Das Zentrum

saramago-2Heraus aus Platons Höhle

Innerhalb seines umfangreichen Œuvres zählt «Das Zentrum» des Nobelpreisträgers José Saramago zu den besonders stark von Symbolik geprägten Romanen. Nach «Die Stadt der Blinden» und «Alle Namen» ist dies der dritte Roman des Portugiesen, den ich gelesen habe, erschienen im Jahre 2000 und damit aus der selben Schaffensperiode stammend wie die beiden anderen. Kennzeichnend für die Themen dieses Schriftstellers und auch hier die Handlung prägend ist die tiefe Humanität, die seine Geschichte ausstrahlt, seine unbeirrte Zuversicht zudem, in jedem Menschen stecke auch ein guter Kern. Trotz kafkaesk anmutender Szenen in einer menschenfeindlichen Administration gelingt es seinen Figuren, kleine Leute allesamt, sich in diesem Spannungsfeld zu behaupten, eine schützende Nische für sich zu finden und im Übrigen die Hoffnung niemals aufzugeben.

Titelgebend für den Roman ist ein molochartig wachsender Geschäftskomplex, der eine Stadt in der Stadt bildet als riesiges Einkaufszentrum einschließlich Vergnügungspark und Wohnsilo. Der verwitwete, 64jährige Töpfer Cipriano beliefert dieses Zentrum mit Tongeschirr, sein Schwiegersohn arbeitet dort als Wachmann. Mit beißender Ironie schildert Saramago die nur dem Profit verpflichteten Verhältnisse in diesem Konsumtempel, – die rüden Geschäftsmethoden, die aberwitzigen Attraktionen des Vergnügungsparks und die entmenschlicht anmutenden Bedingungen für die dort wohnenden Mitarbeiter. Ein gigantisches Plakat an der Fassade kündet von dem Geist, der da herrscht: «Wir würden ihnen alles verkaufen, was sie brauchen, wenn es uns nicht lieber wäre, sie würden alles brauchen, was wir ihnen verkaufen können.» Saramagos sarkastische Kapitalismuskritik weitet sich zu einer umfassenden Kritik der modernen Gesellschaft, wenn er die Lieferfahrten von der Töpferwerkstatt ins Zentrum schildert, vom idyllischen Dorf auf dem Lande über die trostlosen Außenbezirke mit ihren endlosen, plastiküberspannten Gemüsefeldern und den verwahrlosten Vorstadtregionen bis ins Verkehrsgetöse der unwirtlichen Großstadt.

Mit der Kündigung des Liefervertrages steht Cipriano vor dem Aus, sein Versuch, das Zentrum nunmehr mit bemalten Tonfiguren zu beliefern, scheitert ebenfalls, alle seine Mühen waren umsonst. Als dem Schwiegersohn eine Dienstwohnung im Zentrum zugewiesen wird, in die er ebenfalls mit umziehen wird, ist für ihn und seine schwangere Tochter das Töpferleben endgültig beendet. Eine später bei Erdarbeiten entdeckte, streng bewachte Höhle unter dem Zentrum erweckt seine Neugier, er steigt verbotener Weise hinab und findet dort sechs Tote. Das sind wir, erkennt er hellsichtig. Was folgt ist eine dem Höhlengleichnis von Platon entsprechende Allegorie auf den befreienden Ausstieg aus der Welt der vergänglichen Trugbilder in eine Welt des unverfälschten Seins. Er kehrt spontan in sein Haus zurück, erklärt sich endlich der ihn liebenden Nachbarin, der Schwiegersohn kündigt sein Dienstverhältnis und verlässt mit seiner Frau die gefängnisartige Wohnwabe. Alle Vier brechen auf in ein neues Leben, fahren mit dem klapprigen Lieferwagen hinaus in die Welt, einem unbestimmten Ziel entgegen.

In unnachahmlicher Weise hat der Autor seinen nachdenklich machenden Roman mit klugen Reflexionen, Andeutungen und Symbolen angereichert. Seine Figuren sind äußerst sympathisch und verblüffend lebensklug, was sich in den vielen köstlichen, nahtlos in den Erzählfluss eingebetteten Dialogen niederschlägt, die fiktiv sogar den zugelaufenen Hund mit einbeziehen. Immer wieder auch muss man schmunzeln über den feinsinnigen, hintergründigen Humor des Autors, der seinem Plot mit allerlei überraschenden Wendungen die nötige Spannung verleiht und so die Mutmaßungen des Lesers als auktorialer Erzähler schelmisch konterkariert. Der letzte Satz des Romans zitiert das neueste Plakat des Zentrums: «Baldige Eröffnung der Platonschen Höhle, Exklusiv-Erlebnis, einzigartig auf der ganzen Welt, kaufen sie jetzt ihre Eintrittskarte.»

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by btb Verlag

Die kleine Stechardin

hofmann-1Es darf gesudelt werden

Eine Arbeit liederlich und nachlässig, also schludrig auszuführen kann man auch als sudeln bezeichnen. Wer seine Tagebücher selbst als «Sudelbücher» bezeichnet, beweist damit Sinn für Humor und nimmt sich wohl auch selbst nicht so ernst. Georg Christoph Lichtenberg, der Mathematik, Astronomie und Naturgeschichte studierte und in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts Professor für Mathematik in Göttingen war, ist der Protagonist dieses Romans. Er wird uns als ein quirliger Typ von universaler Bildung geschildert, der an Vielem interessiert war und ständig wissenschaftliche Forschungen betrieb. Seinen Nachruhm jedoch begründeten jene erst posthum veröffentlichten «Sudelbücher» mit zahllosen Notizen und den literarisch bedeutsamen Aphorismen, denen man noch heute immer wieder begegnet. «Wenn ein Kopf und ein Buch zusammenstoßen, und es klingt hohl, ist das allemal im Buch?» wäre ein markantes Beispiel dafür, welches auch gut hierher passt. Lichtenberg war als unabhängiger Vertreter der Aufklärung ein scharfsinniger Beobachter, ein Freigeist mit feinem psychologischem Gespür, wie wir aus seinen satirischen Aufsätzen wissen.

Vieles ist «erstunken und erlogen» in diesem Buch, lässt uns Gert Hofmann im Vorwort wissen, und so ist denn auch der Plot seiner Geschichte frei erfunden, allerdings mit dem Anspruch, dass es durchaus so hätte sein können. Hofmanns Schreibstil, naiv und skurril gleichermaßen, an Märchen erinnernd, ja sogar pennälerhaft einfältig erscheinend, wirkt auf den Leser merkwürdig holzschnittartig, unelegant und uninspiriert. Ein Stilmittel, das wohl auf ein anderes Jahrhundert hinweisen soll oder auf die urkomische Figur, als die Lichtenberg in dem Roman unablässig geschildert wird, der als bunter Vogel durch Göttingen spaziert und fatal an die Märchenfigur des Rumpelstilzchens erinnert. Ein ewigkranker Hypochonder, durch Rachitis von Kindheit an buckelig und kleinwüchsig, ausgesprochen hässlich noch obendrein. So findet der professorale Protagonist denn auch lange nicht sein privates Glück, Frauen sind für ihn unerreichbar. Bis er als 35-Jähriger plötzlich auf das wunderschöne, 13-jährige Blumenmädchen Maria Dorothea Stechard trifft, im Roman die Stechardin genannt, die als Schülerin und Hausmamsell bei ihm einzieht und nicht lange darauf dann auch die Geliebte des Buckligen wird.

Eine ungewöhnliche Liebe, die sich da allmählich entwickelt zwischen den beiden so ungleichen Partnern, die schon bald nicht mehr nur sexuell miteinander verbunden sind, sondern die beide aufblühen vor Glück und als Mensch von einander profitieren. Das wissbegierige Mädchen von der Gelehrsamkeit des Professors, der lebensfremde Wissenschaftler von der Natürlichkeit des unverdorbenen Menschenkindes an seiner Seite, die ihn zu neuen Sinnfragen inspiriert und seine bisher den Mittelpunkt seines Lebens bildende Wissenschaft in den Hintergrund drängt. Dieses Glück, sogar von Heirat ist die Rede, währt nur ganze vier Jahre, bis zum frühen Tod der Stechardin, die einer Epidemie zum Opfer fällt.

Mit sprödem Charme und durchaus auch humorvoll erzählt, hinterlässt der Roman einen zwiespältigen Eindruck. Er ist kaum bereichernd, der als Protagonist missbrauchte Lichtenberg wird zwar häufig mit seinen Aphorismen zitiert, er wird aber eher als Hampelmann denn als scharfsinniger Satiriker vorgeführt, man erfährt nichts Erhebendes von ihm. Und der zweifellos vorhandene Unterhaltungswert der ungewöhnlichen Liebesgeschichte leidet doch sehr an der merkwürdigen Erzählweise, die passt weder auf  Lichtenberg noch auf die Liebe. Schade eigentlich, dass da so gesudelt wurde!

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by dtv München

Stern der Ungeborenen

werfel-1Auch ohne Graecum lesenswert

Bei seinem letzten, 1946 posthum veröffentlichten Roman «Stern der ngeborenen» hat der in Prag geborene Schriftsteller Franz Werfel die «Göttliche Komödie» fest im Blick gehabt. «Für mich ist immer Dante das Vorbild» lautet sein Bekenntnis, und darin weist er denn auch einige Parallelen mit seinem Zeitgenossen Thomas Mann auf. Dessen «Doktor Faustus» ist ja ebenfalls von Dante inspiriert, und auch Goethe hat sich dort mehr als nur Anregungen für seinen «Faust II» geholt. Gegenüber den genannten Werken unterscheidet sich der vorliegende Roman vor allem durch eine rigoros futuristische Handlung, bescheidene hunderttausend Jahre nach der realen Lebenszeit des unter dem Kürzel F.W. als Ich-Erzähler fungierenden Autors. Verschmitzt nennt der sein Werk, ganz lapidar, einen Reiseroman. Er kommuniziert darin immer wieder auf amüsante Weise mit dem Leser, bei dem er sich häufig für sein Unvermögen entschuldigt, das phantastische Geschehen in eine aktuelle Sprache umzusetzen, die richtigen Worte für die geschauten Phänomene und die für Menschen des Zwanzigsten Jahrhunderts unfassbaren Geschehnisse zu finden.

Als Wunschgast aus der fernsten Vergangenheit wird F.W. auf Anraten seines wiedergeborenen besten Freundes zu einer Hochzeit geladen, hunderttausend Jahre nach seinem Tode. Mit wahrhaft überbordender Phantasie schildert der Autor eine utopisch ferne Welt, in der die Menschheit den Planeten Erde gründlich umgestaltet hat und nun ein geradezu ideal erscheinendes Leben führt. Man lebt nämlich voll versorgt ohne Arbeit, ohne Geld und Ökonomie, ohne jede Sprachbarriere, wird quasi ohne Krankheiten einige hundert Jahre alt und behält, das wird potentielle Leserinnen besonders begeistern, bis ins Greisenalter immer sein jugendfrisches Aussehen. F.W. wird als Ehrengast überall herumgeführt, spricht mit den bedeutendsten Personen und lernt so die «astromentalen» Errungenschaften der nun staatenlosen Weltbevölkerung kennen, – er unternimmt natürlich auch einen spontanen Spaziergang ins All.

Im ersten Teil dieses dickleibigen Romans steht die hoch entwickelte menschliche Gesellschaft in all ihren sozialen Verflechtungen im Mittelpunkt, im zweiten das futuristisch Technische dieser fernen Zukunft, im dritten und interessantesten aber geht es mit dem Ausflug in den «Wintergarten» ins tiefgründig Philosophische. Interessant ist, dass Werfel Katholizismus und Judentum als einzige Religionen ganz selbstverständlich auch nach hunderttausend Jahren fast unverändert existieren lässt in seinem Roman. Und auch der überwunden geglaubte Krieg bricht in voller Härte wieder los, ausgelöst durch einen an Sarajewo erinnernden Pistolenschuss eines närrischen Waffensammlers. Wenig Hoffnung also, dass die Menschheit läuterungsfähig ist, allem Fortschritt zum Trotz.

Dieser visionäre Plot, den komplett zu erzählen ich mir hier wohlweislich spare, ist trotz vieler Ereignisse und dramatischer Wendungen aber nicht das Wesentliche dieses Romans, sein utopische Handlung war für mich als erklärter Science-Fiction-Verächter sogar eher abschreckend. Was mich dann aber doch bei der Stange gehalten hat, trotz einiger Längen, waren neben dem Renommee des Autors die unzähligen philosophischen Gedanken und historischen Verweise. Das alles wird tiefsinnig präsentiert mit einer unglaublichen Flut an skurrilen Begriffen und Namen, aber auch an eigenwilligen Wortschöpfungen. Von denen viele aus dem Griechischen abgeleitet sind – wohl dem, der eine fundierte humanistische Bildung genossen hat und den Wortwitz auch versteht! Vor dieser kreativen Fülle hat letztendlich selbst der Verlag kapituliert und auf Anmerkungen verzichtet, wie im Nachwort erklärt wird. Man muss das übrigens auch nicht immer alles ernst nehmen, zum Lesespaß tragen die witzigen Wortbildungen allemal bei, auch ohne Graecum, wie ich als Betroffener vergnügt bestätigen kann.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Fischer Taschenbuch Frankfurt am Main

Unterm Rad

hesse-1Ein didaktischer Albtraum

Bei dem 1906 erschienen zweiten Roman «Unterm Rad» von Hermann Hesse drängt sich der Vergleich mit ähnlichen Werken aus meiner jüngeren Lesezeit von Musil und Joyce geradezu auf. So unterschiedlich sie literarisch auch sind, eint sie inhaltlich doch die vernichtende Kritik an der Anfang des Zwanzigsten Jahrhunderts praktizierten Pädagogik, für damalige Schüler, Zöglinge und Seminaristen ein aus heutiger Sicht didaktischer Albtraum. Während Joyce sich glücklich befreien kann aus seiner traumatischen Schulzeit und Musils Törless verwirrt die Ausbildung abbricht, nimmt Hesses Protagonist ein schlimmes Ende. Und da ich gerade am Vergleichen bin, sei hier vorweggeschickt, dass Hesse in diesem frühen Roman noch einem betulich neoromantischen Duktus folgt, während viele der etwa zeitgleich schreibenden Kollegen sich bereits der klassischen Moderne zugewandt hatten.

Die unduldsamsten Hesse-Kritiker sprachen nach der Nobelpreisverleihung von 1946 dann sogar von literarischem Kitsch, was ich in Hinblick auf die von mir gelesenen wichtigen Romane des Autors so nicht bestätigen kann, und das gilt auch für den vorliegenden Roman. Denn nicht nur die begeisterte Rezeption von Hesse in den USA, die sich bekanntlich am «Steppenwolf» entzündet hatte, auch die Übersetzungen in viele Sprachen der Welt zeugen von einem literarischen Status, der durch interessante Thematiken seiner Werke erklärbar ist und eben nicht durch modernistische Erzählstile. Es geht ihm um Inhalt und Botschaft, nicht um Form.

In einer unschwer als Calw, dem Geburtsort Hesses, erkennbaren Kleinstadt im Schwarzwald fällt Hans Griebenrath in der Schule als Primus auf. Neben seiner Intelligenz ist dafür hauptsächlich sein außerordentlicher Fleiß entscheidend, hinter dem wiederum der Druck seines verwitweten Vaters steckt, der selbst nicht erreichte Ziele in seinem Sohn zu realisieren sucht. Neben dem ehrgeizigen Vater setzen besonders der Pfarrer und auch Schulrektor und Lateinlehrer auf Hans, sie drängen ihn, am Landexamen teilzunehmen und zur Vorbereitung darauf die großen Schulferien zu nützen, geben ihm Extrastunden in den wichtigen Fächern. Mit dem Bestehen der schwierigen Prüfung wird sechsunddreißig Knaben des Landes der Besuch des Seminars im Maulbronn ermöglicht. Hans besteht als landesweit Zweiter, hat dafür aber fast seine gesamten Ferien geopfert, in denen er sich eigentlich vom Schulstress erholen wollte. Dieser Druck verstärkt sich noch im Seminar, Hans fällt leistungsmäßig zurück, mit beeinflusst durch seinen künstlerisch veranlagten besten Freund, der sich rebellisch gegen den Stumpfsinn des schulischen Drills nach Art des Nürnberger Trichters auflehnt und von der Anstalt verwiesen wird. Hans scheitert wenig später ebenfalls, er ist total überfordert und erleidet einen nervlichen Zusammenbruch. Wieder zuhause erlebt er eine große Enttäuschung bei seiner ersten Liebelei, die Erfahrungen der ersten Tage in der lustlos begonnen Mechanikerlehre führen letztendlich zu seinem Tod. Ob Unfall oder Suizid, das lässt Hesse zwar offen, die Suizidvariante allerdings ist wahrscheinlicher, weil vorher schon mal sehr konkret thematisiert.

Der Plot ist linear in sieben Kapiteln erzählt, wunderbar anschaulich wird das damalige Leben in dem kleinen Städtchen und in der Klosteranlage geschildert. Die Charakterzeichnung der verschieden Figuren ist ebenso überzeugend wie die liebevollen Beschreibungen der Natur, von Hesses heimelig erscheinender Geburtsstadt sowie vom Kloster Maulbronn, – der Autor war als Schüler natürlich selbst dort, hat sich mutmaßlich so manches dort Erlebte von der Seele geschrieben. Wobei das Seminar eben nicht gut weg kommt pädagogisch, vom Land als Zuchtanstalt für gehobene Staatsdiener betrieben, die der Obrigkeit später dann willfährig dienen sollen. Eine nachdenklich machende Erzählung darüber, wie man durch blindwütige Überforderung ein junges Leben zerstört, die man auch heute noch gerne mal wieder liest.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Suhrkamp Taschenbuch Verlag

Stiller

frisch-1Tonnerwetter

Mit dem Roman «Stiller» gelang dem Schriftsteller Max Frisch 1954 der literarische Durchbruch. Im Prosawerk des Schweizer Autors ist die Identitätssuche des selbstentfremdeten modernen Menschen das zentrale Thema, es findet sich auch in den späteren Romanen «Homo faber» und «Mein Name sei Gantenbein» wieder, die ebenfalls seinem epischen Hauptwerk zuzuordnen sind. Und so wird denn der vorliegende Roman von dem Versuch seines Protagonisten Stiller beherrscht, der Determiniertheit seiner Handlungsweise zu entkommen, die Triebkräfte seines Inneren zu verstehen. Schon Georg Büchner hat in «Dantons Tod» seinem Helden ja die Frage in den Mund gelegt: »Was ist das, was in uns lügt, hurt, stiehlt und mordet»? Hier nun geht der Held den Weg der Selbstverleugnung, indem er einfach seine Identität wechselt, aus dem Schweizer Anatol Ludwig Stiller wird James Larkin White, ein US-Amerikaner.

«Ich bin nicht Stiller!» lautet denn auch der erste Satz, der laut Edgar Allen Poe ja oft schon die ganze Geschichte enthalte. Der bei seiner Einreise Festgenommne leugnet beharrlich, der jahrelang spurlos verschwundene Bildhauer Stiller zu sein, und er setzt auch alles daran, diese Identität nicht annehmen zu müssen, allen Fakten zum Trotz. Seine zunächst ziemlich kafkaesk anmutende Untersuchungshaft bildet den Hauptteil des Romans, in sieben Heften unter dem Titel «Stillers Aufzeichnungen im Gefängnis» protokolliert er, auf Wunsch seines Verteidigers, das Geschehen aus persönlicher Sicht und kommentiert es. «Die Beziehung zwischen der schönen Julika und dem verschollenen Stiller begann mit der Nussknacker-Suite von Tschaikowsky» schreibt er, eine Musik, die Stiller verächtlich als «virtuose Impotenz» bezeichnete. Er heiratete die grazile Balletteuse ein Jahr später, ihre Ehe aber machte Beide nicht glücklich, ihre Probleme miteinander sind ein zweites Hauptthema des Romans. Und so kommt es zu einer Affäre mit Sibylle, einer verheirateten Frau, die ihren Mann Rolf sehr selbstbewusst darüber informiert. Stiller flieht aus dieser Beziehung und lässt auch seine kranke Frau im Stich, er fährt auf einem Frachter als blinder Passagier in die USA. Der Staatsanwalt, der sich mehr als sechs Jahre später mit seinem Fall zu beschäftigen hat, ist jener Rolf, der nun wieder mit seiner Sibylle zusammenlebt. Er ist es auch, der nach Stillers Verurteilung sein Freund wurde und ein «Nachwort des Staatsanwaltes» schreibt zu den sieben Heften, die er von ihm erhalten hat, wodurch wir Leser den Helden nun noch eine Weile lang begleiten in seiner wahren Identität.

Es ist eine äußerst komplexe Geschichte, in der Max Frisch seine philosophische Thematik, das zu hinterfragende «Ich» also, aufarbeitet. Mit dem Kunstgriff des fingierten «Ichs» in Person von White, aus dessen Perspektive über den Versager Stiller distanziert berichtet werden kann, obwohl die Beiden ja identisch sind, gelingt es ihm, aus einer singulärer Identität auszubrechen und ein zweites, verdecktes «Ich» zu etablieren. Der Ich-Erzähler White berichtet also in der Er-Form über Stiller, aus dieser Position nachdrücklich eine Einheit Stiller/White ausschließend, was dem Text einen gewissen Verfremdungseffekt verleiht und darüber hinaus auch seine Glaubwürdigkeit in Frage stellt. Trotz dieser komplizierten Erzählsituation ist die Geschichte flüssig zu lesen, häufig sogar wird es auch amüsant, so zum Beispiel in den drei gleichnishaften Geschichten, die der Inhaftierte seinem naiven Wärter erzählt, von diesem immer wieder mit einem erstaunten «Tonnerwetter» begleitet. Zum Schmunzeln fand ich ferner die Beschreibungen des Volkscharakters seiner Schweizer Landsleute wie auch der Amerikaner, ebenso köstlich sind die bissigen Anmerkungen zur Architektur in seiner Heimat. Max Frisch erweist sich als ein großartiger, detailversessener Beobachter, seine sprachliche Könnerschaft liegt in der absoluten Treffsicherheit bei der Wortwahl.

«Ohne Mitwirkung des Lesers ist der Stiller weder zu lesen noch zu begreifen» hat Friedrich Dürrenmatt resümiert. Dem kann ich nur zustimmen, möchte aber ergänzen: Der Mühe wert ist es allemal!

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Suhrkamp Frankfurt am Main

Nullzeit

zeh-1Schuster bleib bei deinen Leisten!

Mit dem geheimnisvollen Titel des neuen Romans von Juli Zeh ist für Kundige auch gleich das Milieu genannt, in dem die Autorin ihre in der Gegenwart spielende Geschichte angesiedelt hat, es geht ums Tauchen. Das im Klappentext als «Psychothriller» bezeichnete Buch entführt den Leser in einem wahrhaft abenteuerlichen Plot in die Welt eines Aussteigers auf Lanzarote, der dort mit seiner Freundin zusammen eine Tauchschule betreibt. In diese abgeschiedene Idylle hinein platzt ein ziemlich neurotisches Pärchen und zerstört sie für immer.

Verhaltensanomalie ist übrigens auch das Kennzeichen der anderen Protagonisten, jeder hat so seine Macke. Genau da aber liegt eine Schwäche dieses Buches, denn die Psyche aller Charaktere ist weder glaubwürdig noch tiefgründig dargestellt, alle bleiben seltsam langweilig und farblos. Das gilt für die um ihre Karriere bangende junge Schauspielerin Jola ebenso wie für den von ihr ausgehaltenen, erfolglosen Schriftsteller Theo, die sich ohne erkennbaren Grund gegenseitig nach dem Leben trachten. Plausibilität ist keine Eigenschaft des haarsträubenden Plots, er ist bei aller Raffinesse in der Konstruktion damit letztendlich unglaubwürdig, man fühlt sich irgendwie unwohl bei der Lektüre, weil einiges absolut nicht zusammenpasst.

Neben dem Hauptstrang des Ich-Erzählers und Tauchlehrers Sven blendet Juli Zeh immer wieder im Wechsel die Tagebuchaufzeichnungen von Jola ein, die eine zunehmend abweichende Geschichte erzählt, was als dramaturgisches Mittel den Leser wohl irritieren soll, seine Gewissheiten fragwürdig erscheinen lässt. In einer klaren, fast spröde wirkenden Sprache mit bühnentauglich formulierten Dialogen erzählt die Autorin leichtfüßig und unbekümmert eine kuriose Dreiecksgeschichte, deren Hintersinn jedoch verborgen bleibt. Man wird bestens unterhalten jedenfalls, der Spannungsbogen steigert sich kontinuierlich und mündet dramaturgisch wirkungsvoll in einen Show-down, den man zu Recht als filmreif bezeichnen kann.

Bereichert aber wird man nicht mit diesem schnell lesbaren Buch. Ein Rezensent hat es nicht ganz zu unrecht als U-Bahn-Lektüre bezeichnet, was bei einer mit Buch-Preisen überhäuften Autorin mit dem Renommee, anspruchsvolle Literatur zu schreiben, mich denn doch sehr überrascht hat. War da mit Sex and Crime ein Bestseller geplant, mit Riesenauflage? Das aber können andere deutlich besser, und nicht nur Patricia Highsmith. Schuster bleib bei deinen Leisten!

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Schöffling & Co Frankfurt am Main

Lügen in Zeiten des Krieges

begley-1Keine Todsünde

Der Schriftsteller Louis Begley wurde als Sohn polnisch-jüdischer Eltern in der heutigen Ukraine geboren und emigrierte nach dem Zweiten Weltkrieg in die USA, wo er als Rechtsanwalt eine steile Karriere machte. Erst mit 58 Jahren veröffentlichte er seinen Debütroman «Lügen in Zeiten des Krieges», der 1991 wegen seiner Holocaust-Thematik literarisch einiges Aufsehen erregt hat. Darin verarbeitet er eigene Erlebnisse, es handele sich aber keineswegs um Memoiren, wie er betonte, er könne sich mehr als fünfzig Jahre später nur sehr unzureichend an diese Zeit erinnern.

In einer Vorbemerkung stellt der Autor seinen Ich-Erzähler als einen Mann älter als fünfzig vor: «Er bewunderte die Äneis. In ihr fand er zum ersten Mal ausgedrückt, was ihn quälte: die Scham, mit heiler Haut, ohne Tätowierung davongekommen zu sein, während seine Verwandten und fast alle anderen im Feuer umgekommen waren, unter ihnen so viele, die das Überleben eher verdient hätten als gerade er». Und dieser Maciek,«ein paar Monate nach dem Reichstagsbrand» geboren, wie es gleich am Anfang heißt, erzählt im ersten Kapitel des Romans von seiner wohlbehüteten Jugend in Polen, er war ein verhätscheltes Einzelkind, der Vater ein angesehener Arzt, die Mutter im Kindbett verstorben. Ihre Schwester Tanja übernahm Macieks Erziehung, auch seine Großeltern kümmerten sich liebevoll um ihn. Mit dem Anschluss Österreichs fielen erste Schatten auf die familiäre Idylle, nach dem Überfall auf Polen am 1. September 1939 änderte sich die Situation für die jüdische Familie dann dramatisch, der Vater zog in den Krieg, es begann der Kampf ums nackte Überleben.

Tante Tanja erweist sich dabei als selbstbewusste, äußerst listige Frau, die es immer wieder schafft, sich und ihren Neffen Maciek vor den Judenverfolgungen im besetzten Polen zu retten. Von Versteck zu Versteck hetzend, mit immer neuen Tarnungen, gefälschten Papieren und beherztem Auftreten ihre jüdische Herkunft verbergend, gelingt es den Beiden, den Holocaust zu überleben. Sie nehmen dafür eine falsche Identität als katholische Polen an, Maciek bereitet sich sogar gewissenhaft auf seine Erstkommunion vor. Dabei jagt ihm das strikte Verbot der Lüge als Todsünde eine naive Angst vor der Hölle ein, schließlich ist ja sein ganzes Leben auf Lügen aufgebaut, die ihn vor der sicheren Vernichtung bewahren. Ihre Odyssee führt sie schließlich nach Warschau, wo sie 1943 den Aufstand im Ghetto aus sicherer Entfernung miterleben. Nach der Niederschlagung des Warschauer Aufstandes im Herbst 1944 entkommen sie durch Tanjas beherztes Auftreten der Deportation nach Auschwitz und flüchten aufs Land, wo sie einige Monate auf einem Bauernhof arbeiten. Die Befreiung durch die Rote Armee erleben sie dann in der Stadt Kielce, – ihre falsche Identität behalten sie vorsichtshalber bei.

Was sich als lebensrettend erweist. Im letzten Kapitel nämlich, jetzt wieder aus der Perspektive des älteren Mannes erzählt, wird vom Pogrom von Kielce im Jahre 1946 berichtet, «und was glauben Sie? Über vierzig Juden hat es noch gegeben, die man erschießen musste!» Lakonische Ergänzungen wie diese und einige eingestreute Exkursionen zum Inferno in Dantes »Divina Comedia» konterkarieren trickreich die kindliche Perspektive von Macieks melancholischer Erzählung. Sehr anschaulich wird das Leben in verschiedenen Gesellschaftsschichten Polens beschrieben, vom wohlhabenden Gutsbesitzer mit zahlreicher Dienerschaft bis zum zerlumpten Flüchtling im Luftschutzkeller, dem nur noch das nackte Leben zu retten bleibt. Eine Fülle von stimmig beschriebenen Figuren verkörpern glaubhaft das Gute und das Böse als Erfahrungen einer traumatischen Jugend, die man sich schlimmer kaum vorzustellen vermag als Leser. Der Roman ist gleichermaßen berührendes Zeitzeugnis und dicht an der historischen Realität entlang erzählte Fiktion, die lesenswerte Chronik einer schlimmen Zeit, in welcher der Holocaust als Menetekel stets präsent – und Lügen keine Todsünden waren.

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Suhrkamp Taschenbuch Verlag

Odessa Star

koch-1Satire oder nicht

Wer da glaubt, die Romane eines Comedians müssten doch lustig oder zumindest amüsant sein, der irrt sich. Herman Koch nämlich, niederländischer Autor, Schauspieler, Kolumnist und TV-Comedian, ist eher ein schreibender Misanthrop, sein Roman «Odessa Star» von 2003, zehn Jahre später auch auf Deutsch erschienen, zeigt dies sehr deutlich. Es ist dies nämlich eine geradezu niederschmetternde Geschichte, thematisch der Fernsehserie «Breaking Bad» verwandt, die sich aus einer derart bösartigen Erzählhaltung heraus entwickelt, dass man sich als Leser am Ende einfach nur resigniert wünscht: Hätte man doch dieses unerfreuliche Buch nie zur Hand genommen!

Den Durchbruch zum Bösen begeht hier Fred Moorman, ein Endvierziger in der Midlife-Crisis, der unter seinem so völlig unspektakulären Leben leidet, sich als Versager fühlt. Er wünscht sich sehnlich einen anderen Bekanntenkreis, schämt sich für seinen popligen Opel, träumt stattdessen von einem schwarzen Jeep Cherokee mit allem Schnickschnack. Als ihm sein protzig auftretender ehemaliger Schulkamerad Max G. begegnet, sieht er in dem vermutlich mafiosen Jugendfreund einen Helfer für den Aufstieg aus seinem drögen Mittelstandsdasein. Was folgt ist eine haarsträubende Geschichte, in deren Verlauf wir nicht nur die bucklige Verwandtschaft des fragwürdigen Helden näher kennen lernen, sondern auch ihn selbst, wir erleben ihn samt Frau und halberwachsenem Sohn zum Beispiel bei einem Urlaub auf Menorca. Währenddessen sorgen der zwielichtige Freund und dessen Bodyguard dafür, dass die unliebsame Mitbewohnerin in Freds Haus spurlos verschwunden ist, als er zurückkommt.

Die dezent eingebauten Thrillerelemente kontrastieren mit vielen geradezu unappetitlichen Szenen im Leben dieses Antihelden, dessen Häme vor nichts haltzumachen scheint. Seien es die schon eine viertel Stunde vor Öffnung des Speisesaals «wie eine Herde an einem Wasserloch» wartenden Senioren im Hotel, über die er sich ärgert, die einen penetranten Geruch nach Apotheke und Windeln ausströmen und dann binnen kurzem das Buffet ratzeputz leer fressen, oder der mongoloide Junge, dessen Anblick ihn so stört, dass er ihn am liebsten im Pool ertränken würde. Er mokiert sich aber auch über die grottenhässlichen Belgier und die ewig Fish and Chips mampfenden Engländer, der menschenfeindliche Protagonist gehört also unzweifelhaft zur Spezies der Kotzbrocken. Man fragt sich als Leser, mit welchem Kalkül der Autor seine wirre Geschichte mit so unappetitlichen Szenen wie die Kopulation des Nägel kauenden Französischlehrers mit seiner hässlichen Frau oder die Ekel erregenden Zustände in der Wohnung seiner dementen Mitbewohnerin anreichert. Ist es der pure Spaß am Unkorrekten, Geschmacklosen, Gehässigen? Ist diese sarkastische, zynische Erzählhaltung ein bewusst eingesetztes Stilmittel, trickreich die Erwartungen der Leser zu konterkarieren, sind alle diese Tiraden eines Egomanen also nur als Satire zu verstehen?

Dann aber wäre die Übertreibung als typisches Kennzeichen der Satire hier auf die Spitze getrieben, die Grenze zur Verunglimpfung ist eindeutig überschritten. Ich hatte vielmehr das ungute Gefühl, dem Autor ist seine Story irgendwie entglitten. Denn vieles daran ist derart haarsträubend und verworren, dass man sich nur wundert, – die völlig abstruse Szene um die TV-Sendung «Wer wird Millionär» ist ein beredtes Beispiel dafür, aber auch der Mord an Max G. oder die manipulierte Gasleitung des Schwagers. Und wenn der Junge mit Dow-Syndrom als «Mongo» bezeichnet wird, als ein Halbmensch, dessen Eltern sich schämen müssten, ihn gezeugt zu haben, dann ist man einfach nur angewidert von diesem unsäglichen «Thriller». Nun könnte man einwenden, all diese Tabubrüche begeht ja nur der fiese Ich-Erzähler Fred, eine Romanfigur also, stünde dem nicht entgegen, dass dieser unsägliche Held ja durchaus wohlwollend beschrieben wird von seinem Schöpfer Herman Koch, eine abgrenzende Distanz ist da für mich nicht erkennbar.

Fazit: miserabel

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Genre: Roman
Illustrated by Kiepenheuer & Witsch Köln

Malina

bachmann-1Es darf gedeutet werden

Die österreichische Schriftstellerin Ingeborg Bachmann, bekannt vor allem durch ihre Lyrik, hat mit «Malina» 1971 einen einzigen Roman veröffentlicht, gedacht als erster Teil der geplanten Trilogie «Todesarten», deren Verwirklichung ihr früher, rätselhafter Tod in Rom jedoch verhindert hat. Sein Thema ist die Liebe, aus weiblicher Sicht geschildert von einer namenlosen Ich-Erzählerin, ein wahres Psychodrama, Zeugnis der extremen Not einer an ihrer Verletzlichkeit zerbrechenden Frau, deren geradezu unterwürfiger Kampf um Liebe immer wieder mit dem Intellekt einer erfolgreichen Schriftstellerin kollidiert.

Wie in einem Drama beginnt der Roman mit einer Aufzählung der auftretenden Personen, zu denen neben Ivan und Malina auch «Ich» gehört, Augen br., Haare bl., geboren in Klagenfurt, Wohnadresse Wien III, Ungargasse 6. Wir haben es mit einer Autobiografie zu tun, «Eine geistige, imaginäre Autobiographie» schränkte sie später ein: «Diese monologische oder Nachtexistenz hat nichts mit der gewöhnlichen Autobiographie zu tun, mit der ein Lebenslauf und Geschichten von irgendwelchen Leuten erzählt werden.» In drei Kapitel gegliedert erzählt der Roman im ersten Kapitel «Glücklich mit Ivan» von ihrem Verhältnis zu einem Ungarn mit zwei Söhnen, der in der unmittelbaren Nachbarschaft wohnt. Ihrem Glück steht entgegen, dass Ivan geschäftlich häufig auf Reisen ist, sich wenig um ihre emotionalen Wallungen kümmert, sehr dominant auftritt. Ganz anders Malina, ihr Mitbewohner, ein braver Beamter, der immer für sie da ist, ausgeglichen, geduldig, fürsorglich. Im zweiten Kapitel «Der dritte Mann» behandelt Ingeborg Bachmann die Auslöser ihrer psychischen Probleme, die unsäglichen Schrecken des Zweiten Weltkrieges, an die sie sich in Alpträumen erinnert, wobei der Vater, als dritter Mann sozusagen, symbolhaft den Horror personifiziert bei all den tranceartigen Zuständen, in denen sie ihr inneres Inferno beschreibt. «Von letzten Dingen» ist dann das dritte Kapitel überschrieben, in dem sie erkennt, dass die drohende Eskalation ihrer persönlichen Existenz auch mit Malinas Hilfe nicht zu überwinden sein wird, sie vielmehr an einer Männerwelt scheitern müsse, der sie nichts entgegenhalten kann. «Ich habe in Ivan gelebt und ich sterbe in Malina» heißt es im Roman, und zu ihrem Tod, dem Verschwinden in einem Riss in der Mauer, lautet dann der letzte Satz: «Es war Mord.»

Man hat den Roman als Aufarbeitung ihrer Beziehung zu Max Frisch gedeutet, deren Scheitern sie schwer verkraftet hat, Frisch hatte das seinerseits ja schon in «Mein Name sei Gantenbein» thematisiert, – insoweit kann man «Malina« durchaus als Schlüsselroman bezeichnen. Der damals prompt eine «feuilletonistische Hetzjagd» ausgelöst hatte, wie Elfriede Jelinek in ihrer vom «Spiegel» bestellten, dann aber nicht veröffentlichten Buchbesprechung geschrieben hat, die nun dem Roman als Anhang beigefügt ist. Gleichzeitig aber ist der Roman eine bittere Abrechnung mit der Rolle der Frau in einer männerdominierten Gesellschaft, die Ingeborg Bachmann mit ihren poetischen Mitteln eindringlich beschreibt.

Wirklich noch nie ist es mir allerdings derart schwer gefallen, einen Roman zu Ende zu lesen! Das liegt keineswegs an dessen Thematik, es liegt einzig und allein an der sprachlichen Umsetzung. Gekonnt formuliert zwar in makelloser Syntax, sprachverliebt, geradezu wortgewaltig, ist dies ein Prosatext, der inhaltlich und gedanklich nur als wüstes Geseiere zu bezeichnen ist, bestehend aus einem Sammelsurium von Phantasmagorien, Alpträumen, irrealen Reflexionen, schierem Nonsens. All das ist oft zusammenhanglos erzählt in textlichen Sequenzen, denen ich partout nichts abgewinnen konnte, die einfach nur quälend zu lesen sind. Und in denen mir die Suchtproblematik der lebensuntüchtigen Autorin denn doch einiges zu erklären scheint. Genau das aber öffnet naturgemäß ein Füllhorn für Deutungen, was die vielfach beschworene Innerlichkeit dieser Autorin anbelangt.

Fazit: miserabel

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Genre: Roman
Illustrated by Suhrkamp Frankfurt am Main

Im Tal des Vajont

corona-1Danebengelungen

Der italienische Schriftsteller, Holzbildhauer und Alpinist Mauro Corona aus der Gemeinde Erto in den Friauler Dolomiten hat mit seinem Roman «Im Tal des Vajont» seiner Heimat ein bemerkenswertes Denkmal gesetzt. Sein 2013 auch auf Deutsch erschienener Roman findet in seiner archaischen, düsteren Thematik eine Entsprechung allenfalls achtzig Jahre vorher, in John Knittels «Via Mala», dem berühmten, inzwischen mehrfach verfilmtem Roman. Durch die Katastrophe von Vajont erlangte das Tal 1963 traurige Berühmtheit, als durch einen gewaltigen Erdrutsch in den Stausee hinein eine Flutwelle das ganze Tal überschwemmte, mehr als zweitausend Opfer waren zu beklagen. Der vorliegende Roman hingegen hat seinen zeitlichen Hintergrund lange davor.

Zwischen Prolog und Epilog verpackt liefert uns der Autor die fiktive Geschichte eines jüngst erst aufgefundenen dicken Heftes, eine mit Bleistift geschriebene Lebensbeichte, die wie folgt beginnt: «Ich heiße Severino Corona, genannt Zino. Ich wurde am 13. September 1879 in Erto geboren und habe immer auf diesem wilden und bergigen Flecken Erde gewohnt, wo es außer Arbeit nichts Gutes gibt, aber trotzdem lebe ich sehr gern hier.» Er habe, erklärt der Autor, diesen Text, der den eigentlichen Roman ausmacht, nur unwesentlich verändert. Zino, früh verwaist, fristet ein karges Leben als Ziegenhirte und Holzfäller, bis er im Alter von siebzehn Jahren seine Initiation erlebt, verführt von einer doppelt so alten Frau. Durch den gesamten Roman hindurch sind es immer wieder die Frauen, von denen die Initiative ausgeht, die ihn zu ihrem Liebhaber machen, der biblischen Eva gleich, die Adam zur Sünde verführt, eine fragwürdig einseitige, machohafte Perspektive des Autors. Natürlich bleiben diese zumeist rein sexuellen Beziehungen nicht ohne Folgen, sie lösen Abtreibungen, Eifersuchtsdramen, Morde und Selbstmorde aus, die uns heutige Leser in ihrer elementaren Brutalität schockieren. Die Wirkung der furchtbaren Taten wird noch verstärkt durch die naiv direkte, nichts beschönigende, geradezu barbarisch deutliche Erzählweise, die sprachlich die raue Gebirgswelt abzubilden scheint, in der all dies geschieht.

Glücksmomente, die geeignet wären, dieser Geschichte etwas von ihrer bedrückenden Härte zu nehmen, gibt es kaum welche. Stattdessen nimmt der Tod eine dominante Stellung ein, er ist häufiger Gast im Tal des Vajont. Die Romanfiguren werden als ernste, schicksalsergebene Gebirgler beschrieben, die weitgehend humorfrei, aber auch kaum durch moralische Skrupel oder gar den Pfarrer gebremst, ihr freudlos karges Leben fristen. Insoweit war für mich die Lektüre ebenfalls freudlos. Sie vermag nämlich auch nicht zu punkten durch sprachliches Können, denn der Autor, selbst ja Holzbildhauer, schreibt einen holzschnittartigen Stil, unbeholfen wirkend ohne jedes literarische Raffinement, an Schulaufsätze erinnernd, deren Verfasser ausschließlich bemüht sind, ihren Stoff vollständig abzuhandeln.

Paradox erscheint mir, dass hier emotionslos trocken eine Geschichte erzählt wird, die gleichwohl etliche märchenhafte Elemente enthält. Bei aller Magie aber dominiert das herb Elementare, die Schicksalsergebenheit der Protagonisten manifestiert sich in einer latent vorhandenen Todessehnsucht, die das Sterben als Befreiung von der Härte des Lebens ansieht. Die heile Bergwelt, die als Heimat auf Zino eine unwiderstehliche Anziehungskraft ausübt, erweist sich in diesem Roman als Illusion, seine schicksalhafte Getriebenheit, sein naiver Aberglaube und drastische Erotik bestimmen das Geschehen. Wer es deftig mag, kommt voll auf seine Kosten, inwieweit die zuweilen willkürlich aneinander gereiht erscheinenden Episoden über das karge Alltagsleben allerdings authentisch sind, vermag ich nicht zu beurteilen. Vieles wirkt allzu deutlich konstruiert, der Plot ist überladen mit häufigen Wiederholungen. Vor allem aber ist der Impetus des Autors an der unzulänglichen sprachlichen Umsetzung gescheitert.

Fazit: miserabel

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Genre: Roman
Illustrated by List München

Greasy Lake und andere Geschichten

boyle-1Amerikanisch, daran ist kein Zweifel

Der als Thomas John Boyle geborene US-amerikanische Schriftsteller änderte seinen Namen in jungen Jahren zu Ehren eines schottischen Vorfahren in Tom Coraghessan Boyle, bekannt geworden ist er dann jedoch unter dem Kürzel T. C. Boyle. Wie bei seinem Namen sind auch im Werk des Autors unbändige Kreativität und sprachliche Knappheit die entscheidenden gestalterischen Merkmale, der 1985 erstmals veröffentlichte Band «Greasy Lake und andere Geschichten» ist ein prägnantes Beispiel dafür. In ihm sind vierzehn seiner Kurzgeschichten zusammen gefasst, insgesamt gibt es mehr als sechzig davon, die von ihm in etlichen derartigen Bänden publiziert wurden, gleichwertig neben seinen Romanen.

Und es geht gleich richtig zu Sache in der titelgebenden ersten Geschichte «Greasy Lake», eine durchaus schockierende Erzählung über eine Gruppe Jugendlicher, von der es da im ersten Absatz heißt: «Wir waren neunzehn. Wir waren böse. Wir lasen André Gide und nahmen ausgeklügelte Posen ein, um zu zeigen, dass wir auf alles schissen. Abends fuhren wir meistens zum Greasy Lake rauf». Es folgt ein von Alkohol und Drogen geförderter, völlig sinnloser Gewaltexzess. Wie hier sind auch in den anderen Kurzgeschichten zumeist Außenseiter der Gesellschaft als Protagonisten vertreten, oft komische Sonderlinge, die Boyle mit wenigen Worten glaubhaft und treffend skizziert. Er tut dies mit einer unterschwelligen Ironie, die aus dem ernstesten Geschehen eine amüsante Story entstehen lässt. Sprachlich ist all das brillant umgesetzt durch einen metaphernreichen, gleichwohl aber eher nüchternen, knappen und pointierten Schreibstil, der mich zuweilen an Hemingway erinnert hat.

Boyles Themen sind nicht nur originell, sie verblüffen den Leser auch durch ihre Vielfalt. Da geht es um eine verhängnisvolle Leihmutterschaft, eine heimliche Liaison des amerikanischen Präsidenten Eisenhower mit der Frau des KPdSU-Generalsekretärs Chruschtschow, einen grausamen indischen Bettlerkönig, um üble Geschäfte mit naiven Überlebensängsten, fanatische Walschützer, den Erfolg der Neumondpartei in den USA, einen gescheiterten Elvis-Presley-Imitator, die Einbürgerung der Stare 1890 mit ihren unerwünschten Folgen 1980, es geht um den grotesken materiellen Mangel im kommunistischen Russland und anderes mehr. Detailreich geschildert und immer wieder überraschende Wendungen nehmend, wobei wie gesagt auch der Humor nicht zu kurz kommt, sind diese wahrhaft abenteuerlichen Geschichten eine gleichermaßen abwechslungsreiche wie kurzweilige Lektüre.

«Literatur kann in jeder Hinsicht großartig sein, aber sie ist nur Unterhaltung». Wie stimmig dieses Zitat von T. C. Boyle ist, speziell für ihn persönlich, das zeigt sich für mich recht deutlich in der vorliegenden Sammlung von Geschichten. Der Autor hinterlässt mit ihnen beim Leser keine nachhaltige Wirkung, man hat sie vergessen, kaum dass man sie gelesen hat, mithin eine ziemlich belanglose Lektüre, für die U-Bahn oder den Badestrand geeignet. Gut und Böse sind da immer klar getrennt, Zwischentöne fehlen weitgehend, Philosophisches gar ist nirgendwo zu finden, obwohl die interessanten Themen ja bestens dazu geeignet wären, die Dinge etwas tiefer auszuloten, ihnen auf den Grund zu gehen, auch andere Facetten zu beleuchten. Man wird also nicht gerade bereichert durch dieses Buch, aber immerhin sehr gut unterhalten, amerikanisch eben, daran ist kein Zweifel.

Fazit: lesenswert

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Genre: Kurzgeschichten und Erzählungen, Roman
Illustrated by dtv München

Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge

rilke-1Der Lyriker als Romancier

Rainer Maria Rilke selbst hat «Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge» als Prosabuch bezeichnet, nicht als Roman. Im Brockhaus wird der Roman definiert durch «die individuell gestaltete Einzelpersönlichkeit, die einer als problematisch empfundenen Welt gegenübertritt», und genau dieses Charakteristikum findet sich hier in der fiktiven Figur des dänischen Poeten, der einem aussterbenden Adelsgeschlecht angehört und als armer Dichter in Paris seinen Weg sucht – also doch ein Roman! Es ist der einzige, den der Lyriker Rilke geschrieben hat, ganz unter dem Eindruck seines Aufenthaltes in der damals drittgrößten Stadt der Welt, sein Roman wurde 1910 veröffentlicht.

Im ersten Teil der fragmentarischen, aus 71 Aufzeichnungen bestehenden Erzählung berichtet der 28jährige Malte als eine Art Tagebuchschreiber von seinen Pariser Erlebnissen und den schockierenden Eindrücken, der Moloch Großstadt steht jedenfalls in krassem Gegensatz zu seiner Kindheit in einer wohlbehüteten ländlichen Welt. Er schildert die Menschenmassen und das unsägliche Elend, das mit der Industrialisierung einhergeht. Verfall, Krankheit und Tod scheinen allgegenwärtig, ständig begegnen ihm nie gesehene Aussätzige, Krüppel, übelste Gerüche verfolgen ihn auf seinen Streifzügen, – in seinem Eckel ist ihm die Bibliothek einzige Zufluchtsstätte im Paris des Fin de Siècle. Seine Kindheitserinnerungen im zweiten Themenkomplex sind geprägt von hochherrschaftlichen Wohnsitzen mit großen Zimmerfluchten, dunklen Ölgemälden mit den Portraits der Vorfahren, steifen Essensritualen im Kreise der Familie, sogar der Spuk einer vor hundert Jahren gestorbene Ahnfrau fehlt da nicht, sie erscheint gelegentlich in weißem Kleide und durchquert das Esszimmer, zum Schrecken aller. Und ganz verschlüsselt schimmert auch eine verbotene Liebe durch in den Jugendbildern, von denen Malte in nicht chronologischer Folge berichtet.

Ergänzt wird all dies durch Reflexionen über historische Ereignisse, denen zu folgen, deren Anspielungen zu verstehen, den Normalleser deutlich überfordern dürfte, bei mir war es jedenfalls so. Ob da von längst verblichenen Königen oder edlen Damen die Rede ist, vom Papst in Avignon, von antiken Gestalten, hundert Jahre nach Erscheinen des Romans dürfte dem heutigen Leser oft der adäquate Verständnishintergrund fehlen. Einfacher ist es da und auch ergiebiger, Rilkes Gedanken über Grundfragen menschlichen Lebens zu folgen, die Frage nach Gott, die eigene Identität, Schicksal, Liebe, Angst, Tod, aber auch Gesellschaft, Kunst und Sprache natürlich, die Benennung von Geschehnissen und Dingen also, deren pure Existenz ohne die Sprache ihm fraglich erscheint.

Und damit sind wir genau bei dem, was diesen Roman auszeichnet, die unglaublich feinfühlige, tiefgründige Sprache nämlich, die ihresgleichen sucht in der deutschen Prosa, kurzum subtil Erzähltes, gemeinhin als Prosagedicht bezeichnet. Hier wird nicht blumig in Worten geschwelgt wie bei manchen Großschriftstellern, nicht maßlos ausufernd wie bei seinem Zeitgenossen Proust zum Beispiel, Rilke entwirft im Gegenteil in knappen Worten einen ganzen Kosmos an Gedanken. Die Dichte seiner Prosa ist atemberaubend, er war der sensible Poet, der «unter dem Sichtbaren nach dem Äquivalenten suchte für das innen Gesehene», und was wir als Ergebnis bei ihm lesen ist äußerst komprimierte «Schmucksprache» im besten Sinne des Wortes. Als einer der Wegbereiter der literarischen Moderne verwendet Rilke Montagetechniken, setzt den Bewusstseinsstrom ein, sogar ein fiktiver Herausgeber findet sich, personifiziert durch gelegentlich eingestreute Randnotizen im Manuskript und verschiedene Fassungen im Anhang. Auch wenn wir nicht alles erfahren über Malte, an dieser oder jener Verständnisklippe scheitern, dieser Roman ist ein sprachliches Fest für entsprechend orientierte Leser mit Muße für ihre Lektüre, vielleicht sogar mit der seltenen Geduld, ein schwieriges, aber wichtiges Werk auch mehrmals zu lesen.

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Insel Frankfurt am Main

Geleitbrief

pasternak-1Spezielle Lesefrüchte

Eine breitere Öffentlichkeit kennt ihn vom Kino her, der auf seinem 1957 erschienenen einzigen Roman basierende Spielfilm «Doktor Schiwago» war international äußerst erfolgreich und gewann in Hollywood gleich fünf Oscars. Als 1958 der Nobelpreis für Literatur an Boris Pasternak verliehen wurde, musste der regimekritische Schriftsteller diesen auf Druck der Behörden ablehnen. Erst posthum, mit der allmählichen Liberalisierung unter Gorbatschow, wurde er offiziell rehabilitiert, sein Sohn konnte dann stellvertretend 1989 den Nobelpreis für ihn entgegennehmen. Geehrt wurde damit sein «bedeutender Beitrag zur zeitgenössischen Lyrik sowie zur großen russischen Erzähltradition». Zu Letzterer gibt in dem überschaubaren Prosawerk des Autors der Band «Geleitbrief» mit dem Untertitel «Entwurf zu einem Selbstbildnis» ein Beispiel ab für sein diesbezügliches Talent.

Pasternak stammte aus einer intellektuellen Familie, der Vater Professor für Malerei, die Mutter eine bedeutende Pianistin. In ihrem Hause in Moskau trafen sich viele Künstler, sein Vater illustrierte zum Beispiel die Bücher von Lew Tolstoi, es verkehrte aber auch Aleksandr Skrjabin bei ihnen, für den er grenzenlos schwärmte, ja selbst von einer solchen musikalischen Karriere träumte, – er war also ganz verschiedenen künstlerischen Einflüssen ausgesetzt. Und so beginnt denn auch der «Geleitbrief» mit einer Zugfahrt mit seinen Eltern, bei der sie auf ein deutsches Ehepaar treffen – Rainer Maria Rilke mit Frau – das zu Tolstoi will. Und tatsächlich hält der Schnellzug quasi auf freier Strecke im Wald, an einem exklusiven Haltepunkt nur für den berühmten Schriftsteller, der dort auf seinem Landgut lebt.

Der dreiteilige Bericht enthält in chronologischer Folge Ereignisse aus dem Leben des Dichters, der erst auf Umwegen zu seiner Kunst fand. Zunächst beginnt er ein Studium der Jurisprudenz, widmet sich aber weiter auch der Musik. Nach einem Vorspiel bei Skrjabin erkennt er jedoch, dass eine musikalische Karriere für ihn nicht in Frage kommt, der berühmte Komponist empfiehlt ihm einen Wechsel zur philosophischen Fakultät. Dort arbeitet er mit großem Eifer, wobei ihn die Denkrichtung der Marburger Schule besonders anzieht. Als seine Mutter ihm eine größere Summe Geldes gibt für einen Auslandsaufenthalt, geht er nach Marburg, um bei Hermann Cohen, dem Begründer des Neukantianismus, zu studieren. Diese Zeit in Deutschland hat Pasternak besonders geprägt, er greift neben glänzend erzählten Episoden aus seinem persönlichen Leben immer wieder philosophische Themen auf, erzählt von tiefschürfenden Gesprächen mit seinen Freunden und Kommilitonen. Dabei nimmt die Kunst, insbesondere natürlich aber die Literatur, einen breiten Raum ein, er beleuchtet deren Wesen aus den verschiedensten Blickwinkeln. Und so bleibt es nicht aus, dass er nach eifrigen Studien plötzlich zu dem Schluss kommt, sich ganz der Literatur zu widmen, die Philosophie sofort und endgültig aufzugeben. Überstürzt verlässt er Marburg, bereist Italien, dessen grandiose Kunstfülle ihn maßlos beeindruckt.

«Geleitbrief» ist eine ganz besondere Form von Autobiografie. Einerseits Zeugnis beharrlicher Selbstfindung, andererseits aber auch Verkündung glücklich erworbener Erkenntnisse auf dem Weg zu einem Dichter, dessen poetische Kunst tief verwurzelt ist in der russischen Geschichte und Tradition. In wohlgesetzten Worten beschreibt Pasternak sehr bildhaft das Wesentliche unseres Daseins zwischen dem Faktischem und der Kunst als dessen Gegenpol. Er tut dies mit großem Ernst, sehr nüchtern denkend. Das ist bereichernd für den Leser, der nebenbei auch einen vertiefenden Einblick in die Welt einer Literatur erhält, deren Nährboden Pasternaks geliebte Heimat Russland bildet. Unterhaltsam jedoch ist diese Prosa nicht, der Autor setzt bei seinen Lesern den Willen zum steten Mitdenken voraus, aus dem erst jene speziellen Lesefrüchte erwachsen können, die solcherart Lektüre literarisch wertvoll machen.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Fischer Taschenbuch Frankfurt am Main

Ein anderer Ort

oz-1Im Mikrokosmos des Kibbuz

Der 1939 als Amos Klausner geborene Schriftsteller nahm 15jährig beim Eintritt in einen Kibbuz den Namen Amos Oz an, als meistübersetzter israelischer Autor und Professor für hebräische Literatur wurde er zeitlebens mit vielen Preisen geehrt. In seinem 1966 erschienenen ersten Roman «Ein anderer Ort» thematisiert er die israelische Utopie einer basisdemokratisch geführten, sozialistischen Siedlungsgemeinschaft, dem Kibbuz, der im heutigen Israel wirtschaftlich und gesellschaftlich bedeutungslos geworden ist. Der Gegensatz einer streng rationalen, disziplinierten Gesellschaftsordnung des idealistischen Kollektivs zu den individuell vorhandenen, existentiellen Trieben und Prägungen der einzelnen Mitglieder bildet den Stoff, besser Zündstoff, für eine Geschichte, die zeitlich Anfang der sechziger Jahre – noch vor dem Sechstagekrieg – angesiedelt ist.

In einer Fülle von anschaulich beschriebenen, oft kantigen Figuren bilden zwei Paare die alles dominierenden Protagonisten. Ihre als Amour fou den beschaulichen Frieden im Kibbuz störenden sexuellen Beziehungen bilden im Wesentlichen den losen erzählerischen Leitfaden einer ansonsten handlungsarmen Geschichte. Der von seiner Frau verlassene Lehrer des Wehrdorfs im Norden Israels hat ein Verhältnis mit der Frau des LKW-Fahrers, welcher sich wiederum von dessen 15jähriger Tochter verführen lässt, was nicht ohne Folgen bleibt, sie wird schwanger. Die in dieser unheilvollen Melange begründeten individuellen Konflikte münden gleichwohl in ein versöhnliches Ende, das Menschliche obsiegt über das rein Rationale.

Um die hier kurz skizzierte Handlung herum wird ein etwa einjähriger Abschnitt aus dem Kibbuzleben erzählt. Amos Oz beschreibt in einzelnen Szenen wunderbar stimmig und mit Liebe zum Detail eine ganz eigene Welt, die für den ausländischen Leser unwirklich, fast exotisch erscheinen muss mit ihrem streng befolgten Regelwerk. Dessen religiöse Komponente wird verkörpert durch den LKW-Fahrer, ein ebenso tatkräftiger wie ernster, wortkarger Mann, der häufig in Bibelzitaten sprechend seine Gesprächspartner immer wieder verblüfft mit seiner unbeirrten Geradlinigkeit. Überhaupt ist die selbstverständliche Bereitschaft der Siedler, sich den strengen Regeln und der harten Arbeit zu unterwerfen, ihre fast mönchische Genügsamkeit wirklich staunenswert. Weit ins Familienleben eingreifend wachsen Kinder hier räumlich getrennt von den Eltern auf, jedes Privateigentum wird strikt ablehnt, die Gleichheit aller postuliert, ein Irrtum, an dem auch der Kommunismus gescheitert ist. Der von den Älteren verinnerlichte Gründungsmythos der Kibbuzniks wird von den jungen Leuten zunehmend in Frage gestellt, sie sperren sich gegen die sozialistische Idee, verlassen ihr Wehrdorf, ziehen in die Städte oder gehen ins Ausland. Die Nähe der arabischen Feinde und deren ständig drohenden Angriffe fördern unter den jungen Israelis einen aggressiven Militarismus, der dem Friedenswillen der Alten entgegensteht: «Ein Jude, der zur Waffe greift, ist kein Jude», glauben jene. Und so endet denn auch dieser Roman mit einem von den Kibbuzniks durch eine Landnahme provozierten Scharmützel mit den Arabern, dem der Traktorfahrer zum Opfer fällt und das viel Sachschaden anrichtet.

Unübersehbar nostalgisch und wehmütig verklärend beschreibt Amos Oz hier eine bieder anmutende Pionierzeit, die schon damals ihren Zenith überschritten hatte. Er erzählt sie aus der Perspektive eines Ich-Erzählers, der anonym bleibt, aber im Dorf lebt und den Leser schon im ersten Satz direkt anspricht: «Vor euch liegt der Kibbuz Mezudat Ram». Zuweilen in Form des Bewusstseinsstroms erzählt, häufig aber durch direkte Rede, breitet der Autor das Bild eines fremdartigen Mikrokosmos vor dem Leser aus. Immer wieder lässt er ihn auch teilhaben an seinen Gedanken, würzt all dies mit feiner Ironie und schafft damit elegant eine Atmosphäre der Vertrautheit, die den Leser fest an sein Buch zu fesseln vermag.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Suhrkamp Frankfurt am Main

Die Schrecken des Eises und der Finsternis

ransmayr-1Eisige Chronik

Als literarisches Genre erfreuen sich Reiseerzählungen schon seit der Antike großer Beliebtheit, Fernweh ist das Hauptmotiv dafür. Wobei der besondere Reiz für manchen Leser wohl auch darin bestehen mag, all die Abenteuer und Strapazen solcher Reisen vom bequemen Sessel in der warmen Stube aus miterleben zu können. Der Titel «Die Schrecken des Eises und der Finsternis» von Christoph Ransmayrs frühem Roman, 1984 erschienen, weist überdeutlich auf diesen Zusammenhang hin. Der österreichische Autor ist selbst ein begeisterter Globetrotter, der in seinen Werken Fiktionales und Historisches vermischt und menschliche Grenzerfahrungen thematisiert.

Im Wesentlichen geht es in diesem Buch um die österreichisch-ungarische Polarexpedition von 1872 bis 1874 zur Erkundung der Nordostpassage, dem nördlichen Seeweg zum Pazifik, in deren Verlauf das Franz-Josef-Land entdeckt wurde. Basierend auf diverse, im Original erhaltene Berichte und Tagebücher der Teilnehmer und ergänzt um viele sachliche Informationen über die Arktis und die Geschichte ihrer Erforschung, wird in diesem Handlungsstrang reportageartig über die Geschehnisse während der dramatischen Expedition berichtet. Ausführlich werden dabei viele originale Texte zitiert, kursiv gekennzeichnet, die Verfasser sind jeweils benannt. Der sachbuchartige Eindruck wird durch ergänzenden Tabellen, Zeichnungen und Fotos noch verstärkt, die Sprache ist auffallend nüchtern auch in den Passagen, in denen immer wieder die bizarre Eislandschaft beschrieben wird in ihrer Schönheit, aber auch in ihrer für Menschen lebensbedrohlichen Unwirtlichkeit.

Dieser montageartig gefügte Bericht wird abschnittsweise im Wechsel mit einem zweiten, fiktiven Handlungsstrang erzählt, der hundert Jahre später einen italienischen Abenteurer auf den Spuren der historischen Expedition in die Arktis lockt und ihn dort schließlich mit einem Hundeschlitten im Eis Spitzbergens spurlos verschwinden lässt. Zweifellos eine Farce, deren Motive allerdings undeutlich bleiben, die allenfalls als skurrile Form eines Selbstmords gedeutet werden könnten. In Ergänzung mit diesem fiktionalen Teil ist somit also tatsächlich die vom Autor deklarierte Romanform gegeben, wozu auch beiträgt, dass die historischen Texte von Ransmayr mutmaßlich redigiert wurden. An denen nämlich fällt die geradezu poetische Sprache auf, in der sie verfasst sind und die oft so gar nicht zu den extremen Situationen während ihrer Niederschrift passen will. Wie auch immer, einig sind sich Autor wie auch der historische Expeditionsleiter Weyprecht in ihrer Skepsis, was die Jagd ehrgeiziger Entdecker und Erstbezwinger nach Ruhm anbelangt, allein die wissenschaftliche Erkenntnis rechtfertige alle Mühen und Entbehrungen derartiger Expeditionen. «Die arktische Forschung sei doch zu einem sinnlosen Opferspiel verkommen und erschöpfe sich gegenwärtig in der rücksichtslosen Jagd nach neuen Breitenrekorden im Interesse der nationalen Eitelkeit», lautet ein spätes, skeptisches Fazit Weyprechts.

Die Dramatik dieses historischen Geschehens ist durchaus spannend zu lesen, sowohl was die physischen Herausforderungen einer äußerst feindlichen Umwelt in diesen nördlichen Breiten anbelangt als auch die psychischen Belastungen, denen zwei Dutzend Menschen in einer fast zweijährigen Isolation ausgesetzt sind. Eine ereignislose, entbehrungsreiche Zeit, in der gleichwohl die militärische Hierarchie aufrecht erhalten bleiben muss. Der stilistisch anspruchlose Text ist leicht lesbar und hat mich anfangs in den Schilderungen der menschenfeindlichen Natur überzeugt, die dann leider durch allzu häufige Wiederholungen aber bald langweilig werden. Herzlich wenig konnte ich dem modernen Handlungsstrang abgewinnen, er stört nur den Lesefluss, ohne die Erzählung in irgendeiner Weise wirklich zu bereichern. Ein zwiespältiges Leseerlebnis also, sachlich informativ, den Horizont weitend, in der literarischen Umsetzung aber wenig überzeugend.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Fischer Taschenbuch Frankfurt am Main