es formell heißt ist Russland “bewaffnete Reaktion auf den Fall der Berliner Mauer”, so Thumann. Aber die Allianzen Russlands mit Deutschland haben schone eine lange Tradition. Man erinner sich an das 18. Jahrhundert als die beiden sich Polen teilten oder an Rapallo nach dem Ersten Weltkrieg. Aber auch schon vor dem Krieg: “Das junge Sowjetrussland half damals der Reichswehr ihre Schlagkraft aufzubauen, dafür holte Berlin die Bolschewiki aus der internationalen Isolation”, so Thumann wörtlich. Der Traum der Deutschen dabei: sich die unvorstellbaren Rohstoffreserven Russlands am Westen vorbei für sich allein zu sichern. Deutsche Technik und russische Rohstoffe sollten die Welt verändern. Mit Nord-Stream 2 wurde nichts anderes als die Abhängigkeit der EU von Russland zementiert. Die Ukraine verlor dabei Transitgebühren.

Mit viel Insiderwissen und spannend erzählt zeigt Michael Thumann die deutsche Verantwortung und den Zusammenhang zwischen dem Putsch von Sommer 1991 und dem Russland von heute: “Heute wird Russland ganz im Geist der Putschisten regiert.” Thumann erzählt von den neuen Nationalisten in Europa, den Autokratien und der wirklichen Macht der Apparate. Spannende Zeitgeschichte gut erzählt.

Michael Thumann
Revanche. Wie Putin das bedrohlichste Regime der Welt
geschaffen hat. Mit einem neuen Kapitel.
2024 | 304 Seiten mit
16 Abbildungen | Broschiert
€ 16,–[D] | € 16,50[A] (bp 6553)
C.H.Beck Verlag


Genre: Geschichte, Politik
Illustrated by C.H. Beck München

Euphoria

„Spannend… intensiv, verführerisch, erotisch…“, so überschlagen sich Literaturkritiker diverser renommierter Medien bei ihren Rezensionen zu Euphoria. Kombiniert mit dem Wortklang des Titels und dem nach einem fiktiven Pseudonym klingenden Namen der Autorin verführen spätestens Keywords aus der Inhaltsangabe wie „Dreiecksbeziehung in exotischem Setting“ zu völlig unzutreffender Kategorisierung. Also Vorsicht vor voreiligen Schnellschlüssen, denn das Buch bietet aus diesem Genre relativ wenig, aber dafür viel mehr Höherkarätiges. Weiterlesen


Genre: Belletristik, Erzählung, Gesellschaftsroman, Historischer Roman, Reisen
Illustrated by C.H. Beck München

Der Feuerturm

Der Turm schützt uns

Um den neuesten Roman des rumänisch-stämmigen Schriftstellers Catalina Dorian Florescu mit dem Titel «Der Feuerturm» ist es merkwürdig still. Das deutsche Feuilleton hat sich vornehm zurück gehalten, während andere Bücher oft ja eilfertig schon unmittelbar nach ihrem Erscheinen besprochen werden. Erzählt wird hier die Geschichte einer rumänischen Familie über fünf Generationen hinweg, in der die Männer traditionell bei der Feuerwehr sind. Es ist auch ein Gesellschafts-Roman, und ein typischer Stadt-Roman obendrein, eine Hommage an Bukarest.

Der Roman wird eingeleitet mit der Legende von Iane, einem Unglücksboten, der aus dem Wald gelaufen kam und die Stadt vor einem nahenden Unheil warnen wollte. Auch der titelgebende Feuerturm hat eine solche Alarmfunktion, er wurde 1892 fertig gestellt und bietet mit 42 Meter Höhe eine weite Aussicht über Bukarest. Der dort oben diensthabende Feuerwehrmann alarmiert im Brandfall seine Kollegen und gibt ihnen Hinweise auf den genauen Ort des Brandes. «Dieser Turm ist eine Metapher für die Widerstandskraft der Menschen» hat der Autor erklärt. Im Roman fungiert er als Leitmotiv, um ihn rankt sich ein dichtes Geflecht von zeitlich vor und zurück springenden Geschichten und Episoden.

Ich-Erzähler ist der 1932 geborenen Victor Stoica, der froh ist, dass sein älterer Bruder Alex, der unumstößlichen Tradition folgend, Feuerwehrmann wird, er selbst hatte wenig Lust dazu. Lieber studiert er Geschichte. Im Laufe der Zeit wechseln sich, begleitet von heftigen Unruhen, die verschiedenen Regime ab. Als die Kommunisten zunehmend angefeindet werden, finden die Freiheitlichen auch auf der Uni Anhänger, zu denen auch Victor gehört. Prompt wird er als Klassenfeind denunziert, – er ahnt, wer dahinter steckt. Man holt ihn zu Verhör, er durchleidet eine unmenschliche Untersuchungshaft. Beim Prozess stellt sich sein stärkster Belastungs-Zeuge als jemand aus seinem unmittelbaren Umfeld heraus. Homo homini lupus! Denunziant und Zeuge stehen beide natürlich ebenfalls unter dem Druck der Securitate. Als er acht Jahre später entlassen wird, gibt er seine düsteren Rachepläne auf, er sucht nur noch ein ruhiges Plätzchen. Das findet sich bei einem jüdischen Schneider, der ihn einstellt, obwohl er gar nicht schneidern kann, er sucht eigentlich nur einen Gesprächspartner. Erst als der alte Schneider sein Ende nahen spürt, bringt er Victor, im Crashkurs sozusagen, das Schneidern bei, Victor soll das kleine Geschäft fortführen. Dort lernt er dann auch seine spätere Frau kennen, mit der er schließlich ein Kind hat und in einen Plattenbau zieht.

Man hilft sich gegenseitig in diesem Unterschichten-Milieu, da werden auch schon mal verhungernde Kinder von der Straße in die Familie aufgenommen. Das geschilderte Elend ist unsäglich und wird über die Zeiten hinweg im Kommunismus vom geradezu absurden Mangel als neuer Drangsal abgelöst. Bei alldem wirkt die Feuerwehr-Dynastie der Stoicas wie ein Fels in der Brandung, mit dem Turm als Symbol. Wobei die Frauen die dominante Rolle einnehmen, immer gestützt auf eine bedingungslos gläubige Religiosität, man läuft oft mehrmals am Tag in die Kirche und spricht für jeden Wunsch direkt den dafür zuständigen Schutzpatron an. Florescu bildet sehr überzeugend das Leiden unter der ständigen Fremdherrschaft Rumäniens ab, schildert detailreich das bunte Leben in den Gassen, das Gewusel auf den Märkten der Stadt. Was dann aber, durch allzu häufige Wiederholungen überstrapaziert, irgendwann langweilig wird. Neben den wilden Zeitsprüngen erschwert auch eine Überfülle von oft schwer einzuordnenden Figuren das Lesen. Die rumänischen Begriffe und Sätze tun ein Übriges, das schmalbrüstige Glossar hilft da meistens nicht. Was die Spannung anbelangt, nimmt der Roman erst im letzten Drittel etwas an Fahrt auf und lässt einen roten Faden erkennen. «Der Turm schützt uns» heißt es ganz am Ende, als Victor nach seiner aufmüpfigen Tochter sucht in den Wirren des Umbruchs von 1989.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by C.H. Beck München

Am Seil

Fanal selbstbestimmten Sterbens

Den Text, der als erfolgreiche Kurzgeschichte 2005 den Ingeborg Bachmann Preis gewann, hat Thomas Lang mit fünf vorgeschalteten Kapiteln zu dem Roman «Am Seil» ergänzt. Darin wird nun in einem kammerspiel-artigen Setting geschildert, wie es zu dem in Klagenfurt prämierten, ebenso komplexen wie dramatischen Ende einer schwierigen Vater/Sohn-Beziehung kam.

Auf einem gestohlenen Motorrad kommt der bekannte TV-Moderator Gert nach jahrelanger ‹Funkstille› zum ersten Mal zu Besuch ins Altenpflegeheim seines Vaters Bert. Beide sind an einem Punkt ihres Lebens angelangt, aus dem nur noch der Tod als Ausweg zu bleiben scheint, was denn auch den Buchtitel erklärt. Vater Bert war Lehrer für Englisch und Sport, ist schon seit Jahren von seiner Frau geschieden und inzwischen körperlich sehr hinfällig. Sein 45jähriger Sohn Gert hatte durch eine für ihn glückliche Verwechslung überraschend Karriere beim Fernsehen gemacht. Er wurde aber nach vielen erfolgreichen Jahren fristlos gefeuert, weil er sexuell übergriffig wurde und kurz darauf dann auch noch einen Autounfall verschuldet hat, bei dem seine minderjährige Geliebte umkam. Er ist nicht nur seelisch, sondern auch finanziell in ein tiefes Loch gefallen.

Mit scharfem Blick für Details wird die Figuren-Konstellation von einem sportlichen, herrischen Vater, der seinen körperlichen Verfall nicht akzeptieren kann, und seinem kunstbeflissenen, aber völlig untalentierten Sohn entwickelt. Letzterer ein Verlierer-Typ, dem das Glück nur einmal im Leben hold war und der nun in Selbstmitleid zerfließt. Beide Männer stehen vor einem Scherbenhaufen und haben sich absolut nichts mehr zu sagen. Thomas Lang erzählt multi-perspektivisch abwechselnd aus Sicht des penetrant besserwisserischen Vaters und des verweichlichten Sohnes vom Hass der Beiden aufeinander, der sich in einem Plot artikuliert, der chronologisch nicht länger als ein kurzes Zweipersonen-Stück beim Theater andauert. Die phonetische Ähnlichkeit der beiden Vornamen deutet trotz allem auf eine gewisse Charakter-Verwandtschaft der ungleichen Protagonisten hin. Denn Bert und Gert haben beide, so kristallisiert es sich für den Leser allmählich heraus, und der Buchtitel deutet es ja auch an, nur noch ein Ziel, welches sie ganz unerwartet doch noch eint. Bert ist nämlich bis ins Mark erschüttert, weil ‹seine› ihn besonders liebevoll umsorgende Pflegerin niedergeschlagen verkündet hat, dass sie entlassen wurde. Die Beschreibungen der Alters-Gebrechen und die Ohnmacht des in dem Pflegeheim nur noch dahinvegetierenden Vaters werden durch die wortkargen, geradezu zynisch knappen Dialoge mit dem Sohn eindrucksvoll verdeutlicht.

In der minutiösen Schilderung des auf pure Zweckmäßigkeit hin ausgerichteten Pflegeheims fällt besonders ein Gemälde des Russen Kasimir Malewitsch auf, das den Titel «Das schwarze Quadrat» trägt und im Buch, nicht ohne tieferen Grund, erwähnt wird. Es unterstreicht nämlich auf optische Weise die ganz ähnlich auf eine narrative «Empfindung der Gegenstandslosigkeit» ausgerichtete Diktion des Autors. Die psychisch desolate Verfassung der Figuren korrespondiert mit einer stilistischen Kargheit, deren wie in Zeitlupe ablaufende Beschreibungen einer Seniorenheim-Tristesse sich weitgehend an scheinbar Insignifikantem abarbeiten. Ohne Zweifel handelt es sich hier vom Genre her übrigens um eine geradezu archetypische Novelle, nicht um einen Roman, auch wenn das sich weit besser verkauft. Mit der Thematik des selbstbestimmten Todes nach einem langen, ereignislosen Leben, dem konträr beim Sohn ein intensives, in vollen Zügen genossenes gegenübersteht, wird hier ein uraltes moralisches Problem behandelt. Die wahrhaft groteske Schlussszene ist wie das Fanal eines völlig unhaltbaren, gesetzlichen Zustandes, der schmerzlich an das einst erbittert umkämpfte Abtreibungs-Verbot erinnert. Literarisch allerdings wirkt dieses Buch leider ziemlich willkürlich zusammen montiert, sprachlich oft misslungen und als Ganzes völlig inhomogen.

Fazit: miserabel

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Genre: Roman
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Made in Washington

Made in Washington. “Keine andere Nation ist seit 1945 derart rabiat aufgetreten“, schreibt der Mitarbeiter des Berliner Kollegs Kalter Krieg in seinem Vorwort und die Bilanz der Außenpolitik der Supermacht USA der letzten 100 Jahre fällt in der Tat ernüchternd aus. Keine andere Nation hat mehr Militärstützpunkte als die USA und gibt mehr Geld für Rüstung aus.

Außenpolitik der USA: “ein Hauch von Casino”

In neun Kapiteln beschreibt Greiner die “Obsession in prekärer Nähe zu Hysterie und Paranoia“, die die Außenpolitik der Atommacht Nummer 1 seit ihrem Sieg im Zweiten Weltkrieg kennzeichnet. Mit dem Erstschlag gegen Japan machte sich die USA nämlich zur hegemonialen Weltmacht. Dabei hätte der Krieg auch ohne Atombombe beendet werden können, aber die USA legte schon damals wert auf das Prinzip der Abschreckung. Dafür mussten hunderttausende Japaner ihr Leben lassen. Nur die Sowjetunion konnte ihr noch die Stirn bieten und verhinderte eine monopolare, unilaterale Welt. Die “Redeemer Nation” oder auch “Chosen Country” baute in ihrer Sicherheitspolitik stets auf die eigene Sicherheit und weniger auf eine gemeinsame, wie Greiner ausführt. Darin enthalten waren durchaus auch Erstschläge gegen die Sowjetunion, “Operation Eggnog” war der Codename für einen imaginären gegen die UdSSR. Dabei spielte aber auch eine gute Portion theatralischer Gebärden und Bluffs eine Rolle. Gerade bei Nixon und Kissinger, der betonte: “Wann immer wir Gewalt einsetzen, müssen wir es auf eine leicht hysterische Weise tun“. Auch Psycho-Spiele (Psycho-Operationen, “psyops”) und Störmanöver wurden von den USA angewandt, um den scheinbar allgegenwärtigen Gegner zu verunsichern. “Von lupenreinen Glücksspiel zu sprechen, wäre übertrieben“, kommentiert Greiner, “Aber zumindest ein Hauch von Casino hängt beim Umgang mit Atomwaffen in der Luft.

Eine Sache im Stile der Nazis

Als erste Beispiele der folgenschweren Interventionen nennt Greiner im dritten Kapitel Guatemala und Iran, deren einziges “Verbrechen” darin lag, nationale Interessen zu verfolgen und eine eigene, unabhängige Wirtschaft aufzubauen, um das Vermächtnis des Kolonialismus endlich zu zerschlagen. “More bang for the buck” forderte Präsident Eisenhower von seinem Geheimdienst, der mit Hilfe von covert actions (verdeckten Aktionen), bald auch im Rest der Welt gewählte Regierungen aus den Angeln hob. Aber wie sagte es einer der letzten Präsidenten einmal: “Die USA sind die kriegerischste Nation in der Geschichte der Welt, weil wir andere Länder dazu zwingen wollen, unsere amerikanischen Prinzipien zu übernehmen”, so Jimmy Carter im Frühjahr 2019 vier der Bapistentgemeinde seiner Heimatstadt Plains in Georgia.

Made in Washington

Aufgrund des Glaubens, die USA seien unter allen Nationen der Welt die beste, leiten sich das Missionsbewusstsein und der amerikanische Imperialismus ab. Aber kann dies als Entschuldigung dafür gelten, dass die USA zwischen Mai 1964 und April 1973 2,1 Millionen Tonen Bomben über Laos abwarfen, dieselbe Menge, die man während des Zweiten Weltkriegs gegen sämtliche Zielgebiete in Europa und Asien eingesetzt hatte? Diese Menge an Bomben war ein Drittel der Zerstörungslast die im Laufe des Vietnamkrieges verbraucht wurde (6,7 Millionen Tonnen). Unvorstellbar was diesen Nationen angetan wurde und welche Konsequenzen das für die dortige Bevölkerung hatte. “Es war eine Sache im Stile der Nazis“, äußerte sich ein Vietnamasoldat im Interview mit dem Journalisten Seymour M. Hersh, der die Massaker in My Lai aufgedeckt hatte.

USA und Welt: eine Konfliktbeziehung

Bernd Greiner hat ein spannendes Buch geschrieben und es gut recherchiert. Markige Zitate der Ex-Präsidentn und anderer Beteiligter kommen ebenso zur Sprache wie Zahlen, Daten und Fakten. Dabei bleibt das Buch aber lesenswert und spannend wie ein Roman, der eben leider von der Realität übertroffen wird. Denn “was die USA seit 1945 in der Welt angerichtet haben“, das passt tatsächlich auf keine Kuhhaut mehr. Das Sündenregister einer Großmacht, die mit ihrer “show of force” selbstherrlich und größenwahnsinnig einen ganzen Planeten zugrunderichtet. Im Namen der Freiheit.

Greiner, Bernd
Made in Washington
Was die USA seit 1945 in der Welt angerichtet haben
2021, Klappenbroschur, 288 S., mit 9 Abbildungen
ISBN: 978-3-406-77744-8
Bibliografische Reihen
C.H.Beck Paperback
16,95 €


Genre: Außenpolitik, Geschichte, Kubakrise, USA, Vietnam, Zeitgeschichte
Illustrated by C.H. Beck München

Der weiße Tiger

Moralisch absurder Schelmenroman

Mit seinem sozialkritischen Schelmenroman hat der indische Schriftsteller Aravind Adiga ein provozierendes Debüt geschrieben, das 2008 mit dem Booker Prize ausgezeichnet wurde, nachdem es in Indien bereits lange vorher schon ein Riesenerfolg war. Ganz offensichtlich hatte der Autor damit in seiner Heimat einen Nerv getroffen. Er wurde aber auch massiv als Nestbeschmutzer kritisiert: «Ich wusste, dass es Kritik geben würde» hat er im Interview erklärt. «Ich habe damit gerechnet. Wäre sie ausgeblieben, hätte ich sicher etwas falsch gemacht. Stellen Sie sich ein Buch vor, das 1938 in Deutschland Lob von allen Seiten bekommen hätte. Da könnte man auch sicher sein, dass etwas daran nicht stimmen kann». Sein Roman sei «auch eine Reaktion auf die Bollywood-Kultur des indischen Films und der indischen Literatur, die die Armut vollkommen ausblendet».

Held dieser satirisch überhöhten Geschichte aus dem sozialen Untergrund ist der junge Balram, Sohn eines Rikschafahrers und der klügste Junge in Laxmangarh. Als Ich-Erzähler berichtet er dem chinesischen Ministerpräsidenten, der in Kürze die Stadt besuchen wird, in Briefform sieben Nächte lang, – Scheherazade lässt grüßen, von seinem Aufstieg, der in Indien ebenso selten sei wie ein weißer Tiger im Dschungel. Er gehört zu den wenigen Underdogs, denen ein solcher sozialer Aufstieg gelingt in diesem von einer allgegenwärtigen Korruption gebeutelten Land. Neben dem Glück, das auch dazugehört, ist es sein unbedingter Erfolgswille, der ihm den wundersamen Weg nach oben ebnet, er bezeichnet sich deshalb selbst als «Der weiße Tiger». Durch Zufall erhält er beim Sohn eines der drei lokalen Großgrundbesitzer einen Job als Chauffeur und kommt mit ihm nach Delhi. Damit gehört er zur privilegierten Dienerschaft seines zwielichtigen Herrn, der seinen immensen Reichtum mit illegalem Kohleabbau verdient, für den üppige Schmiergeld-Zahlungen fällig werden. Ebenso korrupt sind die Steuerbehörden, die ihre hohen Einkommensteuer-Forderungen gegen reichlich Bargeld auf erträgliche Höhen reduzieren. Mit Schmiergeld lässt sich sogar ein tödlicher Autounfall mit Fahrerflucht aus der Welt schaffen, den die Ehefrau seines Arbeitgebers verursacht hat. Sie überfährt in Delhi nachts im Suff ein Kind auf dem Fahrrad. Balram muss ein Schuld-Anerkenntnis unterschreiben, das dann aber gar nicht benötigt wird. Denn Schmiergeld hilft natürlich auch hier aus der Klemme, die Polizei spricht von mangelhafter Beleuchtung des Rades und stellt die Ermittlungen ein. Um der ewigen Armutsfalle zu entgehen, beschließt Balham eines Tages, seinen Herrn auf einer der Schmiergeld-Fahrten zu töten und mit dem für seine Verhältnisse immensen Geldbetrag unterzutauchen, um sich selbstständig zu machen. Er gründet in Bangalore einen schon bald florierenden Taxidienst für die nächtlich arbeitenden Angestellten in den Callcentern von großen US-Unternehmen.

Diese bitterböse Geschichte ist zutiefst unmoralisch, vermittelt sie doch die fragwürdige Botschaft, der Weg aus dem Elend kann nur durch Gewalt gelingen. Adiga reduziert das Kastensystem auf die sich unversöhnlich gegenüber stehenden Gegensätze einer Bevölkerung zwischen Oben und Unten, Licht und Finsternis. In vielen Szenen wird detailfreudig ein Panorama Indiens gezeichnet, dass mit verstörenden Bildern das unsägliche Elend schildert. Daran ändern auch alle politischen Reformen nichts, die Wähler seien «wie Eunuchen, die über das Kamasutra streiten», heißt es im Roman. Kein Wunder, dass Balram Chinas politisches System für das bessere hält.

Satirisch überzeichnet, aber mit viel schwarzem Humor angereichert, wird hier sarkastisch knapp aus der sozialen Frosch-Perspektive über das von der Bevölkerung her zweitgrößte Volk der Welt berichtet. Dabei steht der Hühnerkäfig als Metapher für die Duldsamkeit des indischen Volkes. Zweifellos ein wichtiges Buch, das auf amüsante Art den Horizont weitet und das Genre Schelmenroman moralisch ad absurdum führt.

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
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Am Götterbaum

Blitzlicht auf einen vergessenen Poeten

In seinem neuesten Roman «Am Götterbaum» widmet sich Hans Pleschinski zum dritten Mal einem deutschen Nobelpreisträger für Literatur. Nach Thomas Mann in «Königsallee» und Gerhart Hauptmann in «Wiesenstein» wird hier Paul Heyse in den Blick genommen. Der literarisch der Postmoderne zugerechnete Autor erzählt mit Lust am Fabulieren von der Initiative dreier engagierter Damen, die verwahrloste Villa des heute völlig vergessenen, einstigen ‹Großschriftstellers› aus ihrem Dornröschenschlaf zu wecken und in ein modernes Literatur-Zentrum umzuwandeln.

München brauche so etwas, um kulturell zu Berlin aufschließen zu können, da ist sich die toughe Stadtbaurätin völlig sicher. Auch den Kämmerer hat sie von ihrer Idee überzeugen können. Als sachkundige Mitstreiterinnen hat sie eine Schriftstellerin und eine Bibliothekarin gewonnen, mit denen sie sich 2019 an einem Frühlingsabend vor dem Rathaus trifft, um von dort aus zu einer ersten Ortsbegehung aufzubrechen. Da sie früh dran sind, beschließen die Damen, gemütlich zu Fuß zur Luisenstraße 22 im Kunstareal Münchens zu laufen. Auf dem Weg dorthin unterhalten sie sich sehr angeregt über Paul Heyse und das geplante Kulturprojekt, debattieren kontrovers über dessen Sinn und Machbarkeit. Pleschinski nutzt die Szenerie am Rande auch zu allerlei kritischen Betrachtungen des täglichen Wahnsinns. So wenn beispielsweise zwei smartphone-süchtige junge Männer mit ihrer Daddel vor der Nase auf dem Bürgersteig kollidieren und eines dieser elektronischen Kulturtöter auf Nimmerwiedersehen in den Gully gleitet. Oder die Damen erleben den Streit einer Tauben fütternden Alten mit einem erbosten Herrn, der von Flugratten spricht und die Polizei herbeirufen will, weil das Füttern aus guten Gründen ja verboten sei.

Die sich an einem einzigen Abend abspielende Geschichte dieses literarischen Spaziergangs durch München wird nur einmal kurz durch einen Rückblick auf einen Besuch von Adolf von Kröner am Gardasee unterbrochen. Der Besucher des Ehepaars Heyse zählte damals zu den führenden Verlegern in Deutschland, ihm verdankt der Buchhandel die seit 1888 geltende, kulturell begründete Preisbindung für Bücher. Ansonsten ist dieser Roman, neben seinen beiläufigen Alltags-Beobachtungen, überreich gespickt mit Zitaten von Heyse. Gedichte zumeist, die erkennen lassen, warum dieser Literat heute zu Recht vergessen ist. Ihm fehlt, was Pleschinski im Roman als Ingenium bezeichnet, seine literarischen Hervorbringungen sind allenfalls mittelmäßig, was auch für seine 180 Novellen, 68 Dramen und acht Romane gilt, soweit man das durch die eingefügten Zitate beurteilen kann.

Oft am Rande der Kolportage entlang schliddernd mit seinem banalen Münchner Alltags-Kolorit, enttäuscht dieser Roman durch das kulturbeflissene Dauer-Geschwafel des Damentrios, von dem man als Leser oft nicht weiß, wer denn da überhaupt spricht. Ihnen gesellt sich zu allem Überfluss auch noch ein als Heyse-Spezialist ausgewiesener Professor aus Erlangen hinzu, samt jungem, chinesischem Ehemann (sic!). Sehr zum Verdruss des geplagten Lesers trägt nun dieser Heyse-Experte immer weitere Zitate vor. Völlig absurd aber wird das Ganze, wenn zuletzt nach mehreren Pannen überraschend doch noch eine Begehung der vermieteten Villa möglich wird. Die zunächst abweisenden Mieter outen sich plötzlich als Heyse-Fans und tragen spontan im Treppenhaus der Villa ein Stück des verehrten Meisters vor. Spätestens an diesem Punkt stellt sich dann die Frage, ob diese Hommage womöglich als Satire gedacht ist. Es gibt allerdings keine Hinweise, die solche Deutung untermauern könnten, es fehlt jedwede Komik. Im Interview hat der Autor erklärt, er hoffe, «dass der Roman für Leser in diesen Zeiten eine Art Antidepressivum sein kann». Das mag für einige zutreffen, und außerdem hat er einen vergessenen Poeten blitzlichtartig ins Leser-Bewusstsein zurückgerufen, auch darin liegt ein gewisser Verdienst, aber das ist dann auch schon alles!

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by C.H. Beck München

Versprich es mir. Über Hoffnung

Joe Biden – Versprich es mir

He, Joe“, meinte Barack einmal zu Biden, „man kauft das Schlimme mit dem Guten ein“. Schon während der Präsidentschaft hatten die beiden Bs eng zusammengearbeitet. Biden war der Vizepräsident Barack Obamas und hätte 2016 auch selbst kandidiert. Doch dann kam die Krankheit seines Sohnes Beau dazwischen und Biden entschied sich für die Familie. Donald Trump gewann daraufhin gegen Bill Clinton die Wahlen. Aber 2019 übernahm Joe Biden das Ruder. Am 20.1.2020 wurde er als 46. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika vereidigt. Und er übernimmt ein gespaltenes Land in der Corona-Krise mit einer Rekordarbeitslosigkeit und schlechten Wirtschaftsdaten. Aber Joe Biden verkörpert das, was in einer krisengeschüttelten Zeit wie der unseren das Wichtigste ist: Hoffnung.

Biden: Hoffnung für die Welt?

Biden wurde von seinen Gegnern gerne als „Trauerredner der Nation“ abgetan, was angesichts der Dinge, die er in seinem Leben schon mitmachen musste, geradezu pietätlos wirkt. Denn nicht nur, dass er 2015 seinen erst 45-jährigen Sohn Beau verlor, nein, schon Jahre zuvor gingen seine Frau und seine Tochter bei einem Autounfall von dieser Welt. Aber Joe Biden gab nicht auf und setzte sich seine Ziele, die ihn nun bis an die Spitze seines Landes brachten. Und seine Programm liest sich gar nicht so schlecht: Kampf dem Supperlobbyismus, Besteuerung der Vermögen statt der Arbeit, Ende der Steuerschlupflöcher und Steuernachlässe, Mindestlohn von 15 Dollar und Abschaffung der Studiengebühren an den öffentlichen Colleges und Universitäten. Schon während seiner Vizepräsidentschaft war er auch für die Homosexuellenehe und deren rechtliche Gleichstellung eingetreten. Und nicht zuletzt ein Mondfahrtprogramm zur Bekämpfung von Krebs. Now hope and history rhyme.

Joe oder The Luck of the Irish

Die vorliegende, äußerste lesenswerte Kampfschrift ist nicht nur gut geschrieben, sondern auch sehr persönlich gehalten. Biden schreibt über den Kampf seines Sohnes Beau gegen den Krebs, aber auch von seinen eigenen politischen Erfolgen im Irak oder seinen Vermittlungsbemühungen in Mittelamerika und der Ukraine. Dabei behält er auch eine gewisse subtile Form von Humor bei, was ihn noch sympathischer macht. Gerade weil er als Außenseiter startete und „against all odds“ die Vorwahlen und die eigentlichen Wahlen gewann und weil er sich durch seine schlimmen Schicksalsschläge nicht unterkriegen ließ, möchte man diesem Präsidenten nur das Beste wünschen. Denn für die Aufgaben, die vor ihm liegen, wird er jede Unterstützung brauchen. Man vertraut und glaubt seinen Worten. Was man nicht erfährt, ist seine Vorgeschichte. Das Buch handelt hauptsächlich in der Zeit der 10er Dekade des 21. Jahrhunderts, es erschien in den USA 2017, aber bereits nach der Angelobung von Trump. Der Vorwurf er würde aus dem Tod seines Sohnes politisches Kapital schlagen wollen und all die andere Schmutzwäsche, die gegen ihn lief, wird Lügen gestraft. Für seine Kritiker gilt: einen schönen Gruß von Onkel Ed. Und gerne nimmt man ihm auch das Versprechen ab, das er seinem Sohn gab: Die Welt wieder zu einem besseren Platz zu machen.

Joe Biden

Versprich es mir.

Über Hoffnung am Rande des Abgrunds

Aus dem Amerikanischen von Henning Dedekind und Friedrich Pflüger.

ISBN: 978-3-406-76713-5

2020, Hardcover, 250 S

C.H.Beck Verlag

22,00 €


Genre: Autobiografie, Politik
Illustrated by C.H. Beck München

Im Wahn. Die amerikanische Katastrophe

Im Wahn. Die amerikanische Katastrophe.„…äh…“, lautete die Antwort des President-elect Donald Trump auf die Frage eines Fox-Reporters nach seinen Plänen für die nächsten vier Jahre. Die beiden Spitzenjournalisten Klaus Brinkbäumer und Stephan Lamby betonen, nicht zu scherzen. Denn tatsächlich hat Donald Trump kein politisches Programm außer sich selbst. „Der Herrscher ist das Programm.“ L’etat c’est moi, meinte auch der Sonnenkönig von sich. Aber das war im 18. Jahrhundert. In Frankreich, einer Monarchie.

Im Wahn: Der Staat bin ich

Was lief damals, im 18. Jahrhundert, als die USA sich formierten, eigentlich falsch? Warum gaben sich die Gründungsherren der ersten Demokratie der Welt so ein abstraktes und konfuses Wahlsystem (electoral vs. people’s vote), das es einem Mann wie Donald Trump ermöglichte, an die Macht zu kommen? Das vorliegende Buch kann diese Frage zwar nicht beantworten, dafür aber viele andere. Es wurde sehr gut recherchiert und die beiden Journalisten hatten interessante Gesprächspartner. Sie ziehen durchaus nachvollziehbare Parallelen zu Richard Nixon und warnen eindringlich vor einem Mann, der alle vier Erkennungsmerkmale einer sterbenden Demokratie für die USA verwirklicht hat. Steven Levitsky und Daniel Ziblatt, zwei Historiker, erforschten diese vier Kriterien als Gründe für die Selbstabschaffung einer Demokratie wie folgt: Der Anführer verpflichtet sich demokratischen Regeln nicht; er leugnet die Legitimation seiner Gegner; er toleriert oder fördert Gewalt; er schränkt Bürgerrechte und Pressefreiheit ein. Mit Ausnahme Richard Nixons hätte kein Präsidentschaftskandidat im letzten Jahrhundert auch nur eines der vier Kriterien erfüllt. „Trump erfüllt alle vier“.

Die amerikanische Katastrophe

Schonungslos decken die beiden Journalisten die Propagandalügen eines Präsidenten, der außer sich selbst kein Programm hat, und auch die seines „Haus- und Hofsenders Fox“ auf. Auch die Auseinandersetzungen um den Mord an George Floyd und der jahrhundertealte Rassismus in den USA werden in Bezug zu Black Lives Matter thematisiert. Aber auch der institutionelle Umbau, der aus dem an und für sich unparteiischen Supreme Court eine politische Institution machen soll, wird bloßgestellt und kritisch beurteilt. Dass sogar jemand wie Donald Trump, der zweimal bankrott ging, einmal Vorbilder hatte, wird ebenso erzählt. Rush Limbaugh, ein Talk-Radiomoderator, der schon in den Achtzigern durch seine populistischen Reden auffiel kann als solches gelten. Ihm wurde von der Präsidentengattin Melania die „Presidential Medal of Freedom“ bei der State of the Union Rede 2020 verliehen. Allein diese Tatsache spricht Bände, handelt es sich bei Limbaugh doch um einen gnadenlosen Verdreher von (Un-)Wahrheiten. Oder sollte man die 20.555 Lügen und Unwahrheiten allein in den ersten 1267 Amtstagen erwähnen, die die Post bei Donald Trump gezählt hat und belegen kann?

We, the people…

Das amerikanische Volk hat entschieden, wen es zu seinem Präsidenten haben möchte, das war auch bei Hillary Clinton so. Jedoch entscheidet in letzter Instanz das electoral vote. Oder die Gerichte. „Im Wahn. Die amerikanische Katastrophe“ ist das Buch zur Zeit. Jeder der mitdiskutieren möchte und sich versucht zu erklären, warum ein Mann wie Trump die Welt in Atem hält, sollte es lesen. In einer Gesellschaft in der Hollywood wesentlich an der Gestaltung der Realität mitarbeitet, braucht es einen aber eigentlich auch nicht zu verwundern, wenn ein Serienstar („The Apprentice“) zum Präsidenten wird. Aber vielleicht wird Trump ja jetzt bald selbst von “seinem Wahlvolk” seinen Stehsatz aus der Serie zu hören bekommen: „You’re fired!

Brinkbäumer, Klaus / Lamby, Stephan

Im Wahn. Die amerikanische Katastrophe

ISBN: 978-3-406-75639-9

2020, Hardcover, 4. Auflage, 391 S., mit 25 Farbabbildungen im Tafelteil, Gebunden

C.H. Beck Verlag

22,95 €


Genre: Politik und Gesellschaft, Sachbuch, Zeitgeschichte
Illustrated by C.H. Beck München

Sweetest Fruits

Heimatloser Literat

In ihrer literarischen Biografie «Sweetest Fruits» erzählt die in den USA lebende Schriftstellerin Monique Truong vom wechselvollen Leben des irisch-griechischen Reiseschriftstellers Lafcadio Hearn. Die erste Biografie über ihn erschien schon 1906, zwei Jahre nach dem Tod des 54jährigen Journalisten, geschrieben von Elisabeth Bisland, die damals insbesondere durch ihr spektakuläres Wettrennen auf den Spuren von Jules Vernes rund um die Welt bekannt war. Aus dem zweibändigen Werk dieser amerikanischen Journalistin über ihren Freund und Kollegen Hearn werden, als Zwischenberichte quasi, den drei fiktionalen Teilen des Romans jeweils einige Seiten mit Zitaten beigefügt, wodurch ein authentisches Erzählgerüst entsteht.

Monique Truong erzählt aus den Perspektiven dreier Frauen vom Leben ihres Helden, beginnend auf einer griechischen Insel, wo Rosa ihrem bedrückenden Leben durch die Ehe mit einem dort stationierten irischen Stabsarzt zu entkommen sucht und mit ihm nach Dublin geht. Als die Ehe scheitert, lässt sie notgedrungen ihren kleinen Sohn Patricio in der Obhut der Familie und kehrt mittellos auf ihre Insel zurück. Im zweiten Teil erzählt Alethea, eine ehemalige Sklavin, die in einer billigen Pension als Köchin arbeitet, wie sie Patricio Hearn als Gast kennenlernt. Er war nach seiner Schulzeit in Irland von den Verwandten, die ihn großgezogen hatten, mittellos nach New York geschickt worden, hat sich mit Gelegenheitsjobs durchgeschlagen und später in Cincinnati eine schlechtbezahlte Stelle als Journalist gefunden, der Anfang seiner literarischen Karriere. Alethea heiratet Pat, wie sie ihn nennt, aber die Ehe hält nur drei Jahre, ehe Hearn sich schließlich in Richtung New Orleans absetzt und sich scheiden lässt. Das Paar hat nur noch sporadisch Briefkontakt, zuletzt kommt ein Brief aus Martinique, wo der Weltenbummler inzwischen wohnt. Setsu, die Tochter eines Samurai, erzählt im dritten Teil schließlich, wie sie in der japanischen Hafenstadt Matsue den Englischlehrer Patrick Hearn kennenlernt, der sie heiratet, japanischer Staatsbürger wird und den Namen Yakumo annimmt. Sie haben vier Kinder miteinander, Hearn schreibt mehrere Bücher und wird Professor an der Universität von Tokio.

Es sind ganz unterschiedlichen Frauen, die diesen Globetrotter und Literaten porträtieren, wobei Monique Truong ihnen eine stilistisch jeweils ganz eigene Stimme verleiht. Rosa, die Mutter Hearns, diktiert auf dem Schiff einer Mitreisenden ihre Geschichte von der frühen Kindheit ihres Sohnes. Alethea, die gutgläubige Analphabetin, erzählt im Interview der Biografin naiv von ihrer Ehe, die letztlich scheiterte, als ihr Mann seine Stellung verlor, weil er mit einer Farbigen verheiratet war. Setsu schließlich rekapituliert nach dem Tod ihres Mannes sprachlich blumig in Du-Form das unstete Leben mit Hearn. Die auf drei Kontinenten lebenden Frauen offenbaren dabei mehr über sich selbst als über den Romanhelden. Sie hatten in der zweiten Hälfte des Neunzehnten Jahrhunderts mit vielerlei Anfeindungen zu kämpfen, die nicht nur sexistischer Art waren, auch gesellschaftliche Unterdrückung, Standesdünkel und Rassenhass trübten ihr Leben. Hearn selbst bleibt als Figur seltsam farblos, er war nach einem Unfall als Kind auf einem Auge fast blind, liebte die Natur über alles und verabscheute das hektische, moderne Leben, dessen dunkle Seiten er als Journalist bestens kannte, über das er immer wieder seine Reportagen schrieb.

Die fraktionelle Erzählweise des Romans eröffnet einerseits interessante Perspektiven, erfordert aber auch die volle Aufmerksamkeit des Lesers. Der sieht sich zudem vielen fremdsprachigen Begriffen gegenüber, mit denen er mangels Register allein zurechtkommen muss. Es sind drei liebende Frauen, die diesen Roman prägen, die Kinder aber sind es letztendlich, die als «Süßeste Früchte» den Lebensbaum veredeln. Sie stehen auch für Beständigkeit als Gegenpol zum unsteten Leben eines heimatlosen Literaten.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
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Der Sommer meiner Mutter

Eine Art Rosetta-Mission

Mit einem narrativen Paukenschlag beginnt «Der Sommer meiner Mutter», der neueste Roman von Ulrich Woelk. «Im Sommer 1969, ein paar Wochen nach der ersten bemannten Mondlandung, nahm sich meine Mutter das Leben» lautet der angeblich oft ja schon die ganze Geschichte enthaltende erste Satz. Der promovierte Astrophysiker hat recht listig durch diese scheinbare Vorwegnahme des narrativen Kulminationspunktes schlagartig Spannung beim Leser aufgebaut.

Ich-Erzähler dieser Coming-of Age-Geschichte ist der elfjährige Tobias, der als Einzelkind mit seinen Eltern in einem Dorf bei Köln lebt. Als für Raumfahrt begeisterter Junge fiebert er der ersten Mondlandung entgegen, die im Fernsehen übertragen werden soll. Im Nebenhaus zieht ein Ehepaar mit ihrer dreizehnjährigen Tochter ein, man freundet sich schnell an mit den neuen Nachbarn, obwohl sie in vielerlei Hinsicht anders sind. Während der konservative Vater von Tobias ein realitätsbezogener, nüchterner Ingenieur ist, ist Rosas Vater als Philosophie-Dozent ein intellektueller Freidenker und überzeugter Kommunist. Auch die Frauen unterscheiden sich deutlich, die unbekümmerte, emanzipierte Nachbarin weckt bei der in ihrer Hausfrauenrolle gefangenen Mutter den allzu lang unterdrückten Wunsch nach Selbstverwirklichung. Zwischen den beiden Kindern entwickelt sich eine innige, auch sexuell konnotierte Beziehung, der naive, ahnungslose Tobias erlebt, ohne es richtig einordnen zu können, durch Rosa, die ihm geistig und entwicklungsmäßig deutlich voraus ist, seine Initiation. Auch die kreuzweise Sympathie der Paare ist unübersehbar, ein Bäumchen-wechsle-dich-Spiel findet aber nicht statt. Mehr sei hier fairerweise nicht verraten, nach dem Suizid der Mutter jedoch, an dem Tobias nicht ganz unschuldig ist, zerbricht auch die nachbarliche Idylle.

Raffiniert hat Ulrich Woelk diesen Plot einer sich anbahnenden Tragödie konzipiert und zu einem nachdenklich machenden Finale geführt. Eine wichtige Rolle spielt dabei die kindliche Erzählperspektive, die geschickt, mit dem epochalen Raumfahrt-Ereignis als Hintergrund, die zu ahnende Entwicklung mit den sich ändernden Konstellationen sehr naiv schildert. Nach einem Zeitsprung von vierzig Jahren erzählt schließlich der als Astrophysiker bei der ESA tätige Tobias von seiner Mitarbeit bei der Rosetta-Mission, der erstmaligen weichen Landung einer Raumsonde auf einem Kometen. Ferner berichtet er von einer Lesung auf der Frankfurter Buchmesse, wo seine Jugendliebe Rosa, an die er über dreißig Jahre lang nicht mehr gedacht hat, ihren neuen Roman vorstellt. Sie erkennt ihn nicht, als er am Signiertisch mit ihr spricht, und er gibt sich auch nicht zu erkennen, obwohl es viele Fragen gäbe, die er ihr hätte stellen können, «… aber musste irgendeine davon nach all den Jahren noch zwingend beantwortet werden?» Und so ließ er in sein Buch als Widmung «Für Rosetta» schreiben. Später hat er dann aber die Geschichte jenes Sommers doch noch aufgeschrieben, eine schöne ‹Roman im Roman›-Fiktion. «Ich habe das Manuskript in einen Umschlag gesteckt und an Rosa adressiert. Ich nehme an, dass ihr Verlag den Brief an sie weiterleitet. Morgen werde ich ihn abschicken». Mit diesen Worten endet der Roman, – und lässt alles offen.

Völlig unartifiziell und mit viel Zeitkolorit erzählt Ulrich Woelk in einer nüchternen, schnörkellosen Sprache seine Geschichte der technischen, politischen, gesellschaftlichen und persönlichen Um- und Aufbrüche. Er spiegelt die gescheiterte Emanzipation der Mutter an der erwachenden Sexualität des Sohnes, stellt dem rigiden Konservatismus in dessen Elternhaus die liberale, unkonventionelle Modernität im Nachbarhaus gegenüber. Über dem gesamten Plot schwebt als emotionale Grundlage ständig eine leise Melancholie, die sich dann in einer so vom Leser nicht voraussehbaren Eskalation entlädt, wobei insbesondere der geschickt aufgebaute Spannungsbogen und das ergreifende Finale diesen Roman auszeichnen.

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
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Winterbienen

Danksagung als raffinierte Ergänzung

In «Winterbienen», dem neuen Roman des als Eifeldichter apostrophierten Schriftstellers Norbert Scheuer, ist erneut jenes nützliche Insekt titelgebend, das vor zwei Jahren schon mal für Aufsehen gesorgt hat. Der in die Shortlist des diesjährigen Frankfurter Buchpreises gewählte Roman hat also womöglich Chancen, an den Riesenerfolg des Erstlings «Die Geschichte der Bienen» von Maja Lunde anzuknüpfen, dem 2017 in Deutschland meistverkauften Roman. Gemeinsam ist beiden Romanen, dass in den ineinander verschachtelten Handlungsebenen jeweils Bienen die Thematik bestimmen, an ihnen spiegelt sich das eigentliche Geschehen.

Der vorliegende Roman ist das Tagebuch eines frühpensionierten Gymnasial-Lehrers aus der kleinen Eifelgemeinde Kall, dessen Aufzeichnungen am 3. Januar 1944 mit dem Absturz eines amerikanischen Kampfbombers beginnen. Egidius Arimond ist wegen seiner Epilepsie vom Kriegsdienst befreit und widmet sich als passionierter Imker intensiv der Erforschung dieser Insekten. Er lebt bescheiden von seiner Bienenzucht, zusätzlich benötigt er viel Geld für Medikamente, die er bei seinen epileptischen Anfällen dringend braucht. Der Nazistaat kommt nach dem Verdikt vom «lebensunwerten Leben» nämlich nicht mehr dafür auf, er wurde nach den absurden Vorstellungen der «Rassenhygiene» sogar zwangssterilisiert und fürchtet, irgendwann auch noch der Euthanasie zum Opfer zu fallen. In ganz konkreter Lebensgefahr befindet er sich aber, weil er mit Hilfe seiner Bienenstöcke Flüchtlinge gegen Bezahlung über die Grenze nach Belgien schleust. Nicht ganz uneigennützig also, denn die Preise für die rezeptpflichtigen Medikamente, für die er ja kein Rezept bekommt, werden vom erpresserischen Apotheker des Ortes ständig angehoben, irgendwann gibt es sie dann kriegsbedingt gar nicht mehr.

Der Tagbuchschreiber hat einige Liebschaften mit Frauen aus der Gemeinde, deren Männer im Krieg sind, und er begibt sich schließlich sogar in Lebensgefahr, als er sich ausgerechnet in die Ehefrau des Kreisleiters der NSDAP verkuckt. Ein Goldfasan also, wie der Volksmund diese Parteibonzen wegen ihrer Uniformen nannte, und dessen Frau wiederum beginnt tatsächlich ein Verhältnis mit ihm. Unter der Überschrift «Fragment» werden abwechselnd acht Notizen von Ambrosius Arimond, einem frühen Vorfahren des Tagebuchschreibers aus dem Jahre 1489, in diese Erzählung eingeschoben. Sie stammen aus einer nachgelassenen Klosterbibliothek, die Egidius im Archiv des Ortes entdeckt und mühsam übersetzt hat. Der Benediktiner-Mönch berichtet darin von einer desaströsen Alpenüberquerung, die er in jungen Jahren miterlebt hat. Später war er ebenfalls als Bienenforscher aktiv und hat eine widerstandsfähigere südliche Bienenart in der Eifel angesiedelt.

Bemerkenswert ist, wie souverän der Autor in Tagebuchform seine Geschichte vom Ende des Zweiten Weltkriegs aus der Perspektive einer abgeschiedenen Ortschaft schildert. Dabei verknüpft er geschickt das wohlgeordnete Leben seiner Bienenvölker mit dem chaotischen Kriegsgeschehen, er beobachtet ebenso kenntnisreich die Flüge seiner Bienen wie das Getümmel der Bomber und Jäger am Himmel. Es gibt keinen wirklichen Helden in diesem Roman, die eher ambivalente Hauptfigur wirkt gerade durch das nicht Heldenhafte aber sehr glaubwürdig. Erzählt wird ganz unreflektiert, eher beiläufig, nüchtern und unaufgeregt. Der Krieg ist vorbei, als Egidius beim Einfangen eines Bienenschwarms plötzlich merkt, dass er mitten in einem Mienenfeld steht, lapidar lautet der letzte Satz: «Erstarrt blieb er stehen». In einer längeren Danksagung versteckt berichtet der Autor, wie ihm die vor Jahrzehnten in einem Bienenstock aufgefundenen Tagebücher und Dokumente eines gewissen Egidius Arimond übergeben wurden, aus denen sein Roman im Wesentlichen bestehe. Eine raffinierte Herausgeber-Fiktion also, durch die man dann auch noch erfährt, was nach dem letzten Satz des Romans passiert ist. So spannend kann eine Danksagung sein!

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by C.H. Beck München