Bad Monkeys

41f8RoyD1JL._SX339_BO1,204,203,200_Jane Charlotte, eine junge Frau aus San Francisco, hat ein Problem. Sie wurde wegen Mordes festgenommen und erzählt jetzt ihre schier unglaubliche Geschichte einem Psychologen. Demnach nämlich gehört sie zu einer mächtigen Organisation, die sich „Bad Monkeys“ nennt und die wirklich üblen Typen aus dem Verkehr zieht. Dabei bedient man sich vorzugsweise geheimnisvoller Wunderwaffen wie Pistolen, die einen Herzinfarkt verursachen und eines nahezu unerschöpflichen High-Tech-Repertoires. Jane berichtet von ihrer nicht allzu glücklichen Kindheit und ihrem ersten Kontakt mit den „Bad Monkeys“ als sie mit 14 auf eigene Faust einen Kindermörder verfolgte. Ihre Jugend verlief eher ziellos, dazu kamen Drogenprobleme und so war sie durchaus bereit, gegen das Böse zu kämpfen, als die Organisation sie einige Jahre später anwirbt und auf erste Missionen schickt.

Janes Geschichte ist zweifellos faszinierend, aber als der Psychiater einige Fakten dazu recherchiert, stößt er recht bald auf Widersprüche und Ungereimtheiten. Besonders die Beziehungen zu Bruder und Mutter stellen sich dort doch entscheidend anders dar, als von der Geheimagentin geschildert. Ihre Erklärung dafür, die Affen-Chefs hätten die Dokumente gefälscht, um Spuren zu verwischen vermag nicht ganz zu überzeugen und so entwickelt sich ein Showdown, in dem sich die Ereignisse überstürzen…

Regelmäßige Besucher und Leser dieses famosen Blogs wissen, dass Matt Ruff einer meiner Lieblingsautoren ist und er hat mich auch dieses Mal nicht enttäuscht, denn wieder einmal hat er mit „Bad Monkeys“ eine völlig neue Richtung eingeschlagen, die Festlegung auf ein bestimmtes Genre ist ganz klar seine Sache nicht. Wir haben es hier mit einem Thriller zu tun, voll futuristischer Elemente und die Komplexität der Handlung weckt Erinnerungen an die Matrix-Filme. Obwohl vordergründig ein Zwei-Personen-Stück, erschließen sich aus Janes Erzählung mehrere Dimensionen in einer Welt, in der unter der Oberfläche der Normalität Konflikte von beinahe biblischen Ausmaßen ausgetragen werden. Natürlich nur dann, wenn die Geschichte stimmt und der Kampf nicht ausschließlich in der Psyche der jungen Frau tobt…

Die gewohnte Sprachgewandtheit des Autors, gepaart mit seinem feinsinnigen Humor tut ein Übriges, um das Buch zu einem höchst spannenden Lesevergnügen zu machen, bei dem man ehrlich bedauert, wenn die letzte Seite umgeblättert ist. In diesem Fall wiederhole ich mich gern und appelliere erneut an alle hier versammelten Literaturfreunde: Lest endlich Matt Ruff, ihr werdet es nicht bereuen!


Genre: Romane
Illustrated by dtv München

G.A.S. – Die Trilogie der Stadtwerke

51-4pCwzk2L._SX312_BO1,204,203,200_Wir schreiben das Jahr 2023 und befinden uns in New York City. Während der erfolreiche Unternehmer und Wolkenkratzer-Fan Harry Gant seine Sehnsucht nach immer noch höheren Gebäuden stillt, plagen sich die Mitarbeiter der städtischen Kanalisation mit ganz anderen Problemen herum. In den giftigen Abwässern gedeihen nämlich mutierte Raubtiere prächtig, dort wüten nicht nur Kanalligatoren sondern auch ein Weißer Hai, der zu Vermarktungszwecken auf den Namen „Meisterbrau“ getauft wird und schon bald Bekanntschaft mit Harrys Ex-Frau Joan schließt, die im wahrsten Sinne des Wortes im Untergrund tätig ist.

Unterdessen widmet sich eine Gruppe von Öko-Piraten dem gewaltlosen Kampf gegen die Umweltverschmutzung und die Ausbeutung der verbliebenen Natur. Ihre mobile Kommandozentrale ist das luxuriöse U-Boot „Yabba-dabba-doo“, mit dem sie (unterstützt von sprechenden Bibern und Eichhörnchen) ihre witzigen und effektiven Aktionen durchführen. Selbst ein Transrapid kommt – fernab von Wolfratshausen – zum Einsatz und es gilt auch noch, den Mord an einem Finanz-Tycoon aufzuklären. All das rückt jedoch in den Hintergrund, als ein durchgeknallter Super-Computer sich anschickt, mittels eines Heeres dunkelhäutiger Androiden („Elektro-Neger“) eine globale Verschwörung anzuzetteln…

Es ist – zumindest für mich – fast unmöglich, eine schlüssige Inhaltsangabe von „G.A.S.“ abzuliefern, zu komplex und opulent ist das Werk. Wie schon in „Fool on the Hill“ erschuf Matt Ruff mit ungeheurer Fantasie einen eigenen Mikrokosmos, in dem skurrile, liebenswerte Figuren ihr Unwesen treiben und der Leser verfolgt atemlos staunend das Geschehen, dankbar, dass er daran teilhaben darf. Trotz zahlreicher Nebenhandlungen verliert er nie den Überblick, da es der Autor meisterhaft versteht, die Stringenz zu wahren und das Heft in der Hand zu behalten.

Der Roman ist mit viel feinsinnigem Humor gewürzt, man meint, die Freude des Schriftstellers beim Spinnen der unzähligen Fäden zu verspüren und kommt so in den Genuss intelligenten Lesevergnügens. Matt Ruff macht einfach Spaß, seine Bücher sprühen vor Witz und Geist. Es wäre zu wünschen, dass eine breitere Leserschaft von diesem Autor Notiz nimmt, er hat es ganz sicher verdient.


Genre: Romane
Illustrated by dtv München

Ich und die anderen

51TJxRCoClL._SX312_BO1,204,203,200_Wenn der junge Andrew Gage frühstückt, so läuft dies nach einem streng geordneten, komplizierten Ritual ab: Zunächst gibt es Rührei und Kaffee, dann folgen eine Tasse Kräutertee kombiniert mit Pfefferminzgelee auf Weizentoast; ein halbes Brötchen mit einer Scheibe Speck wird abgelöst von Orangensaft mit Honigpops und das Mahl endet schließlich mit einem Teller gesalzener Radieschen. Nun ist es keineswegs so, dass Andy ein unmäßiger Vielfraß wäre, nein, er leidet an einer multiplen Persönlichkeitsstörung. Hervorgerufen durch extremen Missbrauch in der Kindheit haben sich nach und nach immer wieder verschiedene Teile seiner Psyche verselbständigt und diese verschiedenen „Seelen“, männlich wie weiblich, alt und jung leben alle in seinem Körper. Andy hat sich damit arrangiert und die Situation einigermaßen im Griff, kommt gut zurecht, denn er hat im Kopf ein Haus errichtet, in dem alle Bewohner Platz und Zuflucht finden.

Allerdings gerät eines Tages dieses mühsam aufrecht erhaltene Gleichgewicht in Gefahr als er an seinem Arbeitsplatz – passenderweise ein Virtual Reality-Unternehmen – auf Penny Driver trifft, eine junge Frau, die unter derselben Störung leidet, dies aber noch nicht bewusst realisiert hat. Behutsam versucht Andy ihr zu helfen, die Erfahrungen zu verarbeiten und sie zu überzeugen, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen. Dummerweise ist er selbst aber auch noch mit einer unglücklichen Liebe belastet, und so sind die beiden von den auf sie einstürzenden Ereignissen schnell überfordert. Gemeinsam machen sie sich auf den Weg zu Andys Heimatort, um die die dunlen Geheimnisse seiner Kindheitstraumata aufzuspüren. Die Reise treten sie jedoch nicht alleine an, denn im Gepäck führen sie eine ganze Reihe unberechenbarer Seelenbegleiter mit sich, von denen manche nicht ganz ungefährlich sind.

Selbst auf die Gefahr hin, die Leser hier zu langweilen; ich muss mich wiederholen und erneut ein Werk von Matt Ruff preisen. „Ich und die anderen“ unterscheidet sich gänzlich von den beiden bisherigen Büchern, ist aber nicht minder faszinierend. Der Autor führt uns mit großem Geschick in die Welt der Multiplen ein, er lässt uns staunen und er tut das einfühlsam und verständnisvoll, dennoch nicht ohne Humor. Es gelingt ihm zum Beispiel wunderbar, den realen Schrecken der Protagonistin zu schildern, wenn sie morgens in einem fremden Bett erwacht, ohne Erinnerung an die vergangenen Tage, dafür aber mit einer Liste ausgestattet, welche Dinge heute zu erledigen sind. Auch das brisante Thema Kindesmissbrauch packt Ruff mit der richtigen Mischung aus Emotionalität und Entschlossenheit an, er rührt an das Herz des Lesers, ohne dabei auf die Tränendrüse zu drücken. Ich finde, mehr kann man von einem guten Roman nicht verlangen und erteile den klaren Auftrag: Lesen!


Genre: Romane
Illustrated by dtv München

Fool on the Hill

41Y99YOz28L._SX312_BO1,204,203,200_Merkwürdige Dinge geschehen in dem kleinen Städtchen Ithaca und der dort ansässigen Cornell-Universität. Dinge, die die Fähigkeit des Rezensenten übersteigen, einen stringenten Handlungsablauf auf die Festplatte zu meißeln. Also lasse ich es lieber gleich sein und begnüge mich zunächst damit, die Hauptdarsteller des Romans vorzustellen. Im Angebot hätten wir:

S. T. George: Schon mit 23 ein höchst erfolgreicher Schriftsteller, der die besten Texte schreibt, wenn er unglücklich verliebt ist.

Kalliope: Die schönste Frau der Welt, die ihr Aussehen ständig wechselt und den Wünschen der jeweiligen Verehrer anpasst.

Aurora Smith: Tochter eines haschrauchenden Nonkonformisten und mit einem tödlichen Langweiler verlobt.

Zephyr und Puck: Kleine verliebte Kobolde, die mit Modellflugzeugen und -booten unterwegs sind und bisweilen gegen bewaffnete Ratten kämpfen müssen.

Luther und Blackjack: Ein Hund und eine Katze auf der Flucht vor rassistischen Rassehunden und auf der Suche nach dem Tierhimmel. Wir lernen, dass Hunde zu religiösem Eifer neigen, während Katzen eher atheistische Thesen vertreten.

Mr. Sunshine: Ein altersloser Grieche und der geheimnisvolle Lenker der Geschichte.

Manchmal meint das Schicksal es gut mit mir, so wie an jenem Tag, als ich mich wieder einmal recht gelangweilt in einer Buchhandlung herumdrückte und mir “Fool on the Hill” von Matt Ruff ins Auge fiel. Ich kannte weder Roman noch Autor, dennoch griff ich zu und landete unversehens einen Volltreffer! Es ist ein herrliches Buch mit epischen Ausmaßen, eine Welt der Magie, voller Humor und Fantasie, eine zauberhafte Liebesgeschichte mit Elementen von Abenteuer und Horror, aber immer leichtfüßig beschwingt und heiter. Streckenweise fühlt sich der Leser an Shakespeare-Komödien erinnert, allerdings angereichert mit beinahe apokalyptischen Schlachten, mit Rittern, Jungfrauen und Drachen.

Der Autor pflegt einen wunderbaren Stil, setzt seine Worte mit Bedacht, doch stets treffsicher; es gibt unzählige Reminiszenzen an die Literatur zu entdecken, liebevolle Details, wie zwei Hundephilosophen namens Wiedumir und Östrogen, die auf Dogot warten, mögen hierfür als Beispiel dienen. Die zahlreichen verschiedenen Handlungsstränge sind kunstvoll miteinander verwoben und lassen beim Leser niemals Langeweile aufkommen; im Gegenteil: Ich hätte mir die eine oder andere Szene noch ausführlicher gewünscht. Der Roman verzaubert, man ist ehrlich betrübt, wenn er zu Ende ist und ein schöneres Kompliment für ein Buch kann ich mir nicht denken.

Fazit: Ich habe viele Bücher gelesen, aber das ist definitiv eines der besten.


Genre: Romane
Illustrated by dtv München

Die Witwen von Eastwick

41dONLRMlGL._SX255_BO1,204,203,200_Mehr als 30 Jahre sind vergangen, seit die drei Hobby-Hexen Alexandra, Jane und Sukie zusammen mit dem diabolischen Darryl Van Horne allerlei Schabernack veranstalteten und das Städtchen Eastwick in Aufruhr versetzten. Über das ganze Land verstreut finden sie sich erst wieder, als ihre Ehemänner das Zeitliche segnen. Die neu gewonnene Freiheit nutzend, beginnen sie, sich die Welt anzusehen. Die lustigen Witwen bereisen Ägypten und China und so langsam kehrt sie zurück, die alte Vertrautheit zwischen den Freundinnen und mit ihr die nicht ganz unschuldige Freude an magischen Tricks. Getrieben von nostalgischer Neugier beschließen sie einen Abstecher nach Eastwick, Ort der Jugend und der Erinnerungen, die mit zunehmender Zeit verklärter und harmloser erscheinen.

Doch in der alten Heimat hat man sie nicht vergessen, es gibt immer noch genügend Leute, die sich an die Geschichten von damals erinnern, Legenden über skandalöse Riten der Magie und Hexerei und so entwickelt sich der geplante Sommerurlaub der Witwen zu einer Konfrontation mit der eigenen Vergangenheit; einer Auseinandersetzung, der sie sich stellen müssen und die nicht ohne Folgen bleiben wird…

John Updike war ohne Zweifel einer der größten Romanciers, den die USA je hatten, einer, der wachen Auges die dunkle Seite des amerikanischen Traums beleuchtete und seine Beobachtungen mit spitzer Feder festhielt. In seinem letzten Werk stellt er sein Können noch einmal eindrucksvoll unter Beweis. 25 Jahre nach den „Hexen von Eastwick“  – die viele vielleicht nur durch die grandiose Verfilmung mit einem Jack Nicholson in Bestform kennen – schickt er seine drei Grazien (inzwischen geplagt von den Freuden des Alters) wieder zurück an den Schauplatz ihrer Schandtaten; eine Reise, die es in sich hat.

Das Buch besticht vor allem durch die ungeheure Vielfalt und Kreativität der Sprache, jedes Verb, jedes Adjektiv trifft zielsicher ins Schwarze und beschert ein anspruchsvolles Lesevergnügen, das sich eben nicht aus einem Übermaß an Action und einem rasend schnellen Plot speist. Vielmehr sind es die kleinen Dinge, die den Roman so lesenswert machen, seien es höchst amüsante Beschreibungen des Verhaltens von US-Touristen im Urlaub oder die Schilderungen des alltäglichen Kleinstadtlebens unter dem Primat spießiger Vorurteile. Der Tod von John Updike ist ein herber Verlust für jeden Literaturfreund und lädt zu einer intensiven Beschäftigung mit seinem Gesamtwerk ein.


Genre: Romane
Illustrated by Rowohlt

Terrorist

41sRToLVIZL._SX301_BO1,204,203,200_Ahmad ist 18 Jahre alt und lebt in New Jersey allein mit seiner Mutter, einer Irin. Er verehrt seinen Vater, einen Ägypter, obwohl der sich schon früh absetzte und sich nie wieder um den Jungen kümmerte. Ahmad ist intelligent, dennoch bricht er die Schule ab, um als Lastwagenfahrer zu arbeiten. Er tut dies auf Geheiß seines Imams, bei dem er schon seit mehreren Jahren den Koran studiert. Natürlich kommt es, wie es kommen muss und der Junge gerät in Kontakt mit islamischen Extremisten, die ihn als Selbstmordattentäter einsetzen wollen: Er soll einen Lastwagen gefüllt mit Sprengstoff im New Yorker morgendlichen Berufsverkehr in einem Tunnel zur Explosion bringen…

John Updike reagiert mit seinem Roman auf die Anschläge vom 11. September, aber es ist kein spektakuläres Buch, kein Thriller, sondern es behandelt die psychologischen Hintergründe der terroristischen Ideologien. Der Autor zeichnet dabei ein äußerst düsteres Bild einer US-amerikanischen Gesellschaft, die gerade den Jugendlichen außer Konsum keinerlei geistig moralische Werte und Perspektiven mehr bietet und so den pseudoreligiösen Rattenfängern indirekt Vorschub leistet. Die nicht arabischen Protagonisten sind allesamt desillusioniert, manche zynisch, sie ertragen ihr Leben nur noch und können auch den Sex nicht ohne Schuldgefühle genießen. Der Möchtegern-Terrorist kommt dabei noch einigermaßen sympathisch daher, bezeichnend dafür ist eine Szene, in der er einen auf dem Rücken liegenden Käfer wieder umdreht, weil er dessen Leiden nicht erträgt.

„Terrorist“ ist für mich ein gelungenes Buch, eben weil es gar nicht erst versucht, vermeintlich einfache Lösungen für das Problem anzubieten, es hält uns vielmehr den Spiegel vor, allerdings ohne moralisch erhobenen Zeigefinger. Deutlich wird aber auch, dass der Kampf gegen den Terrorismus nicht militärischen Mitteln gewonnen werden kann, es bedarf stattdessen einer geistigen Auseinandersetzung mit dieser für uns so fremden Ideologie. Empfohlen den verantwortlichen Herrschenden zur Lektüre.


Genre: Romane
Illustrated by Rowohlt Tb.

Manische Wiegenlieder

41tod+sLkHL._SX328_BO1,204,203,200_Nicht nur surreal und absurd wie im Untertitel des Büchleins versprochen sind die “Manischen Wiegenlieder”, nein, sie haben mehr zu bieten, weitaus mehr. W.R. Frieling überrascht dieses Mal mit einem bunten Strauß von Gedichten und er deckt dabei souverän die ganze Palette ab: Der begeisterte Leser findet Perlen wie den Knaller “Kannibalen” (Finger jammern in der Pfanne, Blut schäumt über in der Kanne), mein persönliches Lieblingsstück, und etliche satirisch witzige Reimereien, aber auch leise, nachdenkliche Texte voller Melancholie. Sehr gelungen sind dem Autor und Weltenbummler seine geografischen Reminiszenzen an verschiedene Fleckchen dieser Erde; in prägnanten Worten präzisiert er die typischen Eigenschaften der jeweiligen Regionen und ihrer Bewohner.

“Manische Wiegenlieder” ist ein wunderbares Werk der Poesie, auch bei wiederholter Lektüre wird es niemals langweilig, im Gegenteil, man findet stets aufs Neue exquisite Sahnehäubchen und staunt über Frielings virtuose Wortgewandtheit. Literaturfreunde, die sich an Robert Gernhardts Lyrik erfreuen, sollten auch hier bedenkenlos zugreifen. Wer dem Meister selbst beim Absingen einiger Wiegenlieder lauschen möchte, wird auf YouTube fündig (einfach den Buchtitel in die Suchzeile eingeben).


Genre: Gedichte, Humor und Satire
Illustrated by Internet-Buchverlag Berlin

Letzte Nacht in Twisted River

41fBYGsgFkL._BO2,204,203,200_PIsitb-sticker-v3-big,TopRight,0,-55_SX324_SY324_PIkin4,BottomRight,1,22_AA346_SH20_OU03_New Hampshire 1954: In einer kleinen Holzarbeitersiedlung verdient sich der verwitwete Koch Dominic (genannt Cookie) seinen Lebensunterhalt bis eines Tages sein Sohn Danny die Freundin des örtlichen Polizeichefs mit einem Bären verwechselt und kurzerhand pfännt (= mit einer Pfanne erschlägt). Gezwungen zur Flucht verschlägt es die beiden zunächst nach Boston, wo sie in der italienischen Gemeinde rasch heimisch werden und eine neue Liebe (Cookie) respektive eine gediegene Ausbildung (Danny) verpasst bekommen. 13 Jahre hält das fragile Glück, doch dann ist Constable Carl (der mit der bärigen Freundin) ihnen wieder auf den Fersen und sie setzen sich erneut ab, diesmal nach Vermont.

Auch hier finden sie sich prima zurecht, Cookie experimentiert (nicht nur in der Küche) mit asiatischen Einflüssen und Danny ist inzwischen selbst Vater und auf dem besten Weg, ein erfolgreicher Schriftsteller zu werden. Den Kontakt zur alten Heimat halten sie über ihren Freund Ketchum, ein grobschlächtiger aber herzensguter Holzarbeiter, der alles tut, um die beiden Exilanten vor dem verrückten und rachsüchtigen Cop zu beschützen. Allerdings können weder er noch eine weitere Flucht bis nach Kanada den unvermeidlichen Showdown nach fast 50 Jahren verhindern; die Dinge nehmen ihren Lauf und es kommt wie es kommen muss…

Es fällt nicht leicht eine Inhaltsangabe zu liefern, die diesem Epos gerecht wird, denn zu vielschichtig sind die Ereignisse in diesem neuen grandiosen Roman des begnadeten Erzählers John Irving. Natürlich finden wir jede Menge Liebe und Beziehungen, sowie tragische Tode und Verluste, die aber nie zu Bitterkeit führen, da sie als normaler Bestandteil des Lebens empfunden werden. Und natürlich gibt es auch Bären und schwergewichtig skurrile Frauengestalten wie Injun Jane, Six-Pack Pam oder Lady Sky, eine nackte Fallschirmspringerin, die im Schweinestall landet. Überhaupt die Charaktere: Wieder einmal gelingt es dem Romancier, liebenswert warmherzige und humorvolle Gestalten zu erschaffen, die den Leser tief anrühren, mit denen er nur zu gern Freud und Leid teilt und die er mit dem Zuklappen des Buches noch lange nicht vergisst.

Irvings fulminantes Werk umfasst fünf Jahrzehnte und ganz nebenbei serviert er als Soundtrack zum Leben der Protagonisten die dazu gehörige amerikanische Geschichte. „Last Night in Twisted River” ist somit auch ein politisches Buch; der Autor nimmt zum Beispiel kein Blatt vor den Mund, wenn die Rede auf den vorigen US-Präsidenten kommt. Keineswegs nur deswegen kann ich den Roman uneingeschränkt wärmstens ans Herz legen, denn viel zu selten stößt man heutzutage auf derartigen literarischen Hochgenuss wortwitziger Fabulierkunst. Irving-Fans werden das Epos lieben und für alle anderen ist es die perfekte Chance für den Einstieg in das Werk dieses außergewöhnlichen Schriftstellers. Zu wünschen wäre freilich, dass bald auch den Nobelpreisrichtern die Nordlichter aufgehen und dort nicht immer nur belanglose Brabbler á la Herta „Lieschen“ Müller prämiert werden.


Genre: Romane
Illustrated by Diogenes Zürich

Das Schloss im Wald

51oSt9vpCUL._SX330_BO1,204,203,200_Ein Assistent des Satans, ein Teufel im gehobenen Rang, erzählt die Geschichte einer österreichischen Familie über einen Zeitraum von etwa 100 Jahren. So weit, so gut, eigentlich nichts Besonderes, könnte man sagen, wäre es nicht die Familie Adolf Hitlers, die hier im Fokus steht. Penibel widmet sich die Saga diesen Menschen aus ärmsten bäuerlichen Verhältnissen, ihrem Leben und Streben bis zur Geburt Hitlers, der das Produkt mehrerer Generationen von Inzest (sein Großvater ist auch sein Vater) darstellt. Genau das macht ihn interessant für die Agenten des Teufels (der „Maestro“, wie er vom Erzähler genannt wird), die ebenso wie die Engel Gottes (der „Dummkopf“) ständig Ausschau halten nach potenziellen Kandidaten, die sie für ihre Ziele einsetzen können.

Der Meister erteilt also den Auftrag, den Kleinen und seine Familie genau im Auge zu behalten und der Erzähler leistet ganze Arbeit. Immer wieder lenkt er Hitler in die gewünschte Richtung, er fördert schon früh seine Faszination für Kriegsspiele und dumpfen Patriotismus (ein vom Teufel geliebter Charakterzug!), schürt den Hass auf den autoritären Vater und den Neid auf die Geschwister und achtet darauf, dass die Beziehung des sexuell verklemmten Jungen zur bigotten Mutter zerrissen bleibt. Das Gewissen des Kindes wird durch die Suggestion von Träumen (eine der stärksten Waffen der Dämonen) Stück für Stück reduziert, bis auch Mord nicht mehr als verwerflich erscheint. Das Buch endet im Jahr 1905, Hitler ist 16 Jahre alt. Im Epilog werden die satanischen Diener nach Ende des 2. Weltkriegs in die USA gesandt, wo der Maestro in den Juden und Arabern viel versprechende neue Klienten wähnt…

Norman Mailer, ein Spezialist der Romanbiographie, also des Vermischens von Fakten mit Fiktion, hat wieder zugeschlagen, er hat ein brisantes Thema gewählt und gekonnt provokant umgesetzt. Es ist ein äußerst origineller Versuch, die Psyche dieses Menschen zu erklären; fernab von den bekannten und ausgetretenen Pfaden. Der Autor begeht dabei aber nicht den Fehler, alle Schuld an den Nazi-Verbrechen den teuflischen Mächten zuzuschreiben. In einer Schlüsselszene, in der Klein-Hitler seinem Vater begeistert zusieht, wie dieser einen Stock mit kranken und schwachen Bienen vergast, wird im nächsten Satz ein Kausalzusammenhang mit späteren Ereignissen abgelehnt; der freie Wille des Menschen steht im Vordergrund, auch wenn er durch frühkindliche Eindrücke geprägt ist. Das Buch liefert Denkanstöße statt Erklärungen für Dinge, die nicht erklärbar sind. Oder um es mit Mailer zu sagen: „Was die Teufel überlebensfähig macht ist, dass wir weise genug sind zu verstehen, dass es keine Antworten gibt – es gibt nur Fragen.“

Der Roman ist betont locker geschrieben; streckenweise amüsant, zum Beispiel in den Schilderungen vom täglichen Wettstreit der Engel und Teufel um die Menschenseelen und er ist auch spannend, etwa wenn der Erzähler Österreich zeitweise verlassen muss, um für Aufruhr im zaristischen Russland zu sorgen und so das Feld zu bestellen für künftige Geschehnisse dort. Mailer ist ein Meister der Sprache und der Erzählkunst, er versteht sein Handwerk wie kaum ein zweiter und hebt sich wohltuend ab vom großen Einheitsbrei der meisten Werke zeitgenössischer US- Literatur; ohne Zweifel einer der bedeutendsten Schriftsteller der Gegenwart. Ohne Einschränkungen absolut lesenswert!


Genre: Romane
Illustrated by LangenMüller

Das siebte Kreuz

51W1oiNw2DL._SX302_BO1,204,203,200_Deutschland 1937: Im Konzentrationslager Westhofen bei Worms lässt der Kommandant aus Platanen sieben Kreuze errichten, um daran sieben geflohene Häftlinge nach erfolgter Gefangennahme als abschreckendes Beispiel zur Schau zu stellen. Einer der Flüchtlinge ist Georg Heisler, ein kommunistischer Aktivist, der sich nun auf die Suche macht nach alten Freunden und Verbindungen, die es ihm ermöglichen, das Land zu verlassen. Dabei muss er auf der Hut sein, denn in den zwei Jahren seiner Inhaftierung haben sich nicht nur die politischen Verhältnisse im Land geändert, sondern mit ihnen auch die Menschen; er weiß nicht, auf wen noch Verlass ist. Seine Verfolger, eine unheilige Allianz aus Polizei, Gestapo und SS, sind ihm stets dicht auf den Fersen und sie schrecken vor nichts zurück. Nach und nach werden alle Sträflinge gefasst, nur Georg, unterstützt von seinen Genossen und anderen aufrichtigen Menschen gelingt am Ende die Flucht nach Holland; das siebte Kreuz bleibt leer.

Dieser Roman gehört zu meinen Lieblingsbüchern, ich habe ihn unzählige Male gelesen. Anna Seghers erzählt darin Georg Heislers Geschichte in ruhigem und unaufgeregtem Stil, aber mit Worten von enormer Klarheit und Wichtigkeit. Sie vermeidet Plattheiten, auch die Nazis werden nicht als unmenschliche Monster dargestellt, sondern als die feigen Dummköpfe, die sie waren. Die Autorin weiß wovon sie schreibt, war doch auch ihr eigenes Leben geprägt von Flucht vor den Faschisten und Exil in fremden Ländern. Der Roman zeichnet ein beklemmendes Bild Deutschlands während der Hitler-Diktatur in einem Klima von Misstrauen und Bespitzelung, wo die Grenze zwischen Gut und Böse mitunter innerhalb einer Familie verläuft und nicht einmal Eheleute sicher sind, ob sie einander vertrauen können. Ebenso ein Thema ist die Entfremdung der Kinder von ihren Eltern durch die perfide Gehirnwäsche in den verschiedenen Nazi-Organisationen.

Dennoch ist es ein optimistisches Buch, es zeigt nämlich Menschen, die sich auch durch schlimmste Misshandlungen nicht zerbrechen lassen und andere, die, obwohl sie durch die Begegnung mit dem Staatsfeind in einen tiefen emotionalen Zwiespalt gestürzt werden, ohne nachzudenken das Richtige tun, weil sie ihre Anständigkeit nicht verloren haben. Nicht zuletzt Georg selbst – in seiner Jugend noch ein unbekümmerter Frauenheld – reift durch die Erfahrungen im KZ und auf der Flucht, er lernt, was wirklich wichtig ist; die schrecklichen Ereignisse bringen in ihm das Beste zum Vorschein. Es handelt sich somit auch um einen Roman über Freundschaft und Treue, über „die Entschleierung der Menschen, das Durchblitzen ihres wahren Gesichts“. „Das siebte Kreuz“ wurde unter der Regie von Fred Zinnemann erfolgreich verfilmt (Hauptrolle: Spencer Tracy), wer Gelegenheit hat, sollte sich dieses Werk nicht entgehen lassen. Schließen möchte ich mit dem Motto des Romans von Anna Seghers:

Dieses Buch ist den toten und lebenden Antifaschisten Deutschlands gewidmet


Genre: Politische Romane
Illustrated by Aufbau Berlin

Billard um halbzehn

Ein Tag i41gLwiF6FyL._SX312_BO1,204,203,200_m September 1958: Der rheinische Architekt Heinrich Fähmel begeht seinen 80. Geburstag, es ist die Zeit für Erinnerungen, für Rückblenden, nicht nur für ihn, sondern für die ganze Familie. Seine Frau, die im Irrenhaus lebt, ohne verrückt zu sein; sie erträgt nur das „normale“ Leben nicht und will endlich Rache nehmen (muss haben ein Gewehr) für die toten Kinder. Sein Sohn Robert, ebenfalls Architekt, der die vom Vater erbaute Abtei St. Anton in den letzten Kriegstagen sprengte, aus Hass auf die Nazis und ihre Kollaborateure, Mönche, die die Lämmer nicht geweidet haben, sondern stattdessen die Lieder der Faschisten sangen. Und auch Heinrich Fähmel selbst erinnert sich schmerzlich daran, wie er sein Lachen verlor, weil er erfahren musste, dass Ironie nicht ausreichte und nie ausreichen würde.

“Billard um halbzehn“ von Heinrich Böll ist eines jener Bücher, die mich in der Jugend fasziniert, begeistert und geprägt haben; ich habe es mehrmals geradezu verschlungen. Für diese Rezension las ich den Roman nun erneut und stellte erfreut fest, dass er immer noch funktioniert, der Zauber ist nicht verflogen. Natürlich ist der Stoff in erster Linie eine Abrechnung mit der Nazi-Zeit, dennoch hat er in meinen Augen nicht an Aktualität eingebüßt, da er sich grundsätzlich mit Fragen des menschlichen Charakters beschäftigt. Täter und Opfer, und Opfer die manchmal zurück schlagen, ohne dass sie deshalb zu Tätern werden. Opportunisten, die sich in jedem politischen System zurechtfinden und andere, die das eben nicht können, auch nicht vergessen und vergeben, denn sie sind nicht Gott und können sich seine Allwissenheit so wenig anmaßen wie seine Barmherzigkeit.

Die Charaktere sind streng eingeteilt in Gut und Böse, viel Spielraum für Zwischentöne bleibt nicht, sie kosten entweder vom „Sakrament des Büffels“ oder vom „Sakrament des Lammes“. Böll, der rigorose Moralist, fordert klare Entscheidungen, mit allen Konsequenzen, die dann zu tragen sind, in einer Zeit, in der eine Handbewegung das Leben kosten kann. Die Sprache, mit der er dies vorträgt ist ungeheuer intensiv, jedes Wort ist wichtig. Wie in fast allen seinen Romanen ist auch in „Billard um halbzehn“ die Konfrontation mit der katholischen Kirche wieder ein Thema, sie steht zwar nicht im Vordergrund wie bei „Ansichten eines Clowns“, aber sie ist da. Böll nimmt die Kirche beim Wort, er misst sie an ihren eigenen Ansprüchen und stellt fest, dass sie diesen nicht gerecht wird. Gewogen und zu leicht befunden.

 


Genre: Romane
Illustrated by dtv München

Trilogie des laufenden Schwachsinns

41Vi3yOi1oL._SX298_BO1,204,203,200_Ein Klassiker aus meiner Bibliothek und eines (bzw. drei) meiner liebsten Bücher überhaupt.

Der erste Band trägt den trefflichen Titel:

Die Vollidioten
Ein historischer Roman aus dem Jahr 1972

Der Roman spielt in Frankfurt und schildert die Ereignisse bzw. Nicht-Ereignsse an sieben Tagen im Leben einer Gruppe junger Menschen, die nicht viel mehr zu tun haben, als in Kneipen und Cafés zu sitzen und allerlei Unsinn zu veranstalten. Handlung gibt es praktisch keine, dafür beschreibt der Ich-Erzähler mit viel Liebe zum Detail und seiner unvergleichbar humorvoll-virtuosen Sprache zwischenmenschliche Beziehungen und Bemühungen, hektisch verkrampfte Erotik mit dem Ziel des „Flachlegens“. Die wunderbar skurillen Gestalten, allesamt Müßiggänger und Tagediebe aus der Frankfurter Kultur-Schickeria sind für den Leser dennoch so interessant, dass er ihnen gerne bei ihrem sinnfreien Treiben folgt. Hier ist eine Leseprobe:

Aber vielmehr ist Herr Wilhelm Domingo ein stämmiger, ruhiger und sachlicher Mann aus Baden, der überhaupt nicht singt, sondern sich darauf spezialisiert hat, von seiner Wohnung aus das treibende Straßenleben zu beobachten. Jedesmal, wenn ein gelber oder grüner Lieferwagen eilig um die Ecke kurvt, so daß die Reifen quietschen, muß Herr Domingo lachen. Offenbar kann er ganz gut davon leben.

Geht in Ordnung – sowieso — genau —
Ein Tripelroman über zwei Schwestern, den ANO-Teppichladen und den Heimgang des Alfred Leobold

Auch im zweiten Band der Trilogie benutzt Henscheid wieder die Ich-Form. „Moppel“, ein einigermaßen gut situierter Jung-Rentner, langweilt sich in dem kleinen Kaff Seelburg. Seine erotischen Ambitionen mit zwei Schwestern verfolgt er eher halbherzig und schon bald ist er viel mehr an den Geschehnissen im ANO-Teppichladen interessiert, den Alfred Leobold und sein Mitarbeiter Hans Duschke (ein greiser Treibauf, ständig auf der Jagd nach „Büchsen“) zu einer Kneipe umfunktionieren, in der rauschende Feste gefeiert werden.

Der Leser trifft auch hier wieder auf besonders bizarre Protagonisten, die durch ihre liebevolle Zeichnung faszinieren. Besonders Alfred Leobold, der seinen abgang mit grandioser Würde und wahrhaft stilvoll inszeniert, weiß zu begeistern, so dass das Traurige an der Geschichte, das langsame Sterben eines Alkoholikers, in den Hintergrund rückt. Der Herr der Teppiche hat stets alles im Griff und als souveräner Herr des Geschehens schmiedet er, ungeachtet seiner angegriffenen Gesundheit, jede Menge kühne Pläne. So wie hier:

Sabine und Alfred Leobold in Afrika! Immer noch fiel ich aus allen Wolken auf die regnerische Stadt Seelburg hinaus. So hatte es ja kommen müssen! Aber dieser Leobold würde vor lauter Schwäche ja nicht einmal bis zum Brennerpaß kommen, und Sabine hatte keinen Führerschein, fiel es mir in diesem Moment überraschend zu! … Die Vorstellung Alfred Leobolds im Kongo, das Lebenswerk Albert Schweitzers besichtigend und mit etlichen „Geht in Ordnung“ und „genau“ lobend und dann alle umstehenden 85 Neger zu einem Sechsämter einladend, machte mich, mitten auf der Straße, hemmungslos lachen.

Die Mätresse des Bischofs

Der Titel ist bewusst irreführend, um Käufer anzulocken, wie der Erzähler gleich zu Beginn freimütig zugibt. In der Kleinstadt Dünklingen passiert nicht viel Aufregendes und so ist es nicht weiter verwunderlich, dass sich der Privatier Siegmund ein seltsames Hobby zulegt: Er spezialisiert sich auf die Observierung der „Iberer-Buben“, zwei ältliche katholische Brüder, die eigentlich nichts anderes tun, als jeden Tag zur gleichen Zeit einen Rundgang durch die Stadt zu absolvieren. Trotz dieser interessanten Freizeitgestaltung, die rasch zur Obsession ausufert, findet der Autor auch noch Zeit für höchst vergnügliche Scharmützel mit seinem Schwager Alwin (ein weizenbiertrinkender Altkommunist), herrliche Parodien kirchlicher TV-Sendungen und das Verfassen frivoler Gedichte:

Mein ungeheurer Schwengel
Ist ein gar dunkler Engel
Noch gibt er Ruh, der Aff,
Noch ist er morsch und schlaff,
Doch wird er erst mal wach,
Dann, Frauen, guten Tach!

Ich habe die „Trilogie des laufenden Schwachsinns“ unzählige Male gelesen und immer wieder Tränen gelacht. Die pralle Fülle der Sprache, die augenzwinkernd sympathische Beschreibung der Hauptfiguren und die Freude des Autors am Fabulieren lassen selbst absurde Banalitäten als etwas Großes erscheinen.

Eckhard Henscheid begründete zusammen mit F.K. Waechter, F.W. Bernstein, Robert Gernhardt und anderen die Neue Frankfurter Schule und schrieb auch für das Satiremagazin Titanic. Sein virtuoser Humor ist einzigartig und er ist in allen nur denkbaren Literaturgattungen versiert, dabei ständig bemüht, die schärfste Waffe des Dichters, die Sprache, vor Verblödungen zu beschützen. Nicht umsonst trägt eines seiner Bücher den Titel „Dummdeutsch“


Genre: Humor und Satire
Illustrated by Zweitausendeins Frankfurt am Main

World Gone By

518+X7qqFfL._SX323_BO1,204,203,200_Tampa, Florida 1943: Der Gangster Joe Coughlin hat sich aus dem aktiven Kriminalgeschäft zurückgezogen und ist (fast) nur noch als Berater für die Mafia-Familie Bartolo tätig. Gemeinsam mit Sohn Tomas pendelt er zwischen Florida und Kuba, der Heimat seiner verstorbenen Frau. Die Geschäfte florieren nicht zuletzt dank des Bedarfs an Rohstoffen im Krieg und Joe genießt höchstes Ansehen, verkehrt nicht nur in der Unterwelt von Havanna und Tampa, sondern dort auch in den besten Kreisen.

Doch die Vergangenheit fordert ihren Tribut und als er einen Hinweis bekommt, dass auf seinen Kopf ein Preis ausgesetzt wurde ist es vorbei mit dem Ruhestand. Außerdem fügen die Gesetzeshüter dem Imperium empfindliche Verluste zu, denn sie scheinen Hinweise aus dem inneren Kreis der Familie zu bekommen. Joe ist gezwungen, in sein altes Leben zurückzukehren und zieht noch einmal in die Schlacht…

Im dritten Teil der Coughlin-Trilogie (Teil eins »The Given Day«, Teil zwei »Live By Night«) zieht Dennis Lehane erneut alle Register seines Könnens und begeistert den Leser mit faszinierenden Figuren (erinnern z.T. an die der TV-Serie »Sopranos«) und spannenden Geschichten von Freundschaft, Liebe und Verrat. Wie im richtigen Leben gibt es nicht nur schwarz oder weiß, sondern alle Schattierungen und Farben dazwischen und die Protagonisten handeln in dem stringenten Plot stets nachvollziehbar, wenn auch nicht immer fehlerlos.

Bei »World Gone By« handelt es sich zwar im Gegensatz zu den Vorgängern »nur« um einen Kriminalroman oder Thriller, aber der ist hochklassig geschrieben und die historischen Hintergründe sind dabei das Salz in der Suppe. Wir treffen in dem Buch u.a. die Mafia-Größen Lucky Luciano und Meyer-Lansky, sowie den korrupten kubanischen Präsidenten Batista; allerdings sind sie gekonnt eingebettet in die Handlung und nicht nur Staffage. Dennis Lehane liefert mit »World Gone By« einen krönenden Abschluss der Trilogie, schade, dass es vorbei ist.

P.S.: Das Buch ist noch nicht in deutscher Fassung erschienen.

 


Genre: Kriminalromane, Thriller
Illustrated by William Morrow

Miss Blackpool

Miss BlackpoolWir schreiben die bewegten 60er Jahre und kurz bevor Barbara, ein junges ehrgeiziges Mädchen, sich zur „Miss Blackpool“ krönen läßt, wird ihr klar, dass es nicht das ist, was sie will.

Denn ihr wirklicher Traum ist es, in die Fußstapfen der bewunderten Komödien-Schauspielerin Lucille Ball zu treten. Kurzentschlossen verlässt sie das vom Arbeitermilieu geprägte Nord-England, geht ins swinging London, ändert ihren Namen in Sophie Straw und schon nach kurzer Zeit entzückt sie die britische Fernsehnation als frischer Stern am Comedy-Himmel in einer Sitcom, die in ihrem Herkunftsmilieu spielt und ausgerechnet Barbara (and Jim) heisst.

Diese Zeit, vor allem die hinter den Kulissen verbrachte Zeit mit allen Mitwirkenden, wird die beste Zeit ihres Lebens werden. Doch irgendwann lassen sie alle das Skript zu nahe an sich heran und sie beginnen, die Dramen aus der Serie auf ihr eigenes Leben zu übertragen. Plötzlich sehen sie sich alle vor eine Wahl gestellt. Die Drehbuchautoren Tony und Bill, von Haus aus Comedy-Besesssene, verbergen beide ein Geheimnis. Doch während der eine Frau und Kind zu versorgen hat, fühlt der andere sich zu Höherem berufen. Regisseur Dennis hasst seine Ehe, aber er liebt seinen Job (und scheinbar aussichtslos Barbara/Sophie). Der männliche Co-Star Clive steht sich vor allem selbst im Weg. Sie alle müssen entscheiden, ob und wie sie weitermachen wollen oder ob sie sich für ein anderes Programm entscheiden.

Soweit der Inhalt von „Miss Blackpool“, den neuen Roman des britischen Kultautors Nick Hornby. Hätte man mir dieses Buch als „blind audition“ in die Hand gedrückt und mich gebeten: „Rate den Autor. Kleiner Hinweis: Du hast auch sonst jede Zeile von ihm gelesen“ – ich hätte mich schwer getan, dieses Buch einwandfrei als „einen Hornby“ zu identifizieren. Was an sich ja so schlecht gar nicht sein muss. Jeder Autor will sich weiterentwickeln, muss es sicher auch. Aber – was sich schon bei seinen letzt erschienenen Short Stories andeutete, ist jetzt zur Gewissheit geworden: Nick Hornby weiß ganz offensichtlich nicht, wohin er sich entwickeln soll oder (schwerwiegender) entwickeln kann.

Aber auch so war mein erster Gedanke: Was bitte gibt das jetzt? Mad Men für die englische Landbevölkerung? Muss jetzt unbedingt der Nächste auf den gerade so beliebten Zug der Sechziger-Jahre-Nostalgie aufspringen? Das Ganze dann auch noch gegossen in eine Gemengelage aus selbstmitleidigem Gejammere, möglicherweise autobiographisch gefärbten Problemen (die zerrissenen Drehbuchautoren Bill und Tony!) und Milieustudie. Nicht nur die titelgebende Beinahe-Miss-Blackpool gerät seltsam blutleer. Dass weibliche Figuren in Hornby Romanen oft zu holzschnittartig geraten, ist nichts Neues, aber dass das ganze Buch einem eigenartig fremd bleibt, schon.

Es ist auch das erste Mal, dass mit der Tradition gebrochen wird, einen Nick-Hornby-Roman in Deutschland mit demselben Titel zu veröffentlichen wie im Original. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt, aber man kommt nicht umhin zu bemerken, dass es in diesem Fall angebracht war. Denn was Barbara/Sophie zum „Funny Girl“ (so der Originaltitel) macht, bleibt tatsächlich unklar. Der Autor erzählt uns unermüdlich von ihrem außergewöhnlichen komischen Talent, aber nicht ein einziges Mal kann man mit ihr oder über sie lachen.

Es ist wohl so, dass Dinge, die auf der Bühne oder auf einem Bildschirm lustig wirken, in einem Buch nicht witzig rüberkommen. Außerdem bleibt Hornby nicht bei seiner Hauptperson. Er mäandert von einem Charakter, von einer Nebenlinie zur anderen und Barbara/ Sophie wird eher zum Rahmen für die männlichen Psychodramen.

Die frische, leichte Überzeichnung und die daraus resultierenden Schrulligkeiten der handelnden Personen, für die Nick Hornby berühmt und geliebt wurde, fehlen fast völlig. Während Hornby das Buch erkennbar dazu nutzen möchte, sogenannte leichte und gut gemachte Unterhaltung zu verteidigen, geht ihm selber jegliche Leichtigkeit verloren. Ganz klar nutzt er seine eigentlichen Stärken nicht. Vielleicht liegt es daran, dass ihm die gewählte Zeit nicht vertraut ist und er zuviel Energie auf originalgetreue Darstellung verwendet hat. In seinen bisherigen Büchern schöpfte er im wesentlichen aus eigenen Erfahrungen und schrieb über Dinge und Zeiten, die ihm vertraut waren. Möglicherweise sind es deswegen auch die Figuren der Drehbuchautoren, die dem Leser am vertrautesten werden und mit denen er am meisten mitfiebert.

Seine schönsten Geschichten schrieb Hornby immer, wenn er von den Überraschungen erzählte, die das Leben für jeden von uns bereithält. Das zeigt auch der wehmütige, aber liebevolle und schöne Epilog. Man mag bemängeln, dass der eigentlichen Thematik des Buches ein richtiges Ende fehlt und es nur ein Kunstgriff ist, das Buch mit einem Epilog zu beenden, der in der Gegenwart spielt. Doch so gibt der Epilog dem Buch ein zwar melancholisches, aber versöhnliches Ende.

Miss Blackpool ist Hornby erster Roman nach 5 Jahren, in denen er hauptsächlich als Drehbuchautor gearbeitet hat. Bleibt die Hoffnung, dass er damit nicht einen weiteren Schritt „a long way down“ macht. Dennoch: Enttäuscht werden eher die eingefleischten Hornby-Fans sein, deren Erwartungen zugegebenermaßen sehr hoch hängen. Wer zu „Miss Blackpool“ greift und leichte, gut gemachte Unterhaltung sucht, wird sich mit diesem Buch nicht schlecht bedient finden.

Erstveröffentlichung dieser Rezension in den Revierpassagen.de  


Genre: Romane
Illustrated by Kiepenheuer & Witsch Köln

Im Aufruhr jener Tage

41tgFUvy6SL._SX327_BO1,204,203,200_Vorweg: Ich habe das Buch im amerikanischen Original gelesen, zur Qualität der Übersetzung kann ich also nichts sagen.

Boston 1918: Der junge Polizist Danny Coughlin soll seinen Vorgesetzten beweisen, dass er für höhere Aufgaben taugt, indem er die überall sprießenden Gruppen von Anarchisten und Bolschewiken infiltriert; auch in den Polizeigewerkschaften soll er Informationen sammeln für seinen Vater, der Polizeichef ist und dessen Freunde, allesamt honorige Mitglieder der Stadtelite.

Luther Laurence ist ein junger Schwarzer, frisch verliebt und werdender Vater, der hofft, sein ganz persönliches Stückchen Glück zu finden, als er nach Tulsa kommt, wo der Erdölboom in vollem Gange ist. Doch die Verhältnisse, die sind nicht so, Luther gerät schnell auf die schiefe Bahn und als der Chef seiner Gang tot am Boden liegt lässt er Frau und Ungeborenes zurück und flieht alleine nach Boston’

»The Given Day« (so der Originaltitel) ist der erste Teil einer Trilogie (Teil zwei »Live By Night«, Teil drei »World Gone By«) und es war kein Geringerer als Stephen King himself, der mir via Twitter diese Bücher empfahl. Und was soll ich sagen, der Roman ist einfach großartig. In diesem epischen Meisterwerk werden viele Geschichten erzählt, von Familie, Freundschaft, Liebe und Hass, vom Erwachsenwerden, vom Kampf des Individuums gegen die Verhältnisse, von Menschen, die Entscheidungen treffen müssen, vom Leben in all seinen Facetten. Der Autor erledigt das stets voller Empathie, seine Protagonisten sind alles andere als eindimensional, nicht nur schwarz oder weiß.

Ganz nebenbei lehrt das Buch auch Geschichte, der historische Hintergrund ist stets präsent, die Grippeepidemie von 1918 kommt ebenso darin vor wie die Baseballlegende Babe Ruth. Dieser spannende Zeitabschnitt in den USA ist geprägt von Rassen- und Klassentrennung, von Armut und Korruption, aber auch vom Aufbegehren der Unterdrückten gegen die Unterdrücker, der Beherrschten gegen die Herrschenden. Dennis Lehane fesselt mit seiner herrlichen Erzählweise den Leser, trotz des beachtlichen Umfangs des Buches kommt nie Langeweile auf und ich freue mich schon sehr auf die weiteren Bände!


Genre: Romane
Illustrated by List München