Das Lied des Propheten

Ein politischer Weckruf ohnegleichen

Der irische Schriftsteller Paul Lynch hat für seinen jüngsten Roman mit dem bibelbezogenen Titel «Das Lied des Propheten» den Booker Prize des Jahres 2023 gewonnen. Inspiriert dazu sei er vom Bürgerkrieg in Syrien, von der Flüchtlingskrise sowie von den auch in Europa zu verzeichnenden Tendenzen zu anti-demokratischen Regierungs-Formen, »Dieses Buch war nicht leicht zu schreiben», hat er erklärt, inspirierend dazu sei für ihn ein Gefühl des fortschreitenden Abgleitens in totalitäre Staatsformen. Mit der genialen Idee, seinen politisch-dystopischen Roman ausgerechnet in Europa spielen zu lassen, in seiner Heimat Irland nämlich, hat er seine Leser radikal aus ihrer politischen Komfortzone heraus gescheucht. Niemand in Europa könne sicher sein, so sein Credo, totalitäre Regime seien nur ein Phänomen fernab, auf anderen Kontinenten dieser Welt.

Bei Familie Stack in Dublin klingelt es eines abends an der Haustür, und als die Protagonistin des Romans und vierfache Mutter Eilish öffnet, stehen zwei Männer von der Geheimpolizei vor ihr, die Larry Stack sprechen wollen, ihren Mann. Eine geradezu klassische Urszene in allen faschistischen Diktaturen! Und da er nicht zuhause ist, solle der Generalsekretär der Lehrer-Gewerkschaft sich baldmöglichst bei ihnen melden. Was Larry nach einigem Zögern dann auch tut, seither ist er spurlos verschwunden. Mit der Machtübernahme etabliert die «National Alliance» als rechtsradikale Partei Irlands eine politische Tyrannei, vor der niemand mehr sicher ist. fast jeder ist dem Staat verdächtig, Menschen werden willkürlich aus aberwitzigen Gründen verhaftet, und die Justiz ist per Notstands-Verordnung praktisch außer Kraft gesetzt. Es gelten strenge Ausgangssperren, Schulen werden geschlossen, Hamsterkäufe machen die Regale in den Geschäften leer. Die promovierte Molekular-Biologin Eilish wird das Opfer von Sippenhaft, sie verliert aus fadenscheinigen Gründen ihren Job, das Haus wird verwüstet, ihr Auto demoliert. Der älteste Sohn schließt sich den Rebellen an, die militärisch das Terror-Regime bekämpfen, – und auch ihn sieht sie niemals wieder. Als ihr jüngerer Sohn bei einer Detonation durch Splitter verletzt ins Krankenhaus eingelieret wird, verschwindet er dort spurlos. Bis sie ihn schließlich, nach hartnäckiger Suche, in einem Plastiksack liegend in einem militärischen Leichen-Schauhaus findet, der Körper übersäht von Folterspuren. Der Schwester von Eilish in Kanada gelingt es schließlich, sie mit ihren verbliebenen zwei jüngsten Kindern zur illegalen Ausreise zu bewegen. Ihren demente Vater muss sie notgedrungen zurücklassen, er lehnt die Emigration strikt ab.

Politischer Extremismus mit den toxischen Begleit-Erscheinungen einer polarisierten, sich unversöhnlich gegenüber stehenden und zunehmend gewalttätiger werdenden Gesellschaft bildet das narrative Gerüst für diese düstere, deprimierende Geschichte, die aufrüttelnd wirkt. Die Hoffnung der Protagonistin, Derartiges könne ja in einem EU-Land niemals passieren, erweist sich als trügerisch. Gerade heute wurde ja in Österreich ein politisch stramm Rechter mit der Regierungs-Bildung betraut, wer an die Geschichte des National-Sozialismus zurückdenkt, ahnt, wohin die Reise dort gehen könnte. Und wenn der vergleichbaren deutschen Partei eine Mitgliedschaft in der rechtsgerichteten Fraktions-Gemeinschaft des EU-Parlaments verwehrt wird, spricht ja auch das Bände!

Die erzählerische Eskalation am Ende des Romans, als die Menschen verachtende, gefährliche Flucht aus Irland geschildert wird, beleuchtet nach all den Schrecken auf eindringliche Weise dann auch noch die Flüchtlings-Problematik, man ist dafür kaum mehr aufnahmefähig. Andererseits lässt der Autor die Entstehung seiner politischen Szenerie im Dunklen, obwohl die Historie dafür ja einige Vorlagen anbietet, auch aus «diesem unseren Lande» übrigens! Dieser Roman ist über das rein Literarische hinaus ein politischer Weckruf ohnegleichen für eine unbedarfte Wählerschaft.

Fazit:   erstklassig

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Genre: Roman
Illustrated by Klett-Cotta Stuttgart

Das glückliche Geheimnis

Altpapier, Sex und Poetik

Der österreichische Schriftsteller Arno Geiger beschreibt in seiner autobiografischen Erzählung «Das glückliche Geheimnis», wie er in fünfundzwanzig Jahren als Altpapier-Sammler in Wien auf der Suche war nach literarischen Schätzen. Beginnend in seiner Zeit als Student, brachte ihm das Stöbern im Altpapier-Container damals so manchen Fund ein, der sich in bare Münze verwandeln lies und ihn eine Zeit lang sogar finanziell ‹über Wasser hielt›. Denn was ihm da an Zufallsfunden in die Hände fiel, waren teilweise wertvolle Antiquitäten, die von ahnungslosen Erben bei der Wohnungs-Auflösung verstorbener Angehöriger achtlos weggeworfen wurden. So berichtet er von einer «Gründlichen Violinschule» aus der Feder von Leopold Mozart, dem Vater des berühmten Wolfgang Amadeus, die etwa aus dem Jahre 1770 stammen dürfte. Eine echte Trouvaille, denn für derart Rares zahlen Sammler hohe Summen, die dem damals noch ‹armen Poeten› als Student den Lebensunterhalt für ein halbes Jahr gesichert haben. Wie er die vielen Bücher an den Mann gebracht hat, welche Abnehmer er dafür hatte, verschweigt er allerdings.

Nun sind Müllsammler in der gesellschaftlichen Hierarchie ganz unten angesiedelt, zumeist ja Nichtsesshafte, die Pfand-Flaschen oder –Dosen sammeln, um sie zu Bargeld zu machen bei der Rückgabe. Deshalb war es Arno Geiger sehr peinlich, was er da tat, und er hielt es streng geheim. Niemand wusste davon außer seiner Freundin und späteren Ehefrau, es war für sie beide «Das glückliche Geheimnis». Denn durch die Konvolute von Briefen oder Tagebüchern, die er außer den literarischen Büchern auch oft fand, erhielt er einen tiefen Einblick in das intim Menschliche. Er erfuhr, ohne die Person leibhaftig zu kennen, deren Gedanken und Empfindungen quasi in Reinform, also ohne störendes Wissen über deren Körperlichkeit. Das würde ja nur ablenken, und zwar über alle Standesgrenzen und intellektuellen Unterschiede hinweg. Für seine persönliche Entwicklung als Schriftsteller seien diese sehr speziellen ‹Studien› äußerst segensreich gewesen. Er sei dadurch im wahrsten Sinne des Wortes ‹geerdet› worden, was sich thematisch und stilistisch in seinem Werk niedergeschlagen habe.

Arno Geiger beschreibt also in diesem Buch seine durch die Lektüre der gefundenen Bücher geförderte Entwicklung als Schriftsteller, er gewährt dem literarisch interessierten Leser somit einen aufschlussreichen Einblick in seine Schreibwerkstatt. Für den Roman «Es geht uns gut» erhielt er schließlich im Jahre 2005 überraschend als Erster den damals neu gegründeten Deutschen Buchpreis, was seiner Karriere als Schriftsteller einen raketenartigen Auftrieb gab, verbunden mit einer traumhaft hohen Auflage. Seine bisher parallel verlaufenden beiden Leben, als literarischer Schatzsammler und als Schriftsteller, «entfernten sich immer weiter voneinander», schreibt er dazu. Und so beendet er schließlich seine Rundfahrten durch Wien als, Altpapiersammler, weil sie zur bloßen Gewohnheit geworden waren, ohne jeden Zuwachs an Erkenntnis.

Seinen Werdegang als Autor ergänzt Arno Geiger immer wieder durch private Episoden aus seinem Leben. Er erzählt von seinen Eltern und, recht freimütig, auch von den Frauen, die er vorsichtshalber jeweils durch einen Buchstaben anonymisiert, und zu denen gehört mit K. auch die Liebe seines Lebens. Mit vielen literarischen Verweisen und die selbstbezogenen Reflektionen seines Autors versehen, ist dieses Buch für wissbegierige Leser durchaus bereichernd. So bewundert er Philipp Roth, der sich nach  «Nemesis», seinem letzten Roman, 2012 vom Schreiben zurückgezogen hat. Was Arno Geigers Buch «Das glückliche Geheimnis» anbelangt, habe er sich radikal dazu entschieden, an die Öffentlichkeit zu gehen, er wolle nämlich ebenfalls, wie sein amerikanischer Kollege, sein Leben nicht am Schreibtisch beenden. Man ist verblüfft als Leser, wie hier nonchalant aus Altpapier, Sex und Poetik Literatur entsteht. Auch wenn nicht jede der reichlich eingestreuten Aphorismen zu Leben und Literatur gelungen ist und die vielen Wiederholungen irgendwann doch ziemlich nerven, ist diese Lektüre gleichwohl bereichernd.

Fazit:   lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Hanser Verlag München

Das Siebte

Mangel an Inspiration und Substanz

Mit dem Titel «Das Siebte» hat der französische Schriftsteller Tristan Garcia seinen siebenteiligen Romanzyklus abgeschlossen, und nicht zuletzt hat er auch die mystische Bedeutung der Zahl sieben mit einbezogen in seine Geschichte von Einem, der sieben mal lebt. Ein philosophisches Experiment, das als narratives Gerüst fungiert für allerlei Gedankenspiele zum Thema Tod. Und dabei wird dann auch die uralte Frage gestellt: Was wäre denn, wenn es nach dem Sterben ein Wiedererwachen gäbe? Wenn man also, anders als bei Jesus, der ja zu seinem ‹Vater› in den Himmel aufgestiegen ist, im gleichen Körper wiedergeboren wird, mit dem bereits vorhandenen Bewusstsein allerdings aus dem vorhergehenden Leben. Der Autor lässt seinen namenlosen Romanhelden also sechs Mal wieder auferstehen, ehe er nach seinem siebten Leben dann endgültig tot ist.

In den sieben Kapiteln des Romans werden nacheinander die sieben Leben des Ich-Erzählers geschildert, beginnend jeweils mit der Geburt, die der Protagonist bei vollem Bewusstsein miterlebt, und jedes Mal schneidet sein Vater wieder höchstpersönlich die Nabelschnur durch. Er wächst heran, und als Siebenjähriger überfällt ihn erstmals ein heftiges, nicht stillbares Nasenbluten, welches seine Mutter zwingt, mit ihm in eine Spezialklinik nach Paris zu fahren. Dort nimmt sich ein Arzt seiner an, der ihn mit «Hallo, alter Junge» begrüßt und ihm die Hand hinstreckt. «Ich heiße François, aber alle nennen mich Fran.» Gegen das Nasenbluten gibt Fran ihm eine winzige Phiole mit einer stinkenden Flüssigkeit, die er tief einatmen soll, – und die denn auch sofort hilft. Sein Nasenbluten sei eine genetische Anomalie, erklärt der Arzt. Und im weiteren Gespräch prophezeit er ihm schließlich: «Du wirst nicht sterben», was beim Ich-Erzähler auf völliges Unverständnis stößt. Neben Fran, der ihn auch künftig durch alle seine Leben hindurch begleiten wird, ist es vor allem die schöne Hardy, die als Freundin, Geliebte, Kumpanin, Revolutionärin, Ärztin und Ehefrau eine wichtige Rolle in seinen sieben Leben spielt. Eine so tolle Frau, dass ihn ein Bekannter bittet: «Rufen Sie mich an, wenn sie sich je scheiden lassen wollen!» Neben diesen beiden Wegbegleitern trifft er auch immer wieder auf die gleichen Dorfjungen oder den Hausarzt mit dem Dodge, und er erlebt Situationen, die er genau so schon mal erlebt hat. Den silberfarbene, verletzten Vogel zum Beispiel, den er immer pflegt, oder den herum streunenden schwarzen Hund, der den Vogel immer frisst.

Gleich im ersten Leben lernt er die Gitarre spielende Hardy in einem Park kennen, wo er sich ganz vorne hingesetzt hat und sie ihn anschnauzt: «Hey, glaubst du, du bist durchsichtig?» Diese Szene wiederholt sich auch in den anderen Leben, die sich von Leben zu Leben weiterentwickeln, jeweils auf sein Vorleben und Vorwissen aufbauend. Mal ist er durch Protektion seines Vaters Beamter, dann wird er Nobelpreisträger, Börsenspekulant, wird als jesusähnlicher Heilsbringer verehrt, ist als Revolutionär an Straßenkämpfen in Paris beteiligt und wird im letzten Leben schließlich zum Schriftsteller. Im Aufbau der Biografien auf dem jeweils bereits Erlebten offenbart sich die Problematik dieses gedanklichen Experiments, denn einen wirklichen Nutzen kann der untote Romanheld daraus nicht ziehen. Nicht mal dann, wenn es zum Beispiel um Wetten geht, deren Ergebnisse er vom Vorleben her ja im Voraus schon genau kennt, bei denen sich letztendlich dann aber doch immer alles anders entwickelt.

Leider tragen weder das erzählerische Konstrukt noch die ziemlich wirren, philosophischen Streifzüge durch ein uraltes Menschheits-Thema dazu bei, diesen Roman als interessante Lektüre zu empfinden. Sprachlich wenig überzeugend, wird man weder bereichert als Leser noch erfreut. Denn auch als Fantasy ist diese Geschichte nicht tragfähig, fehlt ihr Inspiration und Substanz. Schade, denn Tristan Garcia kann es deutlich besser, was er ja mit «Faber» zum Beispiel sehr überzeugend bewiesen hat!

Fazit:  2* mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Wagenbach

Tanz des Verrats

Moralische Desertierung

Seinen neuen Roman mit dem reißerischen Titel «Tanz des Verrats» hat der französische Schriftsteller Mathias Énard im Gespräch als «einen Roman über das 20. Jahrhundert» bezeichnet. Einer der Gründe, ihn zu schreiben, sei der Ukrainekrieg, der von Russland als Kampf gegen die ‹Nazis› begründet wurde. Damit sei der Krieg endgültig nach Europa zurückgekehrt. Es sind eigentlich zwei Romane in einem, die da ohne erkennbare Berührungspunkte in ständigem Wechsel nebeneinander erzählt werden. Einerseits die Geschichte eines berühmten Mathematikers, der Buchenwald überlebt hat und als überzeugter Kommunist in der neu gegründete DDR geblieben ist, während seine Lebensgefährtin und Mutter seiner Tochter es vorgezogen hat, in den Westen zu übersiedeln. Zum zweiten ist es die Geschichte eines namenlosen Deserteurs in einem unbenannten Krieg, der sich unter ständiger Gefahr zu einer ungenannten Grenze durchzuschlagen versucht.

Am 11. September 2001 findet auf einem gegenüber der Pfaueninsel auf dem Berliner Wannsee vertäuten Ausflugsdampfer ein Kongress zu Ehren von Paul Heudeber statt, dem berühmten Mathematiker. Dessen siebzigjährige Tochter Irina, die selbst Mathematik-Historikerin geworden ist, erzählt in Rückblenden von ihrem Vater, der beim Schwimmen im Mittelmeer ertrunken ist. Gerüchte sprechen von Selbstmord, den er begangen habe, weil er als unbeirrbarer Kommunist den sang- und klanglosen Untergang der DDR nicht überwinden konnte. Auch ihre Mutter Maja Scharnhorst ist anwesend, und Irina versucht, so viel wie möglich über ihren Vater in Erfahrung zu bringen, denn unter den Kongress-Teilnehmern befinden sich auch viele seiner Kollegen und Weggefährten. So erfährt sie auch, wie er im KZ Buchenwald Mithäftlingen Mathematik-Unterricht gegeben hat, und dort hat er auch seine «Ettersberger Vermutungen» niedergeschrieben, eine literarisch-mathematische Melange aus Lyrik und Zahlenkunde. Mit dem Einsturz der Twin Towers in New York am gleichen Tage markiert dieser Kongress auf dem Wannsee auch eine Zeitenwende.

Zweitens wird, ständig abwechselnd, in einer Art Selbstgespräch auch von einem Kriegsverbrecher erzählt, der als Deserteur durch eine karge Gebirgslandschaft irrt und dabei unverhofft auf eine junge Frau trifft, die sich mit einem Esel ebenfalls auf der Flucht befindet. Sie ist in ihrem Dorf mit zwei anderen Frauen von Feinden brutal gedemütigt und vergewaltigt worden, konnte sich aber befreien. In einem ersten Reflex will er sie erschießen, sie und ihr Esel stellen ja eine große Gefahr für ihn dar, entdeckt zu werden. Sie kennt ihn als grausamen Kriegsverbrecher und rechnet fest damit, dass er sie vergewaltigen und töten wird. Aber er beginnt sie zu pflegen, als sie bei einem Blitzschlag schwer verletzt wird. Während der Jagd trifft er auf eine Gruppe von drei marodierenden Soldaten, das Schicksal der Frau scheint damit besiegelt zu sein. Er erzählt ihnen lieber von ihrem gemeinsamen Versteck, bevor sie es von selbst finden. Erwartungsgemäß sehen die Drei die Frau denn auch als willkommene Beute an. Aber sie ersticht den ersten Soldaten, als er sie vergewaltigen will, die beiden anderen erschießt der Deserteur blitzschnell in einer völlig ungeplanten, spontanen Reaktion.

Im Roman heißt es an einer Stelle: «Beim Tanz des Verrats entdeckt man, was der andere einem verschwiegen hat. Es gibt nichts mehr zu verbergen, alles kommt ans Licht, alles wird verziehen, ohne dass man etwas gestehen müsste, – das ist das Schöne am Tanz des Verrats.» Mit dem Fokus auf Extremsituationen schreibt der Autor über kriegerische Geschehnisse des 20ten Jahrhunderts, ohne sie zu Ende zu erzählen. Mathias Énard lenkt seinen Fokus auf Extrem-Situationen, in denen der Mensch aus Furcht moralisch desertiert. Ein feinsinniger Roman mithin über Erpressbarkeit und Komplizenschaft, über die kriegerischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts, der exemplarisch ihre verstörenden moralischen Wirkungen aufdeckt!

 Fazit:   lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Hanser Verlag München

Das kleine Haus am Sonnenhang

Eine unendliche Folge von Kausalketten

Das neue Buch mit dem ironisch kitschigen Titel «Das kleine Haus am Sonnenhang» von Alex Capus ist kein Roman, sondern ein Memoir, also ein in Ich-Form erzähltes, autobiografisches Sachbuch, das von einem entscheidenden Abschnitt im Leben des Autors berichtet. Nach zehn Jahren als Journalist hatte sich der angehende Schriftsteller das titelgebende Haus im Piemont gekauft, um in diesem idyllisch gelegenen Refugium seinen ersten Roman zu schreiben. Dieser Schreibprozess bildet die Hauptthematik dieses poetologischen Essays, das sich sehr ausführlich und aus verschiedenen Blickwinkeln mit den Voraussetzungen und Nebenbedingungen des literarischen Schaffensprozesses auseinandersetzt.

Zeitlich in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts angesiedelt, erzählt der Autor, wie er damals ‹für kleine Münze› ein uraltes Steinhaus an einem steilen Hang gekauft hat. Es war einsam an einem Weinberg gelegen, von der Strada provinciale und dem Dorf nur durch einen im Sommer fast ausgetrockneten Bach erreichbar, der ideale Rückzugsort für ihn und seine Freundin und spätere Ehefrau. Über die damaligen Zeiten schreibt er, dass in den Bars noch geraucht wurde was das Zeug hielt, und an den Tankstellen wurde noch bedient, samt Öl kontrollieren, Reifendruck messen und Scheiben putzen. Eine entschleunigte Umgebung, die seinem Naturell als in sich ruhender Mensch ideal entgegenkam. Ihm reichte als Abwechslung von der Arbeit an seinem Roman und am Haus der regelmäßige Besuch einer wahrhaft trostlosen Bar, in der er mit der Zeit dann sogar Freunde fand und meist auch einen Gesprächspartner. Stammgäste der Bar waren immer die gleichen fünf Männer, die hier jeden Tag anzutreffen waren, immer an ihrem jeweiligen Stammplatz. Wunderbar stimmig erfasst Alex Capus das Lokalkolorit, indem er zum Beispiel beschreibt, dass die karge, wenig einladende Bar, wie überall in Italien, von Neonleuchten grell beleuchtet wurde, von Gemütlichkeit also keine Spur. Eine defekte, ständig blinkende Neonröhre wurde monatelang nicht ausgetauscht, und niemand störte sich daran. Als Deutscher, der fünfzehn Jahre in Italien gelebt hat, kann ich all das nur bestätigen, er schildert genau beobachtend die Italiener mit all ihren Gewohnheiten und Marotten. Zum Thema Katholizismus merkt er an, Mann und Frau würden sich dort in kirchlichen Dingen, «Gott sei’s gedankt», fast überall derselben «vernunftbegabten Gleichgültigkeit» befleißigen.

Alex Capus schrieb sein Manuskript auf einer mechanischen Schreibmaschine, Computer und Internet kamen erst später, was Korrekturen an seinem Text sehr schwierig machte und ihn dazu zwang, äußerst konzentriert zu arbeiten. Für ihn sei Schreiben ein der Büroarbeit ähnlicher Prozess, den er in jeweils einem vorgeplanten Zeitraum regelrecht absolvierte, hat er dazu angemerkt. Was mich doch sehr an Thomas Mann erinnert, der regelmäßig vormittags, quasi nach der Uhr, gearbeitet hat, worauf seine Familie unbedingt Rücksicht zu nehmen hatte. Es wimmelt geradezu von literarischen Verweisen und Zitaten in diesem Memoir, viele Klassiker werden da als Beleg für all die Thesen zum literarischen Schreiben herangezogen.

Augenscheinlich seinem Naturell der Gelassenheit entsprechend, philosophiert Alex Capus auch munter über das menschliche Dasein, das er als nicht terminiert beschreibt. Für ihn bestimmend sei vielmehr eine unendliche Folge von Kausalketten, die er in gleicher Weise auch in der Natur als alleinige Wirkkräfte definiert. Sehr ausführlich widmet sich der Autor seinem Selbstverständnis als Schriftsteller, und ganz allgemein auch den Vorbedingungen für künstlerisches Schaffen. Es bleibt dabei nicht aus, dass diese Thesen aus dem Bereich der Philosophie teilweise zu deutlichem Widerspruch herausfordern, andererseits aber natürlich immer wieder auch Anstöße zu eigenem Denken geben. Den Lesegenuss bewirkt hauptsächlich der ironische, amüsante Stil, in dem da so locker erzählt wird, man kommt aus dem Schmunzeln kaum heraus und wird gut unterhalten, – Philosophie hin oder her!

Fazit:   lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Hanser Verlag München

Demon Copperhead

Epos von der Chancenlosigkeit

Die im deutschsprachigen Raum kaum bekannte US-amerikanische Schriftstellerin Barbara Kingsolver hat mit ihrem neuen Roman «Demon Copperhead» den Pulitzerpreis des Jahres 2023 gewonnen. Der gleichnamige Titelheld wird einerseits vom Vornamen her als Dämon charakterisiert, der Nachname weist auf die Schlange mit dem kupferfarbenen Kopf hin, was auf die Haarfarbe des Protagonisten anspielt. Nach Aussage der Autorin, und das erklärt den Romantitel letztendlich, stand «David Copperfield» von Charles Dickens Pate bei ihrem Appalachen-Epos von der Chancenlosigkeit.

Schauplatz der Erzählung ist eine kleine Ortschaft in den Wäldern des Staates Virginia, zeitlich ist sie in den neunziger und zwanziger Jahren angesiedelt, vom neunten bis zum frühen zwanzigsten Lebensjahr des Protagonisten und Ich-Erzählers. Demon ist Halbwaise und lebt mit seiner rauschgift-süchtigen Mom, die ihn im Teenageralter bekommen hat, in prekären Verhältnissen in einem armseligen Containercamp. Als sie an einer Überdosis stirbt, wird er von den Behörden in Pflege zu dafür geeignet erscheinenden Personen gegeben. Der Staat zahlt ihnen dafür fünfhundert Dollar im Monat, ist allerdings bei der Prüfung ihrer Eignung mehr als nachlässig. Und so kommt Demon zum Beispiel als Zwölfjähriger zu einem Farmer, der noch zwei andere Pflegekinder hat und quasi davon lebt, das Pflegegeld zu kassieren und so wenig wie möglich für sie auszugeben. Demon hat nur Lumpen zum Anziehen, muss hart arbeiten, hat ständig Hunger und geht kaum mal zu Schule, weil es immer Arbeit auf dem Hof gibt. Seine Lage bessert sich erst, als er zum «Coach» kommt, dem Trainer der örtlichen Football-Mannschaft, wo er auf Angus trifft, dessen zwei Jahre ältere Tochter, mit der er sich auf Anhieb gut versteht. Der Coach entdeckt sein Talent für Football, trainiert und fördert ihn, und Demon wird zum gefeierten Spieler, sein erster Erfolg im Leben.

Dem setzt eine schlimme Verletzung aber bald ein Ende, er muss diesen Sport für immer aufgeben und wird wohl sein Leben lang körperlich davon gezeichnet sein. In 64 Kapiteln auf 860 Seiten erzählt die dort lebende Autorin ihr Apalachian-Epos vom angeblich rückständigsten Land der USA und seiner unterprivilegierten Bevölkerung am Beispiel ihres Romanhelden. Demon muss starke Mittel gegen die anhaltenden Schmerzen nehmen, die ihn schließlich süchtig machen und ihn, zusammen mit seiner großen Liebe Dori, zunehmend ins Junkie-Milieu absinken lassen. Wie seine Mom stirbt auch Dori an einer Überdosis. Demon hat viele gute Freunde, und Tommy, mit dem er einst auf der Farm zusammen war, verhilft ihm zu einem ersten kleinen Job als Comic-Zeichner, – ein Talent, dass seine Kunstlehrerin auf der Schule entdeckt und gefördert hat. Sein wechselhaftes Leben ist gekennzeichnet von einer deprimierenden Chancenlosigkeit, von schicksalhaften Rückschlägen, die ihn aber nicht entmutigen. Er ist ein Kämpfertyp, der sich nicht unterkriegen lässt, auch nicht vom Rauschgift, und so folgt er nach langem Zögern dem dringenden Rat von June, einer Ärztin, die ihm immer selbstlos zu Seite stand und ihn schließlich zum Entzug in eine Klinik einweist. Dem schließen sich Reha-Maßnahmen an, die ihn nicht nur clean machen, sondern ihn auch ins Arbeitsleben begleiten. Als er nach drei Jahren in sein Dorf zurückkommt, trifft er Angus wieder, die Tochter vom «Coach», die gerade ihr Psychologie-Studium absolviert hat. Spontan beschließen die Beiden, die sich immer gut verstanden haben, ans Meer zu fahren, dem Sehnsuchtsziel von Demon.

In bester amerikanischer Erzähltradition, mit leichter Hand unterhaltsam und witzig, aber auch pointiert und schnörkellos geschrieben, ist «Demon Copperhead» ein zu Recht prämierter Roman, dessen Spannungsbogen bis zum Ende andauert. Seine permanente Sozialkritik und die allzu vielen Schicksalsschläge seines Protagonisten mindern den Lesegenuss ein bisschen, – hier wäre weniger mehr gewesen. Gleichwohl, langweilig wird es einem nie bei dieser bereichernden Lektüre!

Fazit:   erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by dtv München

Die schönste Version

Feministische Grenzüberschreitung

Der Debütroman «Die schönste Version» von Ruth-Maria Thomas greift ein Thema auf, das so alt ist wie die Menschheit, die Beziehung zwischen Mann und Frau, hier allerdings in einer toxischen Variante. Das Buch wurde für den Deutschen Buchpreis nominiert und von den Feuilletons wie auch in Leser-Kommentaren positiv aufgenommen, weil es das Entstehen einer toxische Beziehung und deren Vorbedingungen plausibel und in einer tiefgründigen, geradezu sezierenden Weise offen legt.

Gleich zu Beginn des Romans eskaliert ein heftiger Streit der Studentin Jella mit ihrem eifersüchtigen Freund Yannick, der sie eine Hure nennt und handgreiflich wird. Das Gerangel der Beiden endet damit, dass er sie würgt und ihr dabei Mund und Nase zuhält, sie droht zu ersticken. In Todesangst greift sie nach einer Pfeffermühle und schlägt sie ihm auf den Kopf, woraufhin er sie loslässt. Jella flieht aus der Wohnung und sucht Hilfe bei einer gerade vorbei kommenden  Joggerin, die ihr dringend rät, zur Polizei zu gehen und Anzeige zu erstatten. Was sie, nach kurzem Zögern, dann auch tut. In Rückblenden erzählt Jella von ihrer Jugend in einem kleinen Städtchen in der Lausitz, das von Kiesgruben bedrängt ist. Ihre Mutter ist vor der Tristesse der ländlichen Umgebung in die Stadt geflüchtet, Jella wohnt nun bei ihrem wortkargen, genügsamen Vater. Sie gehört zu den Digital Natives, ist eine gute Schülerin und, wie ihre Freundinnen auch, an Kleidern und Kosmetika interessiert, will den Jungens gefallen. Ihre Unschuld verliert sie bei einer Vergewaltigung, hat dann einige One-Night-Stands und trifft schließlich auf den deutlich älteren Yannick. Er ist zeichnerisch begabt, fühlt sich als Künstler, muss aber für seinen Lebensunterhalt arbeiten gehen. Ihre Liebe ist wie ein Rausch, Jella erlebt eine beglückende Sexualität, sie können beide nicht genug voneinander bekommen. Als sie schließlich zusammen eine Wohnung mieten, scheint Jellas Glück vollkommen.

In dieser Geschichte einer schwierigen Frauwerdung wird ungeschönt und in einer das Milieu stimmig abbildenden Sprache geschildert, wie die Protagonistin vergeblich versucht, ihr Leben ‹auf die Reihe zu bekommen›. Sie taumelt mit ihren Freundinnen mächtig ‹aufgedonnert› und alkoholisiert von Party zu Party, ist aber immer enttäuscht von den Männern, mit denen sie sich dabei abgibt, weil deren Motive durchschaubar und deprimierend zugleich sind. Jella ist durch kitschige weibliche Ideale geprägt, die sie mit Yannis als verwirklicht betrachtet, bis alltäglicher Zwist die vermeintliche Idylle zunehmend stört, was bei Beiden zu wachsender Aggressivität und schließlich zu der gewalttätigen Grenzüberschreitung führt. Entsetzt versucht Jella, die wieder zu ihrem Vater gezogen ist, die erlittene Gewalt herunterzuspielen. Sie habe ja schließlich kein blaues Auge abbekommen und keine äußerlichen Verletzungen erlitten, sie sei ja nicht verprügelt worden, – also alles halb so schlimm? Sie überlegt sogar ernsthaft, ihre Strafanzeige zurückzuziehen, will sich wieder mit Yannis versöhnen, sie haben doch so gut zusammen gepasst, und er war immer so liebevoll zu ihr.

Die Autorin versteht es, die sentimentalen Träume ihrer desorientierten Heldin bis in die tiefsten Abgründe auszuleuchten, ohne je auf vorgezeichnete psychologische Deutungsmuster zurück zu greifen. Sie schildert vielmehr, mit dem authentisch klingenden Vokabular ihrer jungen Protagonistin, im Jugendsprech der Millenniels also, deren widersprüchliche Prägungen, die sie zu allerlei realitätsfernen Gedankengängen verleiten. Leider aber führen ihre chaotischen Traumbilder Jella nicht zu einem stimmigen Lebensentwurf hin, da passt Vieles nicht zusammen in ihrem Weltbild. Es ist die für «ältere Semester» unter den Lesern bereichernde, minutiöse Darstellung dieser inneren Zerrissenheit, die den in seinem Plot ziemlich spannend angelegten, feministischen Roman zu einer empfehlenswerten Lektüre macht.

Fazit:   erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Rowohlt

Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Creative Writing ohne Intention

Ausgerechnet Nordkorea steht im Fokus des Romans «Das geraubte Leben des Waisen Jun Do» von Adam Johnson, der für dieses Buch 2013 den Pulitzerpreis bekommen hat. Während das Buch in Amerika hymnisch gefeiert wurde, ist das Interesse in der deutschen Leserschaft äußerst verhalten, und die Kritik in den deutschen Feuilletons fiel überwiegend negativ aus. Wie der amerikanische Schriftsteller berichtet hat, dauerten seine Recherchen für den Roman sechs Jahre, was angesichts der absurden Abschottung dieses letzten ur-kommunistischen Regimes auf der Welt nicht weiter verwundert. Der aberwitzige Führerkult dort lädt den Autor geradezu zwangsläufig zum Spotten ein, die Lebenswirklichkeit jedoch zwingt ihn erzählerisch auch zu Grausamkeiten, die man als Leser versucht ist, dem Roman anzulasten, selbst wenn sie mutmaßlich nur eine unfassbare Realität abbilden. Kein Wohlfühl-Roman also! Obwohl, neben dem Horror ist auch die Liebe ein Thema.

Pak Jun Do trägt seinen Namen nach einem nordkoreanischen Märtyrer. Er gilt als Waise, weil sein Vater als Aufseher mit ihm im Waisenhaus «Frohe Zukunft» lebt, so dass jeder glaubt, auch er müsse eines der Waisenkinder sein. Das bedeutet in diesem Land automatisch, vogelfrei zu sein, völlig rechtlos also. Und so landet er als junger Mann denn auch prompt als «Tunnelkämpfer» in der entmilitarisierten Zone zu Südkorea, wo er tagelang in völliger Dunkelheit leben und das Land gegen Eindringlinge verteidigen muss. Sein selbstloser Einsatz wird belohnt, er wird vom Geheimdienst auf einen Fischkutter geschickt, wo er als Funker die feindlichen Gewässer überwachen soll und ganz nebenbei auch für etliche Entführungen eingesetzt wird. Zur Belohnung kommt er auf eine Sprachschule, lernt Englisch und wird mit einer kleinen Gruppe zu Verhandlungen in die USA geschickt, für ihn ein Kulturschock. Anschließend kommt er in ein Umerziehungslager, tötet quasi aus Versehen den unbeliebten Kommandanten Ga, der mit der beliebten Volks-Schauspielerin Sun Moon verheiratet ist, und schlüpft sogar in dessen Rolle. So gelangt er in den Generalstab der Armee, ist bei Gesprächen mit einer amerikanischen Besucher-Delegation dabei und trifft dann auch auf den «Geliebten Führer» Kim Jong Il höchstpersönlich. Letztendlich nutzt er seine erschwindelte Stellung dazu aus, seiner falschen Frau und ihren Kindern zur verbotenen Flucht aus Nordkorea zu verhelfen, dem Musterland der Demokratie mit seinem allen anderen deutlich überlegenen Wirtschafts-System.

In dem zweiteiligen, zuerst dem Protagonisten Jun Do und schließlich dann dem Kommandanten Ga gewidmeten Roman tritt auch ein Verhörbeamter auf, der dem Kommandanten, an dessen Identität Zweifel aufgekommen sind, auf die Schliche kommen soll. Außer vielen, oft in witzigen Dialogen dargestellten Nebenfiguren werden als Inbegriff staatlicher Indoktrination auch überall in der Öffentlichkeit installierte Propaganda-Lautsprecher eingesetzt. Mit ihrer Hilfe erfolgt ein gehirnwäsche-artige Bevormundung und Umerziehung der gesamten nordkoreanischen Bevölkerung, eine sinnvolle Maßnahme, bei der sogar längere Geschichten abschnittsweise in einer täglichen Vortragsreihe vorgelesen werden.

Mit spürbarer Lust an maßlos übertriebener Spöttelei schildert Adam Johnson die an Don Quijote erinnernden Abenteuer seiner Protagonisten. Dem stehen als Widerspruch so gar nicht lustige Grausamkeiten gegenüber, wie die – einen breiten Raum einnehmenden – Folterszenen, welche eine Lektüre allenfalls für Horrorfans erfreulich machen dürften. Geradezu enttäuschend aber ist, aus rein literarischer Sicht, der dem typischen ‹Creative Writing› verpflichtete, amerikanisch nüchterne Schreibstil, in dem da geradezu schulbuchartig erzählt wird in einem fast siebenhundert Seiten dicken Wälzer, – reine Effekthascherei, so ganz ohne nachvollziehbare Intention des Autors!

Fazit:   mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Suhrkamp Berlin

Treue

Von Bären und Bullen

Der Roman «Treue» des amerikanischen Schriftstellers Hernan Diaz erinnert in seiner Thematik vom unermesslichen Reichtum entfernt an Fitzgeralds berühmtes Buch, ohne allerdings wie im «Gatsby» einer naiven Romantisierung des Geldes zu erliegen, ganz im Gegenteil. In vier Büchern erzählt der Autor seine ähnlich wie eine russische Matrjoschka konstruierte Geschichte vom Mythos des großen Geldes, das in der Heimat des Turbo-Kapitalismus einen schon fast religiösen Stellenwert einnimmt. Mit der formalen Verschachtelung seines Romans geht der Autor ein stilistisches Wagnis ein, das er dank seiner Erzählkunst zu einem spannenden Leseerlebnis werden lässt, trotz dem an sich ja eher trockenen Szenario an der Wertpapierbörse.

Im ersten Buch ist unter dem Titel «Verpflichtungen» ein Schlüsselroman von Harold Vanner enthalten, dessen Geschichte vom atemberaubenden Aufstieg des Spekulanten Benjamin Rusk in der schillernden Finanzwelt im New York der 1920er Jahren spielt. Mit seinem ererbten Vermögen gelingt es dem Finanzjongleur auf fast schon unheimliche Weise, aus Hausse und Baisse in den vorhergehenden Krisenjahren, aber speziell auch beim großen Börsencrash von 1929, ungeheure Profite an der Wall Street zu erzielen. Zwei Eigenschaften sind in Kombination das Geheimnis seines Erfolgs, sein mathematisches Können und seine Intuition. Der in sich gekehrte Mann kennt nur die Arbeit, meidet jeden Kontakt zu Menschen. Nur zufällig und völlig unbeabsichtigt trifft der Junggeselle auf Helen, eine faszinierende, blitzgescheite junge Frau, und heiratet sie spontan. Die Ehe bleibt kinderlos, und er ermöglicht seiner Frau ohne Zögern, seinen unerschöpfbaren Reichtum großzügig für wohltätige Zwecke und Spenden einzusetzen. Außerdem fördert Helen Rusk verschiedenste Künstler, veranstaltet in ihrem prachtvollen Palais Konzerte und Lesungen und lädt prominente Persönlichkeiten zu Vorträgen ein. Ihre äußerst lebhafte Art wächst sich später zu einer psychischen Erkrankung aus, die letztendlich einen Klinikaufenthalt in der Schweiz erfordert. Sie wird mit ganz neuen Medikamenten experimentell behandelt und stirbt daran.

Als Pastiche angelegt, folgt im zweiten Buch unter dem Titel «Mein Leben», mit einem Vorwort vom Juli 1938, die teilweise noch als Manuskript vorliegende Autobiografie von Andrew Bever, einem an der Wertpapierbörse steinreich gewordenen Mann. Der Witwer schildert seinen Werdegang als Financier, beginnend bei seinem Urgroßvater, der die Banker-Dynastie der Bevers begründet hat. In seiner Erzählung geht er sehr ausführlich auf seine Methoden ein, die er vor dem wohlfeilen Verdacht bewahren will, nur zynisch auf Geldgier zu gründen. Im dritten Buch schildert unter dem Titel «Erinnerte Memoiren» die Journalistin Ida Partenza als Siebzigjährige, wie sie als junge Stenotypistin von dem Finanzmagnaten Bevel engagiert wurde, quasi als Co-Autorin, letztendlich aber allein, seine Autobiografie zu schreiben. Ihm ging es darum, das falsche Bild zu korrigieren, das ein Schlüsselroman von Harold Vanner von ihm und seiner Frau gezeichnet hatte. Nicht nur, dass er juristisch alles unternahm, gegen das missliche Buch vorzugehen, er lies auch alle noch vorhandenen Exemplare aufkaufen und vernichten. Im letzten Buch folgt unter dem Titel «Vereinbarungen» das Tagebuch von Mildred Bevel, in dem die Fäden des raffinierten Plots zu einem überraschenden Ende verbunden werden.

Hernan Diaz erzählt seine multi-perspektivische Geschichte literarisch gekonnt und sprachmächtig in einer geschliffenen, anspruchsvollen Diktion. Seine Figuren sind anschaulich beschrieben, wobei die seelische Kluft zwischen einseitig dem schnöden Mammon verfallenen Spekulanten, den Bären und Bullen der Börse, und ihren musisch veranlagten, weltoffenen Frauen überaus markant gezeichnet ist. «Treue» ist ein Roman, der beweist, dass man über Geld wider Erwarten sehr wohl eine spannende und bereichernde Geschichte erzählen kann.

Fazit:  erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by btb Verlag

Der größere Teil der Welt

Für Rockmusik-Fans wie geschaffen

Der Roman der amerikanischen Schriftstellerin Jennifer Egan mit dem kryptischen Titel «Der größere Teil der Welt» wurde bei seinem Erscheinen mit Preisen überhäuft, von denen der ‹Pulitzer Prize for Fiction› des Jahres 2011 der wichtigste ist. Die englische BBC wählte ihn zu einem der bedeutendsten Werke des frühen zwanzigsten Jahrhunderts. Was den Titel anbelangt, bringt auch das Original, «A Visit From The Goon Squad», keine Klärung, denn «Ein Besuch vom Schlägertrupp» trifft weder das, was im Roman passiert, noch das, was mutmaßlich mit ihm gesagt werden soll. Die Autorin hat als wichtigste Inspirationsquelle für ihre Story die «Recherche» von Marcel Proust genannt, und demnach dürfte die wahre Intention ihres Romans wohl eher eine ‹allegorische Suche nach der Wahrheit› sein.

In nicht-chronologischer Folge werden dreizehn nur lose miteinander verknüpfte Geschichten erzählt, die sich um die Hauptfiguren Bennie und Sasha ranken. Schauplätze sind San Francisco, New York, Neapel und ein Safaripark in Kenia. Beginnend als Bassist der Band «Flaming Dildos» hat Bennie Salazar, unterstützt durch seinen kokain-abhängigen Mentor Lou, eine steile Karriere hingelegt und es zum erfolgreichen Musikproduzenten gebracht. Seine überaus tüchtige Assistentin Sasha hat eine Affäre mit Alex, der später, von Bennie angeheuert, seinem obdachlosen Schulfreund Scott zu einem Comeback als Musiker verhelfen soll. Weil Sasha als Kleptomanin ständig in Angst ist, erwischt zu werden und gesellschaftlich abzustürzen, kehrt sie der Musikbranche irgendwann endgültig den Rücken, um ein bürgerliches Leben zu führen, – sie heiratet einen Arzt und wird Mutter.

Eines Tages provoziert Bennie den Aufsichtsrat seiner inzwischen mit dem Label «Sow’s ear» groß gewordenen Plattenfirma, indem er den Sitzungs-Teilnehmern zum Mittagessen Kuhfladen servieren lässt, – und auf der Stelle gefeuert wird. Bennies spätere Frau wiederum arbeitet für die Public-Relation-Managerin Dolly, deren Tochter Lulu mit Alex liierte ist. Um einem südamerikanischen Diktator zu einem besseren Image in der Öffentlichkeit zu verhelfen, soll Bennies Schwager als Journalist die Film-Schauspielerin Kitty Jackson, deren Karriere auf dem Tiefpunkt ist, dafür engagieren, sich mit dem Potentaten für die Klatschpresse fotografieren zu lassen. Bei einem Spaziergang im Central Park von New York versucht der Journalist, Kitty zu vergewaltigen, und wird verhaftet. Im vorletzten Kapitel führt die junge Alison auf 75 Seiten grafisch, also im Powerpoint-Stil, ihr Tagebuch vor, worin schließlich auch die akribische Analyse ihres Bruders zu Pausen in der Rockmusik dargestellt wird.

Beginnend in der Hippie-Ära, reicht die zeitliche Spanne des Romans über Punk und New Wave bis ins frühe Internetzeitalter. Man bedauert als Leser, dass dem Buch keine CD beigelegt wurde, mit deren Hilfe man, auch als Laie, die verschiedenen Ausflüge in die Rockmusik wenigstens akustisch nachvollziehen könnte. Die einzelnen Kapitel werden aus den unterschiedlichsten Perspektiven erzählt; einen nachvollziehbaren Plot gibt es nicht. Wobei die einzelnen Szenen oft abrupt wechseln, der Leser ist einem permanenten Wechselbad der Gedanken und Gefühle ausgesetzt. Und es geht nicht immer nur um Musik, oft wird auch Moral oder Gewalt thematisiert, und manchmal sogar Politik und Gesellschaft. Jennifer Egan hat ein umfangreiches Figuren-Ensemble erschaffen, deren einzelne Charaktere stimmig geschildert werden. Mit vielen eingestreuten Aphorismen bleibt ihre sprachlich effizient, in bester amerikanischer Tradition erzählte Geschichte stets anschaulich. Völlig humorfrei stilistisch nüchtern behandelt sie zielgerichtet ihre ineinander verwobenen Themen, zu denen die Reue zählt und der latente Wunsch, Versäumtes nachholen, an alte Erfolge anknüpfen zu können. Dabei dürften manchen Lesern allerdings die häufigen musikalischen Ausflüge, anderer Hörpräferenzen wegen, ziemlich suspekt bleiben, was den potentiellen Leserkreis deutlich einschränken dürfte!

Fazit:   lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Schöffling & Co Frankfurt am Main

Toni & Toni

Narratives Geschwurbel

Der österreichische Schriftsteller und Sound-Artist Max Oravin hat in seinem Debütroman «Toni & Toni» erstmals seine kreativen Impulse in Literatur umgesetzt. Indem er seine Erfahrungen als Performer hat einfließen lassen in eine poetisch anmutende Erzählung von der Fragilität menschlicher Bindungen. Ähnlich wie ein Langgedicht angelegt, wirkt sein lyrisch anmutender Text geradezu rhythmisch, ein eigenwilliger, originärer Stil, der seinesgleichen sucht in der deutschsprachigen Literatur der Gegenwart. Der 110 Seiten schmale Band wurde für den Deutschen Buchpreis 2024 nominiert, gehört also zu den im ersten Durchgang ausgewählten zwanzig Büchern aus den insgesamt knapp zweihundert, die von den Verlagen eingereicht wurden.

Aus der Ich-Perspektive von Thomas erzählt, beginnt die Geschichte damit, wie er bei seinem Gelegenheitsjob als Portier die Tänzerin Antonia kennenlernt, die spätabends in einem von ihm betreuten Saal noch üben möchte. Er stellt sich als Toni vor, was sie lachend kommentiert, denn sie heiße ja auch Toni. Die Beiden sind sich auf Anhieb sympathisch, und obwohl er um zweiundzwanzig Uhr schließen müsste, überlässt er Antonia den Saal bis nach Mitternacht. Sie animiert ihn, doch mit ihr zusammen zu tanzen, was er von sich weist, er sei völlig unbegabt. Aber sie lässt nicht locker, erweckt in ihm das Gefühl für seinen Körper, bringt ihm seelisch gesteuertes Bewegen bei und erweckt tatsächlich bisher unentdeckte Fähigkeiten in ihm. Begeistert schlägt sie ihm vor, mit ihr zusammen demnächst bei einer Performance mit dem Titel «Filaments» mitzuwirken, die für sie den Durchbruch bedeuten könnte. Und Antonia erfindet auch gleich den passenden Namen für ihre Partnerschaft als Performer: «Toni & Toni».

Thomas hat Philosophie studiert mit einem sehr guten Abschluss. Er konnte sich aber nicht dazu durchringen, eine ihm angebotene Doktorarbeit anzunehmen und eventuell später eine akademische Laufbahn einzuschlagen. Stattdessen beschäftigt er sich jetzt ausschließlich mit Buddhismus und Zen-Meditation. Nachdem ihm klar geworden ist, dass der einzige Weg zum tieferen Verständnis für ihn das Erlernen der japanischen Sprache wäre, hat er sich in ein selbst auferlegtes, ehrgeiziges Lernprogramm hineingestürzt. Dabei vernachlässigt er sträflich seine Gelegenheitsjobs, kündigt und bringt es sogar fertig, eine vom Arbeitsamt angeordnete, zweitägige Schulung für erfolgreiches Bewerben nach dem ersten Tag abzubrechen. Was denn auch eine sofortige Absetzung seines Arbeitslosen-Geldes nach sich zieht. Und sein Vater weigert sich standhaft, dem inzwischen über dreißigjährigen Sohn weiterhin Unterhalt zu zahlen. Antonia versucht erfolglos, ihm das Vergebliche seiner Studien klar zu machen: Er könne niemals so weit kommen, die Autoren buddhistischer Lehrwerke wie ein Muttersprachler im japanischen Original zu lesen und zu verstehen. Dafür wären nämlich nicht nur jahrelange Studien erforderlich, sondern auch längere Aufenthalte in Japan.

Natürlich spielen in diesem Roman zweier Psychopathen auch Drogen eine Rolle, und Antonia hat sich schon als Mädchen immer wieder mit dem Messer die Haut aufgeritzt. Beide sind wenig bindungsfähig und extrem in allem, was sie tun, die Vernunft ist komplett ausgeblendet in ihrem exaltierten Leben. Stilistisch ohne jede Gliederung vom ersten bis zum letzten Satz in einem absatzlosen Text erzählt, übernehmen phasenweise Themen wie Scheitern, Tanz, Meditation, Körpergefühl, Drogen oder das Faszinosum japanischer Schriftzeichen die Kontrolle über diesen Text abseits aller Konventionen. Und voller Neusprech zudem, «Mindfulnes im Overdrive» kann man da zum Beispiel lesen. «Ich sehe die Fasern der Wände zerreißen», heißt es gegen Ende, «sehe, wie sie nach Innen schnalzen, sehe das Sichtfeld zerbröckeln ins K-Hole.» Wer dem folgen kann als Leser, der mag sein Glück finden in diesem weitgehend sinnfreien narrativen Geschwurbel, – der Rest aber wendet sich mit Grausen!

Fazit:   miserabel

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Genre: Roman
Illustrated by Droschl

Alles Licht, das wir nicht sehen

Gute Unterhaltung

Der Roman «Alles Licht, das wir nicht sehen» des amerikanischen Schriftstellers Anthony Doerr wurde von seinen Landsleuten begeistert aufgenommen und erhielt den Pulitzer Prize des Jahres 2015. Die Begeisterung in den deutschen  Feuilletons hielt sich in Grenzen, was daran liegen mag, dass Romane aus dem Zweiten Weltkrieg hierzulande viel häufiger veröffentlich werden und das Thema den meisten Lesern vertraut sein dürfte. Wenn man es nicht wüsste, würde man wohl kaum darauf kommen, dass dieses Buch nicht von einem Deutschen oder Franzosen geschrieben wurde, so vertraut ist einem das Erzählte, so wenig «schimmert» der Amerikaner durch als Autor.

In zwei Haupt-Ebenen wird mit vielen Rückblenden die Geschichte zweier junger Leute erzählt. Da ist zum einen Werner, ein deutscher Waisenjungen aus dem Ruhrgebiet, dessen früh erkannte, technische Begabung für Radiogeräte dazu führt, dass er in eine Nationalpolitische Lehranstalt kommt und später mit strengem Drill zum Spezialisten für die Wehrmacht ausgebildet wird. Im Laufe des Krieges wird er an verschiedenen Orten in den von Deutschland besetzten Gebieten dazu eingesetzt, die mit Rundfunk-Sendern bewerkstelligte Kommunikation feindlicher Partisanen und Spione mittels Peilempfängern aufzuspüren und auszuschalten. In Paris lebt die blinde Halbwaise Marie Laure bei ihrem Vater, der sich rührend um sie kümmert. Er ist als Schlosser im riesigen Nationalmuseum der Hauptstadt tätig und für tausende von Schlüsseln verantwortlich, eine absolute Vertrauensstellung. Als die Nazis auf Paris vorrücken und er emigrieren will, soll er einen ungeheuer kostbaren Diamanten aus dem Bestand des Museums mitnehmen. Von dem sind drei wertlose Duplikate angefertigt worden, die von drei weiteren Vertrauens-Personen ebenfalls in Sicherheit gebracht werden sollen, wobei keiner von ihnen weiß, wem der echte Stein anvertraut wurde.

Marie Laure emigriert mit ihrem Vater nach Saint-Malo an der Atlantikküste zu einem etwas wunderlichen Onkel, der dort mit einer Wirtschafterin in einem fünf Stockwerke hohen Haus zurückgezogen lebt. Er besitzt dutzende von Radioapparaten und hat auf dem Dachboden einen Sender mit einer ausklappbaren Antenne installiert, die man nach dem Betrieb gleich wieder zusammen klappen kann, womit sie für den Feind praktisch unsichtbar bleibt. Nach der Invasion der Alliierten wird Werner mit seinem Team darauf angesetzt, diesen Sender der Résistance aufzuspüren. Den betreibt inzwischen Marie Laure, die ihre Dossiers im Brot versteckt täglich von der Bäckerin bekommt. Genau dorthin wird Werner versetzt, um diesen Spionagesender endlich aufzuspüren. Aber auch ein Edelstein-Experte der Nazis, der dem berühmten Diamanten auf der Spur ist, taucht in Saint-Malo auf und dringt in das Haus ein. Werner hat die ausklappbare Antenne entdeckt, hat Marie Laure kennen und lieben gelernt, kommt jetzt ebenfalls in das Haus und erschießt den Nazi-Schergen.

In dem nie ins Kitschige abgleitenden Plot wird geschickt ein Spannungsbogen aufgebaut, der den Leser bis zum Schluss gefangen hält, Mit einer der Thematik angepassten, nüchternen Sprache werden viele Facetten der Zeit zwischen Frankreichs Besetzung durch Nazi-Deutschland und der Befreiung durch die Alliierten aufgezeigt, was interessant ist, auch wenn man Vieles natürlich schon weiß. Bemerkenswert und erfreulich ist auch die zwischen gut und böse differenzierende Figurenzeichnung, zu der die durchweg stimmigen Dialoge ebenfalls beitragen. Übertrieben und ins Kitschige abgleitend aber sind die vielen Zufälle, die den Plot schon fast in Märchenhafte steigern. Zu denen zählen die geschilderte Sonder-Begabung von Werner ebenso wie die wissenschaftlichen Kenntnisse von Marie Laure über Wasser-Schnecken. Gut unterhalten aber wird man trotzdem, man liest diesen Roman gerne bis hin zum überraschenden Ende!

Fazit:   lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by C.H. Beck München

Man kann auch in die Höhe fallen (Alle Toten fliegen hoch Band 6)

Man kann auch in die Höhe fallen. “Danke, Mama, ich glaube es wird besser.” Joachim Meyerhoff aus Schleswig hat als Schauspieler unter anderem am Burgtheater in Wien, am Schauspielhaus in Hamburg, an der Berliner Schaubühne und den Münchner Kammerspielen gespielt. 2011 begann er mit der Veröffentlichung seines mehrteiligen Zyklus “Alle Toten fliegen hoch” von der er mit “Man kann auch in die Höhe fallen” den sechsten Teil vorlegt.

Auszeit von Beruf und Familie

Seine 86-jährige Mutter bildet die erzählerische Klammer für diesen autofiktionalen/autobiografischen Roman, der sich der Literaturkategorie “grotesker Humor” zuordnen lässt. Oder wie es Meyerhoff selbst schreibt, der Anekdote, die “von allen literarischen Spielarten am meisten missachtete“, so Meyerhoff. Die wichtigste Eigenschaft der Anekdote sei, dass sie treffend ist, schreibt er, denn ob lang oder kurz, witzig oder scharfsinnig, es sei nicht so ganz klar, was sie außerdem noch alles auszeichnet. Meyerhoff bezeichnet die Anekdote auch als “eine winzige Quelle, aus der ununterbrochen, seit Anbeginn der Zeit, das klarste Wasser sprudelt. Müde und ausgelaugt vom Besteigen literarischer Achttausender kann man sich hier erfrischen und kurz verweilen“.

Landflucht aus Berlin

Dass für ihn als Schauspieler das Theater eine unerschöpfliche und vor allem verlässlicher Anekdotenlieferant ist, braucht nicht extra hinzugefügt werden. Amüsant sind seine Geschichten allemal und anfangs jagt wirklich eine Pointe die andere, bis der Autor zwischendurch auch mal nachdenklich wird. Nach einem Schlaganfall hat er sich auf das “Anwesen” seiner Mutter in Schleswig zurückgezogen. Einerseits, weil er sie viel zu wenig sieht und noch etwa genießen möchte, andererseits auch weil er seiner eigenen Familie entfliehen möchte. Bei der Geburtstagsfeier seines Sohnes ist er ausgerastet und schämt sich dafür so sehr, dass er einfach flüchtet. Natürlich möchte er seine Auszeit auch dafür nützen einen neuen Roman zu schreiben, doch erst muss er für seine Mutter im Garten einspringen. Denkt er.

Von der Idylle zur Tristesse

Tatsächlich ist die 86-jährige Susanne, seine Mutter, teilweise noch rüstiger als er und vor allem resilienter. Für sie beginnt jeder Tag von neuem, weil jeder der letzte sein könnte. So vermutet Meyerhoff, dass dies auch ihr Erfolgsgeheimnis sein dürfte: “Alles immer von vorne, jeden Tag aufs Neue von vorne zu beginnen, war für sie zu einer unantastbaren Selbstverständlichkeit geworden. Ich begriff, dass das neben der nie versiegenden Emsigkeit der Schlüssel ihrer Widerstandskraft war. Auch war ihre völlige Unfähigkeit zu jammern ein wahrer Lebensquell.” Der 30 Jahre jüngere Sohn lernte nicht nur die Gartenarbeit von seiner Mutter, sondern auch, was das Leben wirklich lebenswert macht: von den Menschen umgeben zu sein, die einen lieben. Als seine Mutter mit einem Mann nach Marokko auf Urlaub fliegt, wird dem Erzähler die Einsicht bewusst, dass ohne sie alles nichts ist und selbst der Garten vom Kummer ob der Abwesenheit der Mutter erfüllt schien.

Mutter statt Scham und Bühne

Sie hatte das Haus, den Garten und selbst das Mähfahrzeug mit Leben erfüll, was ihm, ihrem Sohn nicht gelang. Die Bewusstwerdung der Endlichkeit seines und ihres Lebens schüttelt den Erzähler so richtig durch, bis er bemerkt, dass selbst die Nacktschnecken sich in der Abwesenheit seiner Mutter bedrohlich näher ans Haus heranarbeiteten. Vielleicht liegt darin die Seligkeit des Lebens: im Handeln und Tun und nicht im Grübeln. Aus dem geplanten Roman mit dem Titel “Scham und Bühne” wird eine Geschichte über Leben und Tod, vor allem aber über die Dinge, die am Leben Spaß machen. Dazu gehört sicherlich auch der teilweise groteske Humor des Autors, der einen leichtfüßig wie eine Hummel durch diesen Roman voller Kindheitserinnerungen, Theaterschrullen und eben Anekdoten torkeln lässt. Witzig, unterhaltsam und voller spritziger Pointen, die wenn nicht wahr, doch sehr gut erfunden sind!

Joachim Meyerhoff
Man kann auch in die Höhe fallen
Roman
Alle Toten fliegen hoch, Band 6#
2024, gebundene Ausgabe, 368 Seiten
ISBN: 978-3-462-00699-5
Kiepenheuer&Witsch
26,00 €

 


Genre: Anekdoten, Autobiographie, Roman
Illustrated by Kiepenheuer & Witsch Köln

Hey Guten Morgen, wie geht es Dir?

Juno, die Erzählerin, ist Anfang Fünfzig. Sie lebt mit Jupiter, ihrem seit Jahren bettlägerigen Mann in einer kleinen Wohnung in Leipzig. Er ist Schriftsteller, sie freiberufliche Performancekünstlerin, die, nicht nur zu Coronazeiten, gerne häufiger Engagements hätte.

Sie teilt ihren Alltag mit den Leser:innen, ihre Gedanken, Vorlieben, Sorgen, Erinnerungen und ihre Moralvorstellungen, manchmal auch mit Gedichten.

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Genre: Belletristik, Erzählung, Roman
Illustrated by Klett-Cotta Stuttgart

Der Sympathisant

Ironischer Spionageroman

Mit dem Debüt-Roman «Der Sympathisant» hat der vietnamesisch-amerikanische Schriftsteller Viet Thanh Nguyen 2016 den Pulitzer Prize gewonnen. Es geht thematisch dabei um nichts weniger als um das falsche amerikanische Narrativ zum verlorenen Vietnamkrieg. Ein Trauma für die Weltmacht, die Verlieren nicht gewohnt ist und diese Schmach bis heute nicht verarbeitet hat. Genüsslich widerlegt der als Professor an der Universität von Süd-Kalifornien lehrende, als Vierjähriger 1975 mit seinen Eltern in die USA emigrierte Schriftsteller diese verlogene Umdeutung der politischen Realitäten.

Der namenlos bleibende, in Saigon lebende Ich-Erzähler führt ein Doppelleben, er ist als Hauptmann Adjutant eines Generals der Armee Südvietnams, spioniert aber als Maulwurf für den Vietcong. Als Saigon 1975 von den Kommunisten erobert wird, flieht er auf Anordnung seiner Auftraggeber in letzter Stunde mit dem General, dessen Frau und zweihundert anderen Exilanten zunächst nach Guam und weiter in die USA. In Los Angeles angekommen, bleibt er weiter in Dienste des Generals, der davon träumt, den Vietcong mit einer patriotischen Befreiungs-Armee wieder aus Vietnam vertreiben zu können, und der dafür vorbereitende Aktivitäten einleitet. Der beste Freund und Kampfgefährte des Protagonisten erweist sich in dieser Exilanten-Gruppe als der Mann fürs Grobe. er ermordet im Auftrag des Generals kaltblütig einen mutmaßlichen kommunistischen Undercover-Agenten, der jedoch völlig schuldlos denunziert wurde. Wenig später bekommt der Protagonist den Auftrag, einen amerikanischen Journalisten zu liquidieren, der Details über die reaktionären vietnamesischen Aktivitäten in den USA veröffentlicht hat. Mit Bildern seiner Minox Spionage-Kamera und in Dossiers, die er mit unsichtbarer Tinte in Briefe an seine «Tante in Paris» einfügt, versorgt der Protagonist regelmäßig seine kommunistischen Führungskader in Vietnam. Bis er schließlich den Auftrag erhält, mit einem reaktionären Voraus-Kommando nach Vietnam zurückzukehren, um dort bei der Rekrutierung von Freiwilligen mitzuwirken.

Der titelgebende «Sympathisant» leidet als Ich-Erzähler zunehmend an seinem Doppelleben, fühlt sich hin und her gerissen, verzweifelt auch mehr und mehr an den Absurditäten, die sein Agentenleben mit sich bringt. Er empfindet seine Identität als Mann mit zwei Gesichtern als problematisch, es sei deshalb auch kein Wunder, «dass ich auch ein Mann mit zwei Seelen bin». Mit kräftigen Seitenhieben auf den American Way of Live beschreibt der Autor die Probleme des halb-vietnamesischen Protagonisten, der in den USA aufgewachsen ist, dort studiert hat, hochintelligent ist und akzentfrei amerikanisch spricht. Aufgrund seines asiatischen Aussehens bezüglich Augen, Hautfarbe und Körpergröße wird er aber manchmal sogar offen als «Bastard» bezeichnet, was ihn jedes Mal zutiefst verletzt.

In bester amerikanischer Erzähl-Tradition schildert Viet Thanh Nguyen locker, sprachlich virtuos und unverkennbar ironisch seine Story aus einer schon fast vergessenen Epoche kriegerischer Auseinandersetzungen in Vietnam. Ein Land, das zuerst von den Franzosen und anschließend von den Amerikanern in hegemonialer Überheblichkeit unterdrückt worden ist, dem es schließlich aber gelang, sich zu befreien. Der Roman wirft viele politische Fragen auf, die darin gipfeln, ob die mühsam errungene, politische Selbstbestimmung bei gleichzeitiger ökonomischer Misere durch die kommunistische Diktatur nicht zu teuer bezahlt worden ist vom vietnamesischen Volk. Der Roman ist als schriftliches Geständnis an einen Kommandanten des Vietcong angelegt, das der Protagonist in einem Umerziehungslager auf 417 Seiten handschriftlich niedergeschrieben hat. Flüssig lesbar, süffig wie der viele Alkohol, der in diesem Spionage-Roman getrunken wird, viele Denkanstöße gebend und immer wieder höchst amüsant, ist «Der Sympathisant» nicht nur eine erfreuliche, sondern auch eine bereichernde Lektüre.

Fazit:   erfreulich

Meine Website: https://ortaia-forum.de


Genre: Roman
Illustrated by Blessing München