Ruß

9783462043297_grStereotypen wiederholen sich doch. Willkommen im beliebtesten Handlungsort Deutschlands für überzeichnete Tristesse: Duisburg. Willkommen in abgewrackter Ruhrpott-und Malocher Folklore. Willkommen in Ruß, dem neuen Roman von Feridun Zaimoglu. Willkommen in einem arg dürftigen Handlungsgerüst. Schnell erzählt: Dem Arzt Renz wurde seine Frau ermordet. Resigniert und desillusioniert wird er zum Säufer, mühsam aufrecht gehalten von seiner Arbeit als Budenmann am Ruhrorter Neumarkt. “Nach und nach isst er die Asche seiner getöten Frau direkt aus der Urne” , findet seltsamen Trost in dilettantischer Ikonenmalerei. Die trügerische Ruhe wird gestört durch höchst unklare, undurchsichtige Gesellen, die ihm aus ebenso unklaren Motiven zur Rache verhelfen wollen. Der Tag der Haftentlassung des Täters naht und Renz lässt sich auf eine Jagd durch Deutschland nach Polen, schließlich Österreich ein – um zu einem so vorsehbaren wie unbefriedigendem Showdown zu gelangen.

Besessen von Sprache, mit unbändiger Lust am Spiel mit derselben malt Zaimoglu das Bild eines verlorenen, düsteren, labyrinthischen Ruhrgebiets, bevölkert von Pappkameraden mit vernarbten Lebensgeschichten. Spürbar ist der Autor vom Willen getragen, mit einer von Überflüssigem befreiten Poesie des Unschönen Literaturgeschichte zu schreiben. Den realen ruhrischen Umgangston löst er solange aus seinen Ursprüngen heraus, bis eine künstlich anmutende Umgangssprache entstanden ist. Ich für meinen Teil ( in Duisburg pottriotisiert ) – ich mag mein Ruhrisch, aber so wie die blassen Zecher am Kiosk spreche ich ganz sicher nicht. Ich habe mich nicht willkommen gefühlt im Ruß Zaimoglus. Mir hat das Buch nicht gefallen. Und zwar nicht nur, weil das Buch ganz sicher nicht gefallen will. Es will verstören und aufrütteln – aber das ist ein schmaler Grat. Ein Grat, der im Buch zu oft verlassen wird. Ein Grat, auf dem die Charaktere mühsam kippeln. Genauso mühsam, wie das Buch zu lesen ist. Gerade zum Ende hin erzeugt das Buch nichts als Überdruß.

Gleichwohl – wir wollen fair bleiben. Finsternis, Verzweiflung und Alkoholismus nehmen keineswegs ab, wenn die Handlung sich an andere Orte verlagert. Im Gegenteil – immer neue Lügengeschichten treiben das Verwirrspiel noch wüster voran. Der Leser weiß nicht nur, wem er glauben, trauen, schauen soll – er weiß auch nicht, liest er nur eine Road-Novel, einen Thriller oder doch vielleicht einen Heimatroman der anderen Art. Auch die Kritikpunkte an der oft zu bemühten Sprache Zaimoglus – sie relativieren sich, wenn man sie mit der Sprache anderer, in diesem Jahr preisgekrönter Romane vergleicht. (Ich sage nur : “Nämlich, dass…”) Seien wir dankbar, wenn wir einen Autor haben, der mit Sprache ringt, sie respektiert, ja, sie letztendlich in den Mittelpunkt seiner Bemühungen stellt. Und – für einen ganz großen Pluspunkt hat es sich gelohnt, das Buch gelesen zu haben: Zaimoglus Beschreibung der im Metropolenwahn der Kulturhauptstadt entstandenen Pseudo-Hochglanz- Locations wie dem Duisburger Innenhafen trifft es wie keine von mir bisher gelesene und legt den Finger genau in das wunde Herz derer, die nicht wollen, dass aus ihrem Ruhrgebiet eine öknomischen Zwängen untergeordnete kalte Ruhrstadt werden soll.

Vielleicht hätte mir das Buch besser gefallen, wenn der Vorab-Trommelwirbel des Verlags mir nicht die “große, deutsche Saga aus dem Ruhrgebiet ” versprochen hätte und meine Erwartungshaltung nicht die einer Ruhrgebietlerin gewesen wäre, welche in einem Roman über das Ruhrgebiet wirklich gerne etwas anderes als Klischees lesen würde. Sicher – es ist das Recht eines jeden Autors, seinen Handlungsort so trist und grau zu malen, wie es ihm beliebt. Sicher – Zaimoglu ist in guter Gesellschaft. Viele seiner Figuren und Orte erinnern an synthetische Versatzstücke aus Filmen, Büchern, Hörspielen über das Revier. (Duisburg-Ruhrort- so der Titel des allerersten Schimanskis. Seitdem hat wohl jeder in Deutschland eine verbriefte Vorstellung des Ortsteils. Die Schifferbörse, der schöne alte Ortskern, die sorgfältige restaurierte Promenade und das Haniel Haus gehören nicht dazu.) Dennoch- ich kann es nicht mehr hören. Dieses triste, trostlose Bild unserer Region und wenn die Süddeutsche noch so selbstgerecht urteilt: “Ein lebenskluger Roman über Deutschlands verwildernden Westen”. Ich sehe sie förmlich vor mir: die deutsche Intelligenzija in ihren Lese-Fauteuils, wie sie aus sicherer Distanz selbstgefällig urteilen, welch ein Kenner mit “Ruß” doch am Werke war . Wie bestätigt man nun doch in der von den armen Ruhrgebiets-Eingeborenen so vehement abgestrittenen Darstellung des Ruhrgebiets als Tristesse pur ist. Dass Zaimoglu selbst freundlich erklärte, die “Ruhries in ihrer Discount-Diaspora durchaus zu lieben”, macht mein Gefühl nach diesem Buch nicht weniger schal. Ich kann es nicht mehr hören. Gerade weil ich seit jeher oft und gerne sage: “Solln Se doch so reden, dann bleiben Se uns wengstens erspart, solche Fuzzis. Ohne die warn hier immer schon besser dran” werde ich hier nichts weiter zur Ruhrgebietsverteidigung hinzufügen. Wartet in Ruhe ab. Eine meiner nächsten Rezis. Ich hab da noch watt Feinet inne Hinterhand.

Feridun Zaimoglu kam 1965 mit seinen Eltern nach Deutschland und lebt in Kiel. Nach angefangenem Studium der Medizin und der Kunst arbeitet er als freier Schriftsteller. Seit seinem viel beachteten Erstlng “Kanak Sprak” wendet er sich in seinen literarischen Werken gegen einen romatischen Multikulturalismus.

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Genre: Romane
Illustrated by Kiepenheuer & Witsch Köln

Abaton – Vom Ende der Angst

AbatonFaszinierend und beängstigend zugleich – so kündigte der Jugendbuchverlag Mixtvision “ABATON – Vom Ende der Angst” an. Ein Omen? Zwei angesehene Drehbuchautoren tun sich zusammen, um gemeinsam als Jugendbuch-Autoren zu debütieren. Kann so etwas gut gehen? Schon der Prolog beweist: Hier wird der ganz große Bogen gespannt. Unter einer Trilogie tun es Christian Jeltsch und Olaf Kraemer nicht. Von im zweiten Weltkrieg mundtot gemachten, verkannt genialen Wissenschaftler bis zu Fragen von brennender Aktualität hat das Autoren-Duo sich einiges vorgenommen. Und zwar nicht irgendwie: Kraemer/Jeltsch bezeicnen ihr Genre selbst als Science Faction, verweben Mysteriöses mit realen jugendlichen Lebenswelten und tüten das Ganze spannend ein. Schon auf dem Cover begegnen wir dem hypnotisierenden Sonnenrad, innen durchziehen blaugedruckte Datenreihen das Buch und geben ganz im Stil amerikanischer Easter-Egg-Tradtion noch mehr Rätsel auf.

Edda, Linus und Simon sind drei eigentlich ganz unterschiedliche Jugendliche. Und doch ist es kein Zufall, dass sie sich in einem Feriencamp kennen lernen und als “kritische Masse” schnell seltsame Gemeinsamkeiten finden. Gemeinsamkeiten, gegen die sich zunächst noch wehren, die sie aber bald erkennen lassen, dass sie nur zusammen bestehen können. Bestehen gegen mysteriöse Geschehnisse, die auch ausgebufftere Jugendliche zu Tode ängstigen könnten. Das Camp erweist sich als manipulierende Forschungsstation, aus der noch die nervigsten Nerds als supercoole, jedoch fixierte Kids wieder rauskommen. Die drei verbindet eine gebrochene Kindheit – Simons Vater im Gefängnis, Edda Mutter in der Klapse und Linus Eltern komplett verschollen. Auf der Suche nach Linus Eltern entdecken sie im Berliner Untergrund mysteriöse Graffiti ( das Sonnenrad! ), die ihren Alltag in eine andere Ebene verschieben. Eine Ebene, in die sie immer wieder hineingezogen werden , in der nichts ist, wie es scheint, eine Ebene, die Angst machen, aber auch nehmen kann.

Kraemer/Jeltsch haben ihr Debüt in die ihnen bekannte Form eines Drehbuchs gepackt. Ein kluger Schachzug, der den Verzicht auf herkömmliche Kapitel legitimiert und den Autoren das gemeinsame Schreiben, sowie den mühelosen Wechsel zwischen Erzählperspektiven und Zeiten ermöglicht. Auch dem nicht so ausdauernden Leser wird so die Chance gegeben, immer nur kurze Abschnitte zu lesen und trotzdem nie den roten Faden zu verlieren, den die Autoren stringent durch die verwirrende Handlung führen.
Offizielle Altersangabe: für Jugendliche ab 14, aber “wie jedes gute Jugendbuch auch für Erwachsene”. Nun denn, auch die erwachsene Leserin hat eine Meinung, zunächst aber –wenn man sie schon im Haus hat – eine Kritik aus der Zielgruppe.

Malte, 14:
Zuerst ein kleiner Kritikpunkt, damit die Rezension nicht so klingt, als würde ich Geld für eben diese bekommen. Zu den Namen der Kinder Edda, Linus und Simon. Sie passen meiner Meinung nach nicht gerade zu einem Jugendthriller, der im 21. Jahrhundert spielt. Jugendliche identifizieren sich eher mit Namen wie Nina, Mark und Jan oder anderen “modernen” Namen, auch wenn zumindest der Name Edda im Buch von ihr selber kritisiert wird. Diesem Kritikpunkt stehen jedoch eine ganze Menge positiver Punkte gegenüber. Schon am Anfang beginnt die Story sehr rätselhaft und vielschichtig, da innerhalb von wenigen Seiten aus mehreren Sichten und in 2 Epochen berichtet wird. Im Laufe des Buches entwickelt sich die Story zu einer Mischung aus Matrix und in Teilen Tintenherz, da sie trotz aller Dramatik auch sehr fantasievoll und teilweise auch romantisch ist. Ein Lob auch an die Autoren, denen eine gigantische Story eingefallen ist, die zum einen nicht von anderen Büchern kopiert wurde und zum anderen auch genial in ihrer Form ist. Die Ereignisse in der Story fügen sich nahtlos ineinander als wären sie Zahnräder, was vielen Jugendromanen heutzutage leider nicht mehr gelingt. Besonders am Ende des Buches war es schwer von der Geschichte abzulassen und man hat sich gefragt, was als nächstes passiert und wirklich mit den Charakteren mitgefiebert.
Mein persönliches Fazit: Das Buch ist ein Buch der Kategorie, die ich gerne und ohne schlechtes Gewissen 2 oder 3 mal lese und welche ich auch gerne Freunden weiterempfehle. Dank der gelungenen Story und da ich nach dem Cliffhanger am Ende des Buches unbedingt wissen möchte, wie es weitergeht, fiebere ich dem nächsten Buch der “Abaton” Trilogie Ende 2012 schon entgegen.


Fazit der Rezensentin: Spannend war es, keine Frage. Neu auch. Da hat Malte Recht. Nichts Abgekupfertes gefunden. Selten heutzutage. Und das bei so einer komplexen Struktur. Homogen geschrieben – trotz oder gerade wegen der zwei Autoren, denen es bei aller “Science Faction” gelingt, nahe an jugendlichen Gedankenwelten zu sein – wohlgemerkt, ohne auch nur einmal den pädagogischen Zeigefinger zu heben. Rund ist es nicht, soll es auch nicht sein. Schließlich: unter einer Trilogie tun es die Autoren nicht. Abaton ist im orthodoxen Glauben das Allerheiligste. Der Ort den nur wenige Erwählte kennen lernen dürfen. So darf man spekulieren, dass genau darin wohl auch die entscheidende Frage für Edda, Simon und Linus liegen wird: Was genau ihr persönliches Abaton ist und ob das Ende der Angst nun eine befreiende oder eine erst recht beängstigende Vorstellung ist.

Die Autoren: Christian Jeitsch ist ein Grimme- und Fernsehpreis-dekorierter Drehbuchautor ( diverse “Tatörte”, Polizeirufe u.a. Olaf Kraemer, Buch- und Filmautor, wurde bekannt mit der Uschi-Obermaier-Biografie “High Times”, die nach seinem Drehbuch unter dem Titel “Das Wilde Leben” erfolgreich verfilmt wurde.

Einen gelungenen Einstieg in die Abaton-Welt bietet die schick gestaltete Homepage zum Projekt.

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Genre: Kinder- und Jugendbuch
Illustrated by Mixtvision München

Irgendwann werden wir uns alles erzählen

Sommer 1990 in der DDR.Der letzte Sommer in einem Land, welches bald keines mehr sein wird. Maria wird bald siebzehn. Sie wohnt mit ihrem Freund Johannes auf dem Hof seiner Eltern nahe der deutsch-deutschen Grenze, die bald keine mehr sein wird. Maria ist ein zartes verträumtes Mädchen. Zwar beteiligt sie sich tatkräftig an der Hofarbeit, verweigert jedoch die Schule. Ihr Liebstes sind zu dieser Zeit die Gebrüder Karamasov, deren Fragen nach Schuld und Sühne, Leid und Mitleid, Liebe und Versöhnung. Weiterlesen


Genre: Romane
Illustrated by Graf-Verlag München

Abgründe

AbgründeEine Woche lang schaute Frankfurt auf Island. Nicht der Finanzblase wegen, auch Aschewolken waren außen vor – nein, es war Buchmesse und Island zu Gast. Man bezauberte mit der gemütlichsten Wohnzimmer-Installation der ganzen Messe und drohte mit der erklärten Absicht, Europas Buchmarkt werde sich nie wieder von dieser Bücherblase erholen. Die Heute-Show fragte gar, ob es nun nicht opportun sei, den Isländern mit einer Schreibblockade zu drohen. Wir fragen investigativ, ob es nicht einfach reicht, eines davon zu lesen. Im Selbstversuch verzichtete ich auf Elfen, Trolle und Stockfische und griff mir eines, welches Spannung und abgründige Blicke in Islands Finanzwelt versprach .

In seinem neuesten Island-Krimi schickt Arnaldur Indridason seinen bewährten Kommissar Erlendur erst einmal in Urlaub. So muss sich sein Kollege Sigurdur Oli um die Aufklärung zweier Todesfälle kümmern. In einen davon ist er persönlich verwickelt, da er der Bitte seines besten Freundes entsprechend eine junge Frau davon abhalten will, dessen Familie zu erpressen. Als Oli diese Frau, Lina, zur Rede stellen will, findet er sie zu Tode geprügelt von einem Schuldeneintreiber vor. Obwohl persönlich involviert, ermittelt er weiter und findet heraus, dass vor über einem Jahr ein Banker bei einem Ausflug, den ausgerechnet Linaorganisierte, einen tödlichen Sturz in einen Abgrund erlitt. Die Ermittlungen führen ihn in höchste Bankenkreise, die in abenteuerlichen, moralisch fragwürdigen Geschäften immer höhere Gewinne scheffeln.

“Abgründe” ist ein Krimi, bei dem es auch, bei weitem aber nicht nur, um einen kriminellen Plot geht. Von Ingridason zwar bildhaft und flüssig erzählt, liegt hier die Schwäche des Romans. Weite Teile drehen sich um das Privatleben Olis, das eigentlich nichts als abgründig langweilig ist. Das Sympathiepotential des Kommissars dürfte sich bei jenen erschöpfen, für die amerikanische Sportarten das Größte und die noch dazu vom Leben und den Frauen enttäuscht sind. Der Rest der Leser wartet auf den Fortgang der Handlung. Besser gesagt, der zwei Handlungen. Der Klappentext bemerkt zu Recht, dass die beiden Fälle auf den ersten Blick nicht viel miteinander zu tun haben. Verschwiegen wird dabei, dass sie auch auf den zweiten Blick nicht wirklich miteinander verwoben sind. Außer, dass die Protagonisten sich kannten, finden sich nicht wirklich viele Gemeinsamkeiten. Der Plot um Lina ist relativ schnell gelöst, die Frage nach dem Motiv nimmt noch etwas länger Raum ein. Doch auch hier können die Banker nicht dienen. Die Geschichte um die Banker dient einzig und alleine dazu, die Erwartungen des Lesers zu bedienen, dem Hintergründe zur abgründigen Finanzwelt versprochen werden. Das verkauft sich sicher prima, die zu diesem Thema angebrachte Kritik ist lobenswerterweise auch zu keiner Zeit übers Ziel hinausschießend. Ärgerlich nur, wenn man fast die Hälfte des Buches zuwarten muss, bis der Autor sich endlich dem Thema zuwendet, welches der Klappentext als das vorherrschende anpreist. Noch ärgerlicher, wenn sich die Geschehnisse im Bankermilieu als relativ müde gähnende Abgründe erweisen – vor allem, weil sie anno 2005 geschahen und jeder halbwegs informierte Leser weiß, dass a) die Abgründe des Jahres 2008 wesentlich tiefer waren und b) sich gerade die isländische Wirtschaft anno 2011 wieder berappelt hat. (wahrscheinlich der vielen verkauften Bücher wegen). Eine weitere Irritation im Buch ist eine Side-Story über einen als Kind misshandelten Penner, der nunmehr auf Rachefeldzug ist und dem Kommissar das Leben kriminaltechnisch erschwert. Auch dessen Geschichte beschreibt Indridason eindringlich und bemerkenswert – aber sie hat nichts, absolut nichts mit dem Fall zu tun.(Wenn man mal davon absieht, dass das Leid des Penners die moralische Verwerflichkeit der anderen Verbrechen durchaus eindrucksvoll unterstreicht.) Dass man dies erst ganz zum Schluß erfährt, während man 420 Seiten lang auf die Auflösung der Zusammenhänge wartet, macht den Spannungsbogen nicht besser.

Arnaldur Indridason war Journalist und Filmkritiker bei Islands größter Tageszeitung und lebt heute als freier (preisgekrönter) Autor in Rejkjavik.

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Genre: Kriminalromane
Illustrated by Bastei Lübbe

Karwoche

Bei einem illegalen Wettrennen durch die bayerischen Berge kommt es zu einem Beinahe-Unfall, in den auch Kommissar Wallner verwickelt wird, der eigentlich samt Freundin auf dem Weg in die Osterferien unterwegs ist. Im Wagen eines der beiden verhinderten Formel 1-Piloten findet sich zur allgemeinen Überraschung die Leiche einer jungen Frau, Hannah Lohwerk, deren Gesicht vor Jahren durch einen Autounfall entstellt wurde. Obwohl Wallner wegen seines Urlaubs keine offizielle Funktion bekleidet, mischt er bei den Ermittlungen kräftig mit, denn er lässt sich nur ungern das Heft aus der Hand nehmen. Bald führen die Spuren zu der schillernden Schauspielerfamilie Millruth, die erst vor wenigen Monaten einen Todesfall zu beklagen hatte und der es auch sonst nicht an dunklen Geheimnissen mangelt…

„Karwoche“ ist Andreas Föhrs dritter Roman mit den Miesbacher Polizisten um Kommissar Wallner und er bietet wiederum spannende Unterhaltung. Nicht nur ein bayerischer Regio-Krimi mit kantig schrulligen Charakteren, die sich durch robusten Humor auszeichnen, sondern einfach ein gut geschriebenes Buch, das die notwendigen Zutaten des Genres schmackhaft zusammenrührt. Natürlich merkt man dem Autor seine Vergangenheit als Drehbuchschreiber für TV-Krimis an; er versteht sein Handwerk und zieht den Plot trotz (unabdingbarer) Rückblenden stringent durch, steigert langsam aber sicher das Tempo, um zum Schluss die überraschende Auflösung zu präsentieren. Dabei sind die Protagonisten weder langweilig noch oberflächlich gezeichnet und das Leben der Hauptfiguren entwickelt sich romanübergreifend weiter.

Fazit: Vielleicht ist Wallner noch kein Kultkommissar wie auf der Rückseite des Buches vermerkt, aber er ist sicher auf dem besten Weg dahin. Bitte mehr davon!

P.S.: Auf bayerischen Dialekt wird weitgehend verzichtet, so dass auch Leser jenseits des Weißwurst-Äquators voll auf ihre Kosten kommen.


Genre: Kriminalromane
Illustrated by Knaur München

Harold

Heyne Taschenbuch Verlag, ISBN 978 ,453435971, 8,99€

Besorgt Euch bloß das beste Buch der Welt. Harold. Von Einzlkind.
Einsam hängt eine Schlinge vor dunklem englischem Pepita auf dem Umschlag. Eine einsame Stuhllehne lässt böses ahnen. Und es bestätigt sich: Harold, 49 Jahre alt, lebt in London, hat seine Anstellung als Wurstfachverkäufer verloren. Hier tappt der geneigte Leser in die Falle, die Einzlkind ausgelegt hat, denn Harold ist eine Null, ein Nichts, ein Antiheld, einer der bestimmt keine Geschichte von 222 Seiten zu erzählen weiß, denn der eigentliche Held ist Melvin und der ist ein „Savant“.
Harold dagegen ist ein typischer, missmutiger Engländer, der seine Aufgabe darin sieht, sich einmal im Monat aufzuhängen. Als geborener Verlierer glaubt er nicht mehr an den Erfolg seiner Aktionen, sondern er versucht die Eleganz seiner Misserfolge zu perfektionieren.
In dem Moment kommt Melvin, ein „neunmalkluges“, elfjähriges Genie, auf die Bühne. In seinem Gedächtnis hat er 1238 Bücher abgespeichert. Er kann sämtliche Beethoven-Sonaten auswendig, er ist sozusagen ein Roger Willemsen en miniature. Dafür leidet er an den typischen Hochbegabten Problemen: „Ich habe 4,5 Dioptrien plus auf dem linken und 5,5Dioptrien auf dem rechten Auge. Meine Hobbys sind mir nicht bekannt.“
Mit diesen Vorzeichen soll Harold Babysitter für Melvin sein. Eine Woche. Denn Melvins Mutter, alleinerziehend, hat ihre vollständige Präsenz für ihre Firma angeboten und die schickt sie eine Woche in eine andere Stadt.
Melvin kennt sich bei Pferdewetten aus und schleift Harold auf den Rennplatz. Mit Kennerblick untersucht er Pferd und Jockey und weiß, Orpheus gewinnt, ganz klar. Harold setzt seine letzten 20 Pfund. Und Orpheus wird – haushoch – letzter.
Das sind Harold und Melvin: Ein arbeitsloser Wurstfachverkäufer und ein Genie, wie man es seit Hegel nicht mehr gesehen hat.
In dieser einen Woche mit Melvin beginnt nun für Harold ein Roadmovie. Einzlkind hat dafür in die Trickkiste der großen Literatur gegriffen: Er bemüht Harold und Maude, schielt zu Capotes Frühstück bei Tiffany. John Irving steht Pate und eine Comedy Anleihe bei Monty Python lässt grüßen. Und im Ulysses hat er 800 Pfund versteckt, die Melvin im Portemonnaie der Mutter gefunden hat. Melvin will in dieser einen Woche seinen Vater suchen….
Harold: Lesevergnügen pur. Ich habe mich riesig amüsiert trotz der Versatzstücke aus dem großen Topf der Weltliteratur. Wer dann noch Spaß an Wortschöpfungen hat, wie „Mevin strohhalmt Cola, pimaldaumen u.a. ist diesem Kleinod schon verfallen.
Wer immer dieser Einzlkind ist und wer diesen Roman geschrieben hat, es muß ihm teuflischen Spaß gemacht haben und dieser Funke Spaß springt sofort auf den Leser.
Das Schlußwort von Jim, dem Tankwart: „Lieber Einzlkind als gar keine Geschwister.“


Genre: Romane
Illustrated by Heyne München

Harold

Besorgt Euch bloß das beste Buch der Welt. Harold. Von Einzlkind.
Einsam hängt eine Schlinge vor dunklem englischem Pepita auf dem Umschlag.
Eine einsame Stuhllehne lässt böses ahnen. Und es bestätigt sich:
Harold, 49 Jahre alt, lebt in London, hat seine Anstellung als Wurstfachverkäufer verloren. Hier tappt der geneigte Leser in die Falle, die Einzlkind ausgelegt hat, denn Harold ist eine Null, ein Nichts, ein Antiheld, einer der bestimmt keine Geschichte von 222 Seiten zu erzählen weiß, denn der eigentliche Held ist Melvin und der ist ein „Savant“.

Harold dagegen ist ein typischer, missmutiger Engländer, der seine Aufgabe darin sieht, sich einmal im Monat aufzuhängen. Als geborener Verlierer glaubt er nicht mehr an den Erfolg seiner Aktionen, sondern er versucht die Eleganz seiner Misserfolge zu perfektionieren. In dem Moment kommt Melvin, ein „neunmalkluges“, elfjähriges Genie, auf die Bühne. In seinem Gedächtnis hat er 1238 Bücher abgespeichert. Er kann sämtliche Beethoven-Sonaten auswendig, er ist sozusagen ein Roger Willemsen en miniature. Dafür leidet er an den typischen Hochbegabten Problemen: „Ich habe 4,5 Dioptrien plus auf dem linken und 5,5Dioptrien auf dem rechten Auge. Meine Hobbys sind mir nicht bekannt.“

Mit diesen Vorzeichen soll Harold Babysitter für Melvin sein. Eine Woche. Denn Melvins Mutter, alleinerziehend, hat ihre vollständige Präsenz für ihre Firma angeboten und die schickt sie eine Woche in eine andere Stadt.

Melvin kennt sich bei Pferdewetten aus und schleift Harold auf den Rennplatz. Mit Kennerblick untersucht er Pferd und Jockey und weiß, Orpheus gewinnt, ganz klar. Harold setzt seine letzten 20 Pfund. Und Orpheus wird – haushoch – letzter.
Das sind Harold und Melvin: Ein arbeitsloser Wurstfachverkäufer und ein Genie, wie man es seit Hegel nicht mehr gesehen hat.
In dieser einen Woche mit Melvin beginnt nun für Harold ein Roadmovie. Einzlkind hat dafür in die Trickkiste der großen Literatur gegriffen: Er bemüht Harold und Maude, schielt zu Capotes Frühstück bei Tiffany. John Irving steht Pate und eine Comedy Anleihe bei Monty Python lässt grüßen. Und im Ulysses hat er 800 Pfund versteckt, die Melvin im Portemonnaie der Mutter gefunden hat. Melvin will in dieser einen Woche seinen Vater suchen….

Harold: Lesevergnügen pur. Ich habe mich riesig amüsiert trotz der Versatzstücke aus dem großen Topf der Weltliteratur. Wer dann noch Spaß an Wortschöpfungen hat, wie „Mevin strohhalmt Cola, pimaldaumen u.a. ist diesem Kleinod schon verfallen.
Wer immer dieser Einzlkind ist und wer diesen Roman geschrieben hat, es muß ihm teuflischen Spaß gemacht haben und dieser Funke Spaß springt sofort auf den Leser.

Das Schlußwort von Jim, dem Tankwart: „Lieber Einzlkind als gar keine Geschwister.“


Genre: Romane
Illustrated by Heyne München

Je schneller ich gehe, desto klener bin ich

skomsvold“Ich habe schon immer gern Dinge zu Ende gebracht. Ohrenwärmer. Sommer. Herbst. Frühling. Winter. Epsilons Berufsleben. Die Sachen erledigt.”

So beginnt ein kleiner, feiner, außergewöhnlicher Roman der jungen Norwegerin Kjersti A. Skomsvold. Ihre Heldin Mathea Martinsen ist fast hundert Jahre alt und am liebsten würde sie sich einfrieren. Solange, bis sie sich überlegt hat, wie sie den Rest ihrer Lebenszeit am besten nutzen kann. Epsilon – so nannte sie ihren vor kurzem verstorbenen Mann und so wie er lebenslang ihr Maßstab, ihre Orientierungsmarke war, so orientiert sie sich nun am Epsilon als statistische Einheit. Sie resümiert ihr Leben, ihre Ehe und wird gewahr, dass nichts von ihr überdauern wird, dass sie ihre Lebenszeit nicht genutzt hat. Sei es aus Überdruss, aus Schüchternheit, aus Bequemlichkeit. So ganz kann sie das selber nicht mehr klären. Gerne würde sie etwas hinterlassen, damit die Nachwelt weiß, dass sie überhaupt gelebt hat. Schliesslich leben momentan mehr Menschen auf der Welt, als jemals gestorben sind. Und da wäre es doch “fein, das Zünglein an der Waage zu sein”. Aber ist eine vergrabene Kiste, ihr Brautkleid und Legionen von für Epsilon gestrickte Ohrenwärmern enthaltend, dafür ein probates Mittel? Obwohl sie in ihrem (Ehe-)leben nur ein einziges Mal Besuch erhielten, versucht sie nun eine zaghafte Annäherung an ihre Mitmenschen. Eigentlich geht sie nur aus dem Haus, bevor sie sich durch ihren Türspion versichert hat, dass ausser ihr niemand im Treppenhaus ist. Nun grüßt sie mutig den Mann ohne Namen im Wald, sogar dem Nachbarn, den sie ihr Leben lang nur von oben herab gesehen hat, leiht sie Zucker. Mutig geworden geht sie gar zu einem Senioren-Kaffeeklatsch mit Bingo “Vergnügen” – und scheitert. Wieder einmal an ihrer eigenen Unsichtbarkeit, in langen Jahren zur Perfektion ausgebildet. Sie gehört nicht zu der Spezies, die Kuchen bekommen und ihre Jacke wird als Kuriosität versteigert.

Kjersti A. Skomsvold erzählt mehr ein versponnenes Märchen denn eine Handlung oder gar eine Biographie. Anrührend, bisweilen recht vergnüglich erzählt sie von der Kunst des Lebens und Sterbens und dem Scheitern an diesen Künsten. Noch vor dem bittersüßen Ende kommt Mathea zu der Erkenntnis “so muss es sein, wenn man tot ist, wie als man noch nicht geboren war, und das war ja nicht die schlechteste Zeit.”
Die junge norwegische Autorin hat ein ganz beachtenswertes Debüt geschrieben, in Norwegen viel bejubelt – und ja, zumindest dort schon mit Preisen dekoriert. In diesem Bücherherbst ist viel von gescheiterten Lebensentwürfen zu lesen. So auch in diesem. Dennoch ist es nicht ein weiteres zu dieser Thematik, denn es ist gleichzeitig auch ein Buch, welches Hoffnung mitgibt – zudem so einige Wahrheiten und Erkenntnisse über das Leben.

In Presseberichten wurde Mathea eine rührende alte Dame voller Weisheit genannt. Das kann ich so nicht sehen. Es ist nicht rührend, eigentlich ist es erschütternd. Man liest das Buch mit einem Schmunzeln, kann sich aber des traurigen Mitleidens für die des Lebens so unfähige Mathea und ihres dadurch sehr eingeschränkten Epsilon nicht erwehren.
Jeder Leser wird nach der Lektüre seine eigene Interpretationsmöglichkeit des sperrigen Titels finden, jeder Leser wird die Geschichte auch auf seine eigene, auf ihn selbst gemünzte Art interpretieren. Und das ist sicher die eigentliche Kunst des Buches. Es regt zum Nachdenken an – und zu eigener Entscheidungsfindung.

Ich hatte in diesem Portal schon eindringlich die Bücher der norwegischen Ausnahme-Autorin Anne B. Ragde empfohlen. Die junge Osloerin schickt sich an, in ihre Fußstapfen zu treten. Kjersti A. Skomsvold beweist in meinen Augen einmal mehr, dass es sich lohnt, die skandinavische Literatur jenseits der Krimis und Thriller für sich zu entdecken. Ich bin mir sicher, von ihr wird noch viel zu lesen sein.

Diskussion dieser Rezension im Blog der Literaturzeitschrift


Genre: Romane
Illustrated by Hoffmann und Campe

Die romantischen Jahre

Ingendaay“Und ist ihm sonst auch nichts gelungen, dann macht er in Versicherungen”. Hätte Marko Theunissen eine mit ähnlich klugen Lebensweisheiten gesegnete Omma gehabt wie ich, wäre ihm sicher das ein oder andere erspart geblieben. Ganz recht. Marko Theunissen. Der Held aus “Warum Du mich verlassen hast” begegnet uns in seinen romantischen Jahren wieder. Noch lange nicht erwachsen geworden, aber ins Erwachsenenleben integriert. Der Literaturstudent mit reichlich Flausen im Kopf ist nun Versicherungsvertreter. Oder auch Agent. Weil sich das besser anhört, befindet Joe, seine kleine Freundin aus der Nachbarschaft.

Paul Ingendaay erzählt in seinem zweiten Roman die Lebensgeschichte eines Mannes weiter, der nicht so genau weiß, was sein Lebenstraum ist und sich vielleicht genau deswegen nachgerade trotzig dazu entschließt, die Lebensträume und Risiken anderer zu versichern. Denn wie um alles in der Welt kann man Romantiker sein und doch Versicherungsvertreter an der gönne Kant des tiefsten Niederrheins werden? Wie kann es sein, dass einer zehn Jahre lang Literaturwissenschaften studiert, Bildungsreisen inclusive und sich plötzlich in der Ellenbogenwelt des vertriebsorientierten Kundensprechs, der Bonifikationen, der “Ich-hab-da-zwei-Leben-in-der- Anbahnung” – Abschlussgeilheit wieder findet? Während Theunissen in einer Branche, welche “hinreichend Platz für alle Gemeinheiten der Menschennatur bietet” , die Balance zwischen Überleben und Fairneß zu halten sucht, kämpft er gleichzeitig an den ältesten Fronten der Menschheit: Den Verflechtungen der Liebe und denen mit der eigenen Familie. Gewonnene Einsichten sowohl aus dem “Haifischbecken” der Versicherungsbranche als auch aus dem nicht minder bissigen Umfeld des Literaturbetriebs helfen ihm dabei..”Menschen neigen dazu, sich selbst als Einzelfall zu sehen und deshalb vom Schicksal eine Einzelfallsbehandlung zu erwarten.”

Ingendaay erzählt fabulierfreudig, mit der Sprache spielend, eine ganz normale Geschichte. Eine Geschichte, wie sie heutzutage wohl eher die Regel denn die Ausnahme ist. Eine Geschichte von Unentschlossenheit, von zerplatzten Lebensentwürfen, von verratenen Idealen und Selbstbetrug. Er erzählt sie liebevoll, von viel Verständnis für die sich so schnell in Schubladen stecken lassenden Menschen getragen. Er weiß, dass “je mehr Entscheidungen wir dann aber treffen, umso kleiner werden die Chancen auf einen ganz anderen Lebensentwurf”. Mit einem guten Gespür für Würde und Würdelosigkeit mischt der Erzähler sich mit feiner Ironie ein und lenkt die Dinge in eine zwar von Kompromissen getragene, aber durchaus befriedigende Richtung. Denn “das Schicksal schlägt auch nicht zu. Es hat ja keine Arme. Das Schicksal ist, was wir sind. Unser Schicksal ist die Summe unserer wechselnden Zustände in einem gegebenen zeitlichen Rahmen.”

Der Autor selbst nennt sein Buch “den Roman der verpassten Möglichkeiten”. Kennen wir das nicht alle? Der Klappentext verspricht “den Sieg der Möglicheit über die graue Realität”. Wünschen wir uns das nicht alle? Und tatsächlich schafft es unser Held, sein Leben nicht zum emotionalen Schadensfall werden zu lasen und es gelingt ihm mit etwas Glück und viel Chuzpe einem äußerst widerwärtigen Exemplar von Kollegen (kennen wir den nicht auch alle?) das Handwerk mit Hilfe von “Rosinenschnecken” zu legen. Sehr gelungenes Ende!

Marko Theunissen ist die meiste Zeit “glücklich immer nur gewesen ” und rettet sein Motto “Ich bin liebenswürdig, sinnenfroh, grausam und einsam” in eine Zukunft, von der hoffentlich weiter zu lesen sein wird. Ich für meinen Teil werde einige der ebenso klugen wie verqueren Einsichten des Herrn Versicherungsagenten behalten und ganz besonders das schöne spanische Sprichwort “Dar tiempo al tiempo” (Der Zeit muss man Zeit geben) zu beherzigen suchen.

Der Autor: Paul Ingendaay lebt seit 1998 mit seiner Familie in Madrid als Kulturkorrespondent der FAZ. Einem breiteren Publikum ist er nicht nur als Herausgeber der Gesamtausgabe von Patricia Highsmith bekannt, sondern auch als Autor der beliebten “Gebrauchsanweisung für Spanien”. Mit dem Alfred-Kern-Preis ausgezeichnet, hat er sich auch als Literaturkritiker einen Namen gemacht. Insofern freut es ganz besonders, dass Ingendaay mit den romantischen Jahren schon den zweiten exzeptionell guten Roman vorgelegt hat.

Diskussion dieser Rezension im Blog der Literaturzeitschrift


Genre: Romane
Illustrated by Piper München, Zürich

In Zeiten des abnehmenden Lichts

RugeBereits 2009 bekam Eugen Ruge für sein Prosa-Manuskript den renommierten Alfred-Döblin-Preis. Nun liegt der fertiger Roman vor, bereits mit dem Aspekte Literaturpreis ausgezeichnet und auf der Shortlist des deutschen Buchpreises. Von Kritikern einhellig bejubelt, vom Otto Normal-Leser – zumindest von denen, die es sorgsam lesen und sich nicht nur ins Regal stellen, weil es ja das Must-have des Buch-Herbstes ist – eher zwiespältig beurteilt.

“In Zeiten des abnehmenden Lichts” erzählt Ruge anhand einer sich über 4 Generationen erstreckenden ostdeutschen Familiengeschichte das Epos vom allmählichen Untergang der DDR und der sozialistischen Ideologie. Kaleidoskopartig erzählt er in wechselnden Perspektiven von bröckelnden Mauern sowie vom bröckelnden Familienzusammenhalt. Es darf vermutet werden, dass Ruge mit der Geschichte des Powileit/Umnitzer-Clans weite Teile der Geschichte seiner eigenen Familie bewahrt. Eine Familie, die zum mit der Mauer untergegangenen intellektuellen DDR- Establishment gehörte, dem heutzutage keine größere historische Relevanz mehr zugebilligt wird.

Der 1.Oktober 1989 ist die Klammer, die dieses Buch zusammenhält. Es ist der Geburtstag des Patriarchen Wilhelm – überzeugter Kommunist, der durch die Machtergreifung Hitlers einst mit seiner Frau Charlotte ins russische Exil, später in unbedeutende Geheimdienstmissionen gezwungen wurde. Dieser Tag wird aus der Perspektive jedes einzelnen Familienmitglieds erzählt – immer unterbrochen von szenischen Momentaufnahmen beginnend mit den frühen Fünfzigern bis hin zum September 2001. Wir erleben die Geschichte von Kurt, der als einziger Sohn überlebte – sowohl den zweiten Weltkrieg als auch den sowjetischen Gulag. Kurt, der zwar an die Veränderbarkeit der Welt unvermindert glauben möchte, der aber eher ein sich arrangierender Mitläufer denn überzeugter Parteifunktionär ist. Die Strahlkraft der politischen Utopie nimmt von Generation zu Generation weiter ab, über den unglücklichen, sich aber nicht engagierenden Enkel Sascha bis hin zum schließlich aufbegehrenden Ur-Enkel Markus.

Ruge setzt in seiner Erzählung ganz auf präzise Beobachtung, es ist ihm wichtig, seinen Figuren Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Obwohl von einem melancholischen Unterton getragen, kommt seine Sprache unprätentiös, fast nüchtern daher. Seltsam distanziert bleibt dementsprechend der Leser, zumal die ständigen Zeitsprünge und Perspektivwechsel ihm einiges abverlangen. Dazu kommt, dass Ruge sich des öfteren in kleinlichen Hakeleien verliert, die seinen Hass auf den realen Sozialismus klar zutage treten lassen und den Leser ohne detailliertes Hintergrundwissen leicht überfordern. Die Geschichte verliert in seinem Lauf viel vom furiosen Schwung der Anfangskapitel, zum Ende hin wird es gar mühsam. Man hat das Gefühl: Es reicht. Wir haben es jetzt verstanden. Wir brauchen nicht noch eine Drogenabhängigkeit, nicht noch eine tödliche Krankheit, nicht noch einen Streit, nicht noch eine demente Götterdämmerung, um die Botschaft des Buches entziffern zu können. Denn bei allem Verständnis bleibt doch die unbeantwortete Frage zurück: Wäre die Familie in einem anderem System glücklicher geworden?

Natürlich werden nur wenige dieses Buch emotionslos lesen, sind die historischen Ereignisse doch bei fast allen auch mit privaten Erinnerungen oder Familiengeschichten verknüpft. Umso mehr hätte man sich wenigstens eine Figur gewünscht, mit der man empathisch diese Geschichte hätte miterleben und miterleiden können. Die Zeit war sicher mehr als reif für einen unverstellten Blick auf die DDR, die Nöte aber auch die Freuden des Lebens dort. Dies literarisch bewahrt zu haben, ist das große Verdienst Eugen Ruges und macht “In Zeiten des abnehmenden Lichts” trotz der Kritikpunkte ganz sicher zu einem der wichtigsten Bücher des Jahres. Definitiv kann der Autor für sich verbuchen, Geschichte als Familiengeschichte erlebbar gemacht und dem wiedervereinigten Land ein umfassendes ostdeutsches Panorama geboten zu haben.

Gleichwohl tut man meiner Meinung nach dem Autor keinen Gefallen, wenn man sich in großen Feuilletons dazu versteigt, hohe Erwartungen zu schüren und gleich die ostdeutschen Buddenbrooks heraufzubeschwören. Die Buddenbrooks (diese Bemerkung gestatte ich – die ich Thomas Manns Epos als eines meiner liebsten Bücher bezeichne – mir) sind das Maß aller Dinge und ich glaube auch in der Tat nicht, dass Eugen Ruge mit seinem Buch das ostdeutsche Komplementärwerk vorlegen wollte. Was er vorgelegt hat, ist der derzeit gültige Roman zur deutschen Einheit aus ostdeutscher Sicht.

Eugen Ruge kam 1958 mit seiner Familie zusammen nach Ost-Berlin. Sein Vater ist der bekannte Alt-Kommunist Wolfgang Ruge, der seinerzeit von den Sowjets in ein sibirisches Lager deportiert wurde. Eugen Ruge arbeitete zunächst als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentralinstitut für Physik der Akademie der Wissenschaften der DDR. Seit 1986 arbeitet er schriftstellerisch und wirkt seit 1989 hauptsächlich als Autor für Theater, Funk und Film. “In Zeiten des abnehmenden Lichts” ist sein Debütroman.

Diskussion dieser Rezension im Blog der Literaturzeitschrift


Genre: Romane
Illustrated by Rowohlt

Aus dem Land der Affen

Der Affenregierung fehlt es zwar an Geld für Schulen oder die Pflege ihrer Kranken, aber sie errichtet gerne sinnlose Bauten und denkt auch über Waffenkäufe nach. Wie gut, dass es trotzdem einige Untertanen gibt, die nicht alles klaglos hinnehmen und sich ihre eigenen Gedanken machen. Denn schließlich sind die Affen nicht alleine auf der Welt; es gibt auch noch andere Tiere, die ihre Rechte einfordern und mit denen man sich arrangieren muss, was nicht immer einfach ist.

Rolf Gutsche ist seit der Gründung 1991 Mitglied im Potsdamer „Literatur-Club für Menschen mit und ohne Behinderung“ und da ihm durch eine spastische Lähmung die alltäglichen Dinge des Lebens nicht leicht fallen hat er sich folgendes Motto zu Eigen gemacht:

Das Sprechen fällt mir schwer.
Aber ich habe viel zu sagen.
Also schreibe ich.

Und das tut er richtig gut. Im vorliegenden Band wählt er die Kunstform der Fabel, eine Gattung die heute eher selten zu finden ist und dazu dient, philosophische und auch politische Erkenntnisse zu kommunizieren, indem man menschliche Charaktereigenschaften auf Tiere überträgt. Rolf Gutsche verarbeitet neben eigenen Erfahrungen auch gesellschaftliche Themen und schwingt bei seinen kritischen Anmerkungen keine schwere Keule; es sind feine Nadelstiche in einfacher, aber verdammt präziser Sprache, mit denen er den Leser zum Nachdenken animiert. Natürlich hat auch er nicht für alle Probleme die passende Lösung parat, aber er stellt die richtigen Fragen und das ist mehr als man von manchen Zeitgenossen behaupten kann, die das hauptberuflich machen.

Fazit: Ein äußerst intelligentes Büchlein, das nicht zuletzt durch seine solide Aufmachung überzeugt, klare Kaufempfehlung!


Genre: Märchen, Sagen und Fabeln
Illustrated by Engelsdorfer Leipzig

Grau

\"grau\"Ein Mann sieht rot. Und das ist auch gut so. Denn Eddie Russett lebt in einer Welt, in der jeder Mensch nur eine Farbe sehen kann. Wenn er Glück hat. Denn es gibt auch noch die Grauen. Die, die gar keine Farbe sehen können und ganz unten in der Hierarchie als unterwürfige Drohnen ihres Kollektivs dienen müssen. In Eddies Welt ist Farbe zu einer Ware geworden, welche die soziale Hackordnung bestimmt. Machtbefugnisse basieren ausschließlich darauf, welche Farbe man wie gut sehen kann. Eddie steht kurz vor dem gesellschaftlichen Aufstieg, durch seine exzellente Rotsicht sind seine Chancen auf dem Heiratsmarkt bis hin zur Erbin eines Bindfadenimperiums gestiegen. Er lebt in einer Welt, 500 oder 600 Jahre nach dem \”großen Ereignis\”, genau weiß man das nicht. Es herrscht Löffelknappheit, dafür gibt es zum Glück Ovomaltine im Überfluss. Das Land ist fruchtbar. Es leben dort nicht allzu viele Menschen, dafür Sprungziegen und Antilopen. Äußere Zeichen früherer Zivilisation sind von wildwuchernder Megafauna verdeckt. Was der aggressive Rhododendron nicht schafft, wird durch verordnete Rücksprünge vernichtet. Höflichkeit ist verordnet, das Leben genau geregelt. Mit geschürter Angst vor Schwanattacken, Blitzeinschlägen und der Dunkelheit wird das Volk in Schach gehalten. Eddie fühlt sich nicht unwohl in dieser Welt. Wenn er nun noch lernt, seine Neugier und seine Kreativität im Zaume zu halten, dann steht einem erfolgreichen Leben als roter Präfekt nichts mehr im Wege. Womit er nicht gerechnet hat, ist die Liebe. Wider jede Vernunft verliebt er sich in Jane. Jane ist zwar wunderbar stupsnasig, aber eben auch der verachteten grauen Unterschicht zugehörig. Das ist fast genauso schlimm, als wenn sie Grüne wäre, denn intime Verbindungen zwischen Komplementärfarben sind verboten. Plötzlich hat Eddie mächtige Feinde, erfährt unbequeme, bestürzende Wahrheiten und seine Angebetete erwidert seine Liebe nicht. Sie ist nämlich nicht nur stupsnasig und eigensinnig, sondern hütet auch noch ein explosives Geheimnis, von dem Eddie bereits viel zu viel herausgefunden hat. So bleibt ihr nichts anderes übrig, als alles zu versuchen, Eddie den fleischfressenden Yateveo Bäumen zum Fraße vorzuwerfen.

Jasper Fforde hat eine perfekt entworfene Welt gebaut, bis ins kleinste Detail durchdacht , überbordend vor Phantasie und Ideenreichtum. Anschaulich zeigt er, wie eine Diktatur funktioniert, was sie sympathisch macht und was angreifbar. Zum Beispiel die unüberschätzbare Macht der Neugier und die Wahrheit. Fforde selber sagt, dass es erschreckend einfach war. eine Hierachie zu erfinden. Er begann mit ein paar ganz einfachen Regeln, schuf eine Ordnung, die auf Farbwahrnehmung beruht und \”sobald er einen Schuß Ehrgeiz und Missgunst zugab, kam ihm alles irgendwie entsetzlich vertraut vor.\” Er fasst in seiner Dystopie so manches heiße Eisen an, bis hin zur institutionalisierten Sterbehilfe, enthält sich aber jeder Wertung. In \”Grau\” entfaltet sich eine völlig neue, andersartige Welt. Abstrus und befremdend, in ihrem Wiedererkennungswert jedoch fast schon genial. Der Handlung tut es gut, dass Fforde nie der Versuchung erliegt, das \”große Ereignis\” näher zu spezifizieren. Sein humorvoller Stil macht Spaß, besonders die versteckten Anspielungen auf unsere heutige Welt, sich z.b. manifestierend in Namen oder Buchtiteln. Die Handlung verliert nie ihren roten Faden, hat jedoch einige Längen. Gerade im letzten Drittel , wenn die chromatokologische Welt einmal hinreichend gezeichnet ist, ist es oft des Guten ein bißchen zuviel. Da wird eine Intrige nach der anderen gesponnen, Verschwörungen geplant und man wünscht sich, er würde jetzt irgendwann mal zum Punkt kommen.

Die Geschichte um Eddie Russett ist als Trilogie angelegt und trotz der erwähnten Kritikpunkte darf man gespannt und unüberschätzbar neugierig auf die Fortsetzung sein. \”Grau\” ist ganz sicher kein Sprung zurück und mehr als nur ein Hüpfer nach vorne unter den allzu oft immer gleichen Zukunftsvisionen.

Der in Wales lebende Jasper Fforde wurde 2001 weltbekannt mit dem Roman \”Der Fall Jane Eyre\” und erschrieb sich mit seiner Thursday Next Reihe eine beständige Fangemeinde. Ins Deutsche übersetzt wurde das Buch von Thomas Stegers. Bei all den von Fforde neu erfundenen Begriffen sicher kein leichtes Unterfangen, hier aber sehr gut und sorgfältig gelöst, wie im Fall des gerade im Deutschen sehr doppeldeutigen Mustermanns.

Zum Buch gibt es neben der Facebook Fanseite auch eine Microsite und einen Trailer. Diskussion dieser Rezension im Blog der Literaturzeitschrift


Genre: Science-fiction
Illustrated by Eichborn Verlag

We’ll always have Paris

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– Ein Mann revanchiert sich für erlittenes Unrecht mit Liebe und wird natürlich dafür bestraft

– Eine Frau besucht das Herz ihres Gatten in einem anderen Körper

– Nach Einbruch der Dämmerung trifft sich eine ganz besondere Golfrunde

– Zwei Freunde wetten um einen Mord

– Manchmal sind Hunde die besseren Priester

Von diesen Themen handeln einige der 22 Kurzgeschichten und wie stets bei diesem Autor ist die Sprache voller Poesie, eine einzigartige, schwer zu beschreibende Atmosphäre zieht sich durch das Buch, Momente bittersüsser Magie, oft melancholisch oder nostalgisch, mit liebevoll gezeichneten Protagonisten.

Seit meiner längst vergangenen Jugend bin ich ein Fan von Ray Bradbury, der trotz seiner mittlerweile 91 Jahre nichts vom Zauber der frühen Werke verloren hat. Vielen dürfte der Autor hauptsächlich durch den (zugegebenermaßen vortrefflichen) Roman “Fahrenheit 451” bekannt sein und das ist schade, denn sein Spektrum ist wesentlich größer, er hat so viel mehr zu bieten. Interessierten Lesern sei auch “Das Böse kommt auf leisen Sohlen” oder “Die Mars-Chroniken” empfohlen.


Genre: Kurzgeschichten und Erzählungen
Illustrated by Harper Voyager

Mile 81

Auf einem verlassenen Rastplatz am Rande eines Highways rollt ein Auto aus, ein undefinierbares Modell, mit Schlamm beschmiert. Langsam öffnet sich eine Tür, aber niemand steigt aus, im Gegenteil: Der Wagen wartet darauf, dass nichtsahnende Neugierige einsteigen…

Diese als exklusives E-Book veröffentlichte Kurzgeschichte ist typisch Stephen King: Spannend, unterhaltsam und nicht ganz unblutig. Trotz der Beschränkung auf vergleichsweise wenige Seiten sind die Charaktere treffend gezeichnet und ihr Handeln bleibt stets nachvollziehbar. Gewisse Parallelen zu “Christine” sind vorhanden und von King auch selbstironisch gewürdigt. Für den Meister eine Fingerübung, für seine Fans ein echtes Lesevergnügen.

Als Zugabe gibt es noch einen Auszug aus “11.22.63”, dem mit Spannung erwarteten 1000-Seiten-Wälzer, der im November erscheint und sich mit dem Kennedy-Attentat beschäftigt.


Genre: Kurzgeschichten und Erzählungen
Illustrated by Hodder

Der Seiltänzer

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Die Abschaffung des Zölibats und Konsequenzen aus den Missbrauchsfällen in der katholischen Kirche – das sind die Kernforderungen einer Aufsehen erregenden Predigt, die der Priester Andreas Wingert in seiner Gemeinde hält. Wochen später sieht er sich selbst mit Missbrauchsvorwürfen konfrontiert und steht unvermutet vor einem Scherbenhaufen. Klugen Rat und Hilfe erhofft er sich – wie so oft in seinem Leben – von seinem besten Freund Thomas. Doch dieser liegt ausgerechnet jetzt mit einem Herzinfarkt im Krankenhaus.

Nach einem Besuch bei Thomas in Münster begibt sich Andreas auf eine Autofahrt kreuz und quer durch Westfalen. Diese Fahrt, von mehreren Anlaufstellen unterbrochen, wird insgesamt 5 Stunden dauern. In diesen 5 Stunden erinnert sich Andreas: An eine Kindheit und Jugend in der westfälischen Provinz, an die seitdem bestehende Lebensfreundschaft mit Thomas, an die gemeinsamen Erlebnisse ihrer Studienjahre in Berlin, Köln und Bonn, Wales und München. Danach schlagen die Freunde sehr unterschiedliche Wege ein. Thomas heiratet, gründet in Münster eine Familie und macht als Geisteswissenschaftler Karriere. Andreas hingegen geht ins Paderborner Priesterseminar und wählt die Kirche als Lebenspartnerin, “viel zickiger, viel strenger, viel unberechenbarer” als ein Ehepartner sein könnte, wohl wissend “dass es kein ungefährlicher Bund für ihn” ist. Schon immer fasziniert von den Ritualen der katholischen Kirche ist er sich sicher, dass der Glaube sein Sicherheitsnetz sein kann “über dem das Seil aufgespannt ist, auf dem er geht.”

Michael Göring erzählt in einer sehr klaren, fast nüchternen Sprache von Wendepunkten, vom sich Entscheiden müssen, von den Anfechtungen des Alltags, von religiöser Berufung und von der Gratwanderung eines Priesters. Er blickt dennoch liebevoll und wohlwollend auf seine Protagonisten und bewahrt seine Erzählung so vor einem bitteren Unterton. Göring selbst betont, dass er einen Entwicklungsroman habe schreiben wollen und keine theologische Streitschrift. Die Rückblenden beginnen in den frühen Siebzigern und werden mal aus Andreas’, mal aus Thomas’ Perspektive erzählt. Thomas übernimmt dabei den Part des Skeptikers und Mahners. Die Geschehnisse in der Gegenwart – (im Roman Frühjahr 2010) werden bis auf die allerletzte Seite ausschließlich aus der Sicht von Andreas erzählt und vermitteln ein sehr eindringliches Bild von Problemen und Anfechtungen, die in unserer Zeit sehr ungut in das Leben einzelner als auch der Gemeinschaft eingreifen. Die Missbrauchsvorwürfe sind zwar das vordergründige Thema, doch Michael Göring zeigt anhand des Konfliktes anschaulich, zu welch vergifteter Atmosphäre und zu welch verhärteten Fronten übereifriges Denunziantentum, Kollektivschuld und Generalverdacht führen können. Darüber hinaus vermittelt er in seinem Buch noch eine Erkenntnis, der nicht wenige aus täglichem Erleben heraus zustimmen werden. Kirche als Institution wird heute kaum mehr gehört und akzeptiert. Auch nicht von denen, die den Wunsch, ihren Glauben zu leben, noch nicht aufgegeben haben. Kirche ist für die meisten nur noch die Gemeinde vor Ort. Nicht mehr, aber eben doch auch nicht weniger.

Als Dreingabe neben all diesen “schweren” Themen macht der Autor sich aber auch noch um etwas anderes verdient. Auch wenn die Hauptschauplätze des Romans fiktive Namen tragen, Göring zeichnet mit wenigen Worten ein Bild der alten BRD und fängt die Atmosphäre des zweigeteilten Landes unverfälscht ein. Ein Unterfangen, um das sich noch nicht allzu viele Autoren verdient gemacht haben.

Zum Ende hin verliert der Roman etwas von seinem Schwung, die Dialoge auf den letzten Seiten wirken auf einmal gestelzt und zu bemüht. Auch das Ende selbst – es hat mir so nicht gefallen. Um es westfälisch zu sagen, es war mir zu verschwurbelt und passte nicht zur klaren Sprache des Buches. Ohne zuviel verraten zu wollen – es ist völlig in Ordnung und auch folgerichtig, wenn der Autor die allgemeingültige Lösung nicht geben will. Mir als Leser wäre es jedoch wesentlich lieber gewesen, er hätte sich klar zum offenen Ende bekannt.

Mein Fazit: Der Seiltänzer ist ein mutiges Buch zu einem brandaktuellen Thema, dem Erfolg zu wünschen ist. Nicht zuletzt verbunden mit dem Wunsch, dass die überfälligen Diskussionen in der katholischen Kirche wieder aufleben – wenn möglich auf einer sachlicheren und weniger von persönlichen Eitelkeiten geprägten Ebene als zuletzt. .

Der Autor Michael Göring leitet als Vorsitzender des Vorstandes die ZEIT Stiftung Ebelin und Bucerius in Hamburg. Darüber hinaus ist er Honorarprofessor am Institut für Kultur und Medienmanagement der Hochschule für Musik und Theater in Hamburg. Der Mitte September erschienene Seiltänzer ist – nach vielen Fachpublikationen – sein erster Roman.

Diskussion dieser Rezension im Blog der Literaturzeitschrift


Genre: Romane
Illustrated by Hoffmann und Campe