Utopien sind wie Horizonte. Man erreicht sie nie, aber wer sich ihnen nicht nähert, tritt auf der Stelle. Das aus dem Altgriechischen stammende Wort “Utopie” bedeutet aber auch Nichtörtlichkeit, auch Nirgendwo genannt. Nun ist die Vermessung von etwas Nichtörtlichem keine leichte Angelegenheit, aber die Autoren Raul Zelik, politischer Romancier und Elmar Altvater, ehemals Professor für politische Ökonomie und heute Attac-Mitglied lösen das Titelrätsel schon gleich im Vorwort auf. Es ist eine Art Negativvermessung gemeint, ein Aufzeigen, was eben nicht mehr so weitergehen soll wie bisher, damit es in Zukunft ein wenig besser, um nicht zu sagen utopischer wird. Dazu arbeiten sich die beiden an allerlei Vergangenem und Gegenwärtigem ab. Sie sinnieren darüber, wie sich die wissenschaftliche Ökonomie von ihrer ursprünglich normativen Einbettung in Politik und Gesellschaft zu einer reinen Entscheidungslehre mit dem Fetisch Gewinnmaximierung entwickeln konnte. Sie untersuchen den Patienten Gegenwartskapitalismus, tasten ihn auf Brüchigkeiten und Porösitäten ab. Sie gehen detailliert auf die große Krise ein, jene gewaltige Polonaise an Wertevernichtung, wenn das Kapital anstelle realen Zinsnachwuchses zu viele spekulative Fehlgeburten hervorbringt. Da platzen erst reihenweise Hypotheken, die Besitzer fliegen aus ihren Häusern, der Immobilienmarkt implodiert infolge seines Überangebotes und die Häuser beginnen zu vergammeln, weil niemand mehr drin wohnt, bis sie eine Adresse für die Abrissbirne werden. Aber auch der Sozialismus kriegt sein Fett, denn dieser hat, so Altvater und Zelik, anders als der Kapitalismus sein 1968 nicht als Chance zur Verjüngung begriffen, sondern buchstäblich mit Panzern platt gemacht. Außerdem hat er den untauglichen Versuch unternommen, mit dem Kapitalismus in ein und dieselbe Kampfarena, die des Massenkonsums und des Wirtschaftswachstums zu steigen. Gelegentlich schimmert es auch tiefgrün, wenn die Vergesellschaftung von natürlichen Ressourcen gefordert wird, weil anders als spekulative Gewinnblasen die Erdöl- und Luftvorkommen eben nicht von alleine wachsen und man aus einem Aquarium wohl eine Fischsuppe machen kann, aber aus einer Fischsuppe kein Aquarium.
Der Text ist dialoggeformt, ein Kamingespräch zwischen Buchdeckeln, ein Reißverschluss an Einvernehmen und Ergänzung. Das kommt nicht immer spannend aber dafür mit einem Hauch von knisternder Harmonie daher. Gelegentlich macht Zelik den visionären Vorprescher, um dann ein wenig altväterliche Zurückhaltung auferlegt zu bekommen.
So weit so gut. Ob und inwieweit die beiden dem Kapitalismus auch positive Tugenden wie die wettbewerbsgarantierte Weitergabe von Kostenvorteilen und treffsichere Leistungsanreize abgewinnen können, wird über die gesamte Lektüre hinweg nicht so ganz klar. Wenn Zelik die Entmachtung herrschender Eliten vorschlägt, und dass Produzenten und Konsumenten demokratisch über den Einsatz von Produktionsmitteln bestimmen sollen, dann droht die Sache gegen Ende doch etwas ins räterepublikanische Fahrwasser abzudriften. Auch Altvaters Kernbehauptung, dass es für lebbare Alternativen zum Kapitalismus keiner umerzogenen oder gar komplett neuen Menschen bedarf, sondern dass die bereits vorhandenen Vorkommen an Verstand, Solidarität und Verantwortungsgefühl dazu vollkommen ausreichen, darf in ihrer Breitenannahme durchaus angezweifelt werden. Seine Verweise auf die anonym und unentgeltlich mitgestaltete Internet-Enzyklopädie Wikipedia” und auf das Open-Source-Betriebssystem Linux,” das ebenfalls als freie und offene Kooperation im Internet weiterentwickelt wird, liefern immerhin ein paar Belege dafür, dass Wirtschaften nicht immer nur auf dem Konkurrenzgedanken basieren muss, sondern durchaus auch solidarisch angelegt sein kann. Dadurch gelingt es den beiden aus dem großen rätselhaften Nirgendwo ein paar kleine wenn auch zaghafte Irgendwos zu machen. Ansonsten ist das Werk eher als kleiner Katechismus an teilqualifizierter Kapitalismuskritik einzuordnen.
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Vermessung der Utopie
Prinzessinnensuite
Was für eine Frau! Sprühend vor Energie, überquellend von Geschichten, strahlend, charmant und auch im Alter auf besondere Weise schön. Zu ihrem 90. Geburtstag hat Ilse Eliza Zellermayer sich selbst und die Leserschaft mit einem Buch beschenkt, das aus dem alten und „mitteljungen“ Berlin sowie aus der Welt der Musik erzählt.
1920 geboren, wuchs sie im vornehmen Hotel am Steinplatz aus, das ihr Vater, der Bankier Max Zellermayer, aufgebaut und zugleich als Wohnstatt für seine nun fünfköpfige Familie auserkoren hatte. Von klein auf hatte die Autorin Umgang mit verschiedensten Gästen aus vielen Ländern, mit emigrierten russischen (wie zum Beispiel den Nabokows) und polnischen Adligen, mit Künstlern und Gelehrten, die hier immer wieder und oft langfristig Aufnahme fanden. Unterhaltsam und aufschlußreich schildert sie den Hotelalltag, die großen und kleinen Marotten der Gäste und wie liebevoll die Zellermayers und ihre Mannschaft sich um ihr Wohlergehen kümmerten. Der Geiger Yehudi Menuhin gehörte zu den treuesten Gästen: Bereits in den Goldenen Zwanzigern war das Wunderkind am Steinplatz zu Gast und kam auch nach dem Krieg immer wieder gern zurück.
Das Hotel war der Fixpunkt der Familie Zellermayer und blieb dies trotz schwerer Schicksalsschläge wie der Tod des Vaters 1933 und die Jahre von Nationalsozialismus und Krieg.
Anekdoten berichten vom schwierigen Neuanfang, von Ziege Beate, die für die Gäste Milch und Sahne lieferte, von Tomaten auf dem Dach und Champignonzucht im Keller. Bruder Heinz setzte sich erfolgreich für die Aufhebung der Sperrstunde ein und wurde später Herr eines ganzen Gastronomie- und Hotelimperiums zwischen Berlin und Paris, während Bruder Achim sich unter anderem beim Aufbau der Künstlerkneipe Volle Pulle verwirklichen konnte, die dem Hotel am Steinplatz angeschlossen war und Stammgäste wie Gottfried Benn, Heinrich Böll oder Günter Grass anzog.
Ilse Eliza Zellermayer wirkte über Jahrzehnte im Familienbetrieb mit, verfolgte aber stets auch eigene Wege. Als ihr die Karriere als Opernsängerin verwehrt blieb, setzte sie sich mit Leidenschaft und Charisma für andere Sänger ein und eröffnete als erste Frau in Deutschland eine Opernagentur. Sie lebte und litt mit ihren Künstlern und managte deren Auftritte. Durch ihre zahlreichen Kontakte und ihre Weltläufigkeit, durch ihr Wissen um die Musik und ihre Einfühlsamkeit war ihre Arbeit außerordentlich erfolgreich. Mit ihrer Unterstützung eroberten Luciano Pavarotti, Mirella Freni, Giuseppe Di Stefano oder Anna Moffo die großen Opernbühnen der Welt.
Über allem aber steht bei Ilse Eliza Zellermayer die Liebe, im beruflichen wie im privaten Leben. Zweimal war sie verheiratet, doch die wahre Liebe fand sie in dem Pianisten, Organisten und Komponisten Jean Guillou, mit dem sie Anfang der sechziger Jahre liiert war und der sie wie durch ein Wunder kurz vor ihrem 88. Geburtstag wiederfand. Mit ihm verbindet sie eine wunderbare Vertrautheit, die sie glücklich macht.
Der Aufbau Verlag präsentiert mit diesem Buch das charmante Zeitzeugnis einer eigenwilligen Frau, das durch diverse diskret-indiskrete Klatschgeschichten seinen zusätzlichen Reiz bekommt.
Mein Leben
Gitarrengott Eric Clapton hat seine Lebensgeschichte zu Papier gebracht; wer sie liest, erlebt eine grandiose Symphonie aus Alkohol- und Drogensucht und wird in einen Strudel von Liebe, Leidenschaft, Schicksalsschlägen und Enttäuschungen gezogen. Das Leben des Superstars, das der Autor vor seinem Leser ausbreitet, ist wild und abwechslungsreich. Ob es glücklich und erfüllt ist, steht indes auf einem anderen Blatt.
Der am 30. März 1945 im südenglischen Ripley geborene Eric Clapton wuchs als uneheliches Kind in bescheidenen Verhältnissen bei seinen Großeltern auf. Der Junge war schüchtern, fühlte sich zurückgesetzt und abgelehnt; er zog sich zurück und blieb für sich. Früh begann er, Platten, die ihm in die Hände fielen, auf der Gitarre nachzuspielen und sich eine eigene Technik anzueignen. Ehrgeizig lernte er von den Songs von Muddy Waters, Chuck Berry und B. B. King und entdeckte so für sich den Blues.
Besonders begeisterte den jungen Mann Freddy King, dessen Gitarrensoli ihm den Atem verschlugen. Es war wie moderner Jazz, expressiv und melodisch, eine einmalige Spieltechnik, bei der die Saiten auf eine Weise gedehnt wurden, dass Sounds entstanden, die ihm kalte Schauer den Rücken runterjagten. Bei seinen ersten Auftritten mit Casey Jones und später den »Yardbirds« spielte Clapton auf sehr dünnen Saiten, weil er die Töne darauf besser ziehen konnte. Es passierte häufig, dass bei einer der wildesten Passagen der ausgedehnten Songs mindestens eine Saite riss. Während Eric neue Saiten aufzog, verfiel das Publikum oft in ein langsames Klatschen, das dem Lead-Gitarristen den Spitznamen »Slowhand« einbrachte.
Der Londoner Marquee-Club war zu Zeiten des kometenhaften Aufstiegs der »Beatles« Sammelpunkt der R&B-Szene. Dort sah Clapton erstmals John Mayall sowie den Keyboarder Graham Bond, der gemeinsam mit Bassist Jack Bruce und Schlagzeuger Ginger Baker auftrat. Mayall lud ihn ein, bei seinen »Bluesbreakers« zu spielen. Von Stund an war Clapton Profimusiker und lernte das harte Tourleben mit bisweilen zwei Auftritten pro Tag kennen.
Den künstlerischen Durchbruch erzielte er mit dem Bluesbreakers-Album »John Mayall with Eric Clapton«. Fans begannen, über ihn zu sprechen, als wäre er eine Art Genie. Irgendwann schrieb jemand den Slogan »Clapton is God« an der Wand der U-Bahn-Station Islington, der sich danach wie Graffiti in ganz London ausbreitete.
In seiner Autobiographie beschreibt sich Clapton als Menschen, der stets seinen eigenen Zugang zur Musik und in produktiver Unzufriedenheit neue Herausforderungen suchte. So kam es zur Gründung der in Europa und den USA enorm erfolgreichen Drei-Solisten-Band »Cream« mit dem Bassisten Jack Bruce und Schlagzeuger Ginger Baker, die bereits mit ihrem ersten Hit »I feel free« als »Supergroup« in die Musikgeschichte einging.
Spannungen untereinander führten zur Gründung von »Blind Faith«. Neben Clapton und Baker spielten Ex-»Traffic« Stevie Winwood, dessen Kreativität Clapton hoch schätzte, und Ric Grech von »Family« mit. Doch auch diesmal waren die musikalischen Vorstellungen der vier Bandmitglieder auf Dauer nicht auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Clapton spielte danach mit George Harrison und John Lennon von den »Beatles« und tourte, nachdem er nach New York gezogen war, mit Delaney & Bonnie. In den Vereinigten Staaten schaffte er es mit seinem Stück »After Midnight« erstmals in die US-Hitparaden.
Ausführlich beschreibt Clapton sein Verhältnis zu Drogen. Aufgrund seiner Angst vor Spritzen entwickelte er sich nicht zum Junkie, sondern er schnupfte Heroin. Dabei nahm er stets beste Qualitäten, die er sich aufgrund seines enormen Erfolges leisten konnte. Das ist vielleicht der Grund, warum er alle Exzesse überlebte, während andere Musiker um ihn herum zu Grunde gingen. Unter der Drogensucht, die mit extremem Alkoholismus einherging, er soff zwei Flaschen Schnaps pro Tag, litt seine Arbeit als Musiker, und auch sein Privatleben war alles andere als geordnet. Mehrere Aufenthalte in Entzugskliniken, Psychotherapie, gute Freunde und ein gelebter Gottglaube halfen ihm schließlich, clean zu werden.
Der schüchterne und sich gern in sein inneres Schneckenhaus zurückziehende Clapton hatte ein recht einseitiges Verhältnis zum anderen Geschlecht. Meist ließ es sich von Mädchen verführen, die ihm nach Konzerten oder bei anderen Events in die Hände fielen. Lediglich für Pattie, die Frau seines Freundes George Harrison, entwickelte er eine Obsession. Jahrelang umschwärmte er sie, bis sie sich endlich von dem berühmten Beatle trennte und zu ihm zog. Er widmete ihr Songs wie »Layla« und »After Midnight«, doch die Beziehung litt darunter, dass der Musiker auf seinen endlosen Tourneen immer wieder fremdging. Der Ehe, die sie schließlich schlossen, war deshalb keine lange Dauer beschieden.
Eric verliebte sich meist glücklos in andere Frauen, von denen eine ihm einen Sohn namens Connor schenkte. Dieser Junge stürzte jedoch im Alter von drei Jahren aus dem Fenster des Appartements der von Clapton getrennt lebenden Mutter im dreiundfünfzigsten Stock eines New Yorker Appartementhauses. Der Musiker war am Boden zerstört und nahe daran, wieder zur Flasche zu greifen. Schließlich ließ es sich von einem Mädchen, das ihn um ein gemeinsames Foto bei einer Veranstaltung bat, in den Bann schlagen. Sie schenkte ihm inzwischen vier Kinder, und er versucht sich seitdem als Familienvater.
Clapton schildert sein Leben in schlichten Worten. Sein von ständigen Ängsten geprägtes Verhalten wirkt auf den Leser bisweilen schwach, naiv und unreflektiert. Er ließ sich bei seinen Entscheidungen sehr leicht von Freunden, Wahrsagern oder Zufallsbekanntschaften beeinflussen und entschied sich meist spontan für den Erwerb eines Hauses, eines Schiffes, einer Insel, einer Kunstsammlung … Nur wenn es um Musik geht, wirkt er selbständig und nicht fremd gesteuert. Deshalb ist es besonders spannend zu erfahren, wie sein Leben sich in seinen Songs spiegelt, und er sich mittels Musik selbst findet.
Wer tiefer in das Wesen dieses Superstars einsteigen will, wird bei der Lektüre schnell feststellen, dass nicht jedes Genie auf einem Spezialgebiet auch ein intellektueller und charakterlicher Überflieger sein muss. Nahezu anachronistisch wirkt schließlich, wenn ein Musiker, der einen Großteil seines wilden und ausschweifenden Lebens auf Tour war und in Hotels lebte, im Fazit seiner Lebensbetrachtung gesteht, er fürchte inzwischen Hotels, weil es dort bisweilen ein wenig laut hergehe – eine seltsam anmutende Betrachtungsweise eines Mannes, der selbst lange zu den jungen Wilden gehörte.
Diskussion dieser Rezension im Blog der Literaturzeitschrift
Angriff auf Amerika
1940 in Europa: Die Deutsche Wehrmacht hat Polen überfallen und Europa mit Krieg überzogen. Die Nazis haben mit der systematischen Verfolgung und Ermordung der Juden begonnen und rüstet sich für den Überfall auf die Sowjetunion.
1940 in den USA: Präsident Franklin Delano Roosevelt kandidiert zum dritten Mal für die Präsidentschaft. Seine Regierung unterstützt Großbritannien im Kampf gegen die Nazis mit Rüstungsgütern und finanziellen Hilfen. Die Republikaner nominieren im Juni Charles A. Lindberg zum Präsidentschaftskandidaten. Lindbergh ist nicht nur ein international bekannter Flughelden, der als erster nonstop den Atlantik mit einem Flugzeug überquerte.
Lindberg ist auch Isolationist, tritt also gegen jegliche Einmischung der USA in den Krieg gegen die Nazis ein, er ist Antisemit und ein kaum verhohlener Bewunderer Hitlers.
Bei den Präsidentschaftswahlen geschieht das Unerwartete: Roosevelt verliert die Wahlen. Lindbergh ist der neue Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika.
Eine absurde Vorstellung? Was aber wäre geschehen, wenn die USA tatsächlich nicht in den Kampf gegen die Nazi-Horden eingetreten wäre? Wie sähen die USA aus, wenn sie sich von einem antisemitischen Präsidenten regiert worden wären?
Im 2006 erschienenen Roman von Philip Roth geschieht genau das. Rot lässt die Leserinnen und Leser diese USA durch die Augen eines jüdischen Kindes in Newark erleben. Das Kind erzählt uns von schleichenden Verwandlungen in seiner Umgebung, in der Schule und in der Familie. Er erlebt, wie die Erwachsenen in der jüdischen Gemeinschaft, in der er lebt, sich gegen die Niederlage von Präsident Roosevelt stemmen und sie doch nicht verhindern können. Er muss hilflos mit ansehen, wie sich die jüdische Gemeinschaft in seinem Stadtteil durch “Einbindung” in die “neue” amerikanische Gesellschaft spaltet. Sein eigener Bruder wird zu einem Fan des neuen Präsidenten Lindbergh. Ein Riss geht – nicht nur – durch seine Familie. Das ganze Land gerät an den Rand eines Bürgerkrieges.
In „Angriff auf Amerika“ lässt Roth das Bild einer liberalen Gesellschaft entstehen, die sich in rasender Geschwindigkeit in ihr Gegenteil verkehrt. Newark, die Stadt am Rande New Yorks, wird zu einer von Rassisten belagerten Stadt. Die USA, deren Entstehungsgeschichte erst durch Immigration und das Zusammenleben verschiedener Nationalitäten und Religionsgemeinschaften geprägt wurde, verwandelt sich in einen nationalistischen und rassistischen Staat.
Ein spannender Roman, ein politisches und psychologisches Lehrstück und ein Stück großer Literatur.
Der Tod der Königskinder
Katja Sommer, Mitte Deißig und von Beruf Kriminalkommissarin, hat sich entschieden nach Rügen zu ziehen, in eine alte Scheune, die sie Stück für Stück herrichtet, um dort in Zukunft mit ihrem Sohn Patrick zu leben. Noch ist ihr zwölfjähriger Sohn in Köln bei Freunden geblieben, um ihm nicht die Umbaumaßnahmen und einen zu frühen Umzug zuzumuten. Seine Mutter möchte es richtig machen, obwohl sie die Entscheidung bereits selbst gefällt hat, ihren ehemaligen Freund und Dienststellenleiter Hauptkommissar Kai Grothe zu verlassen. Und dies tat sie so konsequent, dass sie sogar auf ihrer alten Arbeitsstelle in Köln kündigte und hier auf diese Insel zog, die doch eigentlich nur für die alljährlich wiederkehrenden, Erholung suchenden Touristenströme interessant ist.
Doch auch hier leben und arbeiten Menschen. Katja Sommer möchte zu ihnen gehören und findet sich gut in das ihr bereits von einem vorherigen Fall vertraute Ermittlerteam (siehe auch: „Und es wurde Nacht“ von Birgit C. Wolgarten) ein. Da ist der smarte, stets auf seine Wirkung auf Frauen bedachte, Sven Widahn, der gründliche Rechtsmediziner Dr. Majonika, sowie Konrad Vohwinkel, der Leiter der Spurensicherung; mit beiden letzteren Herren hat Katja Sommer schon einen feuchtfröhlichen Kneipenabend verbracht. Mit Sven Widahn verbindet sie bereits mehr und es fällt ihr oft schwer, sich von ihm nicht bei den Ermittlungsarbeiten in ihrem jetzigen Fall, durch seine testosterongesteuerte Art durcheinander bringen zu lassen.
Ihr jetziger Fall sind zwei junge Menschen, die recht offensichtlich einem ganz besonderen Täter unterlegen waren…
Während das Ermittlerteam sich auf die Suche nach dem Täter macht und scheinbar nur mühsam vorankommt, wird der Leser – vom ersten Wort an – mit dem Erleben und den Schilderungen des Täters konfrontiert. Die Autorin geht dabei sehr geschickt vor und lässt den (un)geübten Krimileser immer wieder in die Irre tappen. Die verdächtigen Personen aus dem Umfeld des jungen Liebespaares werden differenziert gezeichnet und man spürt als Leser schnell, das sind keine künstlichen Wesen, sondern Menschen aus Fleisch und Blut mit ihrem bereits gelebten Leben, ihren Hoffnungen, ihren Enttäuschungen, mit ihren erfahrenen Verlusten, mit ihrem immer wieder aufflackernden Bedürfnis nach Anerkennung und Liebe…
Letztendlich kann das Ermittlerteam um Katja Sommer den Fall der zwei Königskinder, die einander so lieb hatten, abschließen. Doch zurück bleibt der schale Geschmack von einem Täter, der sich in das Leben seiner Opfer einschlich und daraus höchste Befriedigung zog…
Für Katja Sommer ist der Umzug nach Rügen noch lange nicht abgeschlossen: ihr Sohn möchte lieber in Köln bleiben, Kai Grothe startet eine reumütige Versöhnungsaktion und Sven Widahn ließ bei einem Besuch in ihrer Scheune eine rote Rose zurück…
Das lässt den Leser hoffen, Katja Sommer bald wieder bei ihren durchweg spannenden Ermittlungen zu begleiten.
Die Flügel der Sphinx
Nach der Lektüre jedes neu erschienenen Romans von Andrea Camilleri muss man sich in Erinnerung rufen, dass der Autor 1925 geboren wurde. Camilleri war also, als dieser elfte Fall mit Commissario Montalbano in deutscher Sprache erschien, stolze 84 Jahre alt – oder jung. Folgt man nämlich seinem Protagonisten durch die turbulenten 270 Seiten dieses Romans, dann bleibt dem Leser gar keine Zeit, um sich Gedanken über welche Frage auch immer im Zusammenhang mit dem Lebensalter zu machen.
Hat man die einleitenden Seiten gelesen, taucht auch schon – hopplahopp – eine schöne junge Frau auf, allerdings mausetot und auf einer Müllkippe liegend. Im Verlaufe der Geschichte stellt sich heraus, dass es sich um eine Russin handelt. Sie wurde, ebenso wie tausende andere junge Russinnen, von einer Schleuserorganisation nach Italien gebracht. Ein sich sehr katholisch gebender Wohltätigkeitsverein holte sie dann aus dem Milieu und brachte sie in die sizilianische Provinz. Was sie dann dort erlebte lässt sich allerdings nicht als eine Verbesserung ihrer Situation umschreiben. Und das nicht nur, weil sie letztendlich dem Leser als Leiche bekannt gemacht wird.
Montalbano kämpft sich also wieder durch ein verfilztes System. Darin spielt mit die Staatsmacht in Gestalt verschiedener Institutionen und natürlich jene sizilianische Organisation, die weltweit bekannt ist und deren Namen in den Romanen von Camilleri so selten fällt, dass es gerade offensichtlich ist, um wen es sich handelt. Ob nun Mafia oder nicht – am Ende erhalten einige der Beteiligten das, was sie verdient haben. Andere kommen ungeschoren davon. Camilleri allerdings gehört nicht dazu. Er kämpft nämlich auch in diesem Roman nicht nur gegen die Unterwelt und die Dummheit einiger Mitarbeiter, sondern auch gegen seine eigene Sturheit. Mit der hat er sich bei seiner langjährigen Lebensgefährtin Livia unmöglich gemacht und muss nun versuchen, aus dieser Situation wieder heraus- und in seine Beziehung wieder hineinzukommen. Molto complicato! Aber auch: Sehr amüsant.
Andrea Camilleri mag zwar sehr alt sein. Seiner Produktivität tut dies aber offensichtlich keinen Abbruch. Den zahlreichen Fans sei versichert: Derzeit liegen noch mindestens vier Romane mit Montalbano im Original vor, die auf eine Übersetzung ins Deutsche warten.
Man Down
Kai Samweber, 25, Dachdecker im Dienst eine Leiharbeitsfirma, stürzt vom Dach und kommt darauf mit seinem Leben nicht mehr klar. Er haust in einem herunter gekommenen Loch, nährt sich von Hartz IV und ergibt sich dem Suff und den Drogen, die er von seinem türkischen Kumpel Shane bezieht. Dessen Brüder haben Kai Geld geliehen und fordern es nun zurück. Da der Arbeitsverleiher Lohn und Entschädigung zurück hält, wird der junge Mann zum Drogenkurier, um seine Schulden abzutragen.
Während seiner Kurierfahrten trifft Kai auf Marion, in die er sich verliebt. Das Mädchen wird für ihn zum Weg in die Freiheit. Bald stellt sich heraus, dass sie sich prostituiert, weil ihr Bruder ebenfalls Schulden bei den Dealern hat. Ein Selbstmordversuch bietet keinen Ausweg.
Kai hasst die Schwachen, er versucht alles, um nicht zu den Verlierern zu gehören Er verachtet vor allem seinen unter geheimnisvollen Umständen verunglückten Bruder Florian, weil er sich demütigen ließ und deshalb aus seine Sicht zu den Schwachen zählte. Gleichzeitig schreibt er dem Verstorbenen heimlich Briefe. Als er nach zehn Jahren erstmals gemeinsam mit seinem Dealerfreund Shane seine Stiefmutter besucht, hofft er, Antworten zu finden. Derweil beobachtet ihn die Polizei bereits, und bei seiner letzten Kurierfahrt greift sie zu …
Der Roman von André Pilz schildert in rasantem Tempo und harter Sprache Schicksale miteinander im Drogenmilieu verfilzter Underdogs, die nach der Maxime fressen oder gefressen werden leben. Für sie geht es nur nach oben oder nach unten, ein Dazwischen gibt es nicht mehr. Dabei schaut jeder selbst, wo er bleibt, und letztlich landen sie alle doch ganz tief unten. Freundschaft wird zur Farce; gegenseitiger Betrug gehört zur Tagesordnung. Ein jeder stirbt für sich allein. Es bleibt kaum Hoffnung, wenn »man down« ist.
Der Koch
Martin Suter hat ja bereits einige Lorbeeren eingeheimst, nun ist der neue Suter ist da, viele Fans warten bereits aufs neue Buch. Vielleicht wird es ihnen so gehen wie mir: „Kochen ist Krieg“ (gemeint ist der Kampf des kochenden Personals untereinander, gegeneinander, miteinander – für den Gast).In diesem Buch ist das so nicht gemeint. Es wird sich dem geneigten Leser erst spät erschließen.
Der tamilische Asylant Maravan ist Aushilfe in einem Züricher Nobelrestaurant. Er arbeitet tief unter seinem Niveau. Die einst von seiner Großtante erlernten Fähigkeiten hatten ihn in Sri Lanka zu einem Meister seines Fachs gemacht. Maravan beherrscht die Kochkunst mit all ihren Raffinessen – und auch die Geheimnisse der aphrodisischen Küche. Doch er braucht das Geld, das er hier verdient, um seine Familie in Sri Lanka zu unterstützen, denn dort herrscht Krieg. Wie weit ist doch Sri Lanka? Man glaubt es kaum, daß dort ebenfalls Krieg herrscht und Tausende dort sterben. Martin Suter hat sein neues Buch ganz dicht an unsere Gegenwart gelehnt: 2008 und 2009.
Maravan möchte eines Tages eine neue Rezeptur ausprobieren und benötigt dafür einen Rotations-Entdampfer, den er sich aus der Küche ausleiht, um ihn am nächsten Tag gleich zurückzugeben. Leider wird er erwischt und fliegt sofort raus.
Die materielle Hilfe für seine Familie muß er nun auf ein Minimum beschränken. Bis Andrea, die Servicekraft aus dem Nobelrestaurant, auftaucht und ihm einen Geschäftsvorschlag unterbreitet: Catering für Lovefood. Maravan hatte für sie bereits ein erotisches Menue mit Erfolg gekocht. Eine befreundete Paartherapeutin hilft ihnen bei der ersten Kundenbeschaffung, indem sie Maravans Fähigkeiten nutzt, um Paare wieder zusammenzuführen. Als das Geschäft ganz gut floriert, glaubt Andrea, ohne die Paartherapeutin auszukommen, die das aber spitzkriegt und keine Paare mehr schickt. Daher fangen sie an, „unmoralisch“ zu kochen.
Ab und an tauchen wie aus dem Nichts Maravans Gedanken an die Heimat und an seine Familie auf. Nebenbei erfährt der geneigte Leser, daß sich dessen jüngerer Bruder bei der Freiheitsbewegung beworben hat. Die Angst Maravans kann man kaum spüren, gedankenverloren kocht er für das nächste Arrangement ein erotisches Menue. Ein obskurer Manager ist aufgetaucht, der auch als Manager des Jahres 2008 ausgezeichnet wurde. Maravan erfährt, daß dieser mit den beiden tamilischen Seiten, der staatlichen und der freiheitsbewegten, gleichzeitig Waffengeschäfte tätigt. Maravan beschließt Rache, denn er hat im Internet das Bild seines kleinen Bruders entdeckt, der von den Kriegern ermordet ist. Und selbiger Manager stirbt an Herzversagen. Leider wird der Leser nun mit dieser Tatsache alleingelassen. Man erfährt im Abspann stattdessen, daß Martin Suter die dort veröffentlichten Rezepturen von einem ihm bekannten Koch hat nachkochen und so verändern lassen, daß sie mit wenig technischem Aufwand von Interessierten nachzuempfinden sind. Da aber doch einige Rezepte auf der neuen molekularen Küche basieren und mit flüssigem Stickstoff zuzubereiten sind, entfällt das für mich als Laien, da ich zu Hause nur eine Pfanne und drei Kochtöpfe mein eigen nenne.
Martin Suter, der uns das wunderbare Buch „Small world“ schenkte und mit „Lila Lila“ sogar ein verfilmtes Stück Literatur in die Kinos bekommen konnte, hat hier ein unspektakuläres Buch, einen leicht dahinfließenden Text, veröffentlicht, aus dem zwei Sachen herausragen:
Wenn Maravan erklärt, Kochen ist, Aggregatzustände eßbar zu machen, und für mich am wichtigsten – die Erkenntnis, daß der Befreiungskampf in Sri Lanka auch direkt vor unserer Haustür stattfindet, denn die Waffenlobbyisten treiben auch in unseren Breiten ihr Unwesen.
Leider ist der Text so lau, als ob Marvan, der Koch aus Sri Lanka, für seine delikaten Gerichte keine vorgewärmten Teller benutzen würde.
Kälteschlaf
Von der finanziellen und sozialen Katastrophe, in die die Finanzmarktkrise Island gestützt hat, berichtet der isländische Schriftsteller Arnaldur Indridason in seinem nunmehr achten Kriminalroman rund um den Kommissar Erlendur nicht. „Kälteschlaf“ wurde schon im Jahre 2007 veröffentlicht, kam aber erst Ende des vergangenen Jahres in deutscher Übersetzung in die Buchhandlungen. Aber auch ohne die reale Katastrophe ist Island kein idyllisches Eiland. Und zwar hat die Mordkommission der isländischen Hauptstadt Reykjavik gerade nicht so viel zu tun, beschaulich geht es trotzdem nicht zu.
„Cold cases“, so nennt man im Amerikanischen ungelöste Kriminalfälle. Die Akten solcher kalten Spuren wieder hervorzuholen ist Zeiten vorbehalten, in denen den Ermittlern sonst kaum etwas zu tun bleibt. Die isländischen Kriminalen tun das in diesem Krimi und stoßen auf zwei alte Fälle. Zwei Jugendliche verschwanden vor vielen Jahren und ein Selbstmord wirf Fragen auf. Vor allem der angebliche Selbstmord der Historikerin Maria X. treibt Kommissar Erlendur um.
Bei seinen Ermittlungen stößt der leicht skurrile Kommissar nicht nur auf Ungereimtheiten in den Akten, sondern auf alte Geschichten aus der eigenen Vergangenheit und auch das Verschwinden der Jugendlichen spielt auf einmal eine Rolle.
Isländern sagt man nach, sie glaubten tatsächlich an Trolle, Feen und andere überirdische Wesen. In diesem Kriminalroman fehlt denn auch das Übersinnliche nicht. Aber keine Sorge: Weit entfernt davon ins „Fantasy-Genre“ abzurutschen, ist der nunmehr achte Roman in dieser Reihe spannend erzählt. Es handelt sich um eine hinreichend schrullige Geschichte und die Lektüre macht, wie schon in den ersten sieben Fällen mit Kommissar Erlendur, einfach viel Spaß.
Herr Mozart wacht auf
Kaum hat ihn der kalte Bruder Tod zu sich geholt, wacht Herr Mozart wieder auf – in einer chaotischen WG am Rande von Wien. Nichts ist mehr so wie vorher, nur der alte Stephansdom steht noch an der alten Stelle, sonst ist alles fremd. Menschen, Straßen und Gepflogenheiten. Wie soll er hier zurechtkommen? Der polnische Straßenmusiker Piotr bietet dem verwirrten Compositeur für gelegentliche Klavierbegleitung Kost und Logis, registriert aber schon bald, daß dieser Pianist ein genialer Musiker ist. Ansonsten jedoch stellt er sich ziemlich tollpatschig an, weiß weder mit Technik noch mit der U-Bahn umzugehen.
Als Mozart merkt, daß er quasi 200 Jahre übersprungen hat und niemand ihm diese Zeitreise glaubt, nennt er sich kurzerhand Wolfgang Mustermann und studiert beharrlich die neue Welt. Vor allem die Musik aus dem Mechanikum hat es ihm angetan. Begierig nimmt er alle Töne in sich auf, staunt über neue Strömungen ebenso wie über Altbewährtes und freut sich, daß die meisten seiner Widersacher und Rivalen vergessen scheinen. Den Nachfolgern lauscht er sehr aufmerksam: Apart findet er den lyrisch-milden Franz Schubert, recht ichsüchtig den schroffen Beethoven, der sich einen blauen Teufel um sein Publikum zu scheren scheint, oder ein wenig langatmig den ansonsten harmonischen Chopin.
Den eigentlichen Zweck seiner Wiedergeburt aber sieht der Zeitreisende in der Vollendung seines Requiems, dessen „stümperhafte“ Fortschreibung durch einen seiner Schüler er für unerträglich hält. Immer wieder ringt er sich weitere Teile des Schicksalswerkes ab. Was er sonst schreibt, stößt auf unterschiedliches Interesse: Ein Musikverleger ist perplex, empfiehlt ihm aber, sich „von Mozart freizumachen“, die Besucher eines Jazzclubs hingegen bejubeln unvoreingenommen Mustermanns geniale Improvisationskraft. Endlich entdeckt ihn ein erfahrener und wohlgesonnener Musikinstrumentenhändler und führt ihn anläßlich eines Benefizkonzerts in die gehobene Wiener Gesellschaft ein.
Doch Mustermann hat indessen Wichtigeres zu regeln: Ihm ist die Liebe begegnet, die ihn gleichermaßen beglückt und schmerzt. Mit Anju verbindet ihn vom ersten Augenblick an die innigste Seelenverwandtschaft, doch als er ihr seine wahre Herkunft offenbart, hält sie ihn für geisteskrank. Verzweifelt irrt er durch die Stadt, verursacht einen Verkehrsunfall und kommt ins „Tollhaus“. Seiner Mission aber bleibt er treu.
Unser modernes Leben mit den Augen einer anderen Zeit zu betrachten, ist an sich schon vergnüglich und kurzweilig, denn „Fuhrwerke ohne Pferde, Öfen ohne Feuer, Musik ohne Instrumente, Kaffee ohne Herdstelle“ sind nur für uns so selbstverständlich. Tiefe und Emphase aber erreicht Eva Baronsky vor allem durch die einfühlsame Darstellung der Musik als Medium zwischen allen Zeiten und Kulturen. Auf wundersame Weise findet ihr Mozart dank seines außergewöhnlichen Musikverständnisses einen erstaunlichen Anschluß an die Neuzeit, auch wenn ihn sein Temperament und seine überschäumende Phantasie des öfteren in Konflikt mit den Notwendigkeiten des Alltags geraten lassen.
Das unterhaltsame Debüt mit Hintersinn aus dem Berliner Aufbau Verlag macht gespannt auf weitere Werke aus der Feder von Eva Baronsky!
Ein Buch namens Zimbo
Deutschlands Satiremagazine haben einen schweren Stand. Die Hochzeiten von »Pardon« sind lange vorüber, 1982 wurde die damals größte Satirezeitschrift Europas eingestellt, ein Neubeginn missglückte. Seitdem liegt die einstmals in einer Auflage von wöchentlich 500.000 Exemplaren verkaufte DDR-Wochenzeitschrift »Eulenspiegel« als gesamtdeutsches Monatsmagazin auf Platz Eins der Publikumsgunst.
Die als Antwort auf »Pardon« 1979 gegründete »Titanic« ist indes lange nicht mehr das, was sie dem Lesepublikum lange Jahre war. Mein Abonnement hatte ich zuletzt nur noch aufrechterhalten, um die regelmäßigen Beiträge von Max Goldt zu lesen, alles andere fand ich, von der »Humorkritik« abgesehen, fad. Da seine Texte jedoch recht schnell auch zwischen Buchdeckeln erscheinen, habe ich das Blatt inzwischen abbestellt. Denn es schenkt einfach mehr Genuss, Goldt gesammelt zu lesen, zumal er sich auch dagegen wehrt, »Satiriker« genannt zu werden und schon aus diesem Grunde eigentlich nicht in der »Titanic« publizieren dürfte. Nun liegt jedenfalls mit »Ein Buch namens Zimbo« eine weitere Kompilation seiner stets humorvollen »Titanic«-Beiträge vor.
Goldt erweist sich darin wieder als genauer Beobachter des Alltags. Ohne sich die Nase an jeder Schaufensterscheibe platt zu drücken, erfährt er, was das Leben feilbietet. »Wer seine Sinne pflegt und sie nicht mit zuviel Drogen, zuviel Lärm oder zuviel Lektüre malträtiert,« so sein Credo, »dem zeigt sich das Leben von ganz allein«. Spricht´s, steigt in die U-Bahn und schreibt auf, was er dort zwischen kommunistischen Pärchen und bettelnden Zeitungsverkäufern alles erlebt.
Stärker als bisher dominiert die Sprachkritik in Goldts Kolumnen. Er setzt sich mit »sprachlichem Ungeziefer« auseinander und unterhält dabei glänzend. In Anlehnung an Thomas Mann kämpft er gegen die überschäumende Verwendung des Paradoxons in der deutschen Sprache. Er sucht nach den passenden Adjektiven, die zum Begriff des Snobismus passen und helfen, ihn aufzuwerten. Für Bezeichnungen wie »junge Männer mit Migrationshintergrund«, die von Sittenwächtern im sozialharmonischen Eifer als «Denunziation« einer Bevölkerungsgruppe angesehen wird, sucht er Ersatzformulierungen und kommt letztlich auf »Geschöpfe«.
Warum das Buch den Titel »Zimbo« trägt, erfährt der geneigte Leser indes nicht. Wer bei dem Begriff den größten deutschen Wurstwarenkonzern assoziiert, hofft vielleicht, in Goldts Text »Gastronomisches 2« des Rätsels Lösung zu finden. Dort erfährt er jedoch eher etwas über die unbequeme Möblierung von Restaurants und wird in das Lieblingsrestaurant des Dichters entführt: einen Chinesen, der sich seit Jahren nicht verändert hat und »das Klischee von der stehen gebliebenen Zeit gnadenlos beherzt« auslebt. Jeden Montag wird dort ein mit vier Chili-Schoten gekennzeichnetes Mapo-Tofu-Gericht serviert, das einige Übung erfordert. Über eine dampfende Schüssel dieser brennend scharfen Speise gebeugt, fragte ihn Daniel Kehlmann, ob er etwas dagegen hätte, den Kleist-Preis für seine literarische Leistung in Empfang zu nehmen. »Passt schon«, sagte Goldt darauf und veröffentlicht seine Kleistpreis-Rede als Zugabe.
Diskussion dieser Rezension im Blog der Literaturzeitschrift
Houwelandt
Jorge Houvelandt braucht das Meer. Hier fühlt er sich seinem Gott nahe, hier flieht er den Schmerz, der ihn innerlich zerfrisst. Täglich schwimmt der Daueremigrant an der spanischen Costa Blanca zu einer unwegsamen Insel, um allein zu sein, und hier fasst er seinen Entschluss, sich einer Feier zu seinem 80. Geburtstag zu entziehen.
Der alte Mann und das Meer sind das bestimmende Thema in John von Düffels Novelle »Houwelandt«, die das Scheitern, Zerbrechen und erneute Zusammenwachsen einer Familie skizziert. Das Meer dient ihm dabei als romantische Metapher – Sinnbild für Sehnsucht und Aufbruch, für Abschied und Heimweh eines zerbrochenen Familienclans.
Jorges Sohn Thomas, 57, verwaltet dessen Besitz in Deutschland. Er hat in seinem Leben viel angefangen und wenig zu Ende gebracht. Entsprechend herunter gekommen ist das Anwesen derer von Houwelandts. Seine Mutter Esther, Jorges Frau, hat heimlich Geld gespart, um notwendige Renovierungsarbeiten zu bezahlen. Dafür will sie den Sohn zwingen, eine Rede zum 80. Geburtstag des Patriarchen zu schreiben.
Esther möchte nämlich ein dem Anlass gebührendes Fest veranstalten: kulinarisch anspruchsvoll, aber nicht extravagant, großzügig, aber ohne übertriebene Opulenz. Als ihre Sachwalterin vor Ort betrachtet sie Thomas Ex-Frau Beate, bei der sie sich einige Tage vor der Veranstaltung einquartiert.
Thomas nutzt die Ausarbeitung der Rede zu einer Generalabrechnung mit seinem Vater, einem unnahbaren Hagestolz, der seinen Sohn schikanierte. Mit der Aufarbeitung erlittener Grausamkeiten will er seinem eigenen Spross Christian, „Erstgeborener des Erstgeborenen“, die Augen öffnen. In seiner Aufarbeitung zerrt er tief sitzende Kränkungen und Verletzungen ans Licht. Dabei kämpft er um die eigene Wahrheit wie um Recht und Unrecht in der Vergangenheit.
Über die Vorbereitungen der Geburtstagsfeier wächst die aus lauter Fremden bestehende Familie wieder ein wenig zusammen. Derweil zieht Patriarch Jorge im weit entfernten Mittelmeer unverdrossen seine Bahnen und begegnet dabei einem Jungen, in dem er sich in seiner Härte, seinem Misstrauen und seiner Unfähigkeit, zu lieben, wieder findet. Die einzige Frage, die sich der Leser stellt, lautet nur noch: wird die Geburtstagsfeier tatsächlich stattfinden?
„Houwelandt“ liest sich spannend und schnell. Das Tempo der Erzählung wird durch den Wechsel der Erzählperspektive bestimmt, die jeweils das entsprechende Familienmitglied einnimmt. Was jedoch wie eine Familiensaga beginnt, ertrinkt bald im Klischee. Der bittere Alte, der missratene Sohn, die ungeliebte Frau, das alles sind Ansätze, aus denen sich wesentlich mehr entwickeln ließe.
John von Düffel beobachtet zwar ausgezeichnet und versteht es auch, die drei Generationen in ihrer jeweiligen Denkungsart deutlich zu machen. Er verzichtet jedoch auf den großen Bogen, mit dem er sein Thema zu einer wirklichen Familiensaga hätte machen können.
Deutsches Jahrbuch für Autoren 2010/2011
Laut Impressum erscheint das „Jahrbuch für Autoren/Autorinnen“ zwar erst im November 2010, tatsächlich liegt es aber bereits ein Jahr früher vor, und das ist gut so.
Auf 800 Seiten haben die Herausgeber Gerhild Tieger und Manfred Plinke rund 3000 Adressen und Informationen für angehende Autoren gesammelt, die Hilfestellungen bei der Kontaktaufnahme mit Verlagen und der Verwirklichung des von vielen gehegten Wunsches, gedruckt zu werden, geben wollen.
Herausragend an dem Jahrbuch ist, dass nicht ausschließlich Adressen gesammelt wurden. Vielmehr sind die insgesamt zehn Kapitel des Kompendiums angereichert durch kurze Artikel und Betrachtungen. So beschreibt beispielsweise Thomas Hürlimann, wie er in einer Klosterschule im wahrsten Wortsinn zum Schriftsteller „geschlagen“ wurde. Louise Doughty, die Kurse für kreatives Schreiben gibt, erinnert sich daran, wie es war, eine Schriftstellerin zu sein, die noch nichts veröffentlicht hat: Man beißt sich mehr schlecht als recht durch und kommt mit Leuten in Kontakt, die ausgesprochen abweisend sein können. Dies gilt wohl auch für etablierte Autoren, die gern vergessen, dass es einmal eine Zeit gab, in der noch nichts von ihnen erschienen war, und nun pauschal alle die „Möchtegernschriftsteller“ verachten, die nach ihnen versuchen, sich gleichfalls zu etablieren.
Vor diesem Hintergrund macht das „Jahrbuch“ Mut zur Kontaktaufnahme mit potentiellen Abnehmern und zum Manuskriptversand. Dazu bietet es eine enorme Fundgrube, indem es in den Bereichen Theater, Hörmedien, Film und TV, Autorenförderung und Buchmarkt wichtige Adressen sammelt. Eine Besonderheit dabei ist, diese Adressen mit Auskünften zu ergänzen, aus denen hervorgeht, ob und in welcher Form Manuskriptangebote erwünscht sind.
Diese Zusatzinformation ist von besonderer Bedeutung bei der Verlagsuche, entsprechend nehmen die Adressen der Buchverlage in Deutschland, Österreich und der Schweiz auch den größten Teil des 800 Seiten starken Branchenhandbuches in Beschlag. Ergänzend gibt es Tipps zur Manuskriptgestaltung, Empfehlungen für effektive Begleitbriefe, Muster-Exposés für Romane, Verhaltensregeln für den Umgang mit Literaturagenten und Hinweise auf die häufigsten Irrtümer beim Verlagsvertrag.
Vollkommen ausgespart hingegen werden in dem Kompendium die faszinierenden Möglichkeiten des Internets. Gerade das Web 2.0 bietet Autoren vielfältigste Chancen, ohne Einsatz von Geldmitteln zu einer eigenen Veröffentlichung zu kommen und damit sowohl das Betteln bei „renommierten“ Verlagen wie das Bezahlen von Dienstleistungsunternehmen aller Couleur einzusparen. Darin liegt das qualitativ Neue an der Situation der letzten Jahre, die das Verhältnis von Autor und Verleger nicht nur kräftig aufmischt sondern in einem nie zuvor da gewesenen Maße verändert und streckenweise umkrempelt.
Gibt es also einen Kritikpunkt an der vorliegenden Ausgabe des Autoren-Jahrbuches, dann ist es dessen konservative Beschränkung auf die Welt des bedruckten Papiers und das Ignorieren der technischen und gesellschaftlichen Entwicklungen. Wer indes im „klassischen“ Buchmarkt sein Heil sucht, der wird mit dem Handbuch optimal bedient.
Diskussion dieser Rezension im Blog der Literaturzeitschrift
Die Arena
Ort: Chester’s Mill, ein kleines Kaff in Maine, nahe der weltberühmten Stadt Castle Rock.
Zeit: Ein wunderbarer Oktobervormittag in der nicht so fernen Zukunft.
Der gewohnte Gang des Lebens wird jäh unterbrochen, als sich eine unsichtbare riesige Kuppel über den Ort senkt und ihn somit komplett von der Außenwelt abschneidet. An der unüberwindbaren Barriere zerschellen Flugzeuge sowie Autos und Menschen, die sich ihr nähern, kommen durch explodierende I-Pods oder Herzschrittmacher zu Schaden. Nachdem der erste Schock überwunden ist, zeigen sich sehr schnell die Machtverhältnisse in der Kleinstadt: Das Sagen und alles im Griff hat der Stadtverordnete Big Jim Rennie, ein bibelfester Gebrauchtwagenhändler, der zusammen mit korrupten Kollegen eine profitable Drogenfabrik betreibt und die Krise sofort auch als Chance begreift.
Der „Dome“ über Chester’s Mill erweckt natürlich umgehend das Interesse der Sicherheitsbehörden und Militärs, die jedoch samt und sonders mit ihren teuren Spielzeugen bei den Versuchen scheitern, das Ding zu knacken. So setzen sie ihre Hoffnungen auf einen Mann, der zufällig unter den Eingeschlossenen weilt: Dale Barbara (Barbie), ein Irak-Veteran, der sich jetzt als Aushilfskoch verdingt wird flugs reaktiviert und vom Präsidenten (eindeutig Obama, auch wenn er nicht namentlich genannt ist) persönlich mit umfangreichen Vollmachten ausgestattet, denn die Mächtigen vermuten, dass die Quelle für das Kraftfeld sich in der Stadt selbst befindet.
Während unter den Isolierten munter spekuliert wird, ob man es mit einem Werk Gottes, einem Angriff von Außerirdischen, Terroristen oder der eigenen Regierung zu tun hat, schart Big Jim – der nicht im Traum daran denkt, die Weisungen des Präsidenten zu befolgen – seine Truppen um sich. Jugendliche Straftäter werden als Hilfspolizisten angeheuert und unter dem Schutz der Uniform mutieren sie dann als moderne Hitler-Jugend folgerichtig zu sadistischen Mördern und Vergewaltigern. Mit der unnötigen Schließung von Supermärkten provoziert man gekonnt Aufruhr und Plünderung, um sodann den Notstand auszurufen und die kleine Diktatur perfekt zu machen. Aber auch Barbie hat Verbündete, und die braucht er dringend, denn es drängt die Zeit und nicht nur Nahrung und Energie gehen zur Neige, sondern es verändern sich auch die Lebensbedingungen innerhalb der Kuppel, wo Luftverschmutzung die Sterne rosa färbt und Sonnenuntergänge zu bizarren Spektakeln macht…
Stephen King ist ein Phänomen, nicht nur weil er der erfolgreichste Schriftsteller der Welt ist, nein, er versteht es auch immer wieder, seine zahllosen Anhänger mit neuen Plots zu begeistern, ohne dabei auf bewährte Standardthemen zu verzichten. Mit „Under the Dome“ (ich bevorzuge den Originaltitel statt der erneut selten dämlichen deutschen Variante; von einer Arena gibt es weit und breit keine Spur) ist ihm jetzt ein 1.100 Seiten starkes Epos gelungen, das den Vergleich mit seinen allergrößten Hits nicht zu scheuen braucht. Das Szenario Amok laufender Kleinstadtbürger erinnert an „Needful Things“ und die quasi-apokalyptische Eskalation des Kampfes Gut gegen Böse natürlich an „The Stand“ (man beachte zum Beispiel die Parallelen zwischen Phil Bushey und dem Mülleimermann).
Der Autor macht in eindringlicher und beklemmender Weise deutlich, wie schnell sich in einer abgeschotteten Gesellschaft in Extremsituationen autoritäre und faschistische Machtstrukturen entwickeln können, hier noch befeuert durch die abstruse Ideologie christlicher Fundamentalisten, die King in vielen seiner Werke an den Pranger stellt und genüsslich geißelt. Dennoch hält er auch Trost für den Leser parat; die Provinzdiktatur produziert konsequent ihre eigene Revolution.
King versteht wie kein Zweiter die Kunst, den Leser durch eine packende und stringente Handlung zu fesseln; auch bei mehr als tausend Seiten kommt nie Langeweile auf, nicht zuletzt deshalb, weil sich die Länge der einzelnen Kapitel doch recht übersichtlich darstellt (hier sei das gestattet, da man es mit einer Vielzahl von Protagonisten zu tun hat). Er ist ein Meister der Sprache, die er perfekt beherrscht und mit der er souverän spielt; immer wieder findet der Leser faszinierende Perlen in ganzen Sätzen oder einzelnen Wendungen. Durchaus innovativ ist die Grundidee des Buches mit der unsichtbaren Kuppel und auch die Umsetzung und Auflösung am Ende sind rundum gelungen. Fazit: Kein page-turner, sondern ein page-burner!
Hellraiser
Geboren wird Peter »Ginger« Baker am 18.08.1939 in London. Er wächst in ärmlichen Verhältnissen auf und muss früh lernen, seine Fäuste zu nutzen. Der Vater fällt im Krieg, doch er hat Glück mit einem Stiefvater. Bereits im Unterricht fällt der Junge, der gelegentlich schon mal eine Jazz-Schallplatte stibitzt, durch rhythmisches Trommeln auf der Tischplatte auf. Seine Mitschüler glauben, er könne Schlagzeug spielen, und auf einer Fete wird er plötzlich gebeten, eine Probe seines Könnens zu geben. Baker nimmt erstmals hinter einer richtigen Schießbude Platz, legt augenblicklich los und hat augenblicklich seine Bestimmung entdeckt: er will Schlagzeuger werden.
Doch wie wird man Schlagzeuger? Baker bastelt sich aus einem Spielzeugschlagzeug und Blechdosen ein Drum-Kit, übt darauf und meldet sich auf eine Suchanzeige im »Melody Maker« zum Vorspielen. Den Musikern erklärt er, sein »richtiges« Schlagzeug sei defekt, darum spiele er mit Behelfsgerät. Frechheit siegt! Der gerade 18jährige Baker wird Drummer von »The Storyville Jazzmen« und begründet damit seine Karriere als Profimusiker.
Kurz darauf lernt er Phil Seamen kennen, der bereits eine Legende des britischen Jazz ist. Seamen bringt ihm aber nicht nur das Schlagzeugspielen näher, er zeigt ihm auch Heroin. Es dauert nicht lange, und Baker zieht alles durch Mund und Nase, was er erwischen kann. Kurz darauf setzt er seinen ersten Schuss. So startet er nicht nur eine Karriere als Drummer sondern auch als Junkie. In Kürze lernt er alle Musiker kennen, die in jener Zeit den Ton angeben. Er spielt mit dem Saxophonisten Dick Heckstall-Smith und Bassmann Jack Bruce als Mitglied der von Alexis Corner geführten »Blues Incorporated«. Mick Jagger, den Baker als unfähig verachtet, darf gelegentlich singen, Graham Bond stößt zu ihnen und vollführt musikalische Kunststücke auf seiner Hammond-Orgel. Bald entsteht aus dieser Formation die legendäre »Graham Bond Organisation«.
Viele Musiker lehnen Baker trotz seiner allseits anerkannten Fähigkeiten ab, weil er ein bekannter Junkie ist. Sister Morphine sitzt mit ihm am Schlagzeug, und das Übermaß an Drogen, das Ginger konsumiert, lassen ihn ausfällig und unberechenbar gegenüber Freunden und Bandkollegen werden.
Ginger Bakers rasant rauschende Drogenbiographie
»Hellraiser« liest sich streckenweise wie eine grandios rauschende Drogenbiographie. Baker versucht zwar immer wieder, von den harten Drogen loszukommen, akribisch erzählt er in seiner Autobiographie von insgesamt 29 Entziehungsversuchen mit Methadon im Laufe von 21 Jahren, doch die Sucht ist stärker. Zu Alkohol, Amphetaminen, Heroin und Morphium kommt bald LSD hinzu, jeder nur denkbare Drogencocktail wird gemixt, und die Konsequenzen bleiben nicht aus: im Vollrausch verliebt Baker sich immer wieder, er kommt fast in einem Schneesturm um, bei Rangeleien mit anderen Musikern wird er wiederholt verletzt und verliert sämtliche Zähne, teure Autos werden zu Bruch gefahren, Freunde kommen durch Überdosen um.
Baker beschreibt auch die Wesensänderungen, die Bandkollegen durchmachen. Jack Bruce muss wegen unberechenbarer Wutausbrüche aus der Band ausgeschlossen werden, und Graham Bond entwickelt sich von einem eitlen Paradiesvogel, der mit Händen und Füßen mehrere Instrumente gleichzeitig spielen kann, zu einem im Räucherstäbchennebel meditierenden Spiritisten, bevor er schließlich unter den Rädern einer Londoner U-Bahn endet.
Baker lernt Eric Clapton kennen und plant mit ihm die Gründung einer eigenen Band. Trotz Gingers Bedenken einigen sich die beiden auf Jack Bruce als Bassisten, und damit sind »The Cream« geboren. Die Band geht in kurzer Zeit ab »like a fucking rocket«. Das Flower-Power-Publikum gerät aus dem Häuschen, wenn die drei Musiker nur die Bühne betreten. Gagen steigen, Säle werden immer größer, und Clapton und Bruce bauen gigantische Boxentürme auf, um mit immer mehr Power zu spielen. Baker leidet bald an Hörproblemen, er hockt zwischen den Lautsprecherwänden und haut immer kräftiger auf Trommeln und Becken, um sich wenigstens noch selbst zu hören. Seine Proteste gegen den infernalischen Lärm werden von den beiden anderen ignoriert. Gestritten wird auch um die Urheberschaft an den einzelnen Titeln, denn sehr demokratisch geht es im »Cream«-Team nicht zu, und es geht um viel Geld.
1969 trennen sich die Weg der drei Cream-Heroen, und Baker formiert gemeinsam mit Stevie Winwood die nächste Supergroup. Das ist »Blind Faith«, bei der wiederum Clapton mitspielt. Es folgt »Ginger Bakers Airforce« mit der Sängerin Jeanette Jacobs, Gitarrist Denny Laine, Organist Stevie Winwood, den Bläsern Harold McNair und Graham Bond, Rick Grech am Bass und Phil Seamen als zweiten Schlagzeuger. Auch diese Formation hält nicht lange, worauf Baker sein Glück in Afrika versucht, um Abstand zu gewinnen, den Tod seines Freundes Jimi Hendrix, der am Erbrochenen erstickt ist, zu überwinden und von den Drogen loszukommen. Afrika ruft den Drummer, denn Bakers Qualität gründet auf seinem Afrika-Feeling, das seine Spieltechnik unvergleichlich macht. Er hat Afrika im Blut und ist bis heute der einzige weißhäutige Drummer, der auf dem schwarzen Kontinent anerkannt und gefeiert wird.
Ginger Baker in Afrika
In Nigeria baut Baker das erste Tonstudio Westafrikas auf und spielt mit dem Afrobeat-Star Fela Kuti. Der Nigerianer kommt mit zwei Dutzend knackfrischer Ehefrauen zu den Jazztagen nach Berlin, die er stolz auf einer Pressekonferenz präsentiert, ihnen dann jedoch den Mund verbietet. Beim abendlichen Konzert versackt Baker, den ich an dem Tag fotografiere und interviewe, in einer Spielpause an der Theke im Musikerrestaurant der Philharmonie. Der Meister ist bereits schwer angeschlagen, als der Veranstalter bemerkt, dass alle Musiker auf ihren Plätzen sind und weiter spielen wollen, Baker jedoch fehlt. Der hat plötzlich keine Lust mehr und lässt sich nur widerwillig an seine Schießbude zerren.
Bakers Karriere in Nigeria dauert nur kurz, er erlebt ein finanzielles Fiasko und fällt wieder in die Drogenhölle. Getrennt von Frau und Kindern flieht er in die Toskana, um Missernten und eine weitere gescheiterte Ehe ernten zu dürfen. Immer neue Bands entstehen: »Bakers Gurvitz Army, »Masters of Reality«, »BBM«. Er zieht weiter nach Los Angeles, dann nach Colorado, wo er mit der Zucht von Poloponys beginnt. Schließlich siedelt er in KwaZulu-Natal in Südafrika, wo er auf einer eigenen Farm Pferde züchtet, Polo und Schlagzeug spielt und sich mit den Nachbarn anlegt.
In Mai 2005 kommt es noch einmal zu einem legendären »Cream Reunion« Konzert von Baker, Bruce und Clapton. Drei Tage ist die »Royal Albert Hall« total ausverkauft, Tickets werden zu 1000 Euro gehandelt, und das Trio erlebt Begeisterungsstürme wie in alten Zeiten. Die Band spielt auch noch in den USA, dort brüllt Bruce jedoch Baker plötzlich unvermittelt auf der Bühne an, und die beiden gehen vor dem Publikum offen aufeinander los. »Cream« zerbricht ein zweites, allerletztes Mal.
Wer »Hellraiser« liest, bekommt einen tiefen Einblick in die innere Welt vieler Superstars von Clapton bis Hendrix. Es ist teilweise erschütternd, wie das wilde Leben zwischen Sex and drugs and rock n roll wirklich war und was sich hinter den teilweise glamourösen Kulissen abspielte. Diese Autobiographie ist ein Zeitdokument, das seinesgleichen sucht und auch demjenigen, der kein Baker-Fan ist, einen Schlüssellochblick in die Welt von Sex, Drogen und Rock ’n’ Roll gestattet.