Samuel crasht mit dem Auto seiner Großmutter gegen einen Baum und stirbt. Ein ihm bekannter Journalist recherchiert die Geschichte des jungen Mannes und versucht herauszufinden, warum er den Freitod wählte. So weit, so kurz die Rahmenhandlung des Romans »Alles, was ich nicht erinnere«.
Was Jonas Hassen Khemiri dann jedoch auf 330 Buchseiten zusammenträgt, ist weit mehr. Er schaut durch das Kaleidoskop des Journalisten und defragmentiert so den Kosmos des jungen Mannes. In reportierender Form setzt der schwedische Autor Erinnerungsfetzen von Samuels Freunden, Bekannten und Verwandten zusammen. Er wandert mit einem Aufzeichnungsgerät durch Samuels letzte Jahre und schneidet kurze, oft nur aus ein, zwei Sätzen bestehende Statements aneinander. So entsteht ein Sammelsurium von Stellungnahmen unterschiedlichster Ich-Erzähler. Diese vermag der Leser nur bei konzentrierter Lektüre auseinander halten. Oft wird nämlich erst im Gesamtzusammenhang deutlich, wer gerade spricht, zumal Khemiri auch noch gnadenlos in der zeitlichen Abfolge springt. Letztlich offenbart sich ein kleinteiliges Puzzle, dessen Einzelteile der atemlose Leser Stück für Stück selbst zusammenfügen muss.
Wer sich auf diese Spurensuche einlässt, lernt allmählich Samuels Welt kennen: Da gibt es die schwedische Mutter, die ihn fallen gelassen hat; eine sich »Pantherin« nennende frühere Freundin und Vertraute; die in einem Dementenheim lebende Großmutter; den grobschlächtigen Freund und Kleinkriminellen Vandad und schließlich Laide, in die der scheue Junge sich unsterblich verliebt hat, seit er sie in einem McDonalds gesehen hat.
Und wie sich Samuel im Klimax der Story mit Omas Auto dem Baum nähert, so schraubt sich auch der Roman immer tiefer in die Hirnwindungen seines Lesers hinein. Bevor die Rotationskraft das Gehirn des Jungen zerfetzt und seine inneren Organe auseinanderreißt, will er wissen, wie Samuel tickte, und wer letztlich die Schuld an seinem Tod trägt. Ist es Laide, die mit ihm Schluss gemacht hat, weil sich der schüchterne Junge nicht eindeutig für sie erklärte und ihr seine Liebe gestand? Ist es der kriminelle Einfluss seiner Kumpels, die ihn in einen Sumpf hineinzogen, aus dem er sich nicht mehr befreien konnte? Ist es das Haus der Großmutter, das er Migrantinnen als Schutzraum zur Verfügung stellte und das schließlich durch Unachtsamkeit seiner Bewohner in Rauch aufging? Ist es letztlich die Flucht vor sich selbst, die Samuel das Gaspedal durchtreten ließ?
Der Schriftsteller, der Samuels Psyche und seine Handlungsweise verstehen will, scheint alles daran zu setzen, Samuels Tod als Unfall darstellen zu wollen. Er will wissen, wie dessen Umfeld nach dem Crash weitermacht, er möchte seine eigenen Schuldgefühle hinter sich lassen, sucht nach Entlastung. Heraus kommt letztlich, dass Menschen nicht zu trauen ist, dass sie letztlich genau dann verschwinden, wenn sie gebraucht werden, dass selbst die eigenen Erinnerungen lügen und betrügen.
Khemiris zwischen Stockholm und Berlin driftender Roman belichtet eine Alltagsgeschichte, die in jeder Metropole spielen könnte. Seine Geschichte ist atemberaubend, hinterlässt aber neben Betroffenheit auch ein Gefühl der Hilflosigkeit, keine Entwicklung stoppen zu können, die mit Vollgas in den Abgrund braust.
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