Fünf Jungen, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Ein großmäuliger Anführer, der aber noch gerne mit seinen Ritterfiguren spielend sich heimlich in ein Abenteuerland träumt. Der dicke Mitläufer, das Weichei. Der kleine Bruder, der nichts sehnlicher wünscht, als in der Welt der Großen akzeptiert zu werden. Der langhaarige, verträumte Einser-Schüler, bevorzugtes Mobbing-Objekt der anderen. Und schließlich der düstere Neu-zugezogene, den man ebenfalls mangels Alternativen hänselt. Denn eigentlich hat man Angst vor ihm.
Die Roggenbacher Burgruine, ein verbotener Platz. Alex, der selbsternannte Anführer findet dort eines Tages eine unerforschte Höhle mit mittelalterlichen Gerätschaften. Es sind Ferien und da er schließlich der Anführer ist, führt er die anderen dorthin. Doch was als Abenteuer für einen Tag gedacht war, endet in einer Katastrophe. Die Decke der Höhle stürzt ein, die Jungen sind gefangen. Schluss ist mit Spiel, das Abenteuer wird blutiger Ernst. So jung die Kinder noch sind, so schwer sind die Päckchen, die sie mit sich tragen. Auf sich alleine gestellt, in einer Situation, wo Hoffnung langsam in Panik umschlägt, wo das altbekannte Mobbing die Grenzen des Wahnsinns überschreitet, sind die Kinder auf sich selbst,ihre Ur-Ängste und Ur-Instinkte zurückgeworfen. Wird überhaupt einer von ihnen das Tageslicht wieder erblicken?
Nur ein Mann weiß ungefähr, wo die Kinder sein könnten. An der großangelegten Suchaktion beteiligt er sich jedoch nicht. Er ist der Dorf-Grantler, der Außenseiter, den alle fürchten. Er selbst hat nichts mehr zu verlieren, er wartet nur noch auf den Tod. Die verschwundenen Kinder interessieren ihn nicht wirklich, zunächst einmal sind es für ihn fünf Apfeldiebe weniger, um die er sich kümmern muss. In seinen letzten Lebenstagen denkt er über sich und sein verpfuschtes Leben nach, in dem er nicht einmal über seinen Schatten springen konnte. Nach einer durchwachten Nacht wird ihm klar, dass er sich nur einmal hätte umdrehen müssen, um über eben diesen Schatten zu springen. Schafft er jetzt diese Umdrehung und kann er die Kinder noch retten? Vor der Höhle und vor sich selbst?
Das Thema mutet bekannt an. Natürlich. Doch wer liest heute noch Herr der Fliegen? Leider wohl kaum einer. Daher ist es nicht verwunderlich, dass dieses Thema nach einer Neuauflage schrie, um in die heutige Zeit transkribiert zu werden. Der Autor Michael Tietz, dem mit “Rattentanz” ein Überraschungserfolg gelang, wagt dieses Wagnis. Und er macht es gar nicht mal schlecht. Seine Apfeldiebe können zwar nicht mit der Symbolträchtigkeit und der Intertextualität eines Herrn der Fliegen mithalten, doch was das Grauen angeht, das dieser Roman mit seinen klaustrophobischen und befremdlichen Szenen auslöst, kann er durchaus mithalten. Er macht vor nichts halt, scheut vor nichts zurück. Der Kampf ums Überleben wird nicht nur zu einem Kampf gegen die fast aussichtslosen Umstände, in der sich die Jungen befinden, sondern vor allem zu einer Grenzerfahrung im Umgang mit sich selbst und den Freunden. Während die einen dem Wahnsinn nicht mehr fern sind, finden andere erst zu ihrer wahren Stärke.
Tietz entfaltet sein Szenario bildgewaltig, verliert sich zuweilen aber in Details. Fast hat man den Eindruck, dass er seiner eigenen Sprachmacht noch nicht so recht traut. Zu diesem Eindruck passt auch, dass seine Charaktere zwar sorgfältig ausgewählt und gegenübergestellt, aber gelegentlich einfach zu stereotyp gezeichnet sind.
Im Gegensatz zu seiner gelegentlich überbordenden Detailverliebtheit steht jedoch das Ende. So versöhnlich einige Schlußzenen den Leser stimmen mögen, so irritiert bleibt er doch mit der Wertung zurück. Exemplarisch sei da Timis Mutter genannt. Ohne hier zuviel verraten zu wollen, auch sie hat ein Verbrechen begangen. Dies mit einem einzigen, noch dazu recht freundlichen Satz abzuhandeln, das geht und passt gar nicht.
Dennoch: ein atmosphärisch und psychologisch dichter, spannungsgeladener Thriller, der durchaus kunstvoll zu schocken vermag, aber auch berührt und Fragen aufwirft.
Der Autor: Michael Tietz lebt mit seiner Familie als Krankenpfleger im Schwarzwald, wo auch seine Bücher spielen.
Diskussion dieser Rezension im Blog der Literaturzeitschrift