Atlas eines ängstlichen Mannes

Schicken Sie Ihre Phantasie auf Reisen oder testen Sie einfach nur Ihre Geografiekenntnisse, indem Sie Nadeln in eine imaginäre Weltkarte stecken. Osterinsel, China, Brasilien, Kalifornien, Marokko, Andalusien, Island, Griechenland, Wien, Neuseeland, Neu Delhi, Nepal, Bolivien, Mexiko, Juan Fernandez Archipel, Irland, Laos, Nordpol, Ontario, Kambodscha, Yokohama, Valparaiso, Pitcairn, Jemen, Sydney, Irland. Stopp! Das sind nur etwa die Hälfte der Orte und Ziele, die Christoph Ransmayr in seinem Atlas eines ängstlichen Mannes wie auf einer geografischen Perlenkette auffädelt.

In siebzig Episoden erzählt der österreichische Autor Kurzgeschichten für Menschen, die gerne reisen und in denen die Ferne immer eine unstillbare Sehnsucht auslöst. Aber seine Zielgruppe sind ohne Zweifel auch all jene Menschen, die nicht gerne reisen, weil er es versteht, Kopfkino vom Feinsten zu entfachen. Man muss schier gar nicht in Burma oder Thailand gewesen sein, denn Ransmayr schafft es, jeden mitzunehmen. Andererseits fragt man sich als Viel- und Dauerreisender, ob man die großartigen Bilder wirklich sehen kann, wenn man niemals an griechischen, arabischen oder asiatischen Orten war?

Nach kurzem Zögern denke ich: Ja, nur eben andere, nicht weniger schöne, nicht weniger bewegende. Denn der Stil, in dem Ransmayr schreibt, ist farbenprächtiger als jeder Film und jede Reisedokumentation. Man kann gar nicht anders, als einzutauchen, wenn er am verschneiten Ufer eines Bergsees im westlichen Himalaya entlang wandert oder wenn er einer Elefantenherde im Urwald von Sri Lanka ausweicht. Seine literarischen Fähigkeiten lassen jede Leserin, jeden Leser erblassen, ziehen einen in den Bann. Vor allem, wenn man selbst gerne schreibt, lässt einen der Autor mit untherapierbaren Minderwertigkeitskomplexen zurück. Seine lyrische Ader ist Garant für 3-D-Bilder im Kopf, für seufzende Emotionen, für ein so häufiges, neidisches Kopfschütteln wie bei kaum einem anderen Autor zuvor. So etwas kann man wahrscheinlich nicht lernen. Das haben auch schon andere erkannt – Ransmayr erhielt zahlreiche literarische Auszeichnungen, unter anderem die nach Friedrich Hölderlin, Franz Kafka und Bert Brecht benannten Literaturpreise, den Kleist-Preis und einige mehr. Literaturkenner halten den Nobelpreis schon lange für angemessen.

Bleibt noch die Frage – warum dieser Titel? Atlas, ja, das drängt sich auf. Aber ängstlich?

Ängstlich – weil er sich ohne den Input von außen, vor allem seiner langjährigen Lebensgefährtin, vielleicht nie und nicht so häufig auf den Weg gemacht hätte. Aber vielleicht auch ängstlich, weil große Teile dieses Buches entstanden, als Ransmayr mit einer lebensbedrohlichen Diagnose konfrontiert wurde und dieses Buch vielleicht sogar schon so etwas wie sein Vermächtnis zu werden drohte, ein Rückblick auf ein beispiellos volles und erfülltes Leben.

In diesem Mann sind Erfahrungen, Abenteuer, Wahrnehmungen und Gefühle gespeichert, die jeden Quantencomputer überfordern würden. So viele Bilder, Eindrücke, an denen ein Kopf zu platzen, ein Geist zu explodieren droht. Mit großer Sicherheit muss er auch genau deshalb schreiben, sein Ventil, um all das ein Stück weit zu verarbeiten, beherrschbar zu machen.

Zum Glück, denn so können wir an seinem Leben ein wenig teilhaben, den Weg einige Abschnitte weit mitgehen. Und unseren Vorteil daraus ziehen, uns – in sehr positiver und nicht merkantiler Absicht – bereichern. Der deutsche Philosoph Odo Marquard äußerte sich einmal in diesem Sinne dazu: Wer den Erzählungen und Geschichten anderer Menschen folgt, lebt deren Leben ein Stück weit mit. Und weil das einzelne menschliche Leben eigentlich viel zu kurz ist, muss man das sogar unter allen Umständen tun, muss lesen, zuhören, mitleben. Kaum jemand kann einem so viele Leben schenken wie Christoph Ransmayr.


Genre: Kurzgeschichten und Erzählungen, Memoiren, Reisen
Illustrated by Fischer Verlag

Miserere. Drei Texte

Miserere. Ihr zweiter Roman, “Die Infantin trägt den Scheitel links“, ebenfalls beim Salzburger Verlag Jung und Jung erschienen, war bei Leser:innen und Kritik beliebt und löste ob dessen Sprachgewalt Begeisterung aus. Leider ist diese kräftige Stimme Anfang dieses Jahres verstummt. Helena Adler starb viel zu früh, mit vierzig Jahren.

Das Leben in seiner ganzen Pracht

Neben “Hertz 52“, ihrem Debütroman, der 2018 erschien, veröffentlichte Adler 2022 noch ihren dritten Roman “Fretten“, der im September 2022 auf Platz 10 und im Oktober 2022 schon auf Platz eins der ORF-Bestenliste rauschte. Die hier, in “Miserere“, vorliegenden letzten drei Texte, die noch zu Lebzeiten abgeschlossenen wurden, lesen sich als eine Liebeserklärung an das Leben. Alle drei Texte sind Erstveröffentlichungen. Der erste, “Unter der Erde“, war schon im Radio zu hören, die beiden anderen, “Ein guter Lapp in Unterjoch” und “Miserere Melancholia“, entstanden in Hinblick auf eine angestrebte Teilnahme beim Bachmann-Wettbewerb. Ihre Einladung ereilte sie schließlich für letzteren Text, aber ihre Teilnahme wurde durch einen Gehirntumor, der das Reisen nach Klagenfurt unmöglich machte, vereitelt, wie Thomas Stadler in der Nachbemerkung erläutert. Der Text liest sich wie ein Dialog mit der Acedia, der Trägheit, einer der sieben Todsünden. Diese verortet die Autorin im Umfeld der Melancholie, weil sie sich selbst oft fragte, warum sie so schwermütig sei. Aber sie fand darauf auch eine gute, stimmige Antwort: “Ich bin schwermütig, weil ich das Leben hier in seiner ganzen Pracht so liebe. Mit all den Menschen, die ich liebe“.

Schwermut der Provinz

Golem, Gnom, Mistkerl, Bastard, Widerling, Giftköder, Podsol, Creep, Pest, Ekel, Abscheu, Ausgeburt, Abort…” nennt sie ihren Gesprächspartner, den sie einerseits außerhalb anderseits symbiotisch in sich selbst verortet. Am Ende von Miserere löst sich der Dämon in einem Purgatorium in Licht auf und es folgt das Paradies. Das dunkelste Schwarz, ein Vantablack, ersteht aus dem Scheiterhaufen: “Wenn wir sterben, scheitern wir am Leben. Wären wir unsterbliche, scheiterten wir am Tod“. Aber wir finden auch solch wunderbar erbauliche Zeilen wie die folgende: “Dauer ist kein Kriterium für Intensität und Nähe“. Oder: “Ich rechne mit dem Schlimmsten, um im besten Fall positiv überrascht zu werden. Im Grund nennt man das einen optimistischen Realismus. Einer liegt auf der Lauer, ein anderer ist auf der Hut“. Im ersten Text dieses Bandes geht es um Josef aus Unterjoch, ein Maurer, aber auch Hochzeitslader. “Er rührt den Mörtel an, der Bürgermeister Joch seine Schwiegertochter.” Aber Josef ist ein guter Josef, einer, der die Pferde nicht stiehlt, sondern zurückbringt. “Das weiß ganz Unterjoch, darum nennen sie ihn Lapp.” Das Wirtshaus von Unterjoch wird zum Gerichtshof, wo jeder sein Fett abbekommt. Wer sich dem nicht aussetzen will, muss eben gehen.

Helene Adler hat die Alptraumidylle der österreichischen Provinz mit viel Humor und Witz auf die Schippe genommen und zeigt auch in ihren letzten drei Texten, dass sie bleibt: als Aufforderung zur steten Veränderung, Weiterentwicklung und Auflösung dieser Sturheit, die uns alle das Leben kostet, statt es uns kosten zu lassen…

Helena Adler
Miserere. Drei Texte
2024, 72 Seiten, gebunden
ISBN: 978-3-99027-407-1
Verlag Jung und Jung
€ 16,-


Genre: Kurzgeschichten und Erzählungen
Illustrated by Jung und Jung

Minihorror

 

Amüsante literarische Avantgarde

Mit dem neugierig machenden Titel «Minihorror» hat die in Belgrad geborene Schriftstellerin Barbi Marković kürzlich den Belletristik-Preis der Leipziger Buchmesse gewonnen. Die Jury lobt das Buch mit den Worten: «Rasant, seriell und pop-affin – so ist Barbi Markovićs neues Buch, das man wie im Rausch ohne Unterbrechung an einem Stück lesen will. Denn der Genuss ihrer witzigen und scheinbar so einfachen Sätze, die die absurde Fallhöhe zwischen Alltag und existenzieller Weltlage ausmessen, soll bitte nicht enden.» Während das Feuilleton ebenfalls jubelt, sprechen die negativen online Leser-Bewertungen bei Amazon mit auffallend hohen 41% «gefällt mir nicht» oder «gefällt mir gar nicht» eine ganz andere Sprache. Was stimmt denn nun, fragt man sich verunsichert.

Mini und Miki heißen die Protagonisten dieses Erzählbandes, den der Verlag wohlweislich nicht als Roman bezeichnet, obwohl alle Buch-Besprechungen genau das tun. Es handelt sich vielmehr um 27 surreale, phantastische Kurzgeschichten, episodisch aneinander gereiht in loser Folge. Ergänzt werden diese Texte um «Bonusmaterial» in Form einer kurzen Gastgeschichte von Mercedes Kornberger, einer Rollenspiel-Anleitung von Thomas Brandstetter und 105 grafisch angereicherten, ebenfalls absurd komischen Gedankensplittern der Autorin. Mit Horror ist das alltägliche Chaos unseres aktuellen, städtischen Lebens gemeint. Die Namen der Protagonisten erinnern an die berühmten und nicht minder komischen, schrägen Maus-Figuren von Walt Disney. Auch die lassen ja, wir erinnern uns, kein Fettnäpfchen aus, in das sie treten können. Hier jedoch herrscht «Minihorror», stehen die beiden Protagonisten sich meistens selbst im Wege, ständig bedroht von Monsterwesen, Zombies, vielen Alltagsdramen und anderen Gefahren mehr. Die führen oft nicht nur zu wahnwitzigen Schwierigkeiten, sondern enden nach abenteuerlichen Wendungen meist ziemlich überraschend in urkomischen Katastrophen. Kurz gesagt wird hier die scheinbare Wirklichkeit ad absurdum geführt, werden kafkaeske Situationen humoristisch geschildert, ohne die allgegenwärtige, beklemmende Tragik im Hier und Jetzt damit negieren zu wollen, ganz im Gegenteil!

Das virtuose Spiel der alle Erzählkonventionen außer Acht lassenden Autorin ist ein literarischer Spaß, der sich einer miesepetrigen, literatur-wissenschaftlichen Analyse und Bewertung entzieht. Es gibt hier keinen roten Faden, nur lose ineinander verknüpfte Szenen im Leben des tragikkomischen Paares, das sehr wohl mit den Fährnissen des Lebens vertraut ist, sich dann misstrauisch aber immer wieder wundert, wenn doch mal alles gut zu gehen scheint. All das passiert im realen Leben der Figuren, nicht in irgendwelchen Horrorkulissen, sondern tatsächlich in den Wohnstuben und an den Arbeitsplätzen. Und überhaupt. die Arbeit gibt den Takt vor im Leben der Figuren dieses Buches, die sich orientierungslos in einer konsumgetriebenen Tretmühle befinden, deren Ausweglosigkeit sie sich aber sehr wohl bewusst sind.

Auch in diesem fünften Buch von Barbi Marković zeigt sich wieder ihre literarische Coolness. Sie punktet mit ihrer höchst eigenwilligen und prägnanten Erzählweise, die inzwischen geradezu ein Markenzeichen der Autorin geworden ist. Wenn von ihr sprachliche Bilder zum Beispiel einfach wörtlich genommen werden, immer nach dem Motto ‹mal sehen, was dann passiert.› Sie beleuchtet mit ironischem Unterton die Abgründe der modernen Leistungs-Gesellschaft und lehrt uns dabei das Gruseln. Scheinbar mühelos entlarvt sie nicht nur die Zerbrechlichkeit ihrer beiden Protagonisten, sie zeigt sie, und damit uns alle, als regelrechte Witzfiguren. Sind wir das wirklich? Erleben auch wir diese Albträume am Arbeitsplatz, im Familienleben, in der Paarbeziehung, im Supermarkt, bei Ikea, auf Partys, beim Friseur, im Urlaub und im Beisl? Nach der Postmoderne trifft der aufnahmefähige und -willige Leser hier auf eine amüsante, mit leichter Hand geschriebene, avantgardistische Lektüre, die ihn, aller Voraussicht nach, sogar bereichern dürfte!

Faziit: erfreulich

Meine Website: https://ortaia-forum.de


Genre: Kurzgeschichten und Erzählungen
Illustrated by Residenz Verlag

Die besten Weltuntergänge Was wird aus uns? Zwölf aufregende Zukunftsbilder

Das Cover spricht die Oma in mir an: im oberen Teil ein Wimmelbild in sanften Farben, mit fröhlichen Menschen, die sich, Generationen übergreifend, der sommerlichen Natur erfreuen. Die untere Hälfte dagegen surrealistisch und geheimnisvoll, das macht neugierig. Im Buch, mit Seiten, die größer als Din A 4 sind, nimmt der Text je ein Viertel ein, in den restlichen Flächen sind die wunderschön gemalten Bilder.

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Genre: Dystopie, Graphic Novel, Kinderbuch, Kurzgeschichten und Erzählungen
Illustrated by Klett Kinderverlag

Honigkuchen. Erzählung

Honigkuchen. Erzählung. Neben seinen beliebten Romanen hat Haruki Murakami auch immer wieder gerne Kurzgeschichten und Erzählungen geschrieben. Um eine solche handelt es sich bei “Honigkuchen“, die in vorliegender Ausgabe zudem von der Illustratorin Kat Menschik bebildert wurde. Ein Fest der Sinne.

Dreiecksgeschichte mit Bär

Ganz so wie Junpei der Schriftsteller, der Protagonist und Erzähler von “Honigkuchen” melancholische Geschichten schreibt, hat auch Murakami eine solche über ihn verfasst. Es geht um eine Dreiecksbeziehung, sein bester Freund, Takatsuki, heiratet die Angebetete Junpeis, Sayoko, und gemeinsam bekommen sie die kleine Sara, der Junpei die Geschichte von Bären erzählt. Masakichi und Tonkichi heißen die beiden Bären, die Honig und Lachs sammeln. Masakichi ist ein gutmütiger Bär, “er hört keine Punk und keinen Hard Rock, sondern Schubert, wenn er allein ist”, so Junpei. Mit Hilfe der Zwischenfragen der kleinen Sara entwickelt Junpei die Geschichte der beiden Bären spontan, denn es gibt sie noch nicht, diese Geschichte. Die Dreiecksbeziehung allerdings gibt es wirklich und hier ist Junpei wesentlich ungeschickter sie mitzuentwickeln. Denn er lässt sich von Takatsuki Sayoko einfach vor der Nase wegschnappen. Eine verhängnisvolle Entwicklung nimmt ihren unabänderlichen Verlauf.

Honigkuchen: Ein Herz für Zweifler

Von wichtigen Dingen hast du absolut kein Ahnung. Nicht die geringste. Ich frage mich, wie so einer Geschichten schreiben kann” wirft Takatsuki seinem immer noch besten Freund Jahre später vor. Junpei weiß es selbst nicht. Er ist genauso ratlos wie belesen. Doch dann kommt das Erdbeben und plötzlich wird alles ganz anders. Manches Mal braucht es so eine Naturkatastrophe, damit sich etwas ändert. Besonders bei den Erwachsenen. Sara leidet nach dem schrecklichen Erdbeben unter Albträumen und nur Junpei kann sie beruhigen, mit seinen Geschichten über einen Bären und seinen besten Freund. Und er ist fest entschlossen, für immer über Sayokos und Saras Schlaf zu wachen. So wie sein Junpei ist auch Haruki Murakami ein Meister der kurzen Form. In “Honigkuchen” zeigt er sein großes Herz für alle Zögernden und Zaudernden, die Zweifelnden und Abwartenden. Kat Menschik bebildert die warmherzige Geschichte in unvergessliche Bilder. Von Junpeis Katze bis Mutter und Tochter, die sich umarmen. Und natürlich die beiden Bären Masakichi und Tonkichi mit ihren Lachsen und ihrem Honig.

Die vorliegende Kurzgeschichte stammt aus dem Sammelband einiger seiner Erzählungen mit dem Titel “Nach dem Beben“, der ebenfalls – so wie viele andere Werke Murakamis – bei Dumont erschienen ist.

Haruki Murakami
Honigkuchen. Erzählung
Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe
2023, Hardcover, 80 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag, UV-Lack, bedrucktem Vorsatzpapier und Lesebändchen, 19 farbige Illustrationen,
Format 134 mm x 208 mm
ISBN: 978-3-8321-6823-0
Dumont Buchverlag
20,00 €


Genre: Illustrationen, Kurzgeschichten und Erzählungen
Illustrated by DuMont

Turbulenzen

Mutter Kanadierin, Vater Ungar, geboren in Montreal, aufgewachsen in London, Literaturstudium in Oxford, viele Jahre wohnhaft in Budapest – das sind die passenden kosmopolitischen Voraussetzungen, die der 49jährige Schriftsteller David Szalay mitbringt, um einen global vernetzten Roman wie „Turbulenzen“ zu schreiben.

Das Grundprinzip unterschiedlichster Schauplätze rund um die Welt hat Szalay bereits in seinem Werk „Was ein Mann ist“ sehr erfolgreich umgesetzt, was ihm für jenes Buch 2016 zurecht eine Nominierung auf der Shortlist des „Man Booker Prize“ einbrachte.

In „Turbulenzen“ nimmt Szalay diesen Modus noch konsequenter wieder auf. Man erwirbt mit dem Buch sozusagen ein Round-the-world-Ticket. Die einzelnen Kapitel bestehen aus ineinandergreifenden Flugstrecken, die zugehörigen Titel bestehen einzig und allein aus den internationalen IATA-Codes der Airports, eine Herausforderung für alle Vielreisenden. Oder hätten Sie spontan gewusst, von wo nach wo es bei GRU – YYZ geht?

Doch das sind nur die formalen Rahmenbedingungen. Eigentlich stellt jedes Kapitel eine eigene Kurzgeschichte dar, allerdings hat Szalay diese genial ineinander verwoben, indem sich immer neue menschliche Schicksale entlang dieser Flugetappen rund um die Welt aus der vorhergehenden Geschichte ergeben. Eine Randfigur in dem einen Kapitel wird plötzlich zur Hauptprotagonistin im nächsten.

Mit präziser, adäquater Sprache, eindrucksvollen, aber nie schwülstigen Bildern gewährt der Autor Einblicke in unterschiedlichste Leben und Kulturen rund um den Globus. Durch den kontinuierlichen Wechsel der Hauptfiguren vollzieht sich immer wieder ein für den Leser erstaunlicher Perspektivenwechsel. Eine literarische Technik, durch die es Szalay gelingt, die Ambivalenz einer Figur messerscharf und lebensecht herauszuarbeiten. Da ist der indische Ehemann gerade noch der gewalttätige Tyrann seiner Familie, erscheint dann aber im Folgekapitel plötzlich in einem ganz neuen Licht, wenn man plötzlich erfährt, dass auch er Opfer gesellschaftlicher Konventionen ist.

Obwohl sein Schreibstil sehr eingängig und leicht ist, macht es der Autor seinen Lesern inhaltlich nicht einfach. Er stellt Themen unserer Zeit in den Fokus und fasst dabei zuverlässig in offene Zeitgeist-Wunden. Wie reagiert die Familie auf ein behindertes Neugeborenes? Wie geht man offen mit einer neuentdeckten Liebe um, die die Ehe im höheren Alter gefährdet? Was ist, wenn man bei der Heimkehr spürt, dass in der heilen Familienwelt etwas Furchtbares passiert sein muss, aber die Gewissheit sich erst ganz langsam ins Bewusstsein schleicht? Da wirkt eine leichte Episode wie das Tinder-Date eines Piloten zwischen zwei Flügen trotz der durchaus psychoanalytisch interessanten zwischenmenschlichen Interaktion fast schon lapidar.

Durch sein literarisch innovatives Konzept nimmt David Szalay einen mit auf eine Reise um die Welt, die in London beginnt und dort auch wieder endet. Szalay schreibt sehr fliessend, ist angenehm zu lesen, baut aber nach kurzer Zeit diese verheissungsvolle Spannung auf, weil er in seinen Stories unberechenbar ist. So wie das echte Leben auch. Eben voller Turbulenzen.


Genre: Gesellschaftsroman, Kurzgeschichten und Erzählungen, Reisen, Roman
Illustrated by Hanser Verlag München

Fünf Viertelstunden bis zum Meer

Kurzes Buch, kurze Rezension. Wer sich eine Kurz-Version von „Liebe in Zeiten der Cholera“ für ganz Eilige vorstellt, liegt richtig und hat den Inhalt der etwa 95 Seiten schon weitgehend erfasst. Ein über achtzigjähriger Italiener kehrt zu seiner gleichaltrigen Geliebten aus Jugendzeiten nach Apulien zurück. Er hat ein stoisch langweiliges Leben als Apfelpflücker und Melker in Südtirol verbracht. Sie vergnügte sich lange Zeit mit anderen Bekanntschaften, bis sie nach sechs Jahrzehnten merkt, dass sie ihn wohl irgendwie vermisst. Schliesslich erreicht ihn ein Brief von ihr, er kehrt zu ihr zurück. Am Bahnhof von Lecce steht man sich nach mehr als 60 Jahren wieder gegenüber.

Titel und Inhaltsangabe des Mare-Verlages verheißen ein kurzweiliges Urlaubsbuch. Leider ist jedoch ein romatisch-sentimentaler Roman herausgekommen, teilweise mit depressiven Tendenzen. Wenn man sein Bild im Abspann des Buches sieht, kann man sich beim Lesen sehr gut vorstellen, wie der indisch-niederländische Autor van der Kwast mit großen, tränennassen Basset-Augen vor seiner Tastatur sitzt und schluchzend mit seinen eigenen Protagonisten dahin schmachtet. Dabei kann man ihm ein gewisses Maß an Wortgewandtheit gar nicht absprechen, allerdings driften kurze literarische Highlights zu oft wieder ab in eine schwülstige Schwere. Pluspunkte sammelt van der Kwast ein wenig dadurch, dass er doch nicht in alle Klischee-Fallen tappt und Giovanna, die weibliche Hauptdarstellerin, ein für die frühen fünfziger Jahre fast schon emanzipiertes und feministisches Leben führen lässt. Man muss sich ansonsten beim Lesen stetig zügeln, um nicht die Logik und Sinnhaftigkeit der Handlung und des Verhaltens zu hinterfragen. Aber gut, es mag Menschen geben, die sechzig Jahre ihres Leben ungenutzt verstreichen lassen, einfach verschenken. Stellt man sich das in der Realität vor, wird ungläubiges Kopfschütteln über das Buch möglicherweise in einen Frust über das menschliche Dasein umgelenkt.

In Summe hat sich van der Kwast bemüht, hat sicher auch ein gewisses Talent für tragisch-blumige Literatur, aber letztendlich reichte es nur zu einem Liebesroman auf leicht höherem Niveau. In etwa fünf Viertelstunden ist man durch.


Genre: Graphic Novel, Kurzgeschichten und Erzählungen, Roman
Illustrated by marebuch-verlag Hamburg

Arsène Lupin, der Gentleman-Gauner

Der Gentleman-Gauner

Insgesamt vier Bücher von Arsène Lupin, dem Gentleman-Gauner, sind beim Matthes & Seitz Verlag erschienen. Insgesamt gibt es 20 Romane, zwei Theaterstücken und etlichen Kurzgeschichten. Die vorliegenden ersten acht Geschichten sind als Fortsetzungsgeschichten zwischen 1905 und 1935 in dem Magazin „Je Sais Tout“ erschienen. Jede einzelne Episode ist aber in sich abgeschlossen.

Neuübersetzung der ersten Abenteuer

In Frankreich ist der gentleman-cambrioleur ein Star. Als Gegenentwurf zum bekannten Meisterdetektiv Sherlock Holmes wurde er von Maurice Leblanc Anfang des 20. Jahrhunderts erfunden. Einige Geschichten beziehen sich auch direkt auf Herlock Sholmes wie der englische Detektiv aus rechtlichen Gründen bei Leblanc genannt wird. Aber wer ist dieser Arsène Lupin und was macht ihn zum Gentleman-Gauner? Arsène Raoul Lupin wurde 1874 als Sohn von Henriette d’Andrésy und Théophraste Lupin geboren und genoss eine hervorragende Ausbildung in Jura und Medizin. Latein, Englisch und Griechisch sowie weitere moderne Sprachen beherrscht er fließend, sowie diverse Kampfsportarten.

Arsène Lupin, Meister der Illusionen

Als Meister der Verkleidungskunst und der Verstellung verwendet er gerne Pseudonyme: Raoul de Limézy, Vicomte d’Andrésy, Horace Velmont, Guillaume Berlat. Als vollendeter Gentleman zeigt er sich den Damen gegenüber galant und verabscheut Gewalt. So gibt er etwa erbeutete Juwelen einer Dame zurück, wenn er feststellt, dass sie sich (unbewusst) als loyal erwiesen hat. Am liebsten stiehlt er von den Reichen oder deckt politische Intrigen auf wozu er manchmal auch mit den Behörden zusammenarbeitet. Gerüchten zufolge soll der real existierende, humorvolle Anarchist Marius Jacob als Vorbild für Arsène Lupin gedient haben, was Maurice Leblanc stets negierte.

Netflix-Serie mit Omar Sy

Der Ziemlich-beste-Freunde-(Intouchables)-Star Omar Sy wählt in einer Adaptation der Romanvorlage, die bei Netflix unlängst erschienen ist, dezidiert Arsène Lupin als Vorbild. Dabei spielt das vorliegende Buch im französischen Original – also die ersten acht Abenteuer eine gewichtige Rolle. Der Vater von Assane Diop (Omar Sy) verwendet das Buch als Geheimcode für eine post mortem Mitteilung an seinen Sohn und dieser kann nach und nach eine politische Verschwörung aufdecken, die ganz Frankreich erschüttern wird. Dabei verwendet Assane Diop durchaus ähnliche Methoden wie sein literarisches Vorbild Arsène Lupin und bleibt doch stets Gentleman dabei. Oder er zitiert aus dem dritten Kapitel eine folgenreiche Stelle: “Bei den Künsten ist die Illusion zweifellos die subtilste. Sie fordert stets eine gewissen Fingerfertigkeit und manchmal eine gehörige Portion Mut. Die Art und Weise spielt letztendlich keine Rolle, nur das Ergebnis zählt. Und das Vergnügen die Welt getäuscht zu haben.

Lupin, dans l’ombre d’Arsène

“Lupin, dans l’ombre d’Arsène” (franz.:Lupin, im Schatten von Arsène) auf Netlix ist eine wirklich gelungene Adaption eines traditionellen Stoffes mit durchwegs modernen Mitteln. Die dritte Staffel soll in diesem Sommer erscheinen. Besonders toll dabei ist natürlich, dass die Macht des Buches, das übrigens auch auf Assanes Sohn großen Einfluss hat, hier richtiggehend zelebriert wird. Große Werke inspirieren eben auch große Künstler. Denn die Geschichte des Gentleman-Gauners wurde etwa auch vom Autoren-Kollektiv Boileau-Narcejac in fünf Romanen fortgeschrieben. Bei Matthes & Seitz Berlin sind außerdem erschienen: Arsène Lupin gegen Herlock Sholmes, Arsène Lupin und der Schatz der Könige von Frankreich,
Die Gräfin Cagliostro oder die Jugend des Arsène Lupin.

Maurice Leblanc
Arsène Lupin, der Gentleman-Gauner
Originaltitel: Arsène Lupin, gentleman-cambrioleur (Französisch)
Übersetzung: Erika Gebühr
2021, 238 Seiten, gebunden, auch erhältlich als Ebook
ISBN: 978-3-7518-0041-9
Matthes & Seitz Berlin
18,00 €


Genre: Krimi, Kurzgeschichten und Erzählungen, Roman
Illustrated by Matthes & Seitz

The Travel Episodes – Band 5: Von Abenteuern in der Ferne und vor der Haustür

Nach dem Reisen ist vor dem Reisen. Und die Zeit dazwischen kann unendlich lang werden. Nicht nur während einer Pandemie, sondern vielleicht sogar schon zwischen zwei Wochenenden. Das trifft natürlich nicht auf alle Menschen zu, aber auf jeden Fall auf all die mit dem Reise-Gen, die Horizont-Süchtigen, die Fernweh-Kranken. Diese Krankheiten heilt Johannes Klaus mit seinen Travel Episodes nicht, er bietet allenfalls das Methadon, die Ersatzdroge. Genau genommen befeuert er die Symptome sogar, wenn er verschiedene Autoren bittet, ihre jeweiligen Erlebnisse, Abenteuer, Erfahrungen, Bilder und Gedanken in Worte zu fassen. Frauen und Männer, die an irgendeinem Ort rund um den Globus waren oder sich vielleicht sogar noch dort befinden und mit ihren Berichten und Erzählungen bei der gesamten Leserschaft Kopfkino vom Feinsten über die mentale Leinwand flimmern lassen. Weiterlesen


Genre: Kurzgeschichten und Erzählungen, Reisen
Illustrated by Piper Malik Kabel München

Der Friedhof der vergessenen Bücher

Ein Buch wie eine Kathedrale

Der Ruhm des spanischen Schriftstellers Carlos Ruiz Zafon gründet sich auf den ersten Band einer Tetralogie, deren geheimnisvoller Ort «Der Friedhof der vergessenen Bücher» ist, zu dem unter gleichem Namen mit dem vorliegenden Erzählband nun posthum eine Ergänzung erschienen ist. Es handelt sich um «eine tief unter Barcelona verborgene Bibliothek, in der die Bücher darauf warten, ihre Seele an ihren Leser weiterzugeben». Die vier Romane bilden einen breitgefächerten Erzählkosmos, in dem die Bücher selbst sich ihre Leser suchen, nicht umgekehrt. Mit dem vorliegenden Band weiterführender, ergänzender Geschichten sollte dieser labyrinthische Kosmos nach dem Willen des früh verstorbenen Autors weiter wachsen.

Mit Abstand erfolgreichster Roman war der unter dem Titel «Der Schatten des Windes» erschienene, erste Teil der Tetralogie, der in 36 Sprachen übersetzt mehr als 15 Millionen Mal verkauft wurde. Einige von dessen Figuren, aber auch von den drei Folge-Romanen, finden sich hier ebenso wieder wie viele Themen und Motive der Tetralogie. Mit sieben bisher unveröffentlichten der insgesamt elf Erzählungen stellen sie ein letztes Geschenk des Autors an seine treuen Leser dar. Carlos Ruiz Zafon hat dazu erklärt: «Für mich ist der Friedhof der vergessenen Bücher so etwas wie die Verkörperung der Erinnerung, der Identität. Das geht weit über Bücher oder Literatur oder geistige Welten hinaus».

In «Blanca und der Abschied» geht es um die Liebe des angehenden Dichters David Martin , in «Namenlos» erfahren wir von dessen tragischer Geburt, die dritte Geschichte handelt von einem selbstlosen Arzt, dem es übel ergeht, und in der nächsten erzählt David Martin seinen Mitgefangenen «eine Geschichte von Büchern, Drachen und Rosen». Eine längere Erzählung handelt vom Fürst des Parnass, es folgt «Eine Weihnachts-Geschichte», wir sehen «Alicia im Morgengrauen» und erleben «Graue Männer» als Auftragskiller. Nach einer Liebesaffäre in «Die Frau aus Dunst» folgt mit «Gaudi in Manhattan» eine Hommage auf den berühmten Architekten. «Ist dir mal aufgefallen, dass die Leute immer mehr verblöden, je intelligenter die Handys werden?» fragt eine Rothaarige in Manhattan den Ich-Erzähler der kurzen, letzten Geschichte mit dem Titel «Apokalypse in zwei Minuten». Das Ende sei gekommen, aber da er «nie im Finanzsektor gearbeitet habe», gestehe sie ihm drei Wünsche zu. «Ich will wissen, was der Sinn des Lebens ist. Ich will wissen, wo es das beste Schokoladen-Eis der Welt gibt. Und ich will mich verlieben». «Die Antwort auf die beiden ersten Wünsche ist dieselbe», sagt die Rothaarige, und der Erzähler ergänzt: «Was den dritten Wunsch betraf, gab sie mir einen Kuss».

Barcelona bildet den örtlichen Ausgangspunkt fast aller Geschichten von Zafon, die er mit gedrechselten Worten in vergilbten Bildern beschreibt. Da ist von engen, labyrinthischen Gassen die Rede, von düsteren Fassaden, die in Nebelschwaden verschwinden. Fast immer fällt auch Schnee in seinen Beschreibungen, so als ob wir in Moskau sind und nicht in einer Stadt mit Mittelmeerklima, Licht und Sonnenschein passen nicht zur düsteren Welt Zafons. Ein immer wiederkehrendes Motiv sind bei ihm auch die Bücher, und meist ist ein satanischer Verleger namens Corelli in das Geschehen verwickelt, ihn mag der Autor, wie er erklärt hat, ganz besonders. Es ist diese unheimliche, geisterhafte Atmosphäre, die sein Markenzeichen darstellt und seine phantastische Erzählbühne stimmungsmäßig grundiert. Dabei gerät er mitunter deutlich in die Gefilde der Trivial-Literatur, was er durch einen Vergleich zu relativieren sucht: «Ein Roman sollte wie eine gotische Kathedrale sein, bestehend aus Worten und Geschichten und Figuren: Man geht hinein und man denkt nicht über die Mathematik oder Physik des Bauwerks nach». Und tatsächlich erzeugt er einen publikums-wirksamen Lesesog, der dafür sorgen dürfte, dass seine Bücher wohl nie auf dem «Friedhof der vergessenen Bücher» landen werden.

Fazit: lesenswert

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Kurzgeschichten und Erzählungen
Illustrated by Fischer Verlag

Vom Aufstehen

Im Osten nichts Neues

Mit ihrem Buch «Vom Aufstehen» blättert Helga Schubert in 29 Erzählungen ihre ereignisreiche Lebensgeschichte auf. Mit der titelgebenden, hier als letzte abgedruckten Geschichte gewann sie 2020 den Ingeborg-Bachmann-Preis. Das war für die ziemlich in Vergessenheit geratene Schriftstellerin eine späte Wiederentdeckung. Dieser Band sei eine Hommage an ihre berühmte Kollegin, deren Erzählung «Das dreißigste Jahr» das ‹Aufstehen› thematisiert, erklärte sie in ihrer Klagenfurt-Dankesrede. Morgen werden in Leipzig die diesjährigen Buchpreise verliehen, der vorliegende Erzählband ist unter den nominierten Büchern, – winkt da womöglich eine weitere Auszeichnung?

Die achtzigjährige Autorin hat vieles miterlebt, als Kind die abenteuerliche Flucht vor der anrückenden Roten Armee aus Groß Tychow in Hinterpommern bis nach Greifswald, dann in der DDR das erste Arbeiter- und Bauernparadies auf deutschem Boden, schließlich die Wiedervereinigung und die Jahre danach bis heute. Die Autorin erzählt in einem Mix aus Realem und Fiktivem aus ihrem Leben, wobei sie angemerkt hat, dass sie diesen über viele Jahre hinweg entstandenen Erzählungen wenig Wert beigemessen habe. Nun aber seien sie doch erfolgreich veröffentlicht worden. «Mir ist das unheimlich, und das hängt auch mit meinem Glauben zusammen, dass ich mir sage: Bäume dürfen nicht in den Himmel wachsen. Ich denke dann, wann kommt mein Absturz, also dass die Leute sagen, nun ist es aber mal gut mit der Vergangenheit». Nach dem Mauerfall war es sehr ruhig geworden um die in ihrem Brotberuf als Psychotherapeutin tätige DDR-Schriftstellerin, die sich innerlich mit dem Unrechts-Regime arrangiert hatte. «Ich habe die Regeln des Ostens begriffen und sie beachtet» hat sie dazu angemerkt und ist nicht in den Westen gegangen wie manche ihrer schreibenden Kollegen.

Ihre im Umfang sehr unterschiedlichen Texte sind teils Momentaufnahmen, teils auch längere Rückbesinnungen auf das Erlebte. Gleich die erste Erzählung «Mein idealer Ort» ist ein Beispiel dafür. Sie erinnert sich an das Aufwachen in der Hängematte nach dem Mittagsschlaf bei der Großmutter im Obstgarten, wo sie viele Jahre lang die Sommerferien verbracht hat. Und dann gab es dort immer «Kuchen und Muckefuck», man denkt unwillkürlich an die Madeleines von Marcel Proust. «So konnte ich alle Kälte überleben. Jeden Tag. Bis heute». Ähnlich funktioniert auch die titelgebende, letzte Geschichte in diesem Band, als die Erzählerin morgens wach liegt und sich innerlich auf die Erfordernisse des kommenden Tages vorbereitet, aber auch in kurzen Erinnerungs-Splittern an ihre nicht immer einfache Vita zurückdenkt. Eine dominierende Rolle spielt dabei das problematische Verhältnis zu ihrer Mutter, deren Herzenskälte sie unverkennbar psychisch sehr belastet hat. Die hatte sie jahrelang mit Vorhaltungen gequält und ihr erklärt, es wäre besser gewesen, sie hätte abgetrieben, oder sie auf der Flucht irgendwo allein ausgesetzt, um sie los zu werden, oder sie ganz einfach vergiftet. Dass sie einer solch grausamen Mutter trotzdem vergeben könne, dürfte an ihren religiösen Wurzeln liegen, schließlich habe die Mutter ja ihrem Kind auch vorgesungen.

Neben distanziert beschriebenen Episoden dieser Lebensbilanz finden sich auch emotional berührende. Aber leider auch thematisch unergiebige wie «Eine Wahlverwandtschaft», wo endlos erscheinende Aufzählungen, den Stammbaum hoch und runter, ermüdend wirken mit Sätzen wie: «Und die Tochter meiner Mutter konnte darum auch den Vormittag bei meiner sterbenden Großmutter sein». Der Verwandtschaftsgrad muss reichen, Namen sind Mangelware. Meistens in kurzen Sätzen schon fast lakonisch knapp erzählt, erscheint diese Melange von zu ganz unterschiedlichen Zeiten entstandenen Erzählungen stilistisch äußerst ambivalent. Die inhomogene Zusammenstellung erschwert das Lesen, es fehlt ein innerer Zusammenhang des Erzählten, ein roter Faden, und wirklich Neues wird hier leider auch nicht geboten!

Fazit: mäßig

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Kurzgeschichten und Erzählungen
Illustrated by dtv München

Schaurige Orte in der Schweiz

Auf die Herausgabe dieses Bandes seiner wachsenden Sammlung von unheimlichen Orten und gruseligen Städten muss Herausgeber Lutz Kreutzer regelrecht gewartet haben. Denn »Schaurige Orte in der Schweiz« gab ihm, der nunmehr alleiniger Herausgeber ist, die Möglichkeit, wieder eine eigene Erzählung einzubinden, und die bildet diesmal ein Highlight der gruseligen Geschichten, die er zusammentrug. Weiterlesen


Genre: Kurzgeschichten und Erzählungen
Illustrated by Gmeiner-Verlag Meßkirche

Maghrebinische Geschichten

Kein Wort ist wahr

Im breiten Œuvre von Gregor von Rezzori ist «Maghrebinische Geschichten» sein bekanntestes Werk, erstmals 1953 in Buchform erschienen. Einige seiner satirischen Erzählungen hatte der Autor vorher bereits im Nachtprogramm des NWDR vorgelesen. Als sein Lektor handgeschriebene Notizen von ihm für diese Radiosendungen gesehen hat, schlug er ihm vor, daraus ein Buch zu machen. Nach seinen ersten drei, im Krieg erschienenen und als trivial kritisierten Romanen wurde er als Schriftsteller von kitschiger Unterhaltungs-Literatur abgestempelt. Das änderte sich mit dem vorliegenden Buch, das nicht nur in Deutschland sehr erfolgreich war. Sechs Jahre später widmete ‹Der Spiegel› ihm seine Neujahrsausgabe, eine Art Ritterschlag dieses seinerzeit meinungsbildenden Nachrichten-Magazins, mit dem er quasi als ‹literarischer› Schriftsteller anerkannt wurde. Ein Erfolg allerdings, an den er später dann nicht mehr anknüpfen konnte. Zeitlebens, beklagte er sich im Alter, klebe sein Name an einem einzigen Buch. Es ist ein Klassiker seines Genres, der bis heute gerne gelesen wird.

In einer an Boccaccio erinnernden Sammlung von Anekdoten, Schwänken, Legenden, Mythen und in epischer Breite erzählten Witzen schildert Rezzori parodistisch das Leben und die Sitten in seinem Phantasiestaat Maghrebinien. Als Vorlage diente ihm dabei das multikulturelle Land seiner Kindheit, das historische Gebiet der Bukowina, einst habsburgisches Kronland mit Czernowitz als Hauptstadt, in der er 1914 geboren wurde. Diese kosmopolitische, längst untergegangene Balkan-Gesellschaft am östlichen Rand der einstigen k. u. k. Monarchie, in die auch ein islamisch-osmanisches Erbe hineinwirkt, prägt seine Erzählungen entscheidend, er hat sich ihr zeitlebens als zugehörig gefühlt. Die von ihm selbst als «balkanischer Operettenstaat» bezeichnete, fiktive Welt wird von einem bunten Völkchen aus Schlitzohren, Schlawinern, Schnorrern, Lebenskünstlern und Halunken bevölkert. Allesamt extrem lustbetonte Hedonisten, deren Zusammenwirken über die Höhe des obligatorischen Bakschischs geregelt wird, besser gesagt geschmiert wird. Einig ist man sich nur im extensiven Genuss, wobei auch die Frauen allenfalls als Genussmittel angesehen werden in dieser extremen Macho-Gesellschaft.

Einer der unzähligen Witze dieses Buches sei hier als Beispiel für diese Denkweise in Kurzform wiedergegeben: ‹Bei Reisen ritt früher der Maghrebiner auf seinem Pferd vorweg, die Frau folgte ihm zu Fuß. Inzwischen hat sich diese Sitte total geändert, heute laufen stets die Frauen vorweg. Aber einzig deshalb, weil nach dem Krieg die Wege noch so stark vermint sind›. In den nur lose verbunden Kapiteln brennt der Autor ein wahres Feuerwerk kurioser Einfälle ab, manchmal finden sich gleich mehrere Witze auf einer Buchseite. Kein Wort von alldem ist je ernst gemein, alles dient als virtuoses Spiel nur dem Angriff auf unsere Lachmuskeln. Dass darin auch manch versteckte Gesellschaftskritik steckt, kann wegen der maßlosen Übertreibungen leicht übersehen werden. Gregor von Rezzori, Grandseigneur alter Schule, hat sichtlich Spaß an der Verbreitung seiner Schnurren, er schildert ganz ungeniert und zuweilen zotig Sitten und Gebräuche in Form von Eulenspiegeleien.

Stilistisch in einer bewusst gedrechselten Sprache geschrieben, weisen alle 27 Kapitel als Einleitung eine stichwortartige Kurzfassung des Folgenden auf. Da findet man dann auch mal eine Warnung vor einer Fußnote, «welche ein zartfühlender Leser besser überschlägt». Es geht dabei um Zoophilie, sei angemerkt. An anderer Stelle wird bei einem Hermaphroditen mit Kinderwunsch von ‹lesbischer Autogenese› gespöttelt. Alle Fußnoten sind als persönliche Anmerkungen des Autors, vom Schriftsatz her deutlich abgesetzt, als ergänzende Absätze angefügt. «Bei der Drucklegung des vorliegenden Berichts über …» ist ein Beispiel, es folgt dann meistens noch eine weitere, nicht minder kuriose Geschichte. Als amüsante Lektüre unbedingt zu empfehlen!

Fazit: lesenswert

Meine Website: http://ortaia.de

 


Genre: Kurzgeschichten und Erzählungen
Illustrated by Rowohlt

Bukowski Fuck Machine

Bukowski Fuck Machine. „Erections, Ejaculations, Exhibtions and General Tales of Ordinary Madness 1967-1972“ war der Titel des Sammelbandes in denen Charles Bukowskis unzählige Kolumnen aus diversen Undergroundzeitschriften erstmals als Buch erschienen. Aber Bukowski schrieb auch Gedichte und Romane und insgesamt umfasst sein Werk mehr als 40 Bücher. Am 16. August wäre er 100 Jahre alt geworden, ein guter Vorwand für eine Re-Lektüre.

Chronist des White Trash

Auch in „Fuck Machine“ folgt Bukowski dem bereits mehrmals bewährten Rezept: es muss vom F… die Rede sein, damit die Leute seine Stories lesen. Das behauptet zumindest er selbst in einer der Geschichten mit dem Titel „Zwölf fliegende Affen, die nicht richtig kopulieren wollen“. In dieser in „Fuck Machine“ enthaltenen Geschichte beschreibt er seinen Arbeitsstil in seiner bekannt ironischen Weise und veräppelt sich quasi selbst.

Aber es geht auch brutaler zu in seinen Stories, etwa in „Die kopulierende Nixe von Venice, Kalifornien“, wenn zwei abgewrackte Typen Gangstern eine Leiche klauen und diese dann missbrauchen. Dabei haben sie ohnehin ihr ganzes Leben lang tote Frauen gefickt, wie einer dem anderen vorwirft.

Der Chronist des White Trash, Bukowski, macht auch nicht davor halt, sich in zwei Schwulenhasser einzufühlen, die in „Die Ermordung des Ramon Vasquez“ ihr Unwesen treiben. Eine kleine Fußnote macht darauf aufmerksam, dass der Autor keinem seiner Mitgeschöpfe wehtun, zu nahe treten oder Unrecht tun möchte. Denn auch diese Geschichte ist Fiktion, auch wenn sich bei Bukowski oft Facts und Fiction zu Faction mischen.

Bukowski Fuck Machine

Sein Saufkumpel Jeff ist ein brutaler Kerl, der auch schwangere Frauen die Treppen runterschmeisst, erst als eine Gruppen Chinesen ihn festhält, kapiert der Protagonist, dass auch er etwas gegen seinen Freund unternehmen muss. In „Der weiße Bart“ vergnügt sich der Protagonist und zwei seiner Freunde mit einer Minderjährigen, „Abstammung unbekannt“. Aber auch seine Boxergeschichte „Kid Stardust im Schlachthof“ und die Titelgeschichte, „Fickmaschine“, haben es in sich.

Unvergessen bleibt bei jedem Leser aber „Fünfzehn Zentimeter“, eine Geschichte, die man nie mehr vergisst. Charles Bukowski verstand es wie kein anderer, die harte Realität des amerikanischen Albtraums in einfache, aber treffende Worte zu fassen und mit seinem lakonischen Humor abzufedern.

Durch Übertreibungen und Wiederholungen machte er aus der Kehrseite des American Dream ein Leben, das sich hauptsächlich in Slums, Absteigen, Bars, Hurenhäusern und Schlachthöfen abspielte. Oder bei Boxkämpfen und Pferderennen. Bestimmt aber im Bett mit einer jener Frauen, die die Reichen übrig ließen: „Wir kriegen die Mädchen, wenn die mit den Mädchen Schluss gemacht haben und es keine Mädchen mehr sind – wir kriegen die benutzten, die versauten, die kranken und kaputten. Wenn man nach ‘ner Weile aus zweiter, dritter und vierter Hand mehr will, gibt man’s auf; oder man will es wenigstens aufgeben. Trinken hilft.“

Charles Bukowski
Fuck Machine. Stories
Übersetzt von: Wulf Teichmann
2019, 176 Seiten, Taschenbuch
ISBN: 978-3-596-52236-1
12,00 €
FISCHER Taschenbuch


Genre: Kurzgeschichten und Erzählungen, Short Stories
Illustrated by Fischer Verlag