Triest für Fortgeschrittene

Triest für Fortgeschrittene. Die “südlichste Stadt des Nordens“, war und ist ein Freihafen, der immer schon Venezianer, Griechen, Slowenen, Serben, Juden, Armenier und Norddeutsche sowie allerhand “Abenteurer, Hochstapler und Parvenüs, Künstler, Dichter, Philosophen und Intellektuelle” anzog, schreiben die Autoren, wobei Bernard eher die Texte und Desrues eher die Fotos beisteuerte.

K.u.k. Freihafen Triest

Der Hafen ist auch heute noch der größte Arbeitgeber der Stadt und anscheinend sogar der größte Hafen Italiens unter den zehn bedeutendsten Europas. Der historische “Alte Hafen” wurde kürzlich wieder eröffnet und steht Radfahrern, Joggern und Touristen offen. Die dortige Hydrodynamische Zentrale, die einst die Aufzüge und Kräne antrieb, ist sogar in “giallo Austria“, also dem berühmten Schönbrunn-Gelb gehalten. Bis 1988 stand sie Tag und Nacht in Betrieb und kann heute als Beispiel für eine Ruine des Industriezeitalters besichtigt werden. Aber der Alte Hafen (“porto vecchio“) hat heute wieder eine blendende Zukunft: Museen sollen dort angesiedelt werden, die auch die Geschichte der und des Vertriebenen erzählen werden. Das kleine Wahrzeichen des Hafens, der Kran Ursus, “la nostra piccola torre Eiffel“, wurde durch die Bora sogar einmal auf’s Meer hinausgetrieben, aber wieder eingefangen. Heute steht er wieder fest im Ponton verankert als Wahrzeichen für eine prosperierende Zukunft Triests.

Triest für Fortgeschrittene

Die Bora bringt uns auch zu einem weiteren wichtigen Charakteristikum der Stadt: erstens sie liegt am Meer und zweitens es bläst ständig ein Wind. Die Bora entsteht durch die Mischung der warmen Luft des Landesinneren mit jener kalten des Meeres. Sie bläst teilweise über 100km/h und es wird geraten, sich anzuhalten. Wer etwa den Hausberg Triests besteigt, wird dankbar über die eisernen Handläufe sein, die an den dortigen Häusern angebracht sind. Aber man kann auch die Tramway nach Opicina nehmen, die einzige der Welt, die auf einen Berg und gleichzeitig in ein anderes Land führt. Wer lieber in die andere Richtung geht oder fährt, landet auf einem der Badeplätze Triests, denn genau diese Stadt ohne Sandstrand war es, die erstmals 1824 das Baden im Meer institutionalisierte, so die Autoren.

Insidertipps für Triestliebhaber

Neben Tipps für Fischrestaurants und den besten Badeplätzen, wartet der vorliegende intelligente Reiseführer auch mit eigenen Kapiteln zum Triestiner Dialekt, der Fauna und Flora, Buschenschanken und Buffets, Märkte, Kaffee, Habsburger, Museen und Übernachtungsmöglichkeiten auf. Als Appetitanreger und Einführung in das Triester Leben und seine Geschichte und Kultur empfehle ich das Kapitel “Die Blaue Tram” über die Strassenbahnlinie 2 nach Opicina. Obwohl die Tram 2016 wegen eines Unfalls eingestellt wurde, zeigt diese Erzählung alles das, was Triest den Besucherinnen und Besuchern zu bieten hat. 2022 soll sie ohnehin wiedereröffnet werden und so wird auch eine der spektakulärsten Aussichten auf Triest und das Hafenbecken wieder ermöglicht. Wer also von Triest mehr als nur die prächtige Piazza dell’ Unità d’Italia sehen will, liegt mit vorliegender Publikation, die reich und ansprechend illustriert ist, genau richtig. Insidertipps der Triest-Kenner und Slowfood-Experten inklusive.

Die Autoren

Georges Desrues, geboren 1966 in Paris, aufgewachsen in Wien, lebt als freier Autor und Fotoreporter seit fünfzehn Jahren in Italien, die letzten fünf davon in Triest. Spezialgebiete sind Reisen, Essen und Trinken sowie Landwirtschaft. Zahlreiche Publikationen im In- und Ausland, darunter in „Profil“, „Der Standard“, „Die Welt“, „Gourmet Traveler“, „Welt am Sonntag“, „Port Culinaire“, „A la Carte“ und in vielen anderen Medien.

Erich Bernard, geboren 1965, lebt als Architekt und Autor in Wien und Triest. Studium an der Universität für angewandte Kunst in Wien. Zahlreiche kultur- und architekturhistorische Publikationen. Er beschäftigt sich seit über zwanzig Jahren mit der Architektur- und Kulturgeschichte von Triest. Gründungspartner von BWM Architekten in Wien. Zu seinen gestalterischen Arbeiten zählen u.a. das Hotel Gilbert, das Gasthaus Figlmüller und das Sacher-Eck in Wien.

Georges Desrues/Erich Bernard
Triest für Fortgeschrittene
2021, Broschur, 16,8 x 24 cm; 192 Seiten
ISBN 978-3-222-13668-9
Styria Verlag
€ 28,00


Genre: Geschichte, Habsburg, Hafenstädte, Italien, Reiseführer, Tourismus
Illustrated by Styria Verlag Graz

Halbschatten

 Der Flug ist das Leben wert

Uwe Timm hat mit seinem Roman «Halbschatten» einer illustren Figur aus der Frühgeschichte der Fliegerei ein Denkmal gesetzt, der jungen Pilotin Marga von Etzdorf. Sie gehörte zu den wenigen berühmten Fliegerinnen wie Hanna Reitsch oder Elly Beinhorn, die sich in der Weimarer Republik als Kunstfliegerinnen und mit diversen Flug-Rekorden einen Namen gemacht hatten. Das kurze Leben der ehrgeizigen Marga von Etzdorf endete, als sie sich mit fünfundzwanzig Jahren nach einer Bruchlandung in Aleppo im Mai 1933 das Leben genommen hat.

Wie der Autor in einer Nachschrift erklärt, hat er sich bei der Geschichte seiner Protagonistin auf deren Buch «Kiek in die Welt» gestützt, in dem sie von ihrem Leben erzählt. Den gleichen Namen trug auch ihr knallgelb lackiertes Flugzeug, eine Junkers A50, mit dem sie 1931 zu ihrem erfolgreichen Rekordflug Berlin-Tokio gestartet ist. Auf dem Rückflug setzte nach dem Start in Bangkok der Motor aus, sie stürzte aus 80 Meter Höhe ab und wurde schwer verletzt, ihre Junkers hatte Totalschaden. Nach ihrer Genesung plante sie mit einer Klemm Kl32 einen erneuten Rekordflug Berlin Kapstadt, wobei sie finanzielle Unterstützung von den Nazis erhielt. Als Gegenleistung musste sie nicht nur eine Maschinenpistole mitnehmen, um ein Exportgeschäft vorzubereiten, sie sollte auch mit einer speziellen Kamera für die deutsche Auslands-Spionage Fotos von strategischen Zielen anfertigen. Dazu kam es aber nicht, denn ihr Flugzeug wurde bei der Landung in Aleppo beschädigt, weil sie versehentlich mit dem Wind gelandet war und über die Piste hinausgeschossen ist. Zwanzig Minuten später erschoss sie sich im Flughafen-Gebäude.

Diese Kernhandlung ist in eine zweite Erzählebene eingebettet, in der berichtet wird, wie ein Schriftsteller auf den Spuren seiner Romanheldin in Berlin den Invaliden-Friedhof besucht. Dort trifft sich der Ich-Erzähler mit einem Stadtführer, der ihm in einer Führung ‹nur für ihn allein› ans Grabmal von Marga von Elzdorf führt. «An diesem Ort» sagt der ‹Graue‹›, wie er fortan im Roman nur noch heißt, «liegt die deutsche, liegt die preußische Geschichte begraben. Jedenfalls die militärische. Scharnhorst liegt hier und andere Generäle, Admiräle, Obristen, Majore, bekannte Jagdflieger, damals die Helden der Luft, Richthofen, Udet, Mölders, und unter all diesen Männern, diesen Militärs, liegt eine Frau». Aber dort liegt eben auch Reinhard Heydrich, den Göring mit der Endlösung der Judenfrage betraut hatte, Leiter der berüchtigten Wannseekonferenz. Und diese Toten mischen sich munter in das Gespräch ein, beginnen aus den Gräbern heraus zu reden. Unter ihnen auch der Diplomat Christian von Dahlem, ein ehemaliger Kampfflieger, der Marga in Tokyo begrüßte und mit dem dort gerade gastierenden Schauspieler Anton Miller bekannt machte. Der hat dann Marga heftig, aber erfolglos umworben. Bei einem ihrer Flüge in Japan musste sie sich notgedrungen ein Privat-Zimmer mit von Dahlem teilen. Eine ganze Nacht lang haben sie sich dann, getrennt durch einen aufgespannten Vorhang, in ungewöhnlicher Freimütigkeit wechselseitig ihre jeweils spektakuläre Lebens-Geschichte erzählt.

Die etwa zwei Stunden dauernde Friedhofs-Geschichte beschwört die Schatten der Vergangenheit in einem vielstimmigen Chor herauf, angereichert mit meist kurzen, durch Anekdoten, Redensarten und Gedankensplitter ergänzte, historische Rückblicke. Abwechselnd berichtet in der Kerngeschichte um die kühne Pilotin diese selbst als Ich-Erzählerin aus ihrem Leben. Mit seiner fragmentarischen Form löst der nicht einfach zu lesende Text viele Assoziationen aus, wobei das die Toten einbeziehende Stimmengewirr nicht nur eine mystische Stimmung erzeugt, sondern auch permanent zum Weiterdenken anregt. Und so bleibt denn auch das Motiv für den Suizid ungeklärt: Scham über das fliegerische Versagen, politische Skrupel, unerwiderte Liebe? «Der Flug ist das Leben wert», steht vieldeutig auf Margas heute noch erhaltenem Grabstein!

Fazit: lesenswert

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by dtv München

Spider-Man. Vol. 1. 1962–1964

Spider-Man. Vol. 1. 1962–1964. In einer nummerierten Erstauflage von 5.000 und einer Collector’s Edition von 1.000 nummerierten Exemplaren erscheint in der Reihe Marvel Comics Library dieses Mammutwerk über Spiderman, den menschlichsten aller Superhelden. Stan Lee und Steve Ditko erschufen den Netzschwinger, dem nun im Hulk-Format mit seinen ersten 21 Spider-Man-Geschichten aus den Jahren 1962–64 gehuldigt wird.

Spider-Man: Seine Freunde, seine Feinde, seine Liebe

Spiderman unterscheidet sich von den anderen Superhelden nicht nur durch sein Alter: er ist Teenager. Als Markensymbol verwendet er eine Spinne, eine Gattung, die eigentlich von allen gehasst wird. Zudem ist er in seiner Identität als Peter Parker eher unsicher und hat Pech in der Liebe. Sein Chef J. Jonah Jameson, Herausgeber des Daily Bugle, schreit ihn immer wieder an. Seine Gegner sind da auch nicht viel anders: Geier, Doctor Octopus, Sandmann, Echse, Electro, Kraven der Jäger, Mysterio und der Grüne Kobold. Wirklich sorgen tut sich Peter Parker aber nur um seine Tante May, die, ebenso wie er, im uncoolen Queens wohnt. Aber als Stan Lee 1962 zum ersten Mal Spider-Man in der Reihe Amazing Fantasy, die eigentlich eingestellt werden sollte, vorstellte, ging die spektakuläre No. 15 – mit Spider-Man auf dem Cover – durch die Decke. Das todgeweihte Heft katapultierte sich durch den Teenagerhelden an die Spitze der Marvel-Bestsellerliste des Jahres und verjüngte das Heldenarsenal des Marvelverlages um eine ganze Generation. Batman und Superman waren ja bekanntlich schon drei Dekaden früher entstanden.

Sammlertraum im XXL-Format und in Farbe

Miterfinder und Zeichner Steve Ditko trug einen großen Teil zum Erfolg des Jünglings bei. Er hatte einen guten Einblick in das Leben von Teenagern und ihren Problemen und ließ Spider-Man leichtfüßig durch die Straßenschluchten von New York schwingen, ein Gefühl das damals wohl viele Jugendliche und junge Erwachsene suchten. Der vorliegende Sammlertraum im XXL-Format zeigt aber nicht nur die ersten 21 Geschichten im Großformat, sondern enthält auch ein ausführliches Essay von Marvel-Redakteur Ralph Macchio, Originalkunstwerke, seltene Fotografien und vielen anderen Kostbarkeiten und Kleinodien. In enger Zusammenarbeit mit Marvel und der Certified Guaranty Company wurden die am besten erhaltenen Comics aufgeschlagen und für die Reproduktion abfotografiert und mit modernen Retuschetechniken digital überarbeitet. MARVEL COMICS LIBRARY ist übrigens eine exklusive, langfristige Zusammenarbeit zwischen TASCHEN und Marvel, die schon die seltensten Comic-Klassiker, darunter Spider-Man, Avengers und Captain America, in ihrer ursprünglichen Schönheit in extra-großem Format akribisch reproduziert hat. Jeder Band enthält ein Essay eines Comic-Historikers sowie Hunderte von Fotos und Fundstücken, sowie seltene Original-Comiczeichnungen.

 

David Mandel, Ralph Macchio
Marvel Comics Library.
Spider-Man. Vol. 1. 1962–1964
2021, Hardcover, 28 x 39,5 cm, 4,83 kg, 698 Seiten
Ausgabe: Englisch
ISBN 978-3-8365-8233-9
TASCHEN Verlag
€ 150


Genre: Comics, Erstausgaben, Graphic Novel, Sammlereditionen, Spiderman
Illustrated by Panini Comics

Die geheimen Stunden der Nacht

Misslungener narrativer Clou

Man kann den Verleger-Roman «Die geheimen Stunden der Nacht» von Hanns-Josef Ortheil als Abgesang auf editorische Traditionen sehen, deren hehre Ziele zunehmend dem nüchternen Kalkül der Marketing-Leute zum Opfer fallen. Der Autor kennt sich jedenfalls aus in der Buchbranche und gewährt dem Leser, der über seinen Buchdeckel-Horizont hinaus an diesem kulturellen Medium interessiert ist, einen Einblick, wie es hinter den Kulissen der Branche zugeht.

Protagonist ist der älteste Sohn des 80jährigen Großverlegers Reinhard von Heuken aus Köln, dessen Vater nach zehn Jahren einen zweiten Herzinfarkt erleidet. Es steht schlecht um den Patriarchen, der seine Nachfolge nicht geregelt hat. Der 52jährige Georg von Heuken rechnet damit, dass auch sein jüngerer Bruder und die Schwester, die jeweils einen zum Konzern gehörenden Verlag in Frankfurt und in Köln leiten, eigene Ansprüche auf die Konzernleitung geltend machen werden. Beide eilen herbei, und nach einigemHin und Her erklärt die Tochter, dass sie in einem Gespräch mit dem Vater die Übernahme der Leitung für sich abgelehnt habe- Der Vater habe ihr daraufhin die Entscheidung überlassen, wer von den Brüdern die Position an der Spitze übernehmen soll. Um diesen Handlungskern herum erzählt Ortheil die Geschichte der Verleger-Familie, die in einer pompösen Villa in bester Lage Kölns residiert, vor allem aber berichtet er von den Aktivitäten, die durch das wahrscheinlich bevorstehende Ableben des Alten bei Georg ausgelöst werden. Und er muss auch gleich noch den wichtigsten Autor des Verlages empfangen, der bisher immer nur mit dem Senior persönlich verhandelt hat. Ein mimosenhafter Romancier mit Starallüren, dessen Bestseller satte Gewinne versprechen, der diesmal aber um seinen neuen Roman viel Aufhebens macht. Georg löst diese diffizile Aufgabe jedoch mit Bravour.

Insider der Branche interpretieren das Buch auch als Schlüsselroman und sehen zum Beispiel Martin Walser in der Figur des Starautors, erkennen vermutlich aber auch noch viele weitere Anspielungen aus dem Branchen-Geschehen. Neben den Verlegern trifft man als Leser vor allem auf Lektoren, aber auch auf eine toughe Literaturagentin, den smarten Journalisten, der mit der Biografie des Seniors betraut ist, oder die allmächtige Chefsekretärin, über deren Schreibtisch alles läuft im Konzern, und alle diese Figuren sind auf ihre Art komische, manchmal skurrile Typen. Für Georg völlig überraschend ist die Tatsache, dass sein Vater eine Suite im Dom-Hotel gemietet und dort offensichtlich ein nächtliches Zweitleben geführt hat. Bei dem war auch eine Dame im Spiel, die aber niemand kennt und die den mutmaßlichen Lover erstaunlicher Weise auch nicht in der Klinik besucht. Die plötzliche Zäsur bedeutet für Georg auch die Chance, endlich aus dem Schatten seines übermächtigen Vater herauszutreten. Er wächst über sich selbst hinaus, entdeckt plötzlich völlig neue Seiten an sich. Und er erkennt auch, dass er bisher wohl ziemlich am Leben vorbei gelebt hat als braver Familienvater, treuer Ehemann und karriere-orientierter Manager.

Der klug konstruierte, spannende Plot wird, kenntnisreich und mit scharfem Blick für Details, in angenehm lesbarer, konventioneller Sprache schwungvoll erzählt. Dabei ist stets Ironie im Spiel, aber auch handfeste Gesellschaftskritik ist geboten, vor allem die gehobene Gastronomie und Hotellerie wird als total überkandidelt mit Häme überzogen. Störend bei alledem ist die fehlende, psychologische Tiefe, die Figuren bleiben oberflächlich in dem, was sie tun und sagen, alles erscheint irgendwie flapsig. Auch dass es hier um eine Branche geht, die Literatur als ein wichtiges Kulturgut erzeugt, wird im Roman an keiner Stelle gewürdigt. Stattdessen gibt es reichlich Tratsch, hart an der Grenze zur Kolportage. Völlig misslungen aber ist die schon im Titel anklingende Liebesgeschichte, deren narrativen Clou sich der überkreative Autor bis zum kitschigen Happy End effektheischend aufhebt.

Fazit: mäßig

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by btb München

Alles Dunkel dieser Welt

Alles Dunkel dieser Welt. “Sing backwards and weep” (so der amerikanische Originaltitel) ist ein beklemmendes Geständnis eines Musikers, der die Neunziger mit seiner Band “Screaming Trees” ebenso prägte wie als Solist die heutige Zeit. Seine Kollaborationen mit Kurt Cobain, Pearl Jam, Marianne Faithfull, Moby, Queens of the Stone Age, UNKLE, Greg Dulli, PJ Harvey oder Isobell Campbell sind legendär. Der aus Ellensburg, Washington stammende Musiker lebt heute in Los Angeles.

Autorisierte authentische Autobiographie

“Gott, mach einen anderen Menschen aus mir!” Die Screaming Trees war eine 1985 in Seattle gegründete Band die den sog. Grunge-Sound ebenso mitgestaltete wie prägte. Allerdings blieb die Band um Mark Lanegen und die beiden Conner-Brüder (später kam noch Josh Homme dazu) kommerziell stets unter den Erwartungen zurück. Einzig das in einem mediokren Film über die Seattle-Grunge-Szneen (“Singles“) verwendete “Nearly Lost you” wurde zu ihrem Hit. Aber auch der wurde zum zweischneidigen Schwert: zwar brachte er ihnen Bekanntheit, aber statt ihrem zur selben Zeit erscheinenden AlbumA verkaufte er den Soundtrack des Films. Aber das ist nur eine von vielen Niederlagen, die Mark Lanegan in seinem Leben einstecken musste, wie er selbst entwaffnend und ehrlich wie seine Autobiografie geschrieben ist, zugibt. Als Sohn einer Alkoholikerin, die ihm stets nur Vorhaltungen machte, statt ihn zu lieben, schlitterte er selbst bald in die Drogenszene von Ellensburg. “Mit zwölf war ich ein notorischer Zucker, Jungalkoholiker, Dieb und Pornofan.” Vorerst blieb es zwar bei Gras und Alkohol, aber alsbald landete er bei Heroin und Crack. Ersteres konsumierte er laut eigenen Aussagen aber vor allem, um vom Alkohol loszukommen, denn sein Konsum machte einem gewissen Jim Morrison alle Ehre.

Mit dem Segen von Cash

Aber anders als letzterer, hatte Lanegan stets Geldsorgen und musste sich als Kleinkrimineller betätigen, um seine Süchte finanzieren zu können. Sein Repertoire reichte von einfachem Diebstahl bis hin zu Versicherungsbetrug und Einbruch. Und das alles schon als Minderjähriger. Als Erwachsener betätigte er sich dann lieber als Dealer, damit etwas von dem Stoff auch für ihn abfiel. Nebenbei belieferte er übrigens auch seinen Grunge-Kumpan Kurt Cobain oder sein großes musikalisches Vorbild Jeffrey Lee Pierce von Gunclub, aber auch mal Nick Cave und andere Musikgrößen. Die Erzählungen seiner Drogenkarriere sind schier unglaublich und oft frägt man sich, wie so ein Wrack überhaupt noch auftreten und singen konnte. Aber anders als viele seiner Kollegen der damaligen Ära überlebte Mark Lanegan wider Erwarten und steht heute als einer der gefragtesten Musiker ganz oben auf der Liste internationaler Booking-Agenturen. Denn seine Stimme hat einen Bass und ein Timbre, was selbst einem Johnny Cash Respekt abrollte: “Tut mir leid, dass ich deinen Namen nicht mehr weiß, mein Junge“, sagte Cash einige Zeit nach ihrer ersten Begegnung zu ihm, “aber an deine Stimme erinnere ich mich. Du hast mich fast in den Schatten gestellt bei unseren paar Auftritten“.

Vom Saulus zum Paulus

“Whitey Ford”, “Lucky”, “Old Scratch”, “Red” waren noch einige seiner schmeichelhaftesten Spitznamen mit denen der Rothaarige mit der rauen Stimme von seinen Mit-Junkies bezeichnet wurde. Denn neben seiner Suchtmentalität hatte Mark auch zeitlebens ein Gewaltproblem, das häufig dann auftrat, wenn er keinen Stoff auftreiben konnte. Eine Episode seiner Drogenbeschaffungskriminalität, die in Amsterdam stattfindet, liest sich wie ein Noir aus den Vierzigern, der einem die Gänsehaut aufsteigen lässt. Aber auch sein Verhältnis zum schwachen Geschlecht wird natürlich ausführlich thematisiert. Denn abgesehen davon, dass Lanegen nichts anbrennen ließ, handelte er sich auch allerhand Geschlechtskrankheiten ein. Aber es gab natürlich auch die Liebe in seinem Leben. Abgesehen von Deborah oder Shadow und Maria gab es auch eine gewissen Pattstellung zwischen Selene und Anna, seiner Langzeitbeziehung. Aber auch seine problematische Beziehung zu seiner Mutter, die ausgerechnet eine Dozentin für Elementarpädagogik war, und seiner Schwester wird von Lanegan aufgearbeitet. In seiner Erzählung zum Showdown bei Weihnachtsfest, erinnert Lanegan fast etwas an Raskolnikow, den Protagonisten aus Dostojewskijs “Schuld und Sühne“. Auch Rodion Romanowitsch Raskolnikow wollte die Heirat seiner Schwester verhindern. Wahrscheinlich ist es nur der Musik zu verdanken, dass Lanegan nicht zu einem amerikanischen Raskolnikow wurde. Aber vielleicht trifft das auch auf viele andere Künstler zu.

Ein beeindruckendes Werk, das einem gerade trotz und wegen des ganzen Macho-Shits einen selten empfundenen Eindruck von Authentizität vermittelt. Und vielleicht ist ihm sein in einer Nervenheilanstalt in größter Verzweiflung geäußerte Wunsch in Erfüllung gegangen. “Gott, mach einen anderen Menschen aus mir!” Sein umfangreiches Repertoire seit dem Ende der Screaming Trees im Jahre 2000 und seine vielseitigen Kollaborationen legen ein beeindruckendes Zeugnis davon ab, dass die Wandlung vom Saulus zum Paulus durchaus gelingen kann.

 

Mark Lanegan
Alles Dunkel dieser Welt. Eine Autobiografie
Aus dem Amerikanischen von Nicolai von Schweder-Schreiner
Originaltitel: Sing backwards and weep
Originalverlag: Orion
Hardcover, Pappband, 448 Seiten, 13,5 x 21,5 cm
ISBN: 978-3-453-27344-3
€ 24,00 [D] € 24,70 [A]

Heyne Hardcore


Genre: Autobiographie, Grunge, Heroin, Neunziger, Seattle
Illustrated by Heyne Hardcore

Südlich der Grenze, westlich der Sonne

Murakami versus Ishiguro

Ich bin schon lange ein begeisterter Leser der Bücher vom Haruki Murakami. „Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt“ oder “Die Ermordung des Commendatore“ habe ich geradezu verschlungen. So lernte ich seinen Stil des fantastischen Realismus schätzen. Auf der anderen Seite ist mir nach der Verleihung des Literaturnobelpreises an Kazuo Ishiguro im Jahr 2017 die hervorragende Verfilmung seines Romans „Alles, was wir geben mussten“ aus dem Jahre 2010 in den Sinn gekommen. Ishiguro bedient sich dabei eines dystopischen Genres, also einer eher düsteren Utopie.

Es war reiner Zufall, dass die beiden Bücher von Murakami und Ishiguro gleichzeitig auf dem Stapel noch zu lesender Bücher lagen. „Südlich der Grenze, westlich der Sonne“ befand sich dort, weil ich unbedingt die „Gefährliche Geliebte“ in der neuen Übersetzung von Ursula Gräfe lesen wollte. Von Ishiguro hatte ich bis dato noch nichts gelesen, so entschied ich mich für „Klara und die Sonne“, das ich mir dann auch zuerst vorgenommen habe und auch eine Kurzrezension schrieb (Rezension).

Im Nachhinein stellte sich heraus, dass sich die beiden Bücher der japanisch stämmigen Autoren ganz gut vergleichen ließen, weil Murakamis fantastischer Realismus nahezu nicht vorhanden ist und Ishiguros Utopie durch den starken menschlichen Aspekt seiner Hauptperson stark in den Hintergrund rückte.

In Murakamis Roman geht es um die Liebe des Schülers Hajime zu seiner Schulkameradin Shimamoto im zarten Alter von zwölf Jahren, von der er letztlich nie mehr loskommt. Das Wiedersehen mit Shimamoto nach mehr als zwanzig Jahren ist genauso mysteriös wie ihr Verschwinden nach einer heißen Liebesnacht. Dazwischen wird die Geschichte eines jungen, erfolgreichen Japaners erzählt. Dabei erhält man einen tiefer gehenden Einblick in das gesellschaftliche Leben des heutigen Japan.

In „Klara und die Sonne“ wird die Künstliche Intelligenz thematisiert, die aber sehr menschlich daherkommt: Klara, die sogenannte künstliche Freundin, die die alleinerziehende Mutter für ihre schwerkranke Tochter Josie als Gefährtin angeschafft hat. Äußerst subtil werden die Grenzen der Künstlichen Intelligenz angesprochen, oder wie weit kann KI spezifische menschliche Züge entwickeln bis hin zu Glauben, Aberglauben oder gar Wahnsinn.

Insgesamt kann ich sagen: Beides sind sehr lesenswerte Bücher. Aber einen aus meiner Sicht wesentlichen Unterschied musste ich doch feststellen: Ich bin der Meinung, bezüglich der sprachlichen Brillanz kann Ishiguro Murakami nicht das Wasser reichen. Unter diesem Aspekt hätte Murakami den Literaturnobelpreis wohl eher verdient.


Illustrated by btb München

Herscht 07769

Inverse Heiligen-Legende

Der ungarische Schriftsteller László Krasnahorkai hat mit «Herscht 07769» einen hochaktuellen deutschen Gegenwartsroman geschrieben, und das in einem einzigen Satz, der Punkt kommt erst nach mehr als 400 Seiten. «Angela Merkel, Kanzlerin der Bundesrepublik Deutschland, Willy-Brand-Straße 1, 10557 Berlin» schreibt Florian, der titelgebende Held, ins Adressfeld, und als Absender «Herscht 07769». Das reicht völlig, in der thüringischen Kleinstadt Kana nahe Jena, kennt ihn ja jeder. Und was er der Physikerin Merkel brieflich mitzuteilen hat, ist der wissenschaftliche Beweis der unmittelbar bevorstehenden Apokalypse, das endgültige Verschwinden aller Materie.

Ein nur ‹Boss› genannter Gebäudereiniger und Neonazi hat den gutmütigen und von allen geliebten, bärenstarken, aber einfältigen Florian als billige Hilfskraft aus einem Heim geholt. Es gibt viel zu tun für sie beide, denn immer öfter werden in ihrer Gegend Graffitis mit einem Wolfskopf und verschiedenen Parolen auf Wände gesprüht, die sie dann als Spezialisten mühsam entfernen müssen. Alle haben die Neonazis in Verdacht, die sich in letzter Zeit zahlreich in Kana angesiedelt haben. Deren wütender Boss setzt schließlich seine ihm treu ergebene ‹Einheit› aus gescheiterten Existenzen und schrägen Vögeln darauf an, den wahren Täter nachts auf frischer Tat zu ertappen. weil die Polizei offensichtlich unfähig ist. Die Unruhe in der Bevölkerung steigt ins Maßlose, als ein Ehepaar beim Picknick von einem Wolf angegriffen und schwer verletzt wird.

Florians Geschichte, eine Art inverse Heiligen-Legende, wird bildstark und spannend erzählt, wobei ein stimmig beschriebenes Figuren-Ensemble dem Geschehen einen authentischen Anstrich verleiht. Ausgerechnet der zwielichtige, brutale ‹Boss› ist ein begeisterter Bach-Anhänger, der die ‹Kanaer Symphoniker› gegründet hat, die er zur Konzert-Reife führen will. Seine Bach-Euphorie steckt auch Florian an, der in dem Komponisten das Gute in Reinform verkörpert sieht. In der Volkshochschule führt ein ehemaliger Physiklehrer den inselbegabten Florian in die Quanten-Physik ein, und der setzt sich immer wieder hin und schreibt an Angela Merkel, um ihr die Dramatik der Situation nahe zu bringen, – eine Anspielung auf das dramatische Geschehen im Ort, bei dem der Wolfsangriff als Allegorie auf das Böse im Menschen fungiert. Die örtliche Tankstelle samt Imbiss, beliebter Treffpunkt im Ort, wird in die Luft gesprengt, das ausländische Pächterpaar kommt dabei um. Bald darauf werden der ‹Boss› und anschließend alle Mitglieder der Neonazi-Gruppe brutal ermordet, und wieder tappt die Polizei im Dunkeln. Im Ort herrscht heillose Panik, man traut sich kaum noch auf die Strasse, es gibt Selbstmorde, einige werden verrückt, andere wie Florian sind plötzlich verschwunden, keiner weiß, wohin.

Dieser Roman in einem Satz entwickelt nicht zuletzt aus seinem unkonventionellen Schreibstil heraus einen starken Lesesog, wobei sich erstaunlicher Weise zeigt, dass man schon nach wenigen Seiten die Trennung durch Punkte nicht mehr vermisst. Das oft aus Sicht seines einfältigen Helden beschriebene, absurde Geschehen wird so geschildert, wie es sich als Gedankenstrom in seinem Kopf abspielen könnte, und auch die Bewohner des Ortes werden auf diese Art stimmig charakterisiert in ihrer provinziellen Lebens- und Denkweise. «Dieses Buch enthält hunderte Monologe», hat der Autor zu seinem eigenwilligen Stil angemerkt. Geradezu parodistisch wird es, wenn die ständigen Flüche des leicht erregbaren Bosses fast ohne Vokale auskommen müssen, was der Verständlichkeit aber keinerlei Abbruch tut, Schße oder gttvrdmmmich versteht man auch so. Am Ende kommt eine «Krawattenversion der Nazis» sogar in den Stadtrat von Kana, ein mystischer Steinadler wird Florians wehrhafter Verteidiger, und aus Berlin trifft ein Brief mit dem Absender Angela Merkel ein, wird aber als unzustellbar behandelt, denn wo Florian abgeblieben ist, weiß ja keiner, auch die Post nicht.

Fazit: lesenswert

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by S.Fischer Frankfurt am Main

Josie, der Tiger und die Fische 1

ProduktfotoEinbahnstraße Zukunft?

Der 20-jährige Student Tsuneo ist ein begeisterter Taucher. Er kennt fast alle Fische in seinem Territorium und will später in Mexiko weiterstudieren. Eines Tages rettet er ein Mädchen mit Handicap, das aus seinem Rollstuhl gefallen ist. Die Großmutter des Mädchens, das sich selbst Josie nennt, engagiert daraufhin kurzerhand den jungen Mann als Gesellschafter für Josie. Tsuneo, der das Geld dringend braucht, nimmt die Stelle an, bereut aber schon bald darauf seine Entscheidung, denn Josie ist alles andere als einfach. Sie demütigt Tsuneo permanent und das will er sich nicht länger gefallen lassen. Mit dem festen Entschluss zu kündigen, kommt er eines Tages zu Josie – und sieht in ihrem leeren Zimmer ihre phantastisch gemalten Bilder. Diese Bilder, die sich auch um Meer und Fische drehen, berühren ihn und er entscheidet spontan, Josie mit ans Meer zu nehmen. Ab da machen die beiden regelmäßig heimliche Ausflüge, die dem Mädchen, das aufgrund ihrer ängstlichen Großmutter v.a. im Haus ihr Leben fristet, sichtlich guttun.

Von dem Willen (seine Berufung) zu leben

Die Manga-Reihe beruht auf einer gleichnamigen Roman- und Filmadaption. Sie integriert mehrere Themen: Menschen mit Handicap (und wie sie selbst und andere damit umgehen), die Schwierigkeiten von Künstler*innen ihre Berufung zu leben, Freundschaft, Liebesbeziehung, Erfüllung von Zukunftsträumen. Im Fokus steht die schwierige Beziehung zwischen Tsuneo und Josie. Das Mädchen hat keine Sozialkontakte, ist wütend auf ihr Leben und geht entsprechend mit anderen um. Tsuneo steht vor der Aufgabe sich zu überlegen, wie er Josie und ihren Launen begegnen soll, zumal er durch die Betreuung des Mädchens gutes Geld verdient. Josie erlebt neben all den neuen Eindrücken außerhalb ihrer vier Wände, dass sich auch Männer für sie interessieren. Außerdem erfährt sie durch die geschützte Atmosphäre der Unternehmungen mit Tsuneo, dass die Außenwelt nicht nur Schlechtes für Menschen mit Handicap bereit hält, sondern auch Schönes. Obwohl sie schon erwachsen ist, beginnt sie sich erst jetzt von ihrer Großmutter zu emanzipieren und in die Welt der Erwachsenen einzutauchen. Die Großmutter spielt eine rätselhafte Rolle: Einerseits ist sie es, die Josie einschränkt, andererseits freut sie sich, dass ihre Enkelin Interesse an der Außenwelt und Eigeninitiative zeigt.

Das Äußere von Josie steht im Kontrast zu ihrem Inneren: Josie ist klein und zart gebaut, sie sieht zerbrechlich-hübsch aus. Das Innere enthüllt aber einen harten Kern, der auf Schwierigkeiten widerborstig und stachlig reagiert – solange, bis sie endlich ihre Wünsche und ihre Bestimmung leben darf. Nachdem Tsuneo sich entschlossen hat, ihr die Welt zu zeigen, blüht sie auf und entwickelt einen eisernen Willen, in dieser Welt zu bestehen. Die Figuren an sich sind nicht gut oder böse, sondern ambivalent, mit Fehlern und guten Seiten. Und der Manga zeigt, wie sich Fehler und gute Seiten ergänzen könnten, wenn man miteinander in eine fruchtbare Beziehung treten will.

Fazit

Berührender Manga um ein Mädchen mit Handicap, das mithilfe eines jungen Mannes zurück ins Leben findet. Insgesamt scheint die Charakterentwicklung der Hauptfiguren eine große Rolle zu spielen.


Genre: Manga
Illustrated by Carlsen Manga!

Klara und die Sonne

Künstliche Intelligenz

Immer mal wieder stellte ich mir die Frage, kann künstliche Intelligenz eigentlich wahnsinnig werden? Wahnsinn bis zur Selbstaufgabe? Bei der Lektüre von „Klara und die Sonne“ des japanischen Literaturnobelpreisträgers Kazuo Ishiguro  ist diese Fragestellung durchaus legitim.

Es scheint also ein Science-Fiction-Roman zu sein, wobei sich die wissenschaftliche Fiktion weniger auf die technischen als auf die menschlichen Aspekte beziehen. Worum geht es dabei? Die alleinerziehende Mutter schafft für ihre schwer kranke Tochter Josie die künstliche Freundin Klara an. Nicht ohne Hintergedanken. Was auch gleich die Frage aufwirft, wie weit darf die Anwendung von KI gehen?

Diese KFs sind vom Hersteller so konfiguriert, dass sie es als Aufgabe verstehen, das Leben ihrer menschlichen Freunde und Freundinnen so angenehm wie möglich zu gestalten. Gemeinhin würde man unterstellen, dass die KF Klara sicher nicht mit ausgeprägten Emotionen ausgestattet sein kann und ihr somit die Krankheit Josies keine Probleme bereiten sollte. Aber weit gefehlt. Unsere Klara menschelt, warum sollte sie nicht auch wahnsinnig werden können? Josies Freund Rick deutet das aber etwas anders: „Damals dachte ich, das ist alles – na ja – KF-Aberglaube halt“.

Viele interessante Aspekte der künstlichen Intelligenz werden beleuchtet und deshalb ist das Buch auch sehr lesenswert. Mir als Ingenieur  kam die Technik etwas zu kurz, wiewohl gerade der oben genannte „KF-Aberglaube“ durchaus damit zu begründen ist, wobei die Sonne, wie der Titel andeutet, die entscheidende Rolle spielt.


Illustrated by Blessing München

Weiberroman

Gegen eine Frau hilft nur eine andere Frau

Der «Weiberroman» von Matthias Politycki weist bereits mit seinem ironischen Untertitel «Historisch-kritische Gesamtausgabe» auf ein wissenschaftliche Texte persiflierendes Prosa-Konstrukt hin. Im Jahre 1997 als Kultroman über die 78er-Generation gefeiert, gilt der damalige Bestseller als wichtiges Werk der literarischen Postmoderne. Sein Figuren-Ensemble verkörpert die erste, ohne Krieg aufgewachsene Generation des Jahrhunderts. Als Yuppies oder Dinks sind sie einerseits karrieregeil, fühlen sich andererseits aber auch der Political Correctness verpflichtet. Und wie der freche Romantitel verkündet, geht es thematisch hier um Frauen, die ja, einer uralten Erkenntnis zufolge, einfach nicht mit Männern zusammen passen.

Genau diese These wird im «Weiberroman» am Beispiel des 1956 geborenen Gregor verifiziert, dessen Probleme mit dem anderen Geschlecht hier aus seiner Sicht geschildert werden. Das in den Jahren 1974 bis 1990 geschriebene Material zu dessen Autobiografie, bestehend aus einem Konvolut von 3481 ungeordnet zurückgelassenen Textschnipseln bis hin zu mehrseitigen Abschnitten, habe Matthias Politycki als Herausgeber «entschlüsselt, katalogisiert und entsprechenden Handlungssträngen zugeordnet», wird im Anhang in einer editorischen Notiz erklärt. Diese mühevolle Arbeit habe Schwärzungen freizügiger «Stellen» unabdingbar gemacht, und aus Verständnis-Gründen sei auch ein dreißigseitiger Anmerkungs-Apparat dringend erforderlich gewesen. Hinter dieser Herausgeber-Fiktion versteckt berichtet Matthias Politycki in den drei mit «Kristina», «Tania» und «Katarina» betitelten Abschnitten des Romans von der schwierigen Mannwerdung seines Helden.

Als Schüler in der westfälischen Stadt Lengerich hat sich Gregor in die überirdisch schöne Kristina verguckt, hinter der alle her sind. Aber ungeschickt, wie er nun mal ist, kommt er bei ihr nicht weiter, die Konkurrenz ist einfach zu groß. Nach dem Abitur beginnt er in Wien ein Germanistik-Studium und lernt die Zahnarzthelferin Tania kennen, eine kesses Vollweib aus einfachen Verhältnissen, die breiten Dialekt spricht und intellektuell so gar nicht zu ihm passt. Er findet schließlich heraus, dass sie bereits seit zwei Jahren als Model arbeitet und freizügige Bilder von ihr kursieren. Als 23Jähriger geht er dann nach Stuttgart, wo er eine Stelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter antritt. Dort trifft er auf Katarina, eine elegante Traumfrau, die bei der Lufthansa als Chefstewardess für interkontinentale Flüge arbeitet. Aber auch diese Beziehung geht in die Brüche. Gregor kann sich einfach nicht in die Psyche der Frauen hineinversetzen, die geliebt werden wollen und ständig auf noch so kleine Zeichen warten, die das immer wieder auch beweisen. Als Hintergrund zu den schwierigen Paarbeziehungen blendet Politycki ständig aktuelle politische und kulturelle Geschehnisse in die Handlung ein. Die Entwicklung in der DDR wird da ebenso angesprochen und im Anmerkungsteil näher erläutert wie die jeweils gerade angesagte Musik, sei es die berühmter Pop-Gruppen oder aber die jener Schlagersänger, deren Schnulzen, aus der Wohnung des Hausmeisters schallend, an Gregors Nerven zerren.

In Wahrheit erzählt der Studienabbrecher nur permanent von sich, die Frauen bleiben in diesem Roman letztendlich Beiwerk, immer nach dem Motto: «Gegen eine Frau hilft nur eine andere Frau». Meistens wird da von seinen ständigen Sauftouren, Feten und allerlei Schabernack berichtet, mit auffallend oft auch olfaktorischen Details. Die durchaus harsche Gesellschafts-Kritik dieses virtuos erzählten Romans wird gemildert durch den köstlichen Humor, in den das alles unterschwellig verpackt ist. Dazu tragen zuweilen eingestreute Passagen mit Wiener oder schwäbischem Dialekt einiges bei. Es empfiehlt sich übrigens, den Anhang dieses geistreich unterhaltenden Buches zuerst zu lesen, dann aber auch jeweils die Fußnoten, weil sie oft weit mehr beinhalten als reine Anmerkungen.

Fazit: lesenswert

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Hoffmann und Campe

Save you – Save me – Save us

Die Maxton-Hall-Reihe: Alle 3 Bände im Schuber: Save Me. Save You. Save Us.Die Welt der Reichen und Schönen…

Ruby Bell besucht die angesagte Schule Maxton Hall, in welche all die Reichen, Mächtigen und Schönen ihre Kinder schicken. Sie selbst kommt aus einer einfachen Familie und hat ihren Platz aufgrund eines Stipendiums bekommen. Deshalb beschließt sie, möglichst unauffällig ihre Schulzeit in Maxton Hall zu verbringen, um nicht den Spott ihrer Mitschüler*innen auf sich zu ziehen.

Eines Tages beobachtet sie unfreiwillig, wie ihre Mitschülerin Lydia mit ihrem Lehrer rumknutscht. Das beschert ihr die Feindschaft ihres Zwillingsbruders James, der seine Schwester vor der Klatschpresse und damit vor der Zerstörung des Rufes des bekannten Namens Beaufort bewahren will. Beide geraten aneinander. Das Verhältnis scheint sich noch zu verschlimmern, als James als Strafe für einen Streich dem Veranstaltungskomitee beitreten muss, in dem Rubi Vorsitzende ist. Erstaunlicherweise ist aber das Gegenteil der Fall, denn James hat gute Ideen und lädt Rubi zum historischen Fundus der Beaufort’schen Modekette ein, um für die Schulparty Halloweenkostüme auszusuchen. Beide kommen sich langsam näher und entdecken ihre Liebe füreinander. Aber diese zarten Bande sind James‘ Eltern gar nicht recht, denn Rubi ist keine standesgemäße Partie. Als wäre das noch nicht genug, stirbt James‘ und Lydias Mutter. Vater Beaufort hat kein Verständnis für die Trauer seiner Kinder; sie sollen funktionieren und einen Studienplatz in Oxford anstreben. Er übernimmt das Unternehmen Beaufort nach dem Tod seiner Frau und strukturiert es nach seinem Willen um.

Lydia und James leiden unter der harten Regie ihres Vaters und dessen beruflichen Vorstellungen für sie. Es kommt zu immer mehr Konflikten innerhalb der Familie Beaufort. Das führt auch dazu, dass sich James von Rubi zurückzieht, um sie zu schützen. Rubi allerdings hat noch andere Probleme, denn ein Foto von ihr und einem ihrer Lehrer kursiert in der Schule und suggeriert, dass sie ein Verhältnis mit diesem Lehrer hat. Das führt zu ihrem Schulausschluss und damit zum Aus ihrer Träume, Oxfordstudentin zu werden. Wütend stellt Ruby fest, dass James für das Foto verantwortlich ist. Sie unterstellt ihm, es herumgeschickt zu haben, um von Lydia abzulenken. Denn Lydia ist von ihrem Lehrer schwanger und wird deswegen von ihrem Vater verstoßen. Sie lebt jetzt bei ihrer Tante Ophelia, die von Lydias Vater aus dem Unternehmen gedrängt wurde. Die schlimme Situation für James, Rubi, Lydia und ihre Familien spitzt sich immer weiter zu – bis James von seinem Chauffeur einen Hinweis erhält, der das Leben aller von Grund auf verändern kann.

…ist auch nicht immer das, was sie scheint

Die Trilogie – hier in der Hardcover-Gesamtausgabe im Schuber – lebt nicht nur von romantischen Irrungen und Wirrungen, sondern auch vom Kontrast zwischen High Society und Normalbürgertum. Dabei werden Leser*innen immer wieder mit der Nase auf folgendes Motto gestoßen: „Es ist nicht alles Gold, was glänzt.“ Will in diesem Fall heißen: Auch die Reichen, Schönen und Mächtigen haben so ihre Schwierigkeiten. James und seine Schwester wachsen in einer lieblosen Familie auf, in der sie für ihren Vater nur Schachfiguren sind, die er nach Belieben hin- und herschieben kann. Genügen sie seinen Ansprüchen nicht, lässt er sie fallen. Das lieblose Elternhaus und der Zwang eines vorherbestimmten Lebens ohne Aussicht auf die Erfüllung eigener Wünsche lassen James Trost im Alkohol und in Drogen suchen. Er muss mit der Verletzung fertig werden, keine glückliche Familie zu haben, die ihn um seiner selbst willen liebt und unterstützt. Das wird ihm erst richtig bewusst, als er Rubis Familie kennenlernt, die trotz aller Schwierigkeiten zusammenhält und sich füreinander interessiert.

Auch Lydia wird wie ihr Bruder nicht nur körperlich, sondern auch seelisch verletzt, als ihr Vater sie wegen ihrer Schwangerschaft verstößt. Sie und ihr Bruder erhalten so etwas wie Nestwärme bei ihrer Tante und Rubis Familie. Auch die anderen reichen Freunde von James sind nicht nur von Glück verwöhnt: Die konservative High Society akzeptiert keine Homosexuellen oder Menschen, die finanzielle Schicksalsschläge hinnehmen müssen. Alles, was nicht dem schönen Schein entspricht, wird vertuscht und passend gemacht. Gelingt das nicht, müssen die schwarzen Schafe aus dem schönen Schein verschwinden.

Aber auch Rubis bürgerliche Welt ist nicht heil, denn ihr Vater ist nach seinem Unfall behindert und ihre Schwester kämpft gegen Vorurteile, weil sie nicht dem gängigen Schönheitsideal entspricht. Beide schöpfen Kraft aus ihrer Familie und aus ihrem Willen, das Beste aus der Situation zu machen – was ihnen dank Ausdauer und Arbeit an sich selbst auch gelingt. Damit sind sie Vorbild für andere; im Buch für James und seine Freunde, die mit Schicksalsschlägen erst lernen müssen umzugehen.

Die Trilogie mag verächtlich (und diskriminierend) als „Frauenliteratur“ oder „Trivialliteratur“ abgekanzelt werden, aber sie trifft Themen, die junge Frauen interessieren (und über die Männer ruhig nachdenken dürfen): Liebe, wie man eine Beziehung aufbaut und trotz aller Schwierigkeiten pflegt und erhält, Problemlösungskompetenzen in brenzligen Situationen, Durchhaltewillen, Sein statt Schein, Selbstwertgefühl und Selbstbewusstsein, die Fähigkeit, hinter Masken und Kulissen zu sehen, die Qualitäten der/des anderen erkennen und fördern können, Zusammenhalt, Mut, Stärke (nicht muskulär).

Fazit

Vordergründig eine Trilogie mit allerlei romantischen Verwicklungen, hintergründig aber auch ein Plädoyer für echte Werte wie Selbstwert, Problemlösungskompetenzen, den Mut, seine eigenen Träume zu verwirklichen, Vorbildfunktion, soziales Verhalten usw.

Insgesamt eine spannende Reihe, die von Verwicklungen vielerlei Art lebt, und im Sinne eines Entwicklungsromans die charakterliche Entwicklung der Figuren begleitet.


Genre: Jugendroman
Illustrated by LYX- Verlag/ Bastei Lübbe

Die Liebesblödigkeit

Liebe in einer verhunzten Welt

Der Büchner-Preisträger Wilhelm Genazino hat mit seinem Roman «Die Liebesblödigkeit» einen Buchtitel kreiert, der geradezu typisch ist für seine überwiegend resignativ geprägten Romane, in denen es immer auch um die Liebe geht als schier unerschöpflicher Erzähl-Fundus. Das vorliegende Buch handelt von der Beziehung seines Ich-Erzählers zu zwei Frauen, deren Ansprüchen er sich als alternder Liebhaber auf Dauer nicht gewachsen fühlt. Von einer sollte er sich trennen, aber von welcher?

Als freiberuflicher Apokalypse-Spezialist unterhält der 52jährige Protagonist schon jahrelang intime Beziehungen zu Judith, einer gleichaltrigen Pianistin, die recht und schlecht von Klavierunterricht und Nachhilfestunden lebt, aber gleichzeitig auch zu der neun Jahre jüngeren Chef-Sekretärin Sandra. Bisher lief alles bestens in dieser Ménage-à-trois, in der die Frauen natürlich nichts voneinander wissen und ihr Geliebter es sich gut gehen lässt. Warum, lautet sein Credo, soll man als Kind Vater und Mutter gleichermaßen lieben können, zwei Frauen gleichzeitig aber nicht! Als Hypochonder entdeckt er ständig neue, altersbedingte Veränderungen an seinem Körper, zu denen zum Beispiel auch Krampfadern gehören. Als der Arzt ihm neben einem Medikament auch Stützstrümpfe verschreibt, passt das so gar nicht zu seinem Selbstverständnis. Die sexuell sehr aktive Sandra, die ihn zu diesem Arzt geschickt hat, überrascht ihn mit einer kühnen Konstruktion an ihrer Schafzimmertür. Rechts und links hat sie je einen Getränkekasten hingestellt, auf die sie sich optimal zum Beischlaf draufstellen kann, während er sie in einer Krampfader schonenden Stellung beglückt. Aber seine erkennbar nachlassende Libido führt auch zu sexuellen Versagensängsten, die ihn permanent umtreiben. Andererseits kann er sich beim besten Willen jedoch nicht vorstellen, auf eine der liebevollen Damen zu verzichten, er hat sich sein Leben mit den beiden sehr kommod eingerichtet. Als ihm Sandra einen Heiratsantrag macht und auf die finanziellen Vorteile hinweist, die er als Freiberufler ohne eigene Rentenansprüche durch die Witwenrente später hätte, stellt er resigniert fest, dass eine Ehe für ihn absolut undenkbar wäre.

Die Figuren des Romans sind unauffällige Alltagstypen aus der Mittelklasse. Der namenlose Romanheld ist als Seminarleiter mit seinen Apokalypse-Vorträgen sehr beliebt und hat einen guten Kontakt zu den meist älteren Teilnehmern. Wie auch in anderen Romanen von Wilhelm Genazino sind hier immer wieder Passagen eingebaut, in denen der Held durch die Stadt streift und alltägliche, banale Szenen beobachtet, die er in schnellem Wechsel detailgenau beschreibt. Es ist das «signifikant Insignifikante», wie James Wood es genannt hat, das hier zu stets neuen, überraschenden Einsichten führt, als Flaneur erkennt der intellektuelle Erzähler scharfsichtig das Besondere im Allgemeinen. Gesellschaftskritisch konstatiert er einen zunehmenden «Freizeit-Faschismus», der die Köpfe bewusst vernebelt und zu einem ungebremsten Konsum-Fetischismus hinführt. Äußerst skeptisch sieht er auch die «frei schwebenden Intellektuellen», die im Roman auftreten, von ihm spöttisch Panikberater, Ekelreferenten oder Schockforscher genannt. Ihm erscheint die moderne Welt mit ihren absurden Automatisierungs-Zwängen schlicht als «verhunzt», seine in dieser irrealen Welt herumirrenden Figuren seien einer «zynische Inszenierung» ausgesetzt. Der Held selbst aber registriert all dies mit stoischer Gelassenheit.

Es wird chronologisch aus der Ich-Perspektive und im Präsens erzählt, wobei die Sprache mit allerlei Redewendungen und Bonmots angenehm aufgelockert ist. Sehr viele der kontemplativen Erkenntnisse des ständig sinnierenden, selbstkritischen Protagonisten sind erkennbar ironisch gemeint, andere wiederum regen zum eigenen Nachdenken an. Als Satire über die Liebe in einer verhunzten Welt ist dieser Roman eine amüsante Lektüre, die auch einiges an Tiefgang bietet.

Fazit: erfreulich

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Hanser Verlag München

Vom Aufstehen: Ein Leben in Geschichten

Besondere Anlässe braucht Helga Schubert nicht, die Geschichten sind alle schon da und werden durch eine Beobachtung, eine Begegnung, ein Datum oder eine Zeile freigesetzt und aufgeschrieben. „Wenn ich betrachte, dann muss es um mich herum still sein. Es muss auch in mir still sein. Denn ungehindert dringt das Gemälde, das Menschengesicht, das Gedicht in mich und sagt zu mir: Sieh mich an, höre mir zu, lass dich anrühren, lass dich erinnern an alles, was du schon weißt, was dich erschüttert hat“.

Mein Interesse für das Buch war geweckt, als ich Helga Schuberts Abschiedslobrede auf Angela Merkel in der ZEIT las, sie beide sind DDR-Bürgerinnen, haben eine Heimat im protestantischen Glauben, und beide konnten im vereinten Deutschland aufblühen.

In der ersten der 29 Geschichten erinnerte sie sich an den ersten Ferientag bei der Großmutter in Greifswald, wo sie ihre Schulferien verbrachte. Es gibt noch warmen Streuselkuchen, der ihr serviert wurde, wenn sie in der Hängematte aufwachte. Der Abschied von der Mutter war leichtgefallen, die musste immer viel arbeiten, der Abschied fand telefonisch statt: Das Kind musste die Zensuren rapportieren und alles, was keine Eins war, war rechtfertigungspflichtig.

Dann begleiten wir sie in ihrem Leben als Schriftstellerin der DDR, sie „durfte“ mehr als andere Staatsbürger, sogar in den Westen reisen, wenn Einladungen zu Schriftstellertreffen kamen. Selbstverständlich war nichts, etwa ein Auftritt mit Herta Müller im Goethe Institut in Brüssel: undenkbar!

Auch als Westberlinerin lernte ich neues aus der DDR, weiß nun, was ein Ulb ist: der Zeitraum, den es braucht, das Radio auszustellen, wenn Walter Ulbricht spricht. Später wurde es ein Schnitz (vom schwarzen Kanal).

Helga Schubert lebt im Hier und Jetzt, sie altert bewusst, immer bezieht sie ihre Mitmenschen ein, reflektiert Begegnungen. Das sind neben dem Ehepartner die Nachbarn, Pflegekräfte, die Hausbesuche machen, oder Gemeindemitglieder, oder Reisepartnerinnen bei Fastenkuren.

Im christlichen Glauben sucht und findet sie wenigstens etwas von der Geborgenheit, von der sie nicht genug bekommen hat, wer eine so abweisende Mutter wie sie hatte, muss wohl immer weitersuchen.

Als Psychotherapeutin weiß sie, dass man Hilfe suchen und annehmen muss, so findet sie Trost in manchen Kirchenliedern, und fühlt sich wie eine Studentin, wenn eine Pastorin ihr das vierte Gebot erklärt: Lieben müsse man die Eltern nicht, sie sind zu respektieren, und das hat sie ja ihr Leben lang gemacht—die Mutter wurde trotz ihrer Garstigkeit von ihr umsorgt, bis sie mit 101 Jahren starb.

Im Buch ist sie achtzig Jahre alt, mit Altersweisheit nimmt sie die Einschränkungen ihres Mannes, aber auch ihrem Selbst wahr. Und sie kann verzeihen: Dem Stasi Offizier, der sich bei ihr entschuldigt und beichtet, wie sehr ihm die Observierung der kirchlichen Friedensbewegung geholfen hatte: Während andere Spitzel gefürchtet hätten, gelyncht zu werden, wusste er, dass ihm nichts Schlimmes drohte, da sie es ernst meinten mit der Gewaltfreiheit.

Als Höhepunkt kann sie der sterbenden Mutter verzeihen: Sie dankt ihr, dass sie als DDR-Bürgerin den westlichen RIAS hören durfte, dass sie ihr erklärt hatte, nicht alles vom Staatsrundfunk zu glauben, und noch anderes mehr.

In Helga Schuberts Geschichten liegt eine große Dankbarkeit an das Leben. Im erwähnten ZEIT Artikel gefiel mir schon der Satz; „Dies ist mein Luxusleben, im Frieden, in der Wärme, ich kann denken, was ich will.“


Genre: DDR, Geschichte, Politik, Zweiter Weltkrieg
Illustrated by dtv München

Hier wächst nichts: Notizen aus unseren Gärten

Sollte man ein Buch mit dem Titel Hier wächst nichts wirklich lesen wollen, wenn es sich so abstoßend präsentiert? Auf dem Titelbild wächst wirklich nichts, und auch die Rückseite verspricht kein erbauliches Buch über Gartenkultur. Sehen Sie selbst!

Da gibt es „62 % Gartenerfahrung aus naturidentischen herben Rückschlägen und bitteren Erkenntnissen, … 15 % grober Unfug aus 42 % Alkohol in der Herstellung … aber auch 12 % Humor aus zertifiziertem Raubbau.“ Ihr Eindruck stimmt: Hier gibt es Satire, wie wir sehen werden, über moderne Gartenboomtrends, über Gartenliebhaberinnen und ihre Gatten. Leider haben Kleinkinder und Schwangere in Gärten keinen Zutritt, aber es gibt Geistvolles, möglicherweise geschrieben nach Genuss von Berauschendem.

Erst geht es noch weiter mit einem (Anti)Sinnspruch, nämlich dem Lob des Häßlichen, seine letzten Zeilen lauten: “Das Schöne gib uns Grund zur Trauer, das Häßliche erfreut durch Dauer.“

Mich konnte das nicht abschrecken, denn ich bin seit Langem ein Fan von Pfenningschmidt; Wenn ich mir die Zeitschrift “Kraut und Rüben” kaufe, dann vor allem wegen seiner Staudenkolumnen. Und auch in diesem Buch lohnte sich das Weiterlesen.

Jeder der beiden Autoren von Hier wächst nichts stellt sich mit seiner Gartenvita vor: Sie haben sich das Gärtnern als Hobby beigebracht, Reif hat schon als Jugendlicher auf Honorarbasis Gärten gestaltet, eine Lehre daraus war, dass man Euonymus und Lavendel nicht kombinieren soll. Am Tag drauf sah ich diese Kombination in einem Dahlemer Vorgarten – und kann es bestätigen. Später hat er sein Wissen in einem Studium bis zum Diplom-Ingenieur vertieft. Beide Autoren lieben Stauden, trafen den Foersterschüler Pagel noch persönlich und fühlen sich als seine Schüler.

Nur manche Kapitel sind mit dem Namen des Autors versehen, vermutlich sind die meisten von Pfenningschmidt, er ist ja auch schon seit Jahrzehnten im Geschäft. Reif trägt einige Interviews bei, eines mit einem Golfrasenpfleger, der sich in seinem privaten Garten über Gänseblümchen freut. Ein anderes mit dem bekannten Taglillienpapst Dr.Tamberg, der über seine Zuchterfolge spricht. Wir lernen etwas über genetische Voraussetzungen und Sortenschutz. Dann wird der schon erwähnte Pagel zitiert, er habe „nicht gezüchtigt, sondern gesichtet.“ Es geht darum, spontane Mutationen zu erkennen und zu pflegen. Mir fehlte der Hinweis darauf, dass viele Samen, die wir heute kaufen können, vielleicht bio, aber nicht samenfest sind, aber es geht ja um Stauden, Ein- und Zweijährige werden nicht vorgestellt.

Eigentlich ist man kein Rosenfan, aber dann gibt es doch eine Liste mit 17 Lieblingsrosen, eine Liste mit 18 empfehlenswerten Büchern, ein Kapitel heißt “Sieben gute Neuheiten“, das sind Pflanzen, wovon ich eine rote Aster und eine noch rötere Bistorta (Js.Caliente) im nächsten Frühling suchen werde. Als eine Elfe ihm, ich bin sicher, es war Pfenningschmidt, drei Wünsche schenkte, wünscht er sich drei trockenresistente Schattenpflanzen und bekommt: Tanacetum macrophyllum, Aster ageratoides subsp. Trinervius var. Adustus Nanus, die will ich nun natürlich auch. Und gegen Giersch gibt es eine Fülle von Pflanzen, die den Kampf aufnehmen und sich ihm wuchernd entgegenstemmen.

Es gibt also reichlich Tipps zu Pflanzen, wie sie nur Kenner geben können, genossen habe ich vor allem die Satire. Etwa eine Serie von Veränderungen, bei der ein Haus ohne Grün, ein sogenannter Steingarten vorstellt wird. Während der sieben Jahreszeiten (in denen es nach Karl Foerster immer etwas Blühendes gibt), werden dann eben sieben Mal dieselben Fotos der Steine gezeigt.

Pfenningschmidt outed sich als „Jäger und Sammler“ von raren Exemplaren, und wir erfahren, dass es ihm besonders die Elfenblumen angetan haben. Kenntnisreich auch die Beschreibungen pflanzlicher Gifte, und wie Mütter von Kleinkindern damit umgehen. Ebenso die Beschreibungen der Oberschüler, die sich mit Rauschmitteln auskennen, und mit heimischen Gewächsen einen Schul-Tüten-Mix herstellen.

Es ist ein Buch, das man nicht ausliest, aber es wird Sie nicht nur in langen Winterabenden zum Schmunzeln bringen.


Genre: Garten
Illustrated by Verlag Eugen Ulmer

Die Haushälterin

Oberflächliche Vater/Sohn-Geschichte

Das Romandebüt von Jens Petersen mit dem Titel «Die Haushälterin» wurde mit verschiedenen Preisen ausgezeichnet und für den Deutschen Buchpreis 2005 nominiert. Es blieb bis dato der einzige Roman dieses Schriftstellers und Arztes, dessen Erzählungen hingegen in verschiedenen Anthologien veröffentlicht wurden. In seinem preisgekrönten Roman beschreibe er, wie die Aspekte-Jury des ZDF befand, «unsentimental, geradlinig und doch vielschichtig die Geschichte einer Vater-Sohn-Beziehung auf Messers Schneide».

Dieser Generationen-Roman ist auch die Geschichte einer ersten Liebe. Der sechszehnjährige Ich-Erzähler Philipp, der früh seine Mutter verloren hat, muss nun auch noch erleben, dass sein Vater, der Kernkraftwerke gewartet hat, arbeitslos wird und zu trinken anfängt. Der Haushalt der Beiden in einer ehemals prächtigen Jugendstilvilla verwahrlost zusehends. Immer öfter kommen nun auch fremde Frauen ins Haus und stehen plötzlich morgens in der Küche, was den Jungen ziemlich verstört. Sein Vater benutze seine diversen Liebschaften offensichtlich nur «wie eine Arznei gegen das Sterben», stellt er ernüchtert fest. Als der alkoholisierte Vater bei einem Sturz die Kellertreppe herunterfällt und einen komplizierten Beinbruch erleidet, engagiert Philipp kurz entschlossen eine Haushälterin. Die 23jährige Ada ist eine Studentin aus Polen, die auch als Übersetzerin arbeitet. Sie kümmert sich nun zweimal die Woche um den Haushalt und bringt ihn sehr schnell wieder ‹auf Vordermann›. Außerdem erweist sie sich auch als hervorragende Köchin, ein Glücksfall für die beiden eher stümperhaften Selbstversorger, und mit ihr kommt nun wieder Leben ins Haus. Die burschikose Ada kümmert sich auch um den Garten und springt für den durch seine Verletzung gehandicapten Vater als Chauffeur ein. Für den mitten in der Adoleszenz steckenden, eher verschlossenen Philipp ist sie der allererste Kontakt zum weiblichen Geschlecht. Sie geht ganz ungezwungen mit ihm um, lässt sich von ihm duzen, geht mit ihm schwimmen, sie besuchen zusammen eine Party, und einmal küsst sie ihn sogar. Aber wie er schon bald merkt, hat sie ganz offensichtlich einen Freund in Polen. Und was ihn noch viel mehr trifft, auch sein Vater macht ihr völlig ungeniert den Hof und überschüttet sie mit Geschenken, bietet ihr schließlich sogar ein Zimmer im Haus an. Als Nebenbuhler seines Vaters um die Gunst der lebenslustigen Ada hat Philipp keinerlei Chance, das wird ihm bald klar.

Die führwahr nicht seltene Thematik dieses Romans von der Rivalität zwischen Vater und Sohn um die gleiche Frau wird hier kühl und nüchtern in einer dem jugendlichen Erzähler angepassten Sprache geschildert. Die Figuren sind glaubwürdig charakterisiert, wobei besonders Ada sehr sympathisch wirkt, was daran liegen mag, dass man nicht alles über sie weiß. Es wird nämlich nicht alles auserzählt in diesem melancholischen Roman, manches ist nur vage angedeutet oder bleibt völlig offen. Thematisiert wird hier auch die generationsbedingt schwierige Kommunikation zwischen dem dominant auftretendem Vater und seinem eher unbedarften Sohn, die den Heranwachsenden immer wieder vor neue Probleme stellt und ihn sogar zu einigen Kurzschluss-Handlungen verleitet.

Es liegt ein Anflug von Tristesse über diesem Adoleszenz-Roman, der geradezu beiläufig von den Schwierigkeiten und Fallstricken beim Erwachsenwerden erzählt. Dabei ist jedoch immer auch ein hintergründiger Humor zu erkennen, der diesen Debütroman zu einer eher amüsanten Lektüre macht. Leider jedoch bleiben die psychologischen Hintergründe der Figuren-Konstellation völlig im Dunkeln, obwohl ja gerade darin die eigentliche Problematik der wechselseitigen Beziehungen zwischen den drei Protagonisten liegt. Durch diesen Mangel an gedanklicher Tiefe bekommt die flockig leicht erzählte Geschichte den eher trivialen Charakter eines oberflächlichen Unterhaltungs-Romans, der von der grenzenlosen Naivität seines jugendlichen Helden lebt.

Fazit: miserabel

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by DVA München