Meine Preise

Wer Thomas Bernhard von seiner witzigen Seite kennenlernen möchte, der ist mit dieser Persiflage auf Verleihungen diverser Literaturpreise an den schreibenden Genius aus Gmunden bestens bedient.

25 Jahre seines Lebens stiefelte Bernhard in denselben Klamotten durch die Gegend. Er trug sie daheim, unterwegs und auch bei gesellschaftlichen Ereignissen: Dies waren ein knallroter Schafswollpullover, den ihm ein gut gelaunter Amerikaner nach dem Krieg geschenkt und der schon fast alle Städte der Welt gesehen hatte sowie eine graue Hose aus Wolle. Doch am Tag, an dem ihm in der Akademie der Wissenschaften der Grillparzer-Preis verliehen werden soll, entschließt sich der Meister wenige Stunden vor Beginn der Veranstaltung, seine Lieblingsboutique „Sir Anthony“ aufzusuchen und einen Reinwollanzug in anthrazit anzuschaffen. Er wählt dazu passende Socken, ein graublau gestreiftes Hemd und eine Krawatte und behält die Neuerwerbungen gleich an. Die dienstbaren Geister der Kleiderstube packen seine alten Klamotten in eine Tüte mit Werbeaufdruck und Bernhard zieht fein ausgestattet von dannen.

Im Foyer der Akademie, in der ihm der Preis verliehen werden soll, hält er Ausschau nach einer Persönlichkeit, die ihn begrüßt – doch niemand beachtet ihn. Er geht in Begleitung seiner Tante in den Festsaal, in dem die Musiker bereits ihre Instrumente stimmen. Niemand kommt, ihn in Empfang zu nehmen und zu seinem Platz zu begleiten. Schließlich quetscht er sich in eine hintere Sitzreihe und beobachtet amüsiert die wachsende Unruhe, die Festkomitee und Veranstalter befallen. Alle scheinen jemand zu suchen. Bernhard weiß auch, wer das ist.

Endlich wird man auf ihn aufmerksam, stürzt herbei und bittet ihn in die erste Reihe. Bernhard besteht nun darauf, vom Festpräsidenten persönlich gebeten zu werden. Der platziert ihn neben die Kultusministerin, die ob der folgenden Elogen auf Grillparzer bald einschläft und „das bekannte Ministerschnarchen“ anstimmt. Bernhard nimmt die Auszeichnung entgegen, sagt aber einfach nur „Danke“ statt große Reden zu schwingen und verlässt die Veranstaltung, ohne dass es jemand bemerkt. Selbstbewusst geht der frisch gekürte Preisträger zu „Sir Anthony“ zurück und gibt den Anzug, der ihm plötzlich viel zu klein zu sein scheint, wieder zurück.

Andere Preisverleihungen an Thomas Bernhard gingen weniger glimpflich ab und motivierten ihn zu Schmähreden über die österreichische Ministerialbürokratie, unfähige Kulturbeamte und großkopferte Literaturfunktionäre. Er schaffte es mit seiner unvergleichlich trockenen Art, Preise und Auszeichnungen abzuräumen und gleichzeitig mit seinen Reden die offiziellen Gäste zum fluchtartigen Verlassen der Feststätten zu bewegen. In seiner Prosa liest sich das alles wie eine große Posse, wie Realsatire, die einem phantasiebegabten Hirn entspringt. Doch weit gefehlt: Bernhard erzählt nur unbekümmert, wie es zu dem ein oder anderen Eklat kam und stellt gerade damit sein unvergleichliches Talent unter Beweis. Spannend ist es schließlich, zu den Prosatexten die zugehörigen Festreden zu lesen, die dem Bändchen beigefügt sind.


Genre: Kurzgeschichten und Erzählungen
Illustrated by Suhrkamp Frankfurt am Main

Geschwisterkinder

GeschwisterkinderMilla und Ritschie sind Geschwister, gemeinsam verlebten sie eine wohl als normal und behütet zu bezeichnende Kindheit. Mittlerweile sind sie in ihren Zwanzigern, leben beide in Berlin, räumlich nicht weit voneinander entfernt und einander doch entfremdet. Es gab keinen greifbaren Anlaß für die Distanz, die zwischen ihnen entstand. Eher war es die Trivialität ihrer Alltage, die beide verstummen ließen und dazu führte, dass sie sich nichts mehr zu sagen hatten. Was sie noch eint, sind die Erinnerungen an die Zeit, als der große Bruder die kleine Schwester Milla beschützte und ihr den Weg ebnete. Wenn auch jeder von ihnen sich seiner Erinnerungen nicht sicher ist, “wie viele Erinnerungen es geben mochte, die niemals wieder hervorgerufen wurden.”

In ihrer in fünf Abschnitte gegliederten Erzählung Geschwisterkinder berichtet die junge Autorin Hanna Lemke von einer langsamen Wiederannäherung zweier Geschwister im oft flüchtigen Umfeld einer hektischen Großstadt. Der Besuch eines alten Freundes ihrer Familie und die Einladung zu einer Hochzeit von Bekannten sind die Auslöser dafür, wieder miteinander ins Gespräch zu kommen. Sie beginnen zu reden, über ihre Gedanken und Gefühle. Über die Zeit, die sie hatten und die Zeit, die vor ihnen liegt. Sie erkennen, dass nicht jede Erinnerung eine glaubwürdige sein muss und sie es verdienen, einander ganz neu kennen zu lernen und ihre erstarrte Beziehung zu beleben. Sich gegenseitig die Angst vor all dem zu nehmen, was sich in ihrem Leben falsch und fremdbestimmt anfühlt. Schließlich wagt der ältere Bruder ein klares, ehrliches Hilfsangebot. Für die nächste Zeit wird er wieder derjenige sein, der die kleine Schwester beschützt und unterstützt auf ihrem Weg zu sich selbst. Auch wenn ihrer beider Leben scheinbar einfach nur seinen Lauf fortsetzt, die Gangart in diesem Lauf wird eine andere sein.

Hanna Lemke legt mit ihrer Erzählung zwei fein gezeichnete Charakterstudien vor. Ihr klarer Bericht zwingt den Leser zur Langsamkeit, dazu jeden ihrer poetischen Sätze so genau und bewusst zu lesen, wie sie auch geschrieben wurden. Hanna Lemke erzählt geschliffen, sie beobachtet genau, fast schon detailverliebt, aber sie wertet nicht. Der Leser mag seine eigenen Schlüsse ziehen. Zwar kommt er den Geschwistern näher, doch so richtig versteht er sie nicht. Zur Identifikation wird er nicht aufgefordert. Er bleibt seltsam distanziert und ein Beobachter aus der Ferne. Man legt das Buch tief beeindruckt aus der Hand, doch richtig begeistert ist man nicht. Das Bemühen der Autorin, die Beziehung der Geschwister auf das Wesentliche zu reduzieren – vielleicht ist es zu radikal. Auch wenn man die Abgründe hinter der Banalität des Lebens spürt, der letzte entscheidende, empathische Funke – mir hat er gefehlt.

Nachwirken werden Hanna Lemkes Sätze. Sätze wie gemalt, fein komponiert. Es sind Sätze, die man sich in die eigene Erinnerung mitnehmen und von denen man sich begleiten lassen kann.

Die gebürtige Wuppertalerin Hanna Lemke studierte am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig. 2010 debütierte sie mit dem Kurzgeschichtenband Gesichertes, welcher von der Kritik hoch gelobt wurde. Auch Geschwisterkinder ist in Summe eine lesenswerte Erzählung, die Lust auf mehr von dieser jungen Autorin macht.

Diskussion dieser Rezension im Blog der Literaturzeitschrift


Genre: Kurzgeschichten und Erzählungen
Illustrated by Kunstmann München

We’ll always have Paris

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– Ein Mann revanchiert sich für erlittenes Unrecht mit Liebe und wird natürlich dafür bestraft

– Eine Frau besucht das Herz ihres Gatten in einem anderen Körper

– Nach Einbruch der Dämmerung trifft sich eine ganz besondere Golfrunde

– Zwei Freunde wetten um einen Mord

– Manchmal sind Hunde die besseren Priester

Von diesen Themen handeln einige der 22 Kurzgeschichten und wie stets bei diesem Autor ist die Sprache voller Poesie, eine einzigartige, schwer zu beschreibende Atmosphäre zieht sich durch das Buch, Momente bittersüsser Magie, oft melancholisch oder nostalgisch, mit liebevoll gezeichneten Protagonisten.

Seit meiner längst vergangenen Jugend bin ich ein Fan von Ray Bradbury, der trotz seiner mittlerweile 91 Jahre nichts vom Zauber der frühen Werke verloren hat. Vielen dürfte der Autor hauptsächlich durch den (zugegebenermaßen vortrefflichen) Roman “Fahrenheit 451” bekannt sein und das ist schade, denn sein Spektrum ist wesentlich größer, er hat so viel mehr zu bieten. Interessierten Lesern sei auch “Das Böse kommt auf leisen Sohlen” oder “Die Mars-Chroniken” empfohlen.


Genre: Kurzgeschichten und Erzählungen
Illustrated by Harper Voyager

Mile 81

Auf einem verlassenen Rastplatz am Rande eines Highways rollt ein Auto aus, ein undefinierbares Modell, mit Schlamm beschmiert. Langsam öffnet sich eine Tür, aber niemand steigt aus, im Gegenteil: Der Wagen wartet darauf, dass nichtsahnende Neugierige einsteigen…

Diese als exklusives E-Book veröffentlichte Kurzgeschichte ist typisch Stephen King: Spannend, unterhaltsam und nicht ganz unblutig. Trotz der Beschränkung auf vergleichsweise wenige Seiten sind die Charaktere treffend gezeichnet und ihr Handeln bleibt stets nachvollziehbar. Gewisse Parallelen zu “Christine” sind vorhanden und von King auch selbstironisch gewürdigt. Für den Meister eine Fingerübung, für seine Fans ein echtes Lesevergnügen.

Als Zugabe gibt es noch einen Auszug aus “11.22.63”, dem mit Spannung erwarteten 1000-Seiten-Wälzer, der im November erscheint und sich mit dem Kennedy-Attentat beschäftigt.


Genre: Kurzgeschichten und Erzählungen
Illustrated by Hodder

Ur

Wesley Smith ist Englischlehrer an einem kleinen College in Kentucky und gilt im Kollegen- und Schülerkreis als hoffnungslos rückständig, da er zum Lesen noch echte Bücher benutzt statt Computer oder E-Reader. Als es deswegen sogar zum Zerwürfnis mit seiner Freundin kommt beschließt Wesley aus Trotz, einen Amazon Kindle zu erwerben. Dieser trifft auch prompt ein (eigentlich zu prompt) und ist merkwürdigerweise pinkfarben statt weiß.

Beim Herumspielen mit seiner neuen Errungenschaft entdeckt Wesley bald den experimentellen Bereich (gibt es wirklich) und darin die UR-Funktionen (gibt es nicht wirklich). Aus Neugier sucht er darin nach seinen Lieblingsautoren und stellt verblüfft fest, dass persönliche Helden wie Hemingway oder Shakespeare weitaus mehr Bücher verfasst haben als allgemein bekannt; natürlich ein gefundenes Fressen für einen Literaturbesessenen! Doch der mysteriöse Kindle hat noch wesentlich mehr auf Lager, zum Beispiel Zeitungen aus der Zukunft…

Großmeister Stephen King hat diese Novelle exklusiv für den Amazon Kindle veröffentlicht und damit wieder einmal ein kleines Juwel aus der Feder geschüttelt. Die Geschichte ist extrem spannend und gewohnt empathisch erzählt, auch wenn die Hauptrolle diesmal nicht von kühnen Helden oder grauenvollen Monstern gespielt wird, sondern von einem E-Reader, der selbstverständlich entsprechend marketinggerecht in Szene gesetzt wird. King bewies sein Faible für technische Neuentwicklungen schon vor einigen Jahren, als er „Riding the bullet“ zunächst ausschließlich als Download im Internet verkaufte, insofern verwundert sein Engagement nicht. Aber auch seine eher klassischen Fans kommen auf ihre Kosten, gibt es doch ein Wiederlesen mit den Niederen Männern und dem Dunklen Turm.

Fazit: Unbedingt lesen, es muss ja nicht auf einem pinkfarbenen Kindle sein…


Genre: Kurzgeschichten und Erzählungen
Illustrated by Storyville

Die Erzählungen

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Joseph Roth (1894-1939) gilt manchen als ein Wunderrabbi im Kleid des Gentlemans, der mit dem Alphabet heilen konnte, anderen als schiffbrüchiger österreichisch-ungarischer Monarchist, der seinen Kummer über den Niedergang der Habsburger in Hektolitern Alkohol ersäufte. Selbst charakterisierte sich der galizische Jude, österreichische Dichter und katholische Trinker Roth als »böse, besoffen, aber gescheit« und traf damit wohl ins Schwarze.

Roth, dessen Texte zum Feinsten zählen, was die deutsche Literaturgeschichte zu bieten hat, wurde durch seine Romane »Hiob«, »Radetzkymarsch« und »Kapuzinergruft« berühmt. In der Vor-Hitler-Zeit war er einer der bestbezahlten Zeitungsschreiber Deutschlands, im Exil galt er als einer der kompromisslosesten Gegner des Nazi-Terrors. Doch die politische Entwicklung gab ihm den Rest und machte aus einem fröhlichen Zecher einen zerrütteten Alkoholiker. Schluck für Schluck beging er Selbstmord und verbrannte wie ein bengalisches Feuerwerk. Ein jetzt vorliegender Band mit seinen gesammelten Erzählungen lädt ein, sich mit Joseph Roth zu beschäftigen.

Als »eine der schönsten Legenden, die im 20. Jahrhundert gedichtet wurde« (Marcel Reich-Ranicki) hinterließ Roth »Die Legende vom heiligen Trinker«, die kurz vor seinem Tod entstand. In dieser Erzählung wird der dem Alkohol verfallene Clochard Andreas von einem Unbekannten mit 200 Francs beschenkt. Die soll er, falls es ihm eines Tages möglich sei, in einer bestimmten Kapelle zugunsten der Heiligen Therese von Lisieux hinterlegen. Andreas geht von seinem unerwarteten Reichtum gut essen, wäscht sich, lässt sich rasieren und besucht ein Café. Dort spricht ihn ein Herr an, der seine schäbige Kleidung bemerkt und bietet ihm einen Job als Möbelpacker an. Als Lohn werden 200 Francs vereinbart.

Andreas führt die vereinbarte Arbeit gewissenhaft aus und erwirbt, weil er sich bereits einer neuen Klasse zugehörig fühlt, eine lederne Brieftasche. Am nächsten Sonntag geht er zu der Kapelle, um einen Teil seiner Schuld zu zahlen, versackt jedoch in einer Eckkneipe. Dort trifft er auf Karoline, eine verflossene Liebe. In einem Nebel von Hochprozentigem erinnert er sich, wie er vor vielen Jahren aus dem polnischen Schlesien nach Paris kam, da man in Frankreich Kohlenarbeiter suchte. Er hatte bei Landsleuten logiert. Dabei verliebte er sich in die damals verheiratete Karoline, und als ihr Mann sie eines Tages zu Tode schlagen will, schlägt er den Mann tot. Dafür saß er zwei Jahre im Gefängnis, dann folgte sein Absturz in den Alkohol, der ihn bis unter die Brücken von Paris führte. Als ihm in der Nacht die Heilige Therese im Traum erscheint und an seine Schuld erinnert, verlässt er Karoline.

In der Reihe der Wunder, die Andreas widerfährt, entdeckt er plötzlich einen Tausend-Francs-Schein in der frisch erworbenen Brieftasche. Er wechselt sie in einem Tabac und sieht dort das Foto eines ihm bekannten Landsmanns, der inzwischen zum Fußballstar avancierte. Er spürt diesen alten Kumpel auf, wird herzlich von ihm in die Arme geschlossen, mit frischer Kleidung beschenkt und zum Essen geladen.

Am Sonntag geht Andreas wieder Richtung Kirche, um der Heiligen Therese ihr Geld zu erstatten. Doch dort trifft er auf einen weiteren Freund aus der Vergangenheit, Woitech, dem er sein gesamtes Geld schenkt, um ihm aus einer angeblichen Not zu helfen. Und wieder fließt Alkohol in Strömen.

Nun kreuzt erneut jener Herr seinen Weg, der ihm die ersten 200 Francs geschenkt hat, und der Mann schenkt ihm erneut Geld. Das verzehrt Andreas in einer Bar. Am Sonntag geht er wieder voll guter Vorsätze zu der Kapelle. Ein Polizist spricht ihn unterwegs an und überreicht ihm eine fremde Brieftasche, die er angeblich verloren habe. Darin liegen 200 Francs. Ein Kumpel verleitet ihn jedoch erneut zum Saufen, bevor Andreas die Kirche betreten kann. An der Theke kippt er plötzlich um und wird in die gegenüber liegende Sakristei geschleppt, wo er mit einer Bewegung, als wollte er in die linke innere Rocktasche greifen und seine Schulden zahlen, einen letzten Seufzer tut und stirbt.

Mit dieser wunderschönen Novelle setzt sich Roth mit seiner eigenen Trunksucht auseinander und macht dabei immer wieder die Ehrenhaftigkeit deutlich, die ihn sein gesamtes Leben auszeichnete. Nach der »Legende vom heiligen Trinker« schrieb der Autor nur noch ein letzte Erzählung, »Der Leviathan«. Darin geht es wieder um einen im Grunde ehrenhaften Mann, den Korallenhändler Nissen Piczenik. Dieser Mann glaubte, dass die Korallen, mit denen er sein Leben lang handelte, lebendige Wesen seien, die Jehova dem Leviathan anvertraut habe, der sich auf dem Urgrund aller Wasser ringele, und die Verwaltung über alle Tiere und Gewächse des Ozeans, insbesondere über die Korallen, ausübe. Piczenik wird jedoch durch einen Konkurrenten, der künstliche Korallen aus Zelluloid zu einem Spottpreis verkauft, aus der Bahn geworfen und letztlich zum Trinker, bevor er auf dem Boden des Meeres mit seinen geliebten Korallen eins wird.

Traurige Figuren und unglückliche Schicksale sind es, die Roth in seinen Erzählungen beschreibt. »Jede Seite, jede Zeile, ist wie die Strophe eines Gedichts, gehämmert mit dem genauesten Bewusstsein für Rhythmus und Melodik«, schrieb sein Freund und Gönner Stefan Zweig über den Autor, der mit nur 44 Jahren verschied und uns ein fulminantes Werk hinterließ.

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Genre: Kurzgeschichten und Erzählungen
Illustrated by Kiepenheuer & Witsch Köln

Die souveräne Leserin

Zufällig besucht die Queen einen Bücherbus, der vor ihrer Palastküche parkt und lernt dort Norman Seakins kennen, einen lesehungrigen Küchenjungen. Angetan von seiner Begeisterung für Literatur befreit sie ihn vom Tellerwaschen und ernennt ihn zu ihrem persönlichen Amanuensis. Als literarischer Assistent bekommt der karottenköpfige Junge einen Stuhl nahe dem Büro der Queen und verbringt seine Zeit zwischen der Erledigung kleiner Aufträge mit Lesen.

Angeregt durch die Zufallsbekanntschaft liest die Queen immer mehr und verliert schnell ihr Interesse an höfischen Pflichten. Das stößt auf den Widerstand ihres Hofstaates, der meint, Lesen zähle nicht zu den Kernkompetenzen einer Monarchin und sei lediglich Zeitvertreib. Die Königin liest fortan, weil sie sich zu ergründen verpflichtet sieht, »wie die Menschen sind«. Im Umgang mit Büchern fühlt sie sich als Gleiche unter Gleichen, denn Bücher buckeln nicht und verhalten sich republikanisch gegenüber ihren Lesern.

Ihre Leselust wird zum Lesefrust ihrer Umgebung, die ungern mit Gewohnheiten bricht. Künftig fragt sie nämlich jeden, dem sie Audienz gewährt, was er denn gerade lese und will sich außerdem mit Staatsgästen über Literatur unterhalten. Ihre Begeisterung für ihr neues Hobby wird zur Besessenheit, und ihren offiziellen Verpflichtungen kommt die Monarchin nur noch mit sichtbarem Unwillen nach: »Grundsteine werden weniger schwungvoll gelegt; die wenigen Schiffe, die noch zu taufen waren, sandte sie mit kaum mehr Zeremoniell auf hohe See hinaus, als man ein Spielzeugboot auf den Teich setzt, denn immer wartete ein Buch auf sie.«

Schon bringen ihr Besucher Bücher statt Blumen mit, im schlimmsten Falle sogar selbst verfasste. Und die Queen liest weiter, sie hat den Eindruck, etwas versäumt zu haben, weil sie erst im Alter das Lesevergnügen entdeckte. Bald will sie die Verfasser der vielen interessanten Bücher persönlich kennen lernen und lädt sie in ihren Palast. Doch dabei stellt sie fest, dass Schriftsteller ebenso sehr Phantasiefiguren ihrer Leser sind wie ihre Romanhelden und belässt es darauf beim Lesen. Schließlich überlegt sie, statt der üblichen Weihnachtsansprache im Fernsehen an ihre Untertanen, ein Gedicht von Thomas Harding vorzulesen.

Um sie wieder auf den »richtigen« Weg zu bringen, wird Norman von den Hofschranzen an eine Universität versetzt, wo er ein Literaturstudium beginnt. Seine ehemalige Arbeitsgeberin vermisst ihn zwar, erfährt aber nichts von der plötzlichen Wende in seinem Leben. In Ermangelung ihres literarischen Gesprächspartners beginnt sie, ihre Gedanken zu Papier zu bringen und Notizbücher zu füllen. Nun denkt sie ernsthaft darüber nach, selbst zu schreiben … doch ob das einer Monarchin geziemt?

Alan Bennett schildert in seiner Novelle, wie Lesen Menschen beeinflussen und verändern kann. Er beweist diese These ironischerweise am – natürlich fiktiven – Beispiel der Queen, von der außer repräsentativem Winken kaum Neigungen bekannt sind. Mit seiner Erzählung, die in einer unerwartet konsequenten Wendung mündet, macht er die Monarchin menschlich und liebenswert. So leistet er neben der Aufgabe, schreibend für das Lesen zu werben, gleichzeitig seinen Beitrag als britischer Untertan, seine Königin liebenswert zu machen, indem sie sich vom Souverän zur souveränen Leserin entwickelt.

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Genre: Kurzgeschichten und Erzählungen
Illustrated by Klaus Wagenbach Berlin

Der letzte Sommer der Unschuld

Chris Fuhrman starb mit 31 an Krebs und schaffte es gerade noch, seine Erzählung »The Dangerous Lives of The Altar Boys« (»Das gefährliche Leben der Messdiener«) abzuschließen. Freunde gaben das Buch postum in der »University of Georgia Press« heraus. Von dort entwickelte sich langsam eine Fan-Gemeinde des Werkes, das Fuhrman einen Spitzenplatz unter den Büchern über das Heranwachsen von Jugendlichen, neudeutsch »Coming-of-Age-Literatur«, sicherte. Das Buch wurde inzwischen sogar mit Jodie Foster verfilmt und lief in Deutschland unter dem Titel »Lost Heaven« im Kino. Die ungeschickte deutsche Titelfindung »Der letzte Sommer der Unschuld« und eine Pädophilen-Optik ließen die deutsche Ausgabe das Buch in der Versenkung verschwinden. Dieses literarische Kleinod verdient es jedoch, vor den Ramschhändlern gerettet zu werden.

Fuhrman erzählt von fünf dreizehnjährigen Messdienern, die sich an einer katholischen Klosterschule im Süden der USA quälen und nach Lektüre von »Der Pate« eine Gang bilden. Heimlich saufen sie Messwein und stehlen Oblaten. An Jesus Christus glauben sie nicht. Zeichnerisch begabt produzieren sie Comics, auf denen Pater und Nonnen in einer Weise dargestellt werden, die bei Veröffentlichung die öffentliche Hinrichtung der jungen Künstler nach sich ziehen würde. Wundervoll direkt und mit herrlichem Humor schildert der Autor die ersten Erlebnisse ihres Erwachsenwerdens: den Konflikt mit den Autoritäten in Elternhaus und Schule, den ersten Kater, den ersten Kuss, den ersten Joint, den ersten Sex.

Die Gemeinheit eines Mitschülers spielt den Hardcore-Comic einem Pater in die Hände. Wenige Tage vor Schulabschluss droht der Gang damit ein Verweis von der Schule. Die Jungen wollen ablenken und beschließen, ein Raubtier aus einem Nationalpark einzufangen und in der Schule auszusetzen. Mit diesem Plan nimmt das Drama, denn das Buch endet leider böse, seinen Lauf. Alles geschieht vor dem Hintergrund schwelender Rassenunruhen, die in das Leben der weißen Jugendlichen hineinspielt wie vor der leidenschaftlichen ersten Liebe, die zwischen dem Hauptheld und einer von ihm angebeteten Schülerin entflammt. Familien in Krisen, elterliche Gewalt, sexueller Missbrauch – das sind »normale« Elemente, die aus jugendlicher Sicht wie selbstverständlich mit in die Erzählung einfließen und diese damit zu einem zeitkritischen Stück aktueller Gegenwartsliteratur machen.

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Genre: Kurzgeschichten und Erzählungen
Illustrated by Heyne München

Der kleine König Dezember

Der kleine König Dezember lebt in einem Mauseloch in der Wohnung des Erzählers, mit dem er sich gelegentlich zu Gesprächen trifft. Kaum größer als ein Gummibärchen, entstammt der kleine Wicht einem Geschlecht, das permanent schrumpft – bis er schließlich völlig verschwunden ist.

Axel Hacke hat den Däumling eines Tages in seinem Bücherregal gefunden und sich mit ihm angefreundet. Er erkundet mit ihm die Stadt und lauscht den Geschichten vom kleinen König Dezember II., der von seinem Vater, König Dezember I. und seinem Großvater König Dritter Januar, erzählt.

In der Welt des dicken kleinen Mannes, der in einem langen roten Mantel mit Hermelinbesatz steckt, wird man groß geboren, man weiß schon alles, kann lesen und schreiben. Mit zunehmendem Alter wird man klitzeklein und zu guter Letzt unsichtbar. Es ist alles spiegelverkehrt zum menschlichen Leben, und doch gleicht sich vieles.

König Dezember vertritt die Ansicht, dass man lebt, um zu träumen. Sein klitzekleines Wohnzimmer ist voller Schachteln, in der seine schönsten Träume fein säuberlich verpackt liegen. So kann er bequem wirklichkeitsfrei leben, und der Leser fühlt sich vielleicht ebenfalls angeregt, ein wenig mit der kleinen Exzellenz in den Tag zu träumen.


Genre: Kurzgeschichten und Erzählungen
Illustrated by Kunstmann München

Frank Sinatra ist erkältet

Gay Talese und seine Kollegen Tom Wolfe und Hunter S. Thompson gehören zu den bekanntesten Vertretern des sogenannten New Journalism. Talese beschrieb seine Art der Recherche einmals als »the fine art of hanging around«. In dem vorliegenden Band werden Stories aus vier Jahrzehnten vorgestellt, mal ist es eine Geschichte über die Stadt New York, in der wir unter anderem etwas über die umherstreunenden Katzen der Großstadt erfahren. Eine andere Geschichte entführt uns nach Kuba, als der Boxer Muhammad Ali mit großem Gefolge der Insel und Fidel Castro »an einem warmen, windigen Winterabend« einen Besuch abstattet.

In der Titelgeschichte »Frank Sinatra ist erkältet« versucht Talese wochenlang, an den bekannten Sänger heranzukommen, was aber immer wieder scheitert, da Sinatra tatsächlich erkältet oder einfach schlecht gelaunt ist. Stattdessen erfährt der Leser Erstaunliches über Freunde und Umfeld von Sinatra und deren Milieu.

Eine großartig recherchierte Reportage ist »Die Brücke«. Hier erfährt man die wichtigsten Dinge über den amerikanischen Stahl- und Hängebrückenbau. Wir erfahren etwas über Boomer und Punks, über die Hierarchie und Rivalität der Arbeiter bei ihrer äußerst gefährlichen Tätigkeit.

Der Band »Frank Sinatra ist erkältet« besteht aus zehn großartig erzählten, unaufgeregten Geschichten, in denen sich der Erzähler im Hintergrund hält, und deren Lektüre ein einziges Vergnügen ist.


Genre: Kurzgeschichten und Erzählungen
Illustrated by Rogner & Bernhard bei Zweitausendeins Berlin

Sei wie ein Fluss, der still die Nacht durchströmt

Einhundert persönliche, minutenkurze Texte, Tagebuchbemerkungen und Kolumnen geben Einblick in das Denken des zwischen Brasilien und Frankreich pendelnden Erfolgsautors. Dabei spricht aus nahezu jeder Zeile eine missionarisch anmutende Religiösität, die Coelho selbst Spiritualität nennt.

Paulo Coelho wurde in einer Jesuitenschule streng katholisch erzogen, bis er sich als Jugendlicher verweigerte und zum Hippie mit lendenlangem Haar wurde. Seine verzweifelten Eltern wiesen ihn dreimal in eine Nervenheilanstalt ein, wo er mit Elektroschocks traktiert wurde, die Jahrzehnte später die gewünschte Wirkung zeigten: da glaubte der Autor, eine Vision gehabt zu haben und trat in einen erzkatholischen Orden ein. Seitdem predigt er Gottes Wort in Schriftform.

Die in dem Band versammelten Kurztexte lassen Coelho in jeder Blume das Werk des Allmächtigen beschreiben. Auf den weniger esoterisch angehauchten Leser wirken die literarisch anspruchslosen Texte mitunter hausbacken, doch es lässt sich unter persönlichen Aspekten durchaus der eine oder andere Gewinn ziehen. Coelho selbst fasst die Zielstellung seiner literarischen Motivationsarbeit so zusammen: »Es gilt, alles zu unterlassen, was uns zu lebenden Toten macht, und alles auf die Dinge zu setzen, von denen wir immer träumten, und alles für sie zu riskieren. Denn, ob wir wollen oder nicht, der Todesengel erwartet uns schon«.


Genre: Kurzgeschichten und Erzählungen
Illustrated by Diogenes Zürich

Novecento

Ein Buch ist mir nach Jahren wieder in die Hände gefallen. Sie wissen doch auch wie das ist: vor Zeiten gelesen, wunderbar gefunden und nun als Taschenbuch erschienen, wieder geblättert und wieder das Eintauchen in eine andere Welt, eine völlig andere Welt. Viele wünschen sich dorthin und sei es auch nur für kurze Zeit. Vielen hat es das harte Leben Brot und Hoffnung gegeben: Das Meer. Viele mussten aus dem alten Europa weg, um in der neuen Welt ihr Glück zu suchen… »Novecento« war diese Zeit und »Novecento« heißt auch die Hauptgestalt in diesem schmalen Bändchen: Die Legende vom Ozeanpianisten.

Als 1900 ein Auswandererschiff im Amerika anlegt, das Jahrhundert hat gerade eben begonnen, das Feuerwerk über dem Hafen, streben alle ins gelobte Land, wird im allgemeinen Aufbruch ein Baby vergessen. Der Heizer des Ozeanriesen, Danny Boodman, wird es finden und den kleinen Jungen großziehen, ihn lesen lehren anhand von Pferdewetten in der Zeitung. Als nun Danny Boodman durch ein Unglück bei der Arbeit stirbt, entscheidet der Kapitän, der Junge muß an Land gebracht werden; doch der ist verschwunden. Das Schiff legt ab und auf hoher See taucht der Junge wieder auf, klavierspielend, wie man nie zuvor jemand spielen hörte. In der ersten Klasse spielt er nach Noten, aber nachts in der dritten Klasse erklingt seine eigene Musik, die alle in ihren Bann zieht und verzaubert. So bleibt es nicht aus, dass sein Ruhm irgendwann ans Festland gelangt und er ein Klavier-Duell gegen den selbsternannten »King of Jazz« bestehen muß. Wer gewinnt? Eine Stunde lesen, Sie werden es wissen, aber bedauern, dass dieser Text einen Schluss hat.


Genre: Kurzgeschichten und Erzählungen
Illustrated by dtv München

Schneller als das Auge

Dass der Verfasser von »Fahrenheit 451« im Laufe seines langen Lebens neben vielen hinreißenden auch schwächere Texte geschrieben hat, ist kein Geheimnis. Bei den hier vorliegenden Geschichten handelt es sich um Erzählungen der Spitzenklasse: sie sind anmutig und fein gesponnen sowie von geheimnisvoller Poesie durchwirkt.

Seine Titelgeschichte widmet Bradbury einer Zirkuskünstlerin, die zum Gaudi des Publikums Freiwilligen Wertsachen und Kleidungsstücke stiehlt. Um sich unmittelbar in das Geschehen einzubringen und seinen Abscheu vor der Erniedrigung coram publico auszudrücken, lässt der Erzähler einen vermeintlichen Doppelgänger, den er im Publikum entdeckt, an seine Stelle treten und sich öffentlich zum Löffel machen. Dieser elegante Kunstgriff ist typisch für den Autor, dessen besonderes Talent darin besteht, Ereignisse auf verschiedenen Ebenen und aus verschiedensten Perspektiven zu schildern und dabei psychologische Tiefe zu finden.

Die 21 hintersinnigen Geschichten sind filigrane Meisterwerke, voller Ironie, Magie und intensiver Gefühle. — Bradbury at his best!


Genre: Kurzgeschichten und Erzählungen
Illustrated by Diogenes Zürich

Regenbogen über der Appelbaumchaussee

Geht das Zentralgestirn hinter dem Teutoburger Wald auf und wärmt hohe Wallhecken, saftige Streuobstwiesen und wogende Getreidefelder, aus denen jubilierende Lerchen himmelwärts streben, dann besonnt es das Land der Westfalen. Kerniger Mittelpunkt dieses bäuerlich geprägten Gebietes ist das katholische Münsterland, das literarisch berühmt wurde durch Annette von Droste-Hülshoff.

Der von Gerd Haffmans bei Zweitausendeins vorgelegte Norbert-Johannimloh-Sammelband schafft ein westfälisches Sittengemälde, das mit frühesten Kindheitserinnerungen des Autors an Kuh- und Schweinestall beginnt. Er sammelt herrliche Gedichte in Hoch- und Niederdeutsch wie das über den Pastor, der seine schwangere Haushälterin des Hauses verweisen muss und hofft, dabei besser als Taufpate durchzukommen. Schließlich mündet die Anthologie in drei Episoden über historische Frauengestalten der Kommune der Wiedertäufer, die in Münster dem papistischen Bischof zum Trotz ein Königreich der Vielweiberei errichteten.

Die Anthologie hinterlässt jedoch einen zwiespältigen Eindruck. Einerseits steht der Band als Lehrbuch für den, der lesen möchte, welche Schäden die katholische Moral an Leib und Seele anrichten kann, denn die Texte des 1930 geborenen Autors wimmeln bis in die Folterszenen der Wiedertäufer von lüsternen Begehrlichkeiten, Anspielungen und Traumgemälden, denen ein Hauch Voyeurismus anhaftet. Andererseits gibt es ausgesprochen starke Erzählungen um Hannes Roggenkämper, das Alter Ego des Verfassers. Wer die plattdeutschen Gedichte und mitunter recht hausbackenen Erzählungen überspringen möchte, dem sei »Die Geschichte mit der Anhalterin« empfohlen. Der Text legt beredetes Zeugnis über den trockenen Humor des Autors ab und liefert ein perfektes Kabinettstück westfälischer Provinzliteratur.


Genre: Kurzgeschichten und Erzählungen
Illustrated by Zweitausendeins Frankfurt am Main

Spiegelhölle

Sieben von mörderischer Langeweile gequälte Männer treffen sich, um den öden Alltag mit kleinem Kitzel zu lockern. Sie nehmen zur Abwechslung teil an spiritistischen Experimenten, besuchen Gefängnisse, psychiatrische Kliniken und Vorlesungen in Anatomie; an einem Abend gesteht ein Novize in ihrem Kreis, dass er 99 Menschen in den Tod schickte und sich selbst zum 100. Opfer bestimmte. — Flackernd und unheimlich beginnt »Das Rote Zimmer«, eine der acht in diesem Band versammelten sonderbaren Schauergeschichten, die der Begründer der japanischen Kriminalgeschichte im zweiten Quartal des vorigen Jahrhunderts veröffentlichte.

Rampos grotesk gedehnte Geschichten spielen in der begüterten oberen Mittelschicht und atmen die Monotonie dieser sorgenfrei lebenden Kaste. Komplizierte und aufwändig konstruierte Verbrechen aus Langeweile werden veranstaltet, um die eigenen Grenzen auszureizen und den eintönigen Alltag aufzulockern. Oft verfallen die Akteure dem Zwang, sich alles von der Seele reden zu müssen: sie beichten ihre Sünden im Angesicht des Todes oder gestehen ihre Untaten in Brief- oder Buchform. Rampo tuscht seine Gestalten mit haarfeinem Pinsel und schafft es, subtile Geständnisse in eine fesselnde Form zu fassen; das macht diesen Sammelband literarisch faszinierend und lesenswert!

Um die Lust auf die Lektüre zu reizen, seien schnell noch die weiteren Rampo-Stories beleuchtet: »Zwei Versehrte« treffen sich auf einen Tee und berichten aus ihrem Leben. Der eine ist von Messerstichen und Granatsplittern entstellt, der andere leidet darunter, seit Jahrzehnten Schlafwandler zu sein, der nachts stiehlt und einen alten Mann im Schlaf erdrosselt haben soll. Besteht eine Verbindung zwischen den beiden Männern? — In »Zwillinge« gesteht ein zum Tode verurteilter Mörder, auch seinen älteren Zwillingsbruder beseitigt zu haben sowie in dessen Identität geschlüpft zu sein, bis er wegen einer Nachlässigkeit überführt wird. — »Der psychologische Test« dient als letzte Gelegenheit, in einem eigentlich klaren Mordfall den wahren Schuldigen kunstvoll zu überführen. — Die Titelgeschichte »Spiegelhölle« beschreibt den Wahnsinn eines Mannes, der sich an Glas und Spiegeln berauscht. — »Die Raupe« ist der im Krieg grässlich verstümmelte Torso eines Soldaten, der sich vor seiner Frau in einen Brunnen wirft. — »Auf der Klippe« stürzt eine Ehefrau ihren Gatten in den Tod, nachdem sie bereits ihren ersten Mann in angeblicher Notwehr getötet hat. — »Der Sesselmann« ist ein kunstfertiger Möbelmacher, der im Inneren eines von ihm gefertigten großen Lederfauteuils haust und einer wohl geformten Schriftstellerin, die sich täglich auf ihm reibt, einen Liebesbrief schickt … oder ist es etwa nur der perfide Trick eines genialen Autors, um gelesen zu werden???


Genre: Kurzgeschichten und Erzählungen
Illustrated by Maas Berlin