Der tragikomische Kafka

Wagenbach, prononcierter Kafka-Kenner und ehemaliger Verlagsleiter des gleichnamigen Verlages hat sich Zeit seines Lebens über „die Schulweisheit vom dunklen Kafka geärgert“ und immer wieder einen Kafka voll hintergründigem Humor, unerwarteter Wendungen, mit einer Vorliebe für das Paradoxe und mit einer Neigung zur Ironie des Absurden ausgegraben und hervorgekehrt. Dies ist auch das Anliegen dieser Auswahl an Auszügen aus seinen Romanen und Kurzgeschichten, die der Herausgeber hier zusammengestellt hat.

Der tragikomische Kafka

In „Der Verschollene“ – besser bekannt unter dem Titel „Amerika“ kommt Kafkas Hang zu spitzbübischem Humor besonders gut zur Geltung handelt das Romanfragment doch von dem sechzehnjährigen Karl Roßmann, der einem modernen Simplicissmus gleich die Tücken der Neuen Welt kennenlernt. Ein Auszug aus „Der Verschollene“ ist in vorliegender Publikation unter dem Titel „Slapstick“ abgedruckt und erzählt die Episode von der Reinigung der Wohnung der Opernsängerin Brunelda in gewohnt süffisant-witzigem Ton, so wie wohl auch Wagenbach „seinen“ Kafka gerne sieht. Aber auch sonst gibt es mannigfaltige Beweise für Wagenbachs These von einem „lustigen Kafka“. Man erinnere sich nur an den „Ein Bericht für eine Akademie“ in dem Kafka – oder der Erzähler – in die Rolle eines Affen schlüpft, um von seiner Menschwerdung zu erzählen: „Verzicht auf jeden Eigensinn war das oberste Gebot, das ich mir auferlegt hatte; ich freier Affe, fügt mich diesem Joch.“

Kafka voller Humor

Eine andere Geschichte erzählt von der tragikomischen Sorge des Trapezkünstlers, dem die eine Stange nicht reicht und der sich zu viele Gedanken macht. „Erstes Leid“ ist eine Episode aus seinem Leben übertitelt, die von seiner Weigerung vom Trapez zu steigen erzählt und seinen Impresario ernsthafte Sorgen bereitet, selbst als er ihm endlich eine zweite Stange und Trapez besorgt. In einem Ministeriums- oder Versicherungsbüro wiederum spielt die Geschichte von dem Beamten, dem seine Kollegen die täglichen Aktenberge neiden. „Warum wurde er gerade hier so unbeherrschbar müde, wo niemand müde war oder wo vielmehr jeder und immerfort müde war, ohne das dies aber die Arbeit schädigte, ja es schien sie vielmehr zu fördern“. Wen diese Worte vom witzigen Kafka nicht überzeugen, der kann sich in vorliegender Anthologie mittels der anderen Auszüge aus Kafkas Werk gut Appetit machen auf das eigentliche große Werk Kafkas, das jeder einmal gelesen haben sollte.

Franz Kafka
Ein Käfig ging einen Vogel suchen
Komisches und Groteskes
Zusammengestellt von Klaus Wagenbach
SALTO. 2018
144 Seiten. 11 x 21 cm. Rotes Leinen. Fadengeheftet. Gebunden mit Schildchen und Prägung
18,– €
ISBN 978-3-8031-1335-1
Wagenbach Verlag


Genre: Anthologie, Humor, Komik, Kurzgeschichten
Illustrated by Wagenbach

Kafkas Wien

Eine ganz besondere Beziehung: Kafka und Wien

„Portrait einer schwierigen Beziehung“ lautet bewusst der Untertitel dieser reich bebilderten und umfassenden Publikation des Kafka-Experten Hartmut Binder, das sich mit Kafkas Verhältnis zur Hauptstadt der österreichisch-ungarischen Monarchie beschäftigt, zu der ja auch Kafkas Prag zählte.

Portrait einer schwierigen Beziehung

Hartmut Binders „Untersuchung“ behandelt die Reisen, die Kafka in die Habsburgermetropole gemacht hat, seine Kuraufenthalte oder als Patient in den in der Umgebung liegenden Sanatorien in Pernitz und Kierling. Außerdem werden kulturelle Einflüsse aus Wien und Budapest thematisiert, denen er auch in seiner Heimatstadt durch den Besuch von Cafés oder Varietés und Kabaretts ausgesetzt war. Auffallend an seiner persönlichen Biographie ist ja auch die Tatsache, dass sowohl er selbst als auch seine Geschwister Namen von bekannten Habsburgern trugen. Wohl wollte Kafkas Vater, Hermann Kafka, damit auch seine Kaiserfreundlichkeit ausdrücken, was wirtschaftlich gesehen für den Einzelhandelskaufmann sicherlich nützlich und opportun erschien.

Kafka und die “Hauptstadt”

Schon als Knabe wurde er Zeuge der Besuche Franz Josefs in seiner Heimatstadt, wie Hartmut Binder eindrucksvoll mittels Zeitzeugnissen belegt. „Kafkas Wien. Portrait einer schwierigen Beziehung.“ liest sich nämlich wie ein Bilder buch oder ein Familienalbum und ist so detailreich und unterhaltsam gestaltet, dass man sich schnell in der guten, alten Zeit verliert. So erfährt man etwa auch, dass der Autor eines der wichtigsten Werke der Weltliteratur zwar in Geographie und Geschichte stets gute Leistungen brachte, im Abitur in Deutsch aber nur die Note „befriedigend“ erhielt. Wien dürfte Kafka zum ersten Mal in der Endphase seiner Gymnasialzeit gesehen haben, da ihn sein Lieblingsonkel, Dr. Siegfried Löwy, dorthin mitnahm. Die Metropole habe aber nur einen „zwiespältigen und unkonturierten Eindruck“ hinterlassen, so Binder und an seine Freundin Hedwi soll er einmal geschrieben haben: „In dieser großen mir ganz undeutlichen Stadt Wien bist nur du mir sichtbar.“

Hartmut Binder schöpft aus einem schier unendlichen Quellenmaterial, das er zu einer lesenswerten und unterhaltsamen Lektüre über Kafkas Wien zusammenstellt und mit Fotos von Personen und Stadtansichten sowie Dokumenten der damaligen Zeit reichhaltig illustriert. So entsteht ein lebendiges Bild einer vor 100 Jahren untergegangen Epoche, an die man heute oft reumütig zurückdenkt, wenn man von der „guten, alten Zeit“ spricht. „Kafka kam nicht als Tourist nach Wien, sondern als Durchreisender, als Kongressteilnehmer, als Liebender, als Schwerkranker und schließlich als Sterbender.“ Er kehrte in einem Zinnsarg der Wiener Städtischen Bestattungsanstalt an die Moldau zurück. „Kierling bei Klosterneuburg ist durch ihn in die Literaturgeschichte gekommen“, wie Anton Kuh prophetisch-ironisch zusammenfasst.

Hartmut Binder
Kafkas Wien. Portrait einer schwierigen Beziehung.
Durchgehend farbig bebildert
19 x 25 cm, 456 Seiten
Deckenband, Fadenheftung, Schutzumschlag, Lesebändchen
ISBN 978-3-89919-282-7
€ 49,90 (D)€ 51,40 (Ö)
Vitalis Verlag


Genre: Biographie, Literatur, Stadtführer
Illustrated by Vitalis Verlag

Aquaman-Anthologie

Aquaman – demnächst im Kino und jetzt schon bei Panini

Am 20. Dezember kommt er in unsere Kinos: Aquaman, der König der größten aller Welten, der Unterwasserwelt! „Man halte sich die Welt vor Augen. Macht man sich ihre Größe bewusst, erkennt man, wie klein man eigentlich ist. Die gewaltigen Ozeane. Ihre Durchschnittstiefe beträgt 4 km, aber an einigen Stellen reichen sie 11 km tief. Sie bedecken fast 361,2 Millionen m2 der Erdoberfläche. Sie sind zwei Drittel des Planeten. Siebenundneunzig Prozent der globalen Biosphäre. Im Vergleich dazu ist ein Mensch ziemlich unbedeutend.“ So steht es jedenfalls in einer der Geschichten dieser Anthologie über den König der Sieben Weltmeere. Und da soll noch einer behaupten, aus Comics lerne man nichts!

Aquaman: Im Kino und in einer Anthologie

Rechtzeitig zum Start des Aquaman-Kinofilms enthält dieser Prachtband die besten und wichtigsten Geschichten aus fast acht Jahrzehnten Aquaman-Historie, denn Aquaman war neben Batman und Superman einer der ersten Superhelden und wurde 1941 – kurz nach den beiden Erstgenannten – von Mort Weisinger und Paul Norris aus der Taufe gehoben. Zuletzt erführ der Beschützer der Ozeane aber auch einige Neuinterpretation und mutierte vom wilden Fantasy-Held bis hin zum grimmigen Kraftprotz der Moderne. Waren die ersten Storys über den Meerkönig noch merklich an ein jugendliches Publikum gerichtet und ließen ihn noch auf Delfinen reiten und mit Walen sprechen, brachte der Relaunch ab den Neunziger Jahren eine Art König Arthur (voller Name: Arthur Curry) im Stile der Sword & Sorcery hervor, der ähnlich einem Thor der Unterwasserwelt sich gegen andere Götter oder Meeresbeherrscher stemmen muss.

Vom Superheld zum König

„Droh mir nicht! Ich bin kein hilfloser Flüchtling auf einem sinkenden Schiff“, ruft Aquaman in einer seiner ersten Abenteuer dem deutschen Nazi-U-Boot-Kapitän entgegen. 1941, als Aquaman erfunden wurde, herrschte Krieg zwischen den USA und dem Deutschen Reich. Aber auch später noch war eine politische Komponente der Storys nicht zu leugnen, hatte Aquaman es doch immer wieder mit einem rachsüchtigen Halbbruder, einem auferstandenen und machtbesessenen Vater und allerhand Intrigen und Verschwörungen zu tun: „Verrat, Machtgier, Geschwistermord“. Aber auch persönliche Verluste wie den Tod seines Sohnes oder die Trennung von seiner Frau Mera muss Aquaman verschmerzen. Eine der besten Geschichten in vorliegendem Band stammt von Gerry Conway/Chuck Conway und handelt von der Gründung der Justice League of Detroit. Sie ist voller street-credibility und slang und sicher nicht jugendfrei, aber voller Gags und Dilemma: kann sich ein Superheld überhaupt ein Privatleben leisten? Natürlich sind auch Peter David und Geoff Johns, die beide den neuen Aquaman erfanden, der nun in die Kinos kommt, in dieser Anthologie vertreten.

Jede Menge Hintergrund-Infos und einige der besten Aquaman-Storys aller Zeiten von den unterschiedlichsten Autoren und Zeichnern und das alles in einem Band: die Aquaman-Anthologie neu bei Panini und demnächst in Ihrem Kino.

Aquaman-Anthologie
2018, Hardcover, 404 Seiten
Storys: More Fun Comics 73; Adventure Comics 174, 260, 269, 444, 452 & 475; Aquaman (Vol. 1) 18, 57 & 63; Justice League of America (Vol. 1) Annual 2; Aquaman (Vol. 5) 2 & 34; Aquaman (Vol. 6) 17 & 18; Aquaman (Vol. 7) 0, 1, 18 & 24; Aquaman: Rebirth 1
35,00 €
Panini Verlag


Genre: Anthologie, Comics, Graphic Novel
Illustrated by Panini Comics

Haymatland

Eine Liebeserklärung an Deutschland

Stellen Sie sich vor, Sie leben in einem Land, das sie seit ihrer Geburt kennen und dessen Sprache sie sprechen. Über Heimat haben sie nie nachgedacht, weil sie es immer für selbstverständlich hielten, dass sie in dieses Land gehören.

Und plötzlich tauchen Leute auf, die sie vertreiben wollen. Nach Anatolien, oder sonstwohin, weil sie angeblich nicht hierher gehören. Weiterlesen


Genre: Politik und Gesellschaft, Zeitgeschichte

Selbstbild mit russischem Klavier

Elegischer Musikerroman

Wolf Wondratschek, erfolgreicher Lyriker und Enfant terrible der deutschen Literaturszene, hat mit seinem neuen Roman «Selbstbild mit russischem Klavier» eine Hommage an die Musik vorgelegt, wie sie eindrücklicher kaum je geschrieben wurde. Sein Image als Störenfried rührt einerseits her von seiner radikalen Opposition herkömmlicher Literatur gegenüber, andererseits von seiner teilweise praktizierten Abkehr von der gängigen Vermarktung mittels Verlagen. Manche seiner Gedichte nämlich, aber auch den kompletten Roman «Selbstbildnis mit Ratte» von 2014, hat er als Manuskripte an Sammler verkauft, sie befinden sich als nicht zur Veröffentlichung bestimmt in Privatbesitz, nur die Eigentümer können sie lesen. Seinen Kultstatus hatte Wondratschek schon mit seinem Debüt von 1969 erworben, einem Prosaband mit dem originellen Titel «Früher begann der Tag mit einer Schusswunde». Wie man sieht ein kämpferischer Autor!

So ganz anders mutet da der vorliegende neue Roman an, der, wie es sich für einen Literaten gehört, in einem Wiener Kaffeehaus angesiedelt ist. Dort trifft der namenlos bleibende Poet und Ich-Erzähler zufällig einen alten russischen Pianisten namens Suvorin, dessen einst glanzvolle Karriere längst beendet ist. Was der verwitwete greise Mann zu erzählen hat aus seinem bewegten Leben in der Welt der Musik, das gleicht einem künstlerischen Testament und fasziniert den Schriftsteller zunehmend, er hört ihm gebannt zu. Immer wieder treffen sich die Beiden am gleichen Ort, das «La Gondola» ist ihr Stammlokal geworden. Außer von sich selbst erzählt Suvorin von bekannten Musikern, denen er begegnet ist, eine längere Passage ist dem Cellisten Heinrich Schiff gewidmet, aber man begegnet auch der Pianistin Elisabeth Leonskaja. Suvorin macht in seiner Innensicht aus der Welt der Musik zum Beispiel feinsinnig auf den kleinen Unterschied zwischen Klavierspieler und Pianist aufmerksam, und über wichtige Komponisten der Klaviermusik äußert er sich apodiktisch: «Ich kann mir keinen Pianisten vorstellen, der Bach aufgibt. Er gehört zur Hygiene unseres Berufs, also unverzichtbar. Das ist wie Zähneputzen. Es ist Gymnastik für die Ohren».

Der Roman ist unübersehbar autofiktional, mit Heinrich Schiff zum Beispiel war Wolf Wondratschek selbst eng befreundet, vieles, was wir da lesen, ist real. Über die üppige Bibliothek des unduldsamen Cellisten, die massenhafte Ansammlung von Büchern überall in dessen Wohnung, lässt er seinen, im Roman mit Schiff ebenfalls befreundeten Protagonisten sagen: «Den Letzten, den er aus der Wohnung geschmissen hat, war einer, der wissen wollte, ob er sie alle gelesen hat. Ein Dummkopf.» Und setzt noch hinzu: «Es gibt nirgendwo so viele Dummköpfe wie unter den Liebhabern der Musik». Dazu passt auch der Abscheu seines Helden vor Applaus, für Suvorin ist ein Konzert wie eine Messe, und in der Kirche werde ja auch nicht geklatscht. Neben solchen Reflexionen über die Musik findet man in dieser kontemplativen Prosa auch viele Gedanken über Liebe, über die Zumutungen des Alterns, den Verlust der Würde des Kranken, über das Sterben und den Tod.

All das ist zweifellos recht informativ, auch wenn man sehr aufmerksam sein muss beim Lesen. Denn nicht immer gelingt es in diesem monologischen Text, den Ich-Erzähler vom erzählenden Pianisten und diesen wiederum von Heinrich Schiff zu unterscheiden. Das «Ich» bleibt jedenfalls meistens nebulös bei den vielen, unvermittelten Perspektivwechseln, die es zu bewältigen gilt, wozu das Fehlen von Anführungszeichen dann ergänzend noch eine weitere, nicht unwesentliche Hürde aufbaut. Dieser elegische Musikerroman ist ebenso bereichernd wie unterhaltend, obwohl er weitgehend ohne einen Plot auskommt, auf den diese Bezeichnung wirklich zutreffen würde. Es wird also ein findiger, mitdenkender Leser vorausgesetzt bei der meist geistreichen Plauderei im Kaffeehaus, die sich stilistisch übrigens in auffallend kurzen Sätzen artikuliert, leicht lesbar mithin.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Ullstein Berlin

Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß

»Vielleicht hat mir Hitler das Leben gerettet, damals. Wir hatten gegeneinander gekämpft, ohne uns dabei je direkt gegenübergestanden zu haben. Und als wir uns – Jahre später – trafen, Veteranen nunmehr, Kriegsbeobachter, bekam ich keine Beleidigung, keine Demütigung, keinen Schla, keine Kugel, nicht seinen Hass – nur seine Nummer.« Weiterlesen


Genre: Romane
Illustrated by Verbrecher Verlag

Bienenblues

Reise in die Welt der Honigbiene


Als der Vater der Autorin eines Tages seine Leidenschaft für die Hobbyimkerei entdeckte, erwachte in ihr das Interesse an den fleißigen Bienen. In der Literatur fand sie keine Antworten auf ihre Fragen. So recherchierte sie und schuf ein wundervolles Kompendium, den »Bienenblues«. Weiterlesen


Genre: Naturkunde, Ökologie, Sachbuch
Illustrated by Piepmatz

Heimkehr

Parodistische Odyssee

Unter dem Titel «Heimkehr» ist nach neun Jahren wieder ein Roman des Schweizer Schriftstellers Thomas Hürlimann erschienen, ein turbulenter Schelmenroman diesmal mit dem Hauptmotiv «Cherchez la femme». Dass darin viel Autobiografisches verarbeitet ist, deutet der am 21. Dezember 1950 geborene Autor verschmitzt schon damit an, dass er auch den Geburtstag seines Protagonisten just auf diesen Tag datiert. Diese burleske Geschichte einer Odyssee thematisiert auf amüsante Weise ein problematisches Vater-Sohn-Verhältnis, in das einzelne Motive aus Gottfried Kellers «Der grüne Heinrich» mit einfließen, der Romanheld trägt seinen Vornamen also nicht rein zufällig.

Nach 18 Jahren Funkstille ruft der Gründer einer Gummiwarenfabrik nahe Zürich den einst von ihm als Abfall bezeichneten und aus dem Haus geworfenen, ungeratenen Sohn nach Hause zurück. Kurz vor dem Ziel, der Villa seines Vaters, verunglückt er mit dem Auto und kommt erst nach Tagen verletzt und im Gesicht entstellt in einem Sanatorium auf Sizilien wieder zu sich, ohne eine Ahnung davon zu haben, wie er dort hingekommen ist. In einer aberwitzigen Irrfahrt, die ihn über Afrika und die DDR wieder in die Schweiz zurückführt, gelingt es ihm, seine Amnesie allmählich zu überwinden. Der Plot erzählt in Rückblenden von der Vorgeschichte, die fast zwei Jahrzehnten zuvor im Zerwürfnis von Heinrich Übel junior mit dem übermächtigen Vater ihren dramatischen Wendepunkt erreicht hatte.

Abgesehen von der aberwitzigen Handlung lebt der Roman insbesondere von den skurrilen Figuren, die ihn bevölkern und die Thomas Hürlimann genüsslich als allesamt durchgeknallte Persönlichkeiten schildert, die Frauen ebenso wie die Männer, allen voran der Romanheld. Auf Sizilien steigt seine Traumfrau nackt aus dem Meer wie die schaumgeborene Aphrodite, die sich angezogen dann als Mo Montag vorstellt, linientreue Funkwerkerin aus Ost-Berlin und glühende FDJ-Aktivistin. Ein DDR-Trupp, dem sie angehört, testet vor Ort einen Ohrensessel, in den ein Telefon eingebaut ist, mit dem man drahtlos Ferngespräche führen kann. Wegen seiner martialischen Unfallnarbe halten die Sizilianer Heinrich für einen tollkühnen Mafioso und nennen ihn ehrfürchtig nur «Dutturi», womit er die vom Vater geforderte Promotion nach zwanzig vertrödelten Gastsemestern doch noch erlangt hat. Das absurde Figurenkabinett besteht ferner aus dem besten Freund Isidor Quassi, einem gescheiterten Schauspieler und Dummschwätzer, aus der grauen Eminenz und Vorzimmerdame des Vaters, die von allen nur «die Gute» genannt wird, ferner dem einstigen Mannequin Cala, die nun in ihrem Wohnwagen einen Puff betreibt, in dem sämtliche Lehrlinge der Fabrik ihre Initiation erlebt haben, und vielen anderen Originalen mehr. Die exaltierte Kunsthändlerin Ellen Ypsi-Feuz erweist sich als Heinrichs vor Jahren für tot erklärte Mutter, ja die Camouflage geht so weit, dass selbst sie ihn nicht als ihren Sohn erkennt und er sie nicht als seine Mutter. Und da wundert man sich als Leser dann auch kaum noch, als der Lederstiefel tragender Kater ganz am Ende nicht nur mit ihm spricht, sondern waghalsig rasant das Auto fährt, – wohin, bleibt offen.

Als «einfache, uralte Geschichte vom verlorenen Sohn» hat Thomas Hürlimann seinen irrlichternden Roman bezeichnet. Auf der Grenze zwischen Leben und Tod balancierend schildert er eine in konzentrischen Kreisen verlaufende Recherche Heinrichs, seine Suche nach sich selbst. Diese existentiellen Elemente einer grotesken Gradwanderung zwischen Phantasie und Realität werden konterkariert durch den mit derben Zoten und slapstickartigen Gags klischeehaft angereicherten Plot, dessen äußerst vielseitige Symbolik und üppige Intertextualität deutlich zu dick aufgetragen ist. Hier wird derart überbordend fabuliert, wird parodistisch ein literarisches Feuerwerk an Pointen und schrägen Szenen abgebrannt, dass die ebenfalls vorhandene, gedankliche Tiefe dabei völlig verloren geht, – schade eigentlich!

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Fischer Verlag

Warum Deutsch die wundervollste Sprache der Welt ist

Deutsche Sprache – Schwere Sprache. So lautet ein geflügeltes Wort, das die Tücken und Fallen unserer Muttersprache andeutet. Andere hingegen spielen mit der Sprache, sie lieben Deutsch allein schon wegen fortgefahren, fort gefahren und Ford gefahren.

Die promovierte Literaturwissenschaftlerin Marlena Fischer erklärt uns nun in einem kleinen Buch, warum Deutsch zumindest für sie »die wundervollste Sprache der Welt« ist. Weiterlesen


Genre: Humor, Sprache
Illustrated by Riva Verlag München

Hier ist noch alles möglich

Surrealer Eskapismus

Der Debütroman von Gianna Molinari mit dem Titel «Hier ist noch alles möglich» benutzt den Wolf als Symbol, – derzeit übrigens häufiger anzutreffen in deutschen Romanen -, er ist ein markantes Leitmotiv für die Verkörperung des freien, ungebändigten Lebens, wie es ähnlich zum Beispiel auch in Schimmelpfennigs Roman «An einem klaren, eiskalten Januarmorgen» verwendet wird. Der Text des schmalen Bandes wird durch einige Dutzend Skizzen und Abbildungen grafisch ergänzt. Als erster Roman der jungen Schweizer Schriftstellerin hat das Buch auf Anhieb einige Preise errungen und wurde von Feuilleton und Leserschaft positiv aufgenommen. Während es bei Schimmelpfennigs eher trostloser Gesellschaftsbeschreibung im letzten Satz heißt: «Der Wolf war verschwunden», endet der rätselhafte, poetische Exkurs ins Unbestimmte hier mit dem Satz: «Die Falle ist bereit».

Eine junge, namenlose Ich-Erzählerin hat ihr bürgerliches Leben als Bibliothekarin radikal aufgegeben und als Nachtwächterin bei einer Kartonagefabrik angeheuert, die in ansehbarer Zeit allerdings geschlossen werden soll, sie wohnt dort provisorisch in einer schon leeren Fabrikhalle. Auf dem Firmengelände hat der Kantinenkoch anscheinend einen Wolf gesehen, daraufhin sind einige Tellereisen aufgestellt worden, die beiden Nachwächter sollen nun zusätzlich auch noch eine Fallgrube ausheben. Ein Kollege aus der Fabrik hat bei der Jagd vom Hochsitz aus undeutlich etwas vom Himmel stürzen sehen, dabei aber an eine Sinnestäuschung geglaubt. Wochen später wird dort im Wald eine Leiche gefunden, ein nicht identifizierbarer Afrikaner ist mutmaßlich bei seiner Flucht nach Europa – im Fahrwerksschacht einer Passagiermaschine – beim Landeanflug auf den nahegelegen Flugplatz aus seinem tödlichen Versteck herausgestürzt. Die neugierig gewordene Protagonistin besucht daraufhin den Flughafen, lernt dort einige Mitarbeiter kennen und schafft es schließlich, unauffällig das Fahrwerk einer solchen Verkehrsmaschine auf dem Rollfeld zu besichtigen, sie klettert unbemerkt probeweise sogar selbst in den Schacht hinein.

Mit den beiden Grundmotiven Wolf und Flüchtling entführt uns die Autorin in eine literarische Welt der Ungewissheiten. Ihr prägendes Sinnbild als überschaubares Refugium ist dabei die einsame Insel. Mehrfach stellt sie den verschiedenen Abschnitten ihres Romans einen kurzen Absatz zu diesem geradezu magischen Ort der Selbstvergegenwärtigung voran. Im Text heißt es an einer Stelle: «Warum bist Du eigentlich in die Fabrik gekommen, fragt Clemens. Du könntest anderes tun. Studieren, reisen. Warum bist Du hier, fragt er. Es gefällt mir hier. Das ist ein guter Ort. Hier ist noch alles möglich. Sogar Wölfe, sagt Clemens.» Die Ich-Erzählerin arbeitet in der Leere ihrer sinnlosen Nachtwachen an einem Universal-General-Lexikon, dessen Inhalt aus lauter Abseitigem besteht, damit ihre aberwitzige Gedankenwelt spiegelnd. Viel Raum nehmen dabei auch Fragen nach dem Innen und Außen ein, nach der begrenzten Welt ihrer Fabrikhalle und der komplizierten Welt da draußen.

In einfach strukturierten Sätzen werden die immer wieder verblüffenden Gedanken und Schlussfolgerungen der stoischen Protagonistin vor dem staunenden Leser ausgebreitet. Deren irritierende Schlichtheit aber sollte nicht über die gedankliche Tiefe hinweg täuschen, mit der hier existenzielle Fragen scheinbar naiv behandelt werden. Der das Unzuverlässige betonende Plot ist zudem geradezu minimalistisch auf das Wesentliche beschränkt, seine Sprache ist äußerst karg und direkt. Vermutlich würde ein Computer das Adverb «vielleicht» als das häufigste im Text ermitteln, meistbenutztes Satzzeichen dürfte in dieser irritierenden Prosa über die Krise des Individuums das Fragezeichen sein. Am Ende sitzt dann sogar ein leibhaftiger Wolf in der Fabrikhalle, – an den Löwen in Lewitscharoffs «Blumenberg» erinnernd -, und ist in Gianna Molinaris kontemplativer Geschichte als Symbol für den Eskapismus auch genau so surreal.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Aufbau Berlin

Unendlicher Spaß

Auf dem Weg zum besseren Menschen

Im exklusiven Club der literarischen Überflieger ist David Foster Wallace mit seinem 1996 veröffentlichten Opus magnum «Unendlicher Spaß» das einzige US-amerikanische Mitglied. Er gilt als der innovativste postmoderne Schriftsteller, und sein voluminöser Roman, ein intellektuell solitäres Werk der englischsprachigen Belletristik, gilt als Meilenstein, Maßstäbe setzend und Horizonte öffnend für die Literatur des neuen Jahrhunderts. Erst 2009 wurde nach sechsjähriger Arbeit auch eine deutsche Übersetzung veröffentlicht, eine Sisyphosarbeit mit mehr als 1500 Buchseiten. Als sein literarisches Vorbild hat der Autor Thomas Pynchon bezeichnet, mich hat diese komplexe Prosa beim ersten Lesen in einigen Aspekten unwillkürlich auch an James Joyce erinnert.

Drogen und Tennis sind die beherrschenden Themen dieses dystopischen Romans, der zeitlich in einer nahen Zukunft angesiedelt ist mit radikalen politischen und sozialen Umwälzungen. Die USA, Kanada und Mexico haben den neuen Staat ONAN gebildet, der den Gregorianischen Kalender abgeschafft hat und das Recht auf die Benennung der Jahre an zahlungskräftige Firmen verkauft. Der überwiegende Teil des Plots ist demzufolge im Jahr der Inkontinenz-Unterwäsche angesiedelt, das folgende Jahr wird das Jahr des Glad-Müllsacks sein. Frankokanadische Separatisten wollen sich der Videokassette «Unendlicher Spaß» als Waffe bedienen, ein Film, der seine Zuschauer schon nach wenigen Minuten unwiderruflich in den Geisteszustand von Kleinkindern versetzt und damit die Amerikaner zu wehrlosen Opfern ihrer unbändigen Konsumgier macht. Zentraler Handlungsort ist die Bostoner Enfield-Tennisakademie und eine nahegelegene Drogenentzugsanstalt. Die beißende Kapitalismuskritik des Autors wird sinnfällig durch seine sarkastische Beschreibung des geisttötenden, medialen Dauerfeuers, unter dem die manipulierten Menschen stehen und auf das sie zumeist hedonistisch einseitig durch extensiven Drogenkonsum reagieren.

Das Absurde ist hier aber nicht nur auf die Handlung selbst beschränkt, der verwegene Schreibstil von David Foster Wallace ergänzt gekonnt den wirren Plot durch eine ironisch eingebrachte Unzahl von Neologismen, Fremdwörtern und äußerst komplizierten Satzgebilden, in die neben vielerlei absurdem Fachjargon auch häufig ordinärer Alltagsslang mit eingebaut ist. All das aber ist in einer geschliffenen, grammatikalisch korrekten, glasklaren Sprache geschrieben und kongenial übersetzt, Chapeau! Leicht lesbar also, wären da nicht die immer wieder ausufernden, überlangen Wortkaskaden mit den ungewohnten, neuartigen Wortgebilden. Außerdem, und das ist typisch für DFW, wird der Lesefluss durch ein umfangreiches Glossar mit nicht weniger als 388 kleingedruckten Anmerkungen gestört, die allein schon 134 Buchseiten füllen, – beim Hin- und Herblättern sind allerdings die doppelten Lesebändchen sehr hilfreich.

Bleibt die Frage zu klären, ob die Lektüre lohnt? Dem ernsthaft literarisch Interessierten sei, allein der eigenen Belesenheit wegen, dieser Roman unbedingt empfohlen, er gehört nun mal zum literarischen Kanon. Was die schiere Textmasse anbelangt, so sei angeraten, in Etappen mit längeren Zwischenpausen zu lesen, wie ich es gemacht habe, – denn egal, wo man das Buch aufschlägt, man ist sofort wieder «drin» in diesem originären Text. Aber auch unvollständiges Lesen ist hier sinnvoll! Denn wer auch nur hundert Seiten davon gelesen hat, ist in jeder Hinsicht bereichert, hat den wichtigsten Roman eines der kreativsten Schriftsteller unserer Zeit kennengelernt und kann durchaus auch mitreden. Nicht zuletzt aber ist dieses satirische Textkonvolut mit viel Humor gewürzt, erheitert immer wieder mit überraschendem Wortwitz und allerlei narrativen Finessen, wird also seinem dem Hamlet entlehnten Titel vollinhaltlich gerecht. Glaubt man dem Feuilleton, ändert man sich als Leser nach «Unendlicher Spaß», wird sogar ein besserer Mensch. Na, wenn das kein Grund ist zum Lesen!

Leseprobe (sagt mehr als tausend Rezensentenworte)

© Copyright Kiepenheuer & Witsch 2009

«Die meisten Ärzte betreten die Bühnen ihrer Berufsausübung mit forscher Munterkeit, die sie dann ein wenig reduzieren und dämpfen müssen, wenn die Bühne der fünfte Stock eines Krankenhauses ist, eine Psychiatriestation, wo forsche Munterkeit einen Hautgout von Häme bekäme. Ärzte auf Psychiatriestationen stellen daher oft ein diffus gekünsteltes Stirnrunzeln sinnender Konzentration zur Schau, wenn und falls man sie in den Korridoren fünfter Krankenhausstockwerke zu Gesicht bekommt. Deswegen begegnet ein Krankenhausarzt – der gemeinhin wohlauf, rosenwangig und porenlos aussieht und so gut wie immer auffällig sauber und wohl riecht – einem ihm anvertrauten Psychiatriepatienten auch immer mit einem professionellen Auftreten irgendwo zwischen unverbindlicher und tiefer, distanzierter, aber ehrlicher Anteilnahme, die zu gleichen Teilen dem subjektiven Leiden des Patienten und den nackten Tatsachen des Falls gilt.

Der Arzt, der seinen wohlgeformten Kopf durch die offene Tür ihres überheizten Zimmers steckte und vielleicht etwas zu leise an den Metallrahmen pochte, sah Kate Gompert in Jeans und ärmelloser Bluse seitlich auf dem schmalen harten Bett liegen, die Knie an den Leib gezogen und die Hände um die Knie gefaltet. Die Pose war von nachgerade übertriebenem Pathos: Exakt diese Haltung illustrierte ein melancholischer Druck aus der Watteau-Ära auf dem Titelblatt von Jewtuschenkos Leitfaden klinischer Zustände. Kate Gompert trug dunkelblaue Segeltuchschuhe ohne Socken und Schnürsenkel. Ihr halbes Gesicht wurde vom grünen oder gelben Bezug des Plastikkissens verdeckt, und ihre Haare hatte sie so lange nicht gewaschen, dass sie einzelne glänzende Strähnen bildeten und schwarze Ponyfransen wie glänzende Gitterstäbe eines Zellenfensters auf der sichtbaren Stirnhälfte lagen. Die Psychiatriestation roch schwach nach Desinfektionsmitteln, nach dem Zigarettenrauch aus dem Gemeinschaftsraum, den säuerlichen Ausdünstungen von Krankenhausabfall, der der Entsorgung harrte, sowie dem ständigen leichten und unverwechselbaren Urinodeur; man hörte das doppelte Glöckchen des Aufzugs, das stets in der Ferne ertönende Geräusch der Sprechanlage, wenn ein Arzt angepiept wurde, und das schrille Fluchen eines Manischen im rosaroten Deeskalationszimmer am vom Gemeinschaftsraum aus gesehen anderen Ende des Stationskorridors.

Kate Gomperts Zimmer roch auch nach versengtem Staub aus den Heizluftschächten und dem süßlichen Parfum der jungen Psychiatriepflegerin, die am Fußende des Betts auf einem Stuhl saß, Eukalyptusbonbons lutschte und sich auf einem Stations-Laptop eine DVD ohne Ton anschaute. Kate Gompert stand unter Dauerbeobachtung, was Beobachtung wegen Suizidgefahr bedeutete, was bedeutete, dass das Mädchen eines Tages Anzeichen massiver Suizidalität gezeigt hatte, was bedeutete, dass eine Schwester sie Tag und Nacht im Auge behalten musste, bis der diensthabende Oberarzt die Dauerbeobachtung absagte. Bei der Dauerbeobachtung wechselten die Schwestern stündlich, vorgeblich damit die jeweils wachhabende immer frisch und aufmerksam aufpasste, in Wirklichkeit jedoch, weil es unglaublich deprimierend, langweilig und unerfreulich war, am Fußende eines Bettes zu sitzen und jemanden anzuschauen, der so starke psychische Qualen litt, dass er sich das Leben nehmen wollte; daher wurde die verhasste Aufgabe auf möglichst viele Schwestern verteilt. Eigentlich sollten sie weder lesen noch Schreibkram erledigen, weder DVDs anschauen noch sich der Körperpflege oder anderen Tätigkeiten widmen, die sie von der Überwachung des Patienten ablenkten.

Die Patientin Ms. Gompert schien gleichzeitig nach Luft zu ringen und so hektisch zu atmen, dass sie eine Hypokapnie riskierte; man konnte dem Arzt nicht verdenken, dass er auch ihre ziemlich großen Brüste wahrnahm, die sich im Kreis der Arme, die sie um die Knie geschlungen hatte, schnell hoben und senkten. Die teilnahmslosen Augen des Mädchens hatten sein Erscheinen im Türrahmen zwar registriert, folgten ihm aber nicht, als er auf das Bett zukam. Die Schwester beschäftigte sich auch mit einer Nagelfeile. Der Arzt sagte ihr, er müsse sich einen Augenblick mit Ms. Gompert allein unterhalten. Wenn ein Arzt einen Untergebenen anspricht, muss er einem ungeschriebenen Gesetz zufolge gleichzeitig lesen oder wenigstens auf sein Klemmbrett schauen, also studierte der Arzt eifrig die Flüssigkeitsbilanz und den Stoß Kurven und Unterlagen, die man per Med-Net von den Trauma- und Psychiatriestationen anderer städtischer Krankenhäuser erhalten hatte. Gompert, Katherine A., 21, aus Newton, Massachusetts. Datenbankangestellte in einer Immobilienfirma in Wellesley Hills. Vierte Krankenhauseinweisung in drei Jahren, alle wegen klinischer Depressionen, unipolar. Vor zwei Jahren Elektrokrampftherapie draußen im Newton-Wellesley Hospital. Kurze Zeit auf Prozac, dann Zoloft, in jüngster Zeit Parnate mit Lithium. Zwei Suizidversuche, zuletzt im vergangenen Sommer. Hochdosiertes Valium nach zwei Jahren abgesetzt, Xanax nach einem Jahr – offen zugegebener früherer Missbrauch verschriebener Medikamente. Depressionen, unipolar, relativ klassisch, charakterisiert durch akute Dysphorie, Angst-, mitunter auch Panikattacken, täglich wiederkehrende Muster im Wechsel von Apathie und Erregungszuständen, massive Suizidalität. Erster Versuch eine Kohlenmonoxidgeschichte, bei der der Automotor in der Garage vor Erreichen letaler Hämotoxis absoff.

Dann der letztjährige Versuch – keine Narben sichtbar, da die Gefäßnarben an den Handgelenken von den umschlungenen Knien verdeckt werden. Sie starrte weiterhin zur Tür, wo der Arzt erstmals erschienen war. Der letzte Versuch eine normale Tablettenüberdosis. Vor drei Nächten aus der Notaufnahme herübergeschickt. Zwei Tage Beatmungsgerät nach Magenausheberung und -spülung. Am zweiten Tag hypertensive Krise durch metabolische Reintoxikation – sie musste Unmengen Tabletten geschluckt haben – die Stationsleiterin der Intensivstation hatte den Kaplan angepiept, die Spätvergiftung musste also schlimm gewesen sein. Diesmal zweimal fast gestorben, Katherine Ann Gompert. Dritter Tag zur Beobachtung auf der 2-West. Librium nur ungern verabreicht, da der Blutdruck den Messbereich sprengte. Jetzt hier auf der 5, seiner gegenwärtigen Bühne, Blutdruck bei den letzten vier Messungen stabil. Nächste Kontrolle der Vitalfunktionen um 13.00 Uhr.

Der Versuch war ernst gewesen, ein echter Selbstmordversuch. Mumm hatte sie ja, die Kleine. Eine Krankenhauseinlieferung wie aus den Bilderbüchern von Jewtuschenko oder Dretske. Gut fünfzig Prozent aller Einweisungen auf Psychiatriestationen sind vom Kaliber Cheerleader, die nach der Trennung von ihrem Highschool-Lover zwei Fläschchen Mydol schlucken, oder ergraute, einsame, asexuelle klägliche Zeitgenossen, die über den Tod ihres Schoßtiers nicht hin wegkommen. Kaum machen sie das kathartische Trauma durch, wirklich und wahrhaftig in irgendwas offiziell Püschatrischem zu landen, ein verständnisvolles Nicken zu ernten, ein winziges Anzeichen, das sie irgendwem nicht am Arsch vorbeigehen, genesen sie und sind schwupps wieder draußen. Drei wild entschlossene Versuche und eine Heilkrampfbehandlung sprachen da eine andere Sprache. Der Arzt befand sich in einer Verfassung zwischen Angst und Erregung, was sich in Form einer sanften, tief verwirrten Besorgnis äußerte.»

Fazit: erstklassig

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Rowohlt

Besessen

Die Literatur im Fokus

Der literarische Durchbruch gelang der britischen Schriftstellerin Antonia Susan Byatt durch ihren Roman «Besessen», er wurde 1990 mit dem Man Booker Prize ausgezeichnet und avancierte schnell zum Bestseller im englischsprachigen Buchmarkt. Drei Jahre später erschien er in deutscher Übersetzung, und damit erschien überhaupt erstmals ein Roman dieser bis dato am meisten unterschätzten britischen Autorin auch in Deutschland. Von der Kritik wurde er überwiegend positiv beurteilt, vom total begeisterten Marcel Reich-Ranicki gar als Jahrhundertroman apostrophiert. Und das, obwohl er literarisch in jeder Hinsicht ein kompliziertes, hoch komplexes Werk ist mit einer Fülle von Zitaten, Andeutungen und Verweisen. «Ich wollte immer etwas Kompliziertes schreiben» hat die Autorin im Interview dazu erklärt. Wartet hier also auf mehr als 600 Seiten ein intellektuelles Fitnesstraining auf den potentiellen Leser?

Im Milieu der Literaturwissenschaft angesiedelt, beginnt diese äußerst gekonnt erzählte und bis zum Schluss spannend bleibende Geschichte eines großen Geheimnisses mit einer Trouvaille. Roland Michell, der über den viktorianischen Poeten Randolph Henry Ash promoviert hat, findet in der London Library in einem Buch, das einst Ash gehörte, Entwürfe von dessen Hand für einen Brief an eine nicht genannte Dame. Sein Forscherdrang ist geweckt, er begibt sich auf eine komplizierte Suche, studiert Tagebücher, Briefe und Gedichte auf versteckte Hinweise und vermutet schließlich die kaum bekannte Schriftstellerin Christabel LaMotte als Adressatin der Briefentwürfe. Und tatsächlich kann er mit Hilfe seiner Kollegin Maud Bailey belegen, dass die beiden sich gekannt haben mussten, – ja, mehr als das! Die akribischen Recherchen im Literaturmilieu lesen sich wie eine verzwickte Detektivgeschichte, unermüdlich tragen die jungen Wissenschaftler ein Puzzleteilchen nach dem anderen zusammen und fügen sie zu einem stimmigen Bild, welches einige der Gewissheiten über den im literarischen Rang mit Goethe gleichgestellten britischen Lyriker Ash widerlegt. Die schriftlich fixierten Ergebnisse der gemeinsamen Recherche bringen dem bis dato erfolglosen Hilfsassistenten Roland Michell nicht nur Angebote für lukrative Stellungen gleich dreier Universitäten, er kann schließlich sogar das Herz seiner spröden Mitstreiterin Maud gewinnen.

Die zweite der kunstvoll ineinander verschachtelten Erzählebenen wird fast komplett mit Zitaten aus Tagebüchern, Briefwechseln und Werken der beiden viktorianischen Dichter, aus Märchen und anderen Quellen des 19ten Jahrhunderts bestritten. All das ist fiktiv, auch wenn es authentisch wirkt! Das Leitmotiv bildet dabei die Sage von Melusine, deren Tabubruch hier als Motiv im Feminismus gespiegelt wird, aber auch Kunst, Wissenschaft sowie erregende, übernatürliche Kräfte werden thematisiert. Letztere sind als Besessenheit ja sogar titelgebend, die – in ihrer nur vage angedeuteten Leidenschaft – kurze Liaison der beiden Poeten verstößt gegen jede Vernunft und hat dramatische Folgen.

Mit seiner raffinierten narrativen Struktur ist «Besessen» nicht nur hoch komplex, es ist auch ein geradezu archetypischer englischer Roman, dessen schwarzer Humor insbesondere in der höchst amüsanten, ironischen Schilderung der Literaturwissenschaft, ihrer Akteure, Methoden und abseitigen Forschungsgegenstände zum Ausdruck kommt. Antonia Susan Byatt hat vor allem den sprachlichen Wechsel zwischen den mehr als ein Jahrhundert auseinander liegenden Erzählzeiten bravourös gemeistert. Wobei allerdings die altmodisch betuliche Ausdrucksweise, aber auch die vielen Seiten in Versform für heutige Prosaleser eine ziemliche Hürde darstellen dürften. In diesem Roman zweier zeitlich mehr als ein Jahrhundert auseinander liegender Liebesgeschichten ist der Hauptakteur das geschriebene Wort. Die Literatur vor allem also steht im Fokus dieser ebenso geistreichen wie unterhaltenden und bereichernden, am Ende auch sehr berührenden Lektüre.

Fazit: erstklassig

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Insel Frankfurt am Main

Das Ende der Klassik

Der nach eigener Aussage diktaturerfahrene Autor beschreibt sein Versteckspiel in einer Gesellschaft, die klassische Musik verbietet. Er versucht die tausend Augen, von denen er sich beobachtet fühlt, hinters Licht zu führen, indem er sich abschottet. In einem nicht näher bezeichneten Versteck hört er heimlich Mozart und versucht auf diese Weise, der geistmordenden neuen Musik zu entkommen, mit der der Staat seine Bürger beschallen lässt. Weiterlesen


Genre: Dystopie
Illustrated by Galabuch

Mein Jahr der Ruhe und Entspannung

Ein Desaster als Katharsis

Der dritte Roman von Ottessa Moshfegh, die von der US-amerikanischen Literaturszene als Shootingstar gefeiert wird, verrät schon im Titel sein Thema: «Mein Jahr der Ruhe und Entspannung». Es geht darin um eine schlafsüchtige, emotional gestörte Frau, ihre Protagonistin solle dem geläufigen Bild der Frau als Opfer die Figur einer Angst einflößenden «Monsterfrau» gegenüberstellen, hat die Autorin dazu erklärt. Verblüfft wird mancher potentielle Leser nun auf das Buchcover schauen, wo ein klassisches Gemälde des französischen Malers Jaques-Louis David das Portrait einer Frau zeigt, die geradezu als Verkörperung sanfter Friedfertigkeit dargestellt ist, als ein typisches Opfer also. Alles Fake?

Die namenlose Romanheldin ist eine 26jährige Frau mit Modelfigur, die in einem vornehmen Viertel New Yorks lebt, – nach ihrem Studium arbeitet sie nun in einer hippen Kunstgalerie. Ihre Eltern sind früh gestorben und haben ihr ein kleines Vermögen hinterlassen, das ihr ein sorgloses Leben ermöglichen könnte. Trotzdem ist sie unglücklich, sie kommt nach vielen flüchtigen Männergeschichten nicht von ihrem Ex-Freund Trevor los, obwohl er sie wie Dreck behandelt. Ihre versoffene, einzige Freundin Reva lädt bei ihr immer wieder den Ballast ihres chaotischen Lebens ab, ihre Monologe nerven nur noch. In ihrer Leere und Ziellosigkeit lässt die Ich-Erzählerin zusehends ihre Wohnung vermüllen, sie kann sich zu nichts mehr aufraffen, verliert ihren Job und zieht sich völlig zurück vom Leben. Als sie Hilfe bei einer Therapeutin sucht, weil sie nicht mehr schlafen kann, verschreibt ihr die durchgeknallte Psychiaterin Dr. Tuttle Unmengen von Medikamenten, mit denen sie sich bedenkenlos vollstopft. Als all das nicht mehr hilft, beschließt sie, eine Art Winterschlaf zu halten und hofft, danach quasi als neuer Mensch ins Leben zurückkehren zu können. Der exaltierte Künstler Ping Xi soll sie während dieser Zeit betreuen, nur er darf noch ihre vollkommen leer geräumte Wohnung betreten, als Gegenleistung darf er ihre spektakuläre Schlafaktion als sein neuestes Kunstprojekt ausschlachten.

Die psychedelischen Phasen der suizidgefährdeten Heldin sind von endlosen Aufzählungen der diversen Medikamente geprägt, wahllos wirft sie unglaubliche Tablettenmengen in sich hinein, spült sie mit Alkohol hinunter und isst kaum noch etwas in ihrem Dauerdelirium. Damit überzeichnet die als US-Starautorin gehandelte Ottessa Moshfegh ironisch ihre depressive Heldin, regelrecht zynisch erzählt sie zudem von deren sich häufig wiederholenden Phasen mit einem ungebremsten, wahllosen Kaufrausch, in denen die Autorin den Konsumwahn ihrer Landsleute gnadenlos entlarvt. Endlose Zeit verbringt die Protagonistin vor dem Bildschirm, sie konsumiert wahllos immer wieder die gleichen geistlosen Videos, wobei es ihr besonders Filme mit Whoopi Goldberg angetan haben, die kann sie sich problemlos mehrmals hintereinander ansehen. Ganz offensichtlich sieht die Autorin den vielbeschworenen American Way of Live als die Wurzel der psychotischen Verirrungen ihrer Nation an. Ob dem mit purem Eskapismus beizukommen ist, bleibt letztendlich fraglich, auch wenn das wenig kitschige Ende des Romans in diese Richtung deutet.

Weder die tablettensüchtige, depressive Heldin, die die Hälfte der erzählten Zeit schläft, noch der absurde Versuch ihrer Selbstoptimierung versprechen eine angenehme Lektüre, die übrigens mit dem Debakel von 9/11 als Katharsis endende Geschichte im Messie-Milieu ist in ihrer erbarmungslosen Direktheit wirklich nicht erbaulich. Alle Figuren sind gleichermaßen unsympathisch, und nur ganz selten mal blitzt stilistisch Gelungenes auf, so in der tiefsinnigen Sterbeszene des krebskranken Vaters, der aus der Klink heimgekehrt ist, damit er daheim «zu Ende sterben» kann. Die sich dauernd wiederholenden pharmazeutischen Exzesse jedoch werden sehr schnell langweilig, und nur die Idee vom Winterschlaf ist wirklich keine tragfähige Basis für einen lesenswerten Roman.

Fazit: miserabel

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Liebeskind