Was ist gute Literatur?
Wenn jemand wie Marcel Reich-Ranicki ein Buch schreibt mit dem Titel «Für alle Fragen offen», dann darf man als literatursüchtiger Leser davon ausgehen, einige vergnügliche Lesestunden vor sich zu haben mit seiner Lektüre. Der 2009 erschienene Band mit dem Untertitel «Antworten zu Weltliteratur» enthält thematisch geordnet eine dreieinhalb Jahre zurückreichende Auswahl aus der allwöchentlich publizierten Kolumne des Autors in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.
Schon beim Inhaltsverzeichnis gerät man ins Schmunzeln. Unter der Überschrift «Er war nicht ganz unbegabt, der Gentlemen aus Stratford» findet man seine Anmerkungen zu Autor und Werk von Flaubert, Nabokov, Kleist, Shakespeare, Updike, Zweig, Dostojewski, Balzac, aber auch zu Süsskind, Bellow, Kafka, Manzini, zu Thomas Manns «Felix Krull», Thomas Bernhards «Holzfällen», Nabokovs «Pnin», zu Enzensberger schließlich, Eichendorff und Hemingway. Gleich zu Beginn, bei Flaubert, zieht MRR ein apodiktisches Resümee: « Es gibt nicht viele Romane, von denen man sagen kann: Wer sie nicht gelesen hat, sollte wissen, dass er keine Ahnung hat, was die Weltliteratur leisten kann. ‹Madame Bovary› ist ein solcher Roman». Wie wahr, und das gilt auch für viele andere, die er in seinem Buch nennt! Unter dem Titel «Mit der Dummheit kämpfen selbst die Götter vergebens» sind im zweiten Kapitel Fragen aufgelistet, die ihn «in Rage versetzen», nach der Bedeutung von Ringelnatz zum Beispiel, nach Henry Millers Wendekreis-«Sauereien» oder der literarischen Qualität von Richard Wagners Texten. Er äußerst sich zu tschechischen Literaten, zu «Lotte in Weimar», zu den großen Altersunterschieden der Geschlechter bei Fontane, zu Schriftstellern, die nebenbei als Werbetexter arbeiten mussten wie Wedekind, zum schlechtesten Buch von Thomas Mann, zu Bestsellerlisten, zu deutschsprachigen Lustspielen. Schließlich beantwortet er die Frage, warum die deutsche Literatur nach 1945 so langweilig geworden ist: «Sie ist nicht langweilig geworden, nur sind manche Leser dieser Literatur noch nicht gewachsen».
Über den Einfluss von Büchern und Begegnungen auf sein Leben berichtet MRR im dritten Kapitel, zuvorderst von Shakespeares «Romeo und Julia», von seinen Begegnungen mit Koeppen und anderen Schriftstellern, vom Wandel der Begeisterung für bestimmte Bücher im Alter und umgekehrt. Er äußert sich zu Fragen nach Schriftstellern wie Brinkmann, Biermann, Bernhard, Josef Conrad, Borchert, Rühmkorf, aber auch nach guten Kinderbüchern, berichtet von seiner Begegnung mit Jorge Luis Borges. Im vierten Kapitel wird sein Widerspruchsgeist geweckt bei Fragen, warum es keine von Kritikern geschriebene Literatur gäbe, die erwähnenswert wäre, oder warum Schillers Dramen im Gegensatz zu Shakespeare so humorfrei seien. Er bekräftigt seinen Widerwillen gegen dickleibige Romane, beantwortet die Frage nach der nicht vorhandenen gleichmäßigen Qualität bei Joseph Roth, nach der Wirksamkeit des Lektorats, nach der Trivialliteratur von Karl May. Er nimmt zu Dickens Stellung und zu Canettis «Masse und Macht», zum Antisemitismus bei Gustav Freytag, zu Heinrich Manns Werken und denen von Jules Verne, kapituliert dann aber bei der Frage nach Altersmilde von Kritikern. Im fünften Kapitel mit «Wissenswertem quer durch die Weltliteratur» nimmt er zum Beispiel zur ‹Gruppe 47› Stellung, zur Trennlinie zwischen ‹großer› und Trivialliteratur und zu vielen anderen interessanten Randfragen mehr.
Als ebenso eloquenter wie streitbarer Anwalt gehobener Literatur wettert der unglaublich belesene Kritiker gegen weitverbreitete Fehleinschätzungen und beantwortet kompetent alle Fragen, – mit ironischer Distanz auch die merkwürdigsten. Im Plauderton erzählt MRR in diesem Band anekdotenreich aus seinem so ganz der Literatur gewidmeten Leben, er erfreut und bereichert seine Leser zudem mit vielen Aperçus und verblüffenden Einsichten, die hilfreich sind, wenn man mitreden will beim Thema «Was ist gute Literatur».
Fazit: erfreulich
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