Wörterbuch Schweizerdeutsch – Deutsch

Des Schweizers Deutsch, so der Zürcher Stadtpräsident a.D. Joseph Estermann im Vorwort, sei vielleicht über den Ton der Mitteilung befremdlich für den Fremden. Doch Besucher der Schweiz dürften gewiss sein: »Je grober man sie anschnauzt, um so freundlicher ist es gemeint«.

Mit diesen Worten gewappnet begibt sich der Leser in die Auswahl von Berndüütsch, Baseldüütsch und Zürichdüütsch, die das Wörterbuch präsentiert. Zaghaft nähert er sich dem Idiom, das angeblich allein 22 verschiedene Vokale kennt und versucht, jeweils auf der ersten Silbe zu betonen und das »ch« als »ach«-Laut auszusprechen.

In dem schmalen Band erfährt er nun, dass beispielsweise ein »Brockenhaus« kein berühmtes Nachschlagewerk, sondern ein Trödelladen ist. »Äa Brünneli mache« bedeutet, einem natürlichen Bedürfnis nachzukommen, was vor allem dann wichtig ist, wenn zu viel »Chlöpfmoscht« (Sekt) getrunken wurde. Und wird man auf der Heimfahrt behördlich an das »Gurtentragenobligatorium« erinnert, dann heißt dies, die Anschnallpflicht zu beachten.

Endlich weiß ich nun auch, was es bedeutet, wenn zwei Tüpflischisser nach dem Töggeliputze Tschütterlichaschte spielen. Dann treten nämlich zwei Korinthenkacker nach dem Zähneputzen zum Tischfußball an …

Ich habe jedenfalls herzlich gelacht!


Genre: Lexika und Nachschlagewerke
Illustrated by Haffmans bei Zweitausendeins

Schreiben unter Strom

Der Betrachter des missverständlichen Buchtitels mutmaßt vielleicht, der Verfasser widme sich denjenigen Autoren, die im Vollrausch, unter Alkohol, Drogen oder welchen erhellenden Substanzen auch immer ihre literarische Produktion zur Höchstform bringen. Doch da liegt er falsch.

Tatsächlich behandelt Porombka das Schreiben unter Verwendung von Elektrizität – also mittels Rechner, Tablet, Smartphone oder welchem Gerät auch immer. Und dabei geht es ihm im Besonderen um neue Formen der Literatur, die sich ob der technischen Bedingungen in Kürze üben müssen: um SMS, Twitter & Co.

Dazu stellt er – akademisch korrekt – zuerst einmal ein paar Grundprinzipien, des »Schreibens unter Strom« vor. Danach stellt er Projekte wie »Twitteratur« vor, die letztlich wieder in klassische Papierbücher münden. Schließlich befasst er sich mit Projekten, die das (Strom)Netz nicht verlassen und damit ihre eigene organische Lebensform entwickeln.

Wer also mitunter gern mal mit dem Handy dichtet, sich per Twitter ultrakurz literarisch oder lyrisch äussern möchte oder über das reine Vermitteln von Alltagsnachrichten hinaus die Möglichkeiten neuer Medien nutzen will, der bekommt in diesem Büchlein neben einigen interessanten historischen Betrachtungen durchaus praktikable Anregungen.

Dass der 160 Seiten starke Holzband als Elektrobuch freche € 10,99 kostet, zeigt (mir zumindest), dass der Dudenverlag weder echtes Interesse hat, sich neuen Medien zu öffnen noch die Zielgruppe erreichen möchte.


Illustrated by Duden

Die Reise der blauen Perle nach Kambodscha

Im dritten Band ihre fantastischen Erzählung von der blauen Perle, die von Land zu Land wandert, landet die Autorin in Kambodscha. Hier trifft ein kleiner Junge auf eine von Tierfängern bedrohte Gibbonmutter und ihr Junges. Durch die Magie der Perle versteht Heng, der Protagonist, die Affensprache, während die anderen Menschen diese natürlich nicht verstehen. Gemeinsam besuchen die Gefährten Sehenswürdigkeiten des Landes und erfahren dabei viel über Land, Leute und Kultur.

Die Abenteuerserie »Die Reise der blauen Perle« will Mädchen und Jungen die Augen für die Länder der Welt öffnen. Jeder Band der Abenteuerserie spielt in einem neuen Land mit neuen Hauptfiguren und ist eine in sich abgeschlossene Geschichte. Die geheimnisvolle blaue Perle bringt ein Mädchen oder einen Jungen mit einem landestypischen Tier zusammen. Sie freunden sich an und erleben zwei unvergessliche Tage. Die blaue Perle ist eine Metapher für unsere Erde: kostbar und geheimnisvoll. Dass die Kinder die blaue Perle immer an einen Freund senden müssen, symbolisiert, dass die Erde nicht unser Eigentum ist und dass wir zunehmend vernetzt sind. Im Anhang der jeweiligen Abenteuer gibt es Nützliches, wie einen kleinen Sprachführer und kindgerechte Links für die eigene Recherche.

Das zentrale Anliegen der Buchreihe um die blaue Perle ist lebendige Wissensvermittlung. Die dosierte Abgabe von Wissen ist eine pädagogische Aufgabe, der sich die Autorin mit Hingabe hingibt. Ob dies jüngere Leser tatsächlich interessiert oder eventuell eher abschreckt, vermag ich nicht zu beurteilen. Sicher bin ich aber, dass mehr Farbe den Geschichten gut bekommen würde. Es handelt sich bei Kambodscha schließlich um ein exotisches Land, das den allermeisten Lesern unbekannt sein dürfte, und da helfen Farbe, Geräusche und Gerüche über allzu trockene Stellen hinweg. Besonders der akademisch gebildete Autor muss mit viel Fingerspitzengefühl trockene Fakten ansprechend verpacken. Nur dann schaltet der Leser sein Kopfkino an und folgt dem Autor atemlos in dessen Welt. Ziel des Buches ist schließlich, den jungen Leser auf eine Reise einzuladen und ihm das gemeinsame Erleben derart schmackhaft zu machen, dass er sehnsüchtig die nächste Folge der magischen Weltreise erwartet. In dieser Hinsicht traue ich der Autorin noch sehr viel mehr zu.

Die Idee zu der Länder-Abenteuerserie kam Mo Anders übrigens auf Maui. Mangels Kinderbücher im Reisegepäck erfand sie die Geschichte eines Kindes, das sich mit einem Delfin anfreundet. Jeden Abend folgte ein weiteres spannendes Abenteuer, in das sie Informationen zum Ausflug des nächsten Tages schmuggelte. Die beiden Freunde tauchten wagemutig nach einem versunkenen Schatz, bestiegen mühsam den Vulkan Haleakala, beobachteten gebannt die imposanten Buckelwale in der Bucht und kosteten beim Luau neugierig hawaiianische Spezialitäten. Eines Tages tappte ihre jüngste Tochter mitten in der Nacht barfuß ans Bett und weckte die Mutter mit der Forderung, die Geschichte sofort weiterzuerzählen. Damit war die Idee für eine Abenteuerserie, in der Kinder Besonderheiten von Ländern entdecken können, geboren.


Genre: Kinder- und Jugendbuch
Illustrated by Kindle Edition

Zwölf Jahre als Sklave – 12 Years A Slave

Durch den mit einem Oscar als bester Film des Jahres 2014 ausgezeichneten Film »12 Years a Slave« des britischen Regisseurs Steve McQueen ist ein 1853 erschienener autobiographischer Text wieder ans Licht der Öffentlichkeit gekommen, der in seiner Eindringlichkeit das Blut in den Adern gefrieren lässt.

Es handelt sich dabei um »Zwölf Jahre als Sklave« von Solomon Northup, die bewegende Autobiographie eines frei geborenen schwarzen Amerikaners, der entführt und versklavt wurde, ehe er endlich befreit wurde. Dieser Augenzeugenbericht schildert aus erster Hand die barbarischen Bedingungen, unter denen viele Schwarze in den Südstaaten arbeiten und vegetieren mussten.

Northup, den Sklavenhändler betäubten und seiner Familie entrissen, beschreibt eindringlich seine Erlebnisse als herrenloses Tier, das von seinen jeweiligen Besitzern nach Gutdünken herumgestoßen, misshandelt und verkauft werden konnte. Er bezeugt zugleich, dass es unter den Sklavenhaltern sowohl menschliche als auch grausame Männer gab.

Regisseur Steve McQueen hatte schon länger den Wunsch, einen Film über Sklaverei zu machen und über einen Schwarzen zu erzählen, der in die Sklaverei verschleppt wird. Aber er wusste nicht, wie sich so etwas tatsächlich abgespielt hatte. Seine Frau riet ihm, sich an einem historisch verbürgten Fall zu orientieren. So entdeckten sie das Buch von Solomon Northup. Steve McQueen im Interview: »Als ich es las, war ich fertig … Es war, als hätte ich das Tagebuch der Anne Frank in die Hände bekommen.«

Die Historikerin Petra Foede legte gemeinsam mit dem Buchgestalter und Setzer Rainer Zenz parallel zum Film eine Übersetzung der Erinnerungen Northups vor. Ihr E-Book brilliert (im Unterschied zu zeitgleich vorgelegten Ausgaben) mit Originalillustrationen, umfangreichen Anmerkungen, einem Nachwort zum weiteren Leben der Autors, zur Rezeptionsgeschichte des Buches sowie einer historischen Fotodokumentation.

Die Übersetzerin erläutert den Erfolg des Buches, der an »Onkel Toms Hütte« von Harriert Beecher Stowe anknüpfte, das ein Jahr (1852) früher erschienen war. Sie ordnet das Werk in einen Kreis von rund 80 ähnlichen Autobiographien ein, die seinerzeit eine neue Literaturgattung, die »Sklavenerzählung« (slave narrative), begründeten. Northups Werk erreichte Auflagenzahlen wie kein anderes Werk des Genres, deren Autoren sich der Antisklaverei-Bewegung verpflichtet sahen.

Die Lektüre der Lebensschilderung von Solomon Northup hinterlässt einen nachhaltigen Eindruck über das Martyrium eines frei geborenen Amerikaners, der lediglich aufgrund seiner Hautfarbe in die Sklaverei verschleppt wurde. Es handelt sich um die ergreifende Schilderung eines der vielen traurigen Kapitel der amerikanischen Geschichte, die ohne Schwarzweißmalerei auskommt.


Genre: Biographien, Briefe, Memoiren
Illustrated by Kindle Edition

Tausche Zement gegen Hemingway

In den frühen 80er Jahren war es für unabhängige westdeutsche Journalisten nicht einfach, Einreisegenehmigungen für die DDR zu erhalten und über dort Erlebtes zu berichten. Einer der wenigen, dem dies gelang ist Rupi Frieling, der nun seine damaligen Reportagen in einem hochinteressanten Band veröffentlicht.

Im Vorwort erzählt er über die damaligen Arbeitsbedingungen, die sicherlich nicht einfach waren für den Freigeist Frieling, aber er machte das Beste daraus und nahm trotzdem kein Blatt vor den Mund.

Es folgt ein fundiert wertvoller Überblick über die Geschichte der DDR-Literatur; dabei lassen sich so manche Perlen finden oder erneut entdecken.

Die Reisereportagen schildern eindrucksvoll ein Land der Leselust, in dem die Einwohner Schwierigkeiten haben, ihren literarischen Hunger zu stillen, besonders natürlich den nach exotischen Köstlichkeiten, die nicht unbedingt im Kulturkaufhaus des sozialistischen Realismus zu finden sind.

Mitunter amüsant fand ich die beschriebenen Bemühungen der DDR-Oberen, bei den von ihnen vereinnahmten großen Denkern wie Goethe, Luther oder Karl May möglichst nur das herauszupicken, was ins sozialistische Weltbild passt; mich erinnert das frappierend an die politische Korrektheit unserer Tage, in denen Klassiker und Schulbücher umgeschrieben werden müssen, um vermeintliche Diskriminierungen zu vermeiden.

Trotz solch aberwitziger Versuche war die DDR wahrlich kein Volk von Literaturbanausen, sondern im Gegenteil ein Land der Leselust, wie Frieling auch im Vorwort resümiert. Ich erinnere mich noch gut an meinen ersten Besuch in Ostberlin, als ich keinerlei Schwierigkeiten hatte, das unfreiwillig erhaltene Begrüßungsgeld in Literatur zu investieren; beeindruckend dort die Vielzahl anspruchsvoller politischer Bücher (auch aus der BRD), die im Westen ein Schattendasein fristeten, wenn sie denn überhaupt erhältlich waren.

Frieling legt mit diesem Buch ein wichtiges Stück Zeit- und Kulturgeschichte aus einem Land vor, von dem man heute leider immer weniger weiß und das ist schade.


Genre: Kulturgeschichte
Illustrated by Internet-Buchverlag Berlin

Tausche Zement gegen Hemingway

Lust auf DDR-Leselust?

Ich muss gestehn: Zu DDR-Zeiten hat mich der Literaturbetrieb „drüben“ überhaupt nicht interessiert. Sicher, Namen wie Johannes R. Becher, Anna Seghers, Stephan Hermlin, Christa Wolf hab’ ich als westdeutscher Literaturbeflissener schon zur Kenntnis genommen und das eine oder andere davon auch gelesen. Doch dass sich die DDR-Bürger auch beim Buch in einer Mangelsituation befanden – ich hätte es mir denken können, hab’ darauf aber keinen Gedanken verschwendet. Waren mir und meiner Frau, die mit ihren Eltern der CSSR republikflüchtig den Rücken gekehrt hatte, ja ohnehin der ganze Ostblock verschlossen. Sollten die in der DDR doch, wie gewollt, ihren eigenen Staat aufmachen – und lesen, was ihnen die marxistisch-leninistische Ideologie erlaubte …

Doch stopp! Fast hätte ich’s vergessen. Ich muss noch etwas gestehn: dass ich als Schüler und Student nur zu gerne die Möglichkeit wahrgenommen habe, günstig an die Brecht-Ausgabe und die Romane der großen Russen Dostojewski und Tolstoi aus dem Aufbau-Verlag ranzukommen. Ja, da gab’s nämlich auch bei mir so was wie „Tausche Zement gegen Hemingway“ – allerdings anders gewichtet, gerichtet und grenzüberschreitend im Sinne von „Tausche Hemingway gegen Zement“ – eine Freundin (Ost) meiner Großmutter (West) besorgte mir die begehrte Literatur und bekam dafür die benötigten Naturalien-Pakete …

Fast mit schlechtem Gewissen nehme ich also das Büchlein von Ruprecht Frieling in die Hände. Ich sag mir: „Nun befass dich doch nach 25 Jahren endlich mal mit dem Literaturbetrieb ‚drüben’! Wie war das denn?“ Ich hätt’s nicht gedacht, aber ich lege das Büchlein nicht eher aus der Hand, bis ich’s durchgelesen habe! Schon der zweite Untertitel macht mich neugierig: „Berichte aus dem untergegangenen Land der Leselust“. Die ehemalige DDR ein „Land der Leselust“? Wie denn das?

Schon bald kriege ich Lust zu lesen, was der Autor in einer Reihe von einzelnen Studien vor mir ausbreitet, übrigens, wie schon angedeutet, mit z.T. meine Neugier weckenden Überschriften wie bereits dem Cover-Titel („Kurze Geschichte der DDR-Literatur“), „Stumpfe Klingen, scharfe Pfeile“ (u.a. „Was ist ein politisches Buch?“, „Politische Ladenhüter, heimliche Bestseller“), „Wer ist der wahre Erbe? Diskussionen um Herrn Goethe …“, „Straßen nach Weimar sind Straßen zu Goethe“, „Am Lagerfeuer in Radebeul. Auf den Spuren Karl Mays in der DDR“, „Zu Gast bei Martin Luther“, „Der Verleger und das schöne Buch“ etc. etc.

Es sind in diesem Sammelbändchen übrigens lauter Artikel vereint, die Frieling in den Jahren 1982/83 an verschiedenen Orten veröffentlicht hat, wie z.B. bei dtv, Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt, Westermanns Monatshefte, Börsenblatt des deutschen Buchhandels. Er hatte als einer von ganz wenigen West-Journalisten die Chance, in dieser Zeit die DDR bereisen und dort recherchieren zu dürfen, wenngleich unter scharfen Auflagen. Seine Karriere als DDR-Reisekorrespondent endete allerdings mit einem Einreiseverbot, als sich der Staat durch Frielings Hotel- und Gaststättenführer und eine Bemerkung über wenig schmackhafte Pommes frites beleidigt fühlte!

Ich will hier nicht en detail auf Frielings Beobachtungen im „Land der Leselust“ eingehen. Ich will die Spannung eigener Lektüre nicht nehmen, sondern dazu anstacheln, das Büchlein selbst in die Hand zu nehmen. Es hält nämlich ein Lesevergnügen bereit, wenn man „vergnüglich“ findet zu lesen, welch seltsame Blüten der DDR-Literatur-, Lektüre- und Kulturbetrieb aus westlicher Sicht trieb. Deshalb nur ein paar Andeutungen, zugegebenermaßen willkürlich-subjektiv und von einem Leser, der nicht die Gelegenheit hatte, die sozialistisch geprägte Lesekultur selbst in Augenschein zu nehmen:
• Man lächle: Plaste-Körbe als Zugangsberechtigung beim Besuch einer mäßig bestückten Buchhandlung, in der selbst (ost-)inländisch Interessantes nur mit viel Glück unter dem Ladentisch und West-Lektüre bloß mit guten Beziehungen oder einer Ware (eben: „Zement gegen Hemingway“) zu bekommen ist.
• Man bedenke: Bücher als Mangelware als Folge von Papierkontingentierung und die DDR bezüglich Titelvielfalt als Schlusslicht in Europa.
• Man staune: Goethe als Vorreiter der Arbeiter- und Bauernmacht in einem touristisch höchst langweiligen, aber klassisch verschnörkelten Weimar.
• Man frage sich: Ein geschäftstüchtig vermarkteter Karl May, aber ganz ohne seine Romane, ohne Winnetou und Old Shatterhand?
• Man stelle sich vor: Das Großreinemachen in Halle, Eisleben, Wittenberg und Eisenach auf dem Weg zum 500. Geburtstag Martin Luthers, dem vom DDR-Staat vereinnahmten, auf marxistisch-leninistischen Forschungsstand getrimmten Reformator und Rebell.

All dies und noch viel mehr bekommen wir präsentiert in Form von Studien, Zeitschriftenartikeln und Interviews von einem Autor, der, wie wir längst wissen, so leserfreundlich, so klar, so prägnant zu formulieren versteht, dass man, ohne stecken zu bleiben, auch dieses Büchlein in einer Rutsche durchliest.

Eberhard Kleinschmidt


Genre: Kulturgeschichte
Illustrated by Internet-Buchverlag Berlin

Das Allerletzte

Der Bildungsbürger weiß es genau: »Mors certa hora incerta« (»Der Tod ist sicher, die Stunde ungewiss«). Sicher ist, dass wir eines Tages dem Tod gegenübertreten, ohne den Zeitpunkt zu kennen. Vor diesem Hintergrund kann es nützlich sein, sich mit all dem zu befassen, was man schon immer über den Tod wissen wollte.

Abgesehen von der rein theoretischen Wahrheit, dass es ohne den Tod kein Leben gibt, nehmen wir den individuellen Tod von Angehörigen, Freunden und Bekannten mit Bestürzung auf und versuchen darüber hinaus, den Gedanken an das eigene Ende möglichst weit von uns zu schieben. Folglich findet immer seltener eine rechtzeitige Auseinandersetzung mit dem Tema Tod statt. Diese Lücke will das Buch schließen, das sich als lesenswerte Fleißarbeit zum Thema Tod in thematischen Komplexen wie Geist, Körper, Recht, Glaube, Geschäft, Gesellschaft und Leben darstellt.

Ausgehend von Berichten über Nahtoderfahrungen spiegeln die Autoren den aktuellen Stand der Forschung auch in Hinsicht auf Transplantationen von Köpfen auf ganze Körper von Verstorbenen, um dem Gehirn auf diese Weise ein quasi ewiges Leben zu ermöglichen. In wenigen Jahrzehnten werden Chips ausreichend leistungsstark sein, um unser Denkorgan komplett zu spiegeln und damit eine gewisse Unsterblichkeit zu ermöglichen. Spannend sind die daraus resultierenden Fragen, welche Rechte, Pflichten und Verantwortlichkeiten beispielsweise Gehirne ohne Körper haben.

Die beiden Autoren reisen durch alle Themengebiete – von Techniken des Einbalsamierens über Kryotechnik zu Darstellungen des Todes in der bildenden Kunst. Sie befassen sich mit tödlichen Giften, mit Seuchen und Killerkrankheiten; sie informieren über die notwendigen Schritte beim Ableben eines geliebten Menschen ebenso wie über die »Leichenbesiedelung« durch Fliegen zur Bestimmung des Todeszeitpunktes. Es gibt Synonymlisten, Preistabellen von Bestattern, Friedhofsordnungen … kaum zu glauben, wie viel das Thema hergibt.

Mark Twain riet: »Ein Mann, der etwas auf sich hält, sollte seine letzten Worte beizeiten auf einen Zettel schreiben«. Wer dies in einer Weise tun möchte, die auch nachhaltig wirkt, hat nach der Lektüre des lesenswerten Sachbuches beste Voraussetzungen.


Genre: Dokumentation
Illustrated by Riemann

Ein Geräusch klopft an die Tür

Werner Vogel beweist, dass auch ein Deutschlehrer nach 25 Jahren Fron im Schuldienst seine Freude am Spiel mit der Sprache nicht zwingend verlieren muss. Dem Schulmann aus Wien sagen seine Schüler nach, er habe »Augen, die öfters strahlen und zwei abstechende Ohren«, und »Er hat zwei lange normale Arme und zwei normal lange Beine«. Diese strahlenden Augen und normalen Arme pflückten nun in hunderten Schulaufsätzen allerlei Sprachpannen, die in gesammelter Form verewigt wurden.

Vogel trug wundervolle Sprachminiaturen zusammen. Diese entstanden meist im Stress von Prüfungen und Tests und bilden in ihrer Zusammenstellung einen bunt schillernden, exotisch anmutenden Blütenstrauß. Dabei wird unter andrem Dramatik pur geboten: »Anne verlor das Übergewicht und flog in die Tiefe«. Doch zum Glück geht (meist) alles gut aus: »Die ganze Schule brannte ab, nur der 2. und 3. Stock blieben unversehrt«.

Seien es Themen aus der Welt der wilden Kreaturen (»Er fragte den Hund, warum er das gemacht hätte, aber der antwortete nicht«), aus Liebe & Erotik (»Sie war nackt und hatte ein blaues Kleid an«) oder dem Märchenreigen (»Ich rettete mich auf einen Stein, der mich glücklicherweise auf eine einsame Insel trieb«), in dem vorliegenden Bändchen finden sich strahlende Perlen des unfreiwilligen Sprachwitzes der Schülerschaft.

Gemeinsam ist den aufgelisteten »Fehlern«, dass ihnen ein wesentlich längeres Leben beschieden ist als dem korrekten Rest der Texte. Denn gerade die sprachlichen Stolpersteine sind es, die dem Leser Freude schenken an unserer »funkelnden, eigensinnigen, stets aufs Neue überraschenden Sprache«, wie Vogel meint. Er überlegt aus diesem Grunde, ob diese sogenannten »Fehler« »nicht das Schönste in unserem Leben« sind. – Der Mann könnte Recht haben, zumindest stilsicherer kann es einem Schulmeister kaum ins Stammbuch geschrieben werden: »Der Bub öffnete die Schultasche und gab seinen Kopf hinein«.


Genre: Humor und Satire
Illustrated by Holzbaum Wien

The Wings of Kilimanjaro

Alex Tannen heftet kurze Berichte von Eindrücken seiner Reisen durch Ostafrika wie an einer Perlenschnur aneinander und lässt den Leser teilhaben an abenteuerlichen Fahrten. Denn trotz guter Vorbereitung per Internet und sonstiger Kommunikationsmittel lässt sich beispielsweise Tansania, das frühere Deutsch-Ostafrika, nicht so bereisen, wie der Weltenbummler es erwartet.

Eines der Hauptziele, dem sich Tannen verschrieben hat, ist eine Fahrt mit der »Liemba« über den Tanganjikasee. Der Dampfer lieft vor hundert Jahren als »Graf Goetzen« vom Stapel und dampft seitdem tapfer von der Regionalhauptstadt Kigoma die Ostseite des Sees hinunter bis nach Sambia, ohne auf den Fahrplan zu achten. Nach diversen Anläufen schafft der Autor es auch tatsächlich, den Dampfer zu entern. Seine Fahrt verläuft sorgenfrei, der Motor fällt nicht aus, der Kahn gerät nicht in schwere See und selbst seine Kabine wird nicht aufgebrochen. Er schlägt vor, einen Nationalfeiertag auszurufen, sollte einmal ein Boot pünktlich ankommen, zumal einige Sansibar-Fähren leider erst gar nicht ankamen (zwei von ihnen sind 2011 und 2012 untergegangen).

Noch gefährlicher als uralte Schiffe sind Busfahrten. Der Autor fährt seit 15 Jahren durch Ostafrika und wundert sich immer wieder, dass man ihm noch nie ein Ticket für einen Bus verkaufte, den es gar nicht gibt und er zudem noch nie am Ziel feststellen musste, dass sein Rucksack schon ein paar Stunden vorher ausgestiegen war. Dafür erlebt er Fahrer, die kompromisslos durch eine Kraterlandschaft heizt und dabei Bodenwellen, Treibsand, Rillen und Löcher zu Lasten der Knochen seiner Fahrgäste ignoriert.

Doch es gibt auch Fluggerät zum Reisen. Der Titel des Buches »Wings of Kilimanjaro« ist dem Firmenslogan von »Air Tanzania« entlehnt, der auf dem Heck der teilweise abenteuerlichen Maschinen prangt. Diese starten und landen beispielsweise in der Metropole Dar, wo nicht nur planmäßig der Strom, sondern unplanmäßig auch das Notstromaggregat für die Befeuerung der Landebahn ausfällt.

Züge fahren nach dem Zufallsprinzip, Toilettenspülungen funktionieren selten, Türen von Taxis sind oft nur durch absurde Verrenkungen zu öffnen. Der Leser fragt sich, warum der Autor sich all das antut, statt daheim auf der Couch zu liegen und Romane zu verfassen.

Aber immerhin funktionieren Mobilfunk, privater Flugverkehr und die Versorgung mit Kilimanjaro-Bier. Außerdem hängt zum Trost in jeder Hotelrezeption im ganzen Land das gerahmte Porträt des Staatspräsidenten Kikwete. Zumindest das ist gut organisiert.


Genre: Reisen
Illustrated by Kindle Edition

Was am Anfang aller Dinge geschah

Sakin Kale wurde von Schriftstellern der europäischen wie von der orientalischen Klassik inspiriert. Er empfindet Schreiben als eine Liebeserklärung an seinen Leser und lädt diesen ein, Teil seiner Gedankenwelt zu werden.

Dazu stellt der Autor in seiner ersten Arbeitsprobe Lyrik und Prosa zusammen, die bunt gefächert über Liebe und Leid, Freude und Kummer, Krieg und Frieden, Sehnsucht und Zufriedenheit erzählen. Er folgt dabei dem Gedanken von Goethe, der im »Faust 1« den Theaterdirektor sagen lässt: »Die Masse könnt Ihr nur durch Masse zwingen,
Ein jeder sucht sich endlich selbst was aus.
Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen;
Und jeder geht zufrieden aus dem Haus.«

Bereits das titelgebende Gedicht macht Sakes Weltsicht deutlich. Denn als der Mensch begann, die Gesetze der Natur zu brechen, erhob er sich selbst zum Schöpfer und damit zum Zerstörer der Welten, in die ihn ein Schöpfer vor Jahrmilliarden sezte.

In »Erzengel Gabriel« lässt der Autor den Engel der Verkündigung berichten, was am Anfang aller Dinge geschah und wie es zum Sündenfall und damit zum Bösen auf Erden kam.

Ausklang des Bandes sind Kurzgeschichten sowie einige Gedichte auf Türkisch, der Muttersprache des Autors.

Großartig ist das Titelbild des Buches, das von dem chinesischen Illustrator Wie Chen stammt und ein von Kolibris umschwärmtes lesendes Mädchen zeigt.

Insgesamt ist das vorliegende Werk eine beachtenswerte Probe eines heranwachsenden Talents, das Anerkennung verdient.


Genre: Lyrik
Illustrated by Kindle Edition

Der Fluchpalast

»Fluchpalast« wird das spätbarocke Schloss mit dem unvergleichlichen Ausblick auf das hessisch-nassauische Mainpanorama im Volksmund genannt. Denn die unbewohnte Prunkresidenz hat den unheimlichen Ruf, dass dort nicht alles mit rechten Dingen zugeht. Bereits beim Bau verunglückten sechs Arbeiter tödlich aus ungeklärten Ursachen, und einen Tag nach der prunkvollen Einweihungsfeier verschwanden die Erbauer, zwei steinreiche italienische Tabakhändler, spurlos.

Keiner der Ortsansässigen wagt es seitdem, den düsteren Palast zu betreten. Lediglich der Badersohn Bartel Häcklein, ein achtzehnjähriger Betrüger und Dieb, der gern in die obere Gesellschaft aufsteigen möchte, nutzt das zerfallende Gemäuer als Schatzkammer für Diebesgut.

Doch eines Nachts wird dem Gelegenheitsdieb im Keller des Palais bei lebendigem Leibe das Herz heraus gerissen. Der Tote landet im Laboratorium von Professor Dr. Johann Jakob Fürchtegott Froebius, der vom städtischen Polizeicommissär den offiziellen Auftrag erhält, das Verbrechen aufzuklären. Doch als der Medicus den auf geheimnisvolle Weise umgekommenen jungen Mann sezieren will, mag er seinen Augen kaum zu trauen … und als bald darauf auch der Bürgermeister des Ortes ohne Herz tot aufgefunden wird, will Froebius unbedingt das geheimnisvolle Rätsel um das mit einem Fluch belegte Schloss klären …

Mit seinem 4. Froebius-Roman entführt Autor Norman Nekro seine Leser in die Welt okkulter Mächte, zu Untoten und Wiedergängern. Eine durch ein Zeitfenster mögliche Reise nach Venedig, ein böse starrender goldener Drache an einer barocken Brunnengalerie, Zaubersprüche aus Exorzistenhandbüchern und das Geheimnis des Dunklen Engels spielen in dieser spannenden Erzählung zentrale Rollen.

Der Autor versteht es, einen hochmodernen Genremix in ein historisch treffsicher gewebtes Kostüm zu kleiden. Hochspannung ist dabei ebenso garantiert wie das Überleben des Haupthelden, dessen Fans bereits auf weitere Abenteuer warten.


Genre: Kriminalliteratur
Illustrated by Kindle Edition

Die Analphabetin, die rechnen konnte

Die Analphabetin die rechnen konnte von Jonas Jonasson

Gibt es ein besseres Konzept für einen Autor, als ein überaus erfolgreiches Konzept – in diesem Fall das des Welt-Bestsellers »Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand« – zu wiederholen? Dan Brown macht es, John Grisham zelebriert es bis zur Perversion, und auch Jonas Jonasson strickt seinen zweiten Roman über eine Analphabetin so wie seine überaus erfolgreiche Nummer Eins.

Jonasson schildert den sagenhaften Aufstieg von Nombeko, einem kleinen schwarzen Mädchens aus Soweto. Die Analphabetin startet als Latrinenausträgerin, wird bald Chefin aller Scheiße-Schlepper, dann eine Art wissenschaftliche Hilfskraft und beendet schließlich ihre wundersame Laufbahn als Botschafterin Schwedens in Südafrika. Ihre besten Freundinnen sind drei chinesische Schwestern, die Kunst fälschen und Hunde vergiften.

Die Schicksalsgeschichte der pfiffigen Schwarzen wird mit viel Humor und diversen satirischen Seitenhieben auf politische Konstellationen erzählt. Parallel beschreibt der Autor das Leben eines schwedischen Zwillingspaares. Dies wiederum wird von einem schwärmerisch monarchistisch eingestellten Vater erzogen, der irgendwann anfängt, den König als Objekt seiner Anbetung zu hassen und zum Republikaner umschwenkt.

Natürlich laufen die beiden Erzählstränge ineinander und die Geschichte kulminiert in Schweden. Mordende Agenten vom Mossad sind auf ihren Spuren, denn Nombeko hat eine Atombombe im Gepäck, die in Südafrika vom Laster fiel. Sie gilt es, loszuwerden. Die tumbe schwedische Polizei bekommt dabei ebenso ihr Fett ab, wenn sie ein angeblich besetztes Haus stürmt wie das Schwedische Königshaus und die herrschende Politik.

Insgesamt beschert es erneut großes Vergnügen, Jonas Jonasson zu lesen. Es ist dabei müßig, lange abzugleichen, ob sein zweiter Roman an die Stärke seines weltbekannten Erstlings heranreicht. Nein, er reicht nicht daran, denn schon die Ausgangsgeschichte ist sehr viel ernster und sozialkritischer als die Slapstick-Komödie des »Hundertjährigen«.

Der Autor versteht es dafür ausgezeichnet, Realitäten ins Abstruse zu überdrehen und Situationen derart zu überzeichnen, dass der Leser sich vor Lachen schütteln kann, ohne dabei den politischen Wahnsinn beispielsweise des afrikanischen Apartheid-Regimes zu übersehen.

Ein amüsantes, flott geschriebenes Buch für intelligente Leser.

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Genre: Romane
Illustrated by Carl´s Books

Das Gedankenexperiment

Jonas Winner schreibt intelligente Romane, die den Leser fordern. Im »Gedankenexperiment« befasst er sich in erster Linie mit einer philosophisch-lingustischen Grundfrage der Sprachtheorie. Es geht ihm dabei um die Diskussion, woher die menschliche Sprache eigentlich kommt. Ist es denkbar, dass ein mit unserem Körper verknüpftes »Sprachwesen« in uns haust, das Macht über unseren Geist hat und dem wir – unter geeigneten Umständen – vielleicht sogar begegnen können?
Stammt also möglicherweise das, was wir sagen, gar nicht von uns, sondern von dieser geheimnisvollen Wesenheit, die unsere gesamte zwischenmenschliche Kommunikation steuert? Und was ist, wenn wir dieses Sprachwesen als dreidimensionales Etwas in uns hocken sehen, es aber nicht (be)greifen können – treibt uns das möglicherweise in den Wahnsinn? Ist der Verlust des Verstandes, beziehungsweise das, was wir darunter verstehen, der Preis, der gezahlt werden muss, um das Wesen zu erkennen?
Der Forscher Leonard Habich, der in einem verwinkelten Schloss mit unterirdischen Gängen und Gewölben residiert, ist dieser Idee verfallen. Seinen »Verfall« muss Karl Borchert, ein aufstrebender Philosoph, der eine Stelle als dessen Privatsekretär antritt, bald feststellen. Habich will ein bahnbrechendes Werk zum Abschluss bringen, an dem er seit Jahrzehnten arbeitet, Borchert soll ihm dabei helfen. Doch es gibt mehr als gemeinsame philosophische Interessen zwischen den beiden. Denn wie kommt es, dass der alte Forscher seinen jungen Assistenten Borchert und dessen wissenschaftliche Arbeit so genau kennt? Wieso war er ausgerechnet mit seinem Vater, einem Chirurgen, befreundet, der seinen Sohn in jungen Jahren nach einem tragischen Fahrradunfall an einer schweren Kopfverletzung operierte? Was steckt wirklich hinter den Forschungen, die auf dem Schlossgelände betrieben werden? Existiert dort eine Höllenmaschine, die jeden auf eine Irrsinnsreise schickt? Werden eventuell sogar Menschenexperimente gemacht?
Jonas Winner versteht es, eine vielschichtige wissenschaftliche Theorie in eine durchaus spannende Rahmenhandlung einzubinden. Er versäumt dabei nicht, auf versunkenes Geheimwissen anzuspielen und paradigmenstiftende Verschwörungstheorien einzuflechten. Nicht zufällig spricht Habich Henochisch, eine alte magische Sprache, die auch »Sprache der Engel« genannt wird.
Philosophen haben wohl immer schon davon geträumt, den eigenen Geist wie ein Besucher betreten und sich darin umsehen zu können, also in sich selbst spazieren zu gehen. Platon, Descartes und Wittgenstein beschäftigten sich mit der Thematik, die zuletzt in wilden Hippiezeiten wieder aufkam, in denen unter Drogeneinfluss (Winner lässt diesen Aspekt allerdings aus) versucht wurde, einen vom Bewusstsein losgelösten äußeren Einstieg in die Innenwelt zu erlangen. Gern wird diese Diskussion mit der Grundsatzfrage verknüpft, wie die Sprache überhaupt entstand und in unsere Köpfe gelangte. Philosophisch delikat dabei ist der Aspekt, dass das Medium, in dem nachgedacht wird identisch ist mit dem Gegenstand, über den nachgedacht wird.
In diesem Zusammenhang taucht im Roman natürlich auch der berühmte US-Linguistiker Noam Chomsky auf, der mit der »Chomsky-Hierarchie« unter anderem versuchte, eine Metasprache zu entwickeln. Der Forscher machte geltend, dass die Daten, die wir als Kind empfangen, zu dünn seien, als dass allein dadurch etwas derartiges Komplexes wie die Sprache erlernt werden könne. Nach seiner Auffassung muss es eine Art angeborene Sprachkompetenzorgan im Hirn geben, dessen Parameter durch die Eindrücke des Kindes eingestellt werden, vergleichbar etwa mit einem Computer, bei dessen Erstinstallation die Sprache eingestellt wird. Auf diesem Gedanken wiederum fußt Habichs Theorie vom Sprachwesen, das eine Symbiose mit dem menschlichen Körper eingeht.
Jonas Winners Roman spricht Leser an, die sich für philosophische Paradigmen und Theorien der Sprachentwicklung interessieren. Der Autor macht es als promovierter Philosoph dem Leser dabei nicht ganz einfach, wenn er die Weiterentwicklung von der Seins- über die Bewusstseins zur Sprachphilosophie als »Dreischritt« begreift, dem ein vierter Schritt folgen müsse: »Den Grundgedanken, dass wir gefangen sein könnten, dass wir getäuscht werden könnten, dass jemand absichtlich ein Schild aufgestellt haben könnte, um uns in die Irre zu führen. Den Grundgedanken, das wir erst dann aus einer inszenierten Verwirrung herauskommen, wenn wir begreifen, dass wir Opfer einer Verschwörung sein könnten. Opfer derjenigen, die uns als Gefangene in einer Höhle halten.« (S. 129)
Vielleicht lässt sich »Das Gedankeninstrument« als Wissenschaftskrimi beschreiben. Denn gut drei Viertel des Werkes könnten auch als populäres Sachbuch zum Thema Sprache durchgehen. Dass er trotzdem die Kurve bekommt und die ganze Geschichte spannend verpackt, ist eine absolute Stärke des Autors.


Genre: Kriminalromane
Illustrated by Droemer Knaur München

Böser kleiner Junge

Ein zum Tode verurteilter Kindermörder erzählt kurz vor der Hinrichtung seinem Anwalt die Geschichte, die ihn zu der (für Außenstehende unbegreiflichen) Tat trieb. Und diese Geschichte hat es in sich…

Über Stephen King muss man nicht viele Worte verlieren, seine Erfolge sprechen für sich. Auch hier beweist er wieder sein Erzähltalent und serviert dem Publikum ein spannend und flott geschriebenes kleines Meisterwerk. Das Ende kommt für den King-Kenner zwar nicht wirklich überraschend, aber das tut dem Genuss keinen Abbruch. Das E-Book enthält zusätzlich noch eine Leseprobe aus “Doctor Sleep”; für die Fans ist das allerdings kein Zusatznutzen, sie haben den letzten Roman längst gelesen.

Interessant an dieser neuen Kurzgeschichte ist, dass sie (zunächst) nur auf Deutsch und Französisch erscheint, da der Meister vom Empfang in diesen Ländern angesichts seines Besuchs im November offenbar so angetan war, dass er damit seinen Lesern dort danken möchte. Da ich an einer dieser Lesungen teilnehmen durfte, fühle ich mich natürlich besonders angesprochen. 😉

Amazon ist bekanntlich nicht gerade geizig im Aussprechen von Empfehlungen an seine Kunden anhand der bisherigen Käufe. Dass ich dennoch nur durch Zufall und an anderer Stelle von dieser Neuerscheinung erfuhr, kann ich deshalb nicht ganz nachvollziehen.


Genre: Kurzgeschichten und Erzählungen
Illustrated by Heyne München

Sehnsucht FC Bayern

Echte Fußballfans wissen nicht erst seit Nick Hornby, dass man sich seinen Verein nicht aussuchen kann, weil man vielmehr von ihm ausgesucht wird. Ein Paradebeispiel dafür ist der Autor Armin Radtke, der – obschon wohnhaft in NRW – im Knabenalter vom FC Bayern auserkoren wurde, sein Schicksal fortan mit diesem Club zu verbinden, und zwar richtig, mit allen Konsequenzen.

Genau davon erzählt dieses Buch, das die Fußballjahre 1978/79 bis 2010/11 abdeckt, beginnend mit vorsichtigen ersten Annäherungen und selbstgemalten Fahnen bis zum Hardcore-Fan, der schon mal für ein Wochenende nach Hongkong jettet, um dort ein (objektiv absolut unbedeutendes) Freundschaftsspiel des FCB vor Ort zu verfolgen.

Armin Radtke nimmt den Leser mit auf eine Reise von mehr als 30 Jahren und führt ihn von verregneten Stehplätzen in abbruchreifen Kleinstadtstadien bis zu den Luxuslogen der modernen Fußballtempel, alles wegen des Vereins, mit dem er untrennbar verbunden ist. Dabei erlebt er zwangsläufig sämtliche Höhen und Tiefen (auch die gibt es beim FCB!), die die Welt des Fußballs für den parat hält, der sich ihr ergibt.

Das Buch ist schwierig zu kategorisieren; teils Autobiographie, teils Versuch der Erklärung der Faszination Fußball und noch vieles mehr. Sprachlich versiert und flott geschrieben ist es nie langweilig, denn trotz teils akribischer Statistiken fehlt nie das nötige Maß an Humor und Selbstironie; der Autor entspricht so gar nicht dem gängigen Bild des Fußballfans, das manche Medien so gerne zeichnen.

Armin Radtke arbeitet seit mehreren Jahren auch für die Vereinszeitschrift “Bayern-Magazin” und hat in meinen Augen (ich lese dieses Heft als Mitglied auch schon seit Jahrzehnten…) großen Anteil an der erfreulichen Entwicklung von einer Fan-Postille zu einem modernen Medium, das gerade der Historie breiten Raum einräumt. Als Bayern-Insider verzichtet Radtke verständlicherweise auf durchaus mögliche pikante Enthüllungen; die Liebe und Loyalität zum Verein lassen das einfach nicht zu.

Für Bayern-Fans ist dieses Buch sowieso Pflichtlektüre, aber ich kann es auch den Anhängern anderer Vereine empfehlen, die einen Blick über den Tellerrand riskieren wollen, es lohnt sich. Und denjenigen, die mit Fußball gar nichts am Hut haben, kann es helfen, dieses Phänomen zu verstehen.


Genre: Biographien, Memoiren, Briefe
Illustrated by Verlag Die Werkstatt GmbH