Haus ohne Hüter

boell-2Zeit der Onkelehen

Unter den wenigen Lichtgestalten der deutschen Nachkriegsliteratur ist Heinrich Böll, Nobelpreisträger von 1972 und damit nach Hesse zweiter Deutscher, dem diese Ehrung nach dem Zweiten Weltkrieg zuteil wurde, zweifellos der bedeutendste. Zu seinem Frühwerk zählt der 1954 erschienene Roman «Haus ohne Hüter», einer seiner Gegenwartsromane, in denen er die «Gesellschaft von Besitzlosen und potenziellen Dieben», wie er das Deutschland des Wirtschaftswunders nannte, literarisch an den Pranger stellte. Ein unbeirrbar der Moral verpflichteter Schriftsteller, der sich auch politisch vehement einmischte und damit über seine Rolle als Chronist weit hinauswuchs.

In einer Stadt am Rhein leben Anfang der 1950er Jahre zwei Kriegerwitwen mit ihren elfjährigen Söhnen, die als Klassenkameraden eng miteinander befreundet sind. Während Martin im Wohlstand aufwächst im Hause seiner Großmutter, Inhaberin einer Marmeladenfabrik, erlebt Heinrich bitterste Armut und wird schon früh gezwungen, durch Schwarzmarktgeschäfte zum Lebensunterhalt beizutragen. Albert, ein Freund von Martins Vater Rai und Augenzeuge seines Todes, lebt ebenfalls in der Fabrikantenvilla. Rai hatte in Russland, als ein nassforscher junger Leutnant ihn duzte, zurückgefragt: «Haben wir Brüderschaft getrunken»? Er wurde von Leutnant Gäseler daraufhin zu einem Patrouillengang eingeteilt, ein unsinniges Himmelfahrtskommando, bei dem er seinen voraussehbaren Tod fand. Nella, Martins traumatisierte Mutter, führt ein unstetes Leben mit wechselnden Liebhabern, ist unglücklich, will nie mehr heiraten und flüchtet sich in Tagträume von einem Leben mit Rai, wie es hätte sein können. Heinrichs Mutter hat wechselnde Beziehungen mit Männern, von den Jungen als «Onkels» bezeichnet, die sie aber nicht heiraten will, weil sie dann die Kriegerrente verliert. Bölls Figuren sind lebensnah beschrieben, seine fünf Protagonisten wirken allesamt sympathisch, man lebt und leidet mit ihnen. Am Ende schließlich deutet er sehr vage eine Perspektive an, die eine Befreiung sein könnte aus unersprießlicher Situation, der Leser darf den Faden weiterspinnen.

Böll schildert äußerst detailreich und authentisch die Lebenswirklichkeit jener Jahre, er erzählt die Familiengeschichten aus wechselnden Perspektiven in einer wunderbar stimmigen, klaren und schnörkellosen Sprache. Ältere Leser werden vieles wiederfinden, was sie selbst erlebt haben, jüngere werden staunen über eine Vergangenheit, die so weit ja gar nicht zurückliegt. Bölls Sprache ist nüchtern, oft sogar lakonisch und mit einer Symbolik angereichert, die den rheinischen Katholizismus listig hinterfragt. Er beleuchtet die lange nachwirkenden Verheerungen, die von den Nazis angerichtet wurden in der vaterlosen Kriegsgeneration. Seine Liebe gilt den Opfern, er stellt sie den Tätern gegenüber, die schon bald als Opportunisten im Nachkriegsdeutschland Macht und Einfluss zurück gewonnen haben, jener Leutnant gehört dazu. Aber Nella, die sich rächen will an Gäseler, gibt resigniert auf, verzichtet auf Rache, weil die nichts ändern würde, ihre Verzweiflung nicht lindern kann.

Bölls melancholischer Familienroman ist geeignet, manches zu relativieren für uns Heutige, die wir Probleme beklagen, die gegen die damaligen geradezu läppisch sind. Insoweit ist er ein wichtiger Beitrag zur Erinnerungskultur eines Volkes, das gar zu gern die unrühmliche Vergangenheit ausblenden wollte und will. Der Roman ist keine Anklage, eher eine resignative Aufarbeitung des damaligen Geschehens und seiner fatalen Folgen. Sechzig Jahre später erscheint uns die Problematik der «Onkelehen» angesichts unserer Patchwork-Familien zwar als ganz nebensächlich, sie wirkt aber noch heute in die Lebensgeschichte vieler Älterer hinein, die in einem «Haus ohne Hüter» groß geworden sind und bleibend geprägt wurden. Davon zu lesen ist dank Bölls humorvoller Sprache nicht nur sehr bereichernd, sondern oft auch amüsant, ein Lesevergnügen mithin auf allerhöchstem Niveau.

Fazit: erstklassig

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Genre: Roman
Illustrated by dtv München

Der Butt

grass-1Ilsebill salzte nach

Dieser Dreiwortsatz, der mir hier als Überschrift dient, leitet den neben «Die Blechtrommel» wichtigsten Roman von Günter Grass ein. Der Satz wurde dreißig Jahre nach dem Erscheinen von «Der Butt» in einer Internetumfrage zum schönsten ersten Satz eines deutschsprachigen Romans gekürt. Kann er Lust machen auf die folgenden fast siebenhundert Seiten, wie es seine Aufgabe ist, und halten diese Seiten dann auch, was er vorab verspricht?

Das bekannte Märchen «Vom Fischer und seiner Frau» liefert das Gerüst für eine sexistische Variante der Geschichte, die den Kampf der Geschlechter von der Jungsteinzeit bis in die Neuzeit, bis zur Guillaume-Affäre, episodenhaft beschreibt. Grass übernimmt den Namen Ilsebill als zeitlose Verkörperung der Frau, deren Mann, seinerseits stellvertretend für das männliche Prinzip, den Butt fängt. Zum Dank für seine Freilassung steht der ihm nun als gleichermaßen fachkundiger wie streitbarer Berater für die Sache der Männer zur Seite. Als zeitliches Handlungsgerüst fungiert in der ersten Erzählebene die Schwangerschaft von Ilsebill, Grass benennt seine Kapitel dementsprechend mit «Erster Monat» bis «Neunter Monat». In den so gegliederten Epochen tritt in der zweiten Erzählebene der Ich-Erzähler in immer wieder neuen Rollen als Mann auf, dem jeweils eine andere Frau als Köchin zu Seite steht, das weibliche Prinzip verkörpernd. «Bevor gezeugt wurde gab es Hammelschulter zu Bohnen und Birnen» erfahren wir auf der ersten Seite, womit gleich noch ein weiteres Leitmotiv dieses ambitionierten Romans anklingt, die Geschichte des Kochens nämlich. Dabei steht hier die kaschubische Küche im Blickpunkt, deren ungewohnt deftigen Rezepte, das sei mir, ganz subjektiv, gestattet zu sagen, uns Heutigen eher abschreckend erscheinen dürften als appetitanregend. Vor einem spöttisch geschilderten, weiblichen Tribunal, eine bissige Parodie des RAF-Prozesses, muss sich der Butt als Spiritus Rector der männlichen Sache verantworten, auch dies ein ständig wiederkehrendes Leitmotiv.

Es dürfte klar sein, dass «Der Butt» mit einem derart komplexen Aufbau nicht gerade als leicht lesbar bezeichnet werden kann. Unendlich viele Zeitsprünge ebenso wie das völlig ausufernde Figurenensemble mit – ich habe sie nicht gezählt – gefühlt hunderten von Namen erfordern volle Konzentration vom Leser. Durch häufiges, auch mehrmaliges Rekapitulieren von wichtigen Geschehnissen hat Grass allerdings, zumindest für die Hauptfiguren, die Zuordnung ein wenig erleichtert. Schwierig aber bleibt seine, mit unglaublich vielen umgangssprachlichen, mundartlichen, zeit- und ortsbezogenen, oft derben Wörtern und originellen Wortbildungen gespickte Sprache, die selbst vor vulgärsten Ausdrücken nicht zurückschreckt, was Elke Heidenreich einst mit «ekelhafte Altmännerliteratur» quittiert hatte. Wie auch immer, die Fülle an Details ist jedenfalls erdrückend, oft wird ein dutzend Bezeichnungen allein für eine bestimmte Rübe benutzt, und ähnliches gilt für die vielen geografischen Namen im einstigen Pommern, die nur Wenigen heute noch geläufig sein dürften, um von den diversen, geschichtlich kleinräumigen Ereignissen ganz zu schweigen.

Das Buch ist, in einer extrem dichten Sprache, aus unverkennbar männlicher Sicht geschrieben, auch wenn Günter Grass sich vordergründig ganz demonstrativ auf die Seite der Frau schlägt in seiner historischen Darstellung. Die heftige Kritik in Alice Schwarzers damals gerade neu gegründeter Zeitschrift «Emma» aber ist nachvollziehbar, er entlarvt sich des Öfteren selbst. Unverkennbar jedoch ist auch seine köstliche Ironie, die sich in vielen verblüffend lakonischen, ja beißend sarkastischen Wendungen zeigt, die den oft üppig ausschweifenden Roman wohltuend zu beleben vermögen. Weder Matriarchat noch Patriarchat scheinen die ideale Gesellschaftsform zu sein, so das wahrlich nicht überraschende Fazit dieser lesenswerten Emanzipations-Satire.

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by dtv München

Das steinerne Herz

schmidt-3Manifeste Leseerwartungen hintanstellen

Seiner Fouqué-Studien wegen war Arno Schmidt 1954 über den niedersächsischen Flecken Ahlden nach Berlin gereist, einige Eindrücke dieser Reise verarbeitete er anschließend in seinem Roman mit dem von E.T.A. Hoffmann inspirierten Titel «Das steinerne Herz», der den süffisanten Untertitel «Historischer Roman aus dem Jahre 1954 nach Christi» trägt. Wie kein Anderer hat Arno Schmidt die zweite Hälfte des vorigen Jahrhunderts in der deutschsprachigen Literatur geprägt, in seiner Dominanz derjenigen von Thomas Mann in der ersten Hälfte vergleichbar. Aus seiner frühen Schaffensperiode ist der vorliegende Roman das bedeutendste Werk, es finden sich darin alle typischen Merkmale seiner Prosa: Sein ätzender Kulturpessimismus, sein «militanter» Atheismus, wie er es selbst einmal in einer Bewerbung (als Küster auch noch – sic!) formuliert hat, und nicht zuletzt der höchst eigenwillige, expressionistische Schreibstil, der schon manchen Leser zur Verzweiflung gebracht hat, den andere jedoch geradezu hymnisch bejubeln, – zu Recht, wie ich meine.

Walter Eggers heißt sein Ich-Erzähler – und in Teilen natürlich Alter Ego – in diesem Roman, und auch hier ist der Protagonist ein äußerst selbstbewusster Mann mit eigenwilligen Marotten, zu denen bei Arno Schmidt ja immer eine ins Extreme gesteigerte Bibliophilie mit verstiegener, abseitiger Thematik gehört. Auf der Suche nach dem Nachlass des 1861 verstorbenen hannoverschen Statistikers Jansen nämlich mietet Walter sich in Ahlden bei dessen Enkelin Frieda ein. Er macht sie zu seiner Geliebten und findet tatsächlich auf dem Dachboden ihres Hauses eine Kiste des Großvaters mit den erhofften statistischen Jahrbüchern. Als er sich mit seiner Beute aus dem Staube machen will, entdeckt er zufällig am letzten Abend vor seiner Flucht einen versteckten Münzschatz. Die seltenen Stücke werden von Walter trickreich an einen reichen Sammler verkauft. Der Erlös ist ein kleines Vermögen, und in Anbetracht dieses unverhofften Geldsegens bleibt er jetzt doch bei Frieda, er kann nun ohne finanzielle Sorgen seine eigenwilligen Studien betreiben. Damit ist er ähnlich an diesen Ort gefesselt wie einst die tragische Prinzessin Sophie Dorothea von Ahlden, auf die im Roman zuweilen Bezug genommen wird.

Die dreiteilige Geschichte spielt im Mittelteil in der Ostzone, wie die DDR als deutscher Teilstaat damals abwertend genannt wurde, die beißenden Kritik des Autors an allem Politischen aber gilt beiden Systemen gleichermaßen, dem militanten Adenauerstaat wie dem sozialistischen Mangelsystem. Kein noch so unbedeutendes Detail entgeht dem scharfen Beobachter Arno Schmidt, mit feinem Spürsinn für menschliche Schwächen und politische Lügen entlarvt er gesellschaftlichen Irrsinn in beiden Teilstaaten. Dabei bedient er sich einer fragmentierten Erzählweise, die im schmidt-typischen Layout durch Absätze mit kursiv gesetztem Anfang und hängendem Einzug gekennzeichnet ist und die sprachlich mit wahrhaft skurrilen Wortschöpfungen, elitären Fachbegriffen und häufigen Dialektpassagen den Duden ad absurdum führt. Hat man sich in diese Sprache erstmal eingelesen, staunt man über deren ungeheure Dichte, eine Seite solchen Textes löst mehr Assoziationen aus, enthält mehr Reflexionen, Eindrücke, historische Bezüge und intertextuelle Verweise als bei anderen Autoren ein ganzer Roman.

Ein derartiges Leseerlebnis kann süchtig machen, der literarische Genius von Arno Schmidt erhebt ihn heute schon zum Klassiker, er wird als sprachlicher Solitär ja geradezu kultisch verehrt. Und so lädt auch dieser vom Plot her brav linear und einsträngig erzählte Roman, der gegen Ende sogar ein wenig Spannung erhält, seiner oft in inneren Monologen artikulierten Sprachkunst wegen unbedingt zum Lesen ein. Dabei sollte man sich nicht, wie es Walter Jens einst passierte (dann aber schnell revidiert!), vom ersten Eindruck täuschen lassen, man sollte seine manifesten Leseerwartungen also einfach mal hintanstellen.

Fazit: erstklassig

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Genre: Roman
Illustrated by Fischer Taschenbuch Frankfurt am Main

Wellen

keyserling-1Baltischer Fontane

Zu den wenigen bedeutenden Schriftstellern des Impressionismus, der den bis dato in der Literatur dominierenden Realismus abgelöst hat, gehört Eduard von Keyserling, dessen 1911 erschienener Roman «Wellen» ein beredtes Beispiel ist für eine ausgesprochen subjektive, dem Jetzt verpflichtete Erzählweise, die eine sehr persönliche Erfahrung der Wirklichkeit wiedergibt. Dieser in Vergessenheit geratene Roman des estnischen Autors, 1998 neu publiziert, wurde, nicht zuletzt durch eine bemerkenswert enthusiastische Besprechung im «Literarischen Quartett», zu einem Überraschungserfolg. Zu Recht?

Der Roman des «baltischen Fontane» reiht sich ein in jene Literatur des Fin de Siècle, die dem Leser eine Welt des Adels nahebringt, dessen Ende damals bereits absehbar war, zu der man aber aus lesewütigen bürgerlichen Kreisen gerne gaffend aufgeblickt hat, Identifikationsfiguren suchend, in die man sich für einige Lesestunden hineinversetzen konnte. Und so bevölkern denn auch standesgemäß Grafen und Barone, ein Geheimrat und ein Leutnant jenen kleinen Badeort an der Ostsee, der ihnen allen für einige Zeit als Sommerfrische in der unmittelbaren Nachbarschaft bodenständiger Fischer dient. Die liebevoll beschriebene äußere Idylle wird geschickt konterkariert durch eine sich anbahnende Tragödie, die der Autor sehr behutsam in Szene setzt, ganz ohne Effekthascherei.

Nach einer unglücklichen Ehe mit dem deutlich älteren Grafen Köhne ist Doralice, eine bildschöne junge Frau, ganz unstandesgemäß mit ihrem Portraitmaler durchgebrannt, wird seither von der Gesellschaft geächtet und hat sich mit ihrem Maler, – man habe in London geheiratet, heißt es -, in diese Abgeschiedenheit geflüchtet. Nachbar ist der erzkonservative Baron Butlär mit Gattin, seiner als Generalin titulierten Schwiegermutter Gräfin Palikow, dem jüngeren Sohn und zwei erwachsenen Töchtern sowie einem Schwiegersohn in spe, dem schneidigen Leutnant Hilmar. Trotz gesellschaftlicher Ächtung kommt es allmählich doch zu Kontakten mit Doralice, nicht zuletzt auch durch Vermittlung des buckligen alten Geheimrats Knospelius, der ebenfalls dort wohnt. Der voraussehbare Eklat, – man erahnt ihn beim Lesen -, den zu beschreiben ich hier aber aus Fairness potentiellen Lesern gegenüber lieber unterlasse, dieser Skandal also führt am Ende zu einer geradezu grotesken Situation, die aber nicht unlogisch ist und als nachdenklich machende Katharsis zurückbleibt.

Im stimmig geschilderten, sympathischen Figurenensemble fallen zwei Protagonisten besonders auf, sie liefern nämlich durch ihre köstlichen Beiträge in den erfrischend lebhaften, ungekünstelten Dialogen jenen Lesespaß, der Literatur zum reinen Vergnügen werden lässt. Da ist zum einen die verwitwete Generalin, hier wie sie beispielsweise Doralice die Leviten liest: «Mich hat zwar noch nie jemand entführt, ich hatte es auch nicht nötig, ich war mit meinem Palikow immer recht zufrieden, […] Aber mit dem Herrn, der einen entführt, leben, dass ist die Kunst. Glauben sie mir, man kann sehr gut leben, auch ohne dass ein Mannsbild immer vor einem auf den Knien liegt.» Und der gnomenhafte Knospelius räsoniert bei der Einladung zu seinem Geburtstag: «Na ja, das Älterwerden mag ja seine guten Seiten haben, aber zum Feiern wäre ja schließlich keine Veranlassung. Diese Welt hier ist zwar recht fragwürdig, allein besondere Eile herauszukommen hat man nicht […] Sehen sie, eine Welt ohne Knospelius und eine Welt mit Knospelius, das ist für mich ein gewaltiger Unterschied.» Es steckt viel handfeste Lebensweisheit in diesem wunderbaren Roman, der eine Behaglichkeit erzeugt beim Lesen, welche in der Tat stark an Fontane erinnert. Sprachlich allerdings ist der hier aus wechselnder Perspektive mit feinem psychologischen Gespür erzählende Keyserling deutlich moderner, es geht aber auch dramatischer zu bei ihm als beim Großmeister des Plaudertons. Wie schön für uns Leser, dass ein so großartiger Schriftsteller glücklich wiederentdeckt wurde.

Fazit: erstklassig

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Genre: Roman
Illustrated by dtv München

Nemesis

roth-1Aus dem Klischee-Baukasten

Als hoch gepriesener US-amerikanischer Schriftsteller liefert Philip Roth mit «Nemesis» seinen, wie er selbst beteuert hat, letzten Roman ab. Die Idee dazu kam ihm durch eine Freundin, die Filmschauspielerin Mia Farrow, die als junges Mädchen an Kinderlähmung erkrankt war. Aber auch die Lektüre von «Die Pest», dem grandiosem Roman von Albert Camus, hat ihn wohl inspiriert. Schon lange als nobelpreiswürdig angesehen, ist ihm, wie auch vielen seiner erfolgreichen nordamerikanischer Kollegen, diese höchste Ehrung bisher versagt geblieben, und zwar wegen der Trivialität ihrer Literatur, so der pauschale Vorbehalt der Jury. Ist diese Kritik denn zutreffend, fragen wir uns.

Die Rachegöttin Nemesis dient dem Miesepeter aus New Jersey, wie der Autor wegen seiner eher trübsinnig machenden Romane mal genannt wurde, als aussagekräftiger Titel für seine düstere Geschichte einer Polio-Epidemie, die zur Zeit des Zweiten Weltkriegs spielt, als man der heimtückischen Krankheit also noch weitgehend hilflos gegenüberstand. Durch eine raffinierte Konstruktion in drei Kapiteln gelingt es Roth, seiner eher langweiligen Story eine gewisse Dramatik zu verleihen, die vermutlich manche Leser zu fesseln vermag. Arnie Mesnikoff, der Ich-Erzähler und überzeugte Atheist, steht dabei in krassem Gegensatz zur jüdischen Hauptfigur Bucky Cantor, einem blitzsauberen, hehren Sportmenschen, der leibhaftige Idealtypus des American Hero. Beide erkranken an Poliomyelitis, gehen aber, wie man in einer Art Showdown erst ganz am Ende der Geschichte erfährt, völlig unterschiedlich mit ihrem Schicksal um

Warum lässt Gott uns leiden, warum lässt er grausame Kriege zu, warum überzieht er uns mit solch verheerenden Epidemien? Alles Fragen, an denen sich die Theologen aller Religionen seit Jahrhunderten abarbeiten, ohne auch nur ansatzweise eine überzeugende Antwort zu finden. An genau dieser Frage scheitert auch der gläubige Romanheld, der nicht nur mit seinem Schicksal hadert, sondern, schlimmer noch, an seinen Selbstzweifeln leidet und sich eine Mitschuld an der Ausbreitung der Epidemie einredet. Was für den lebensklugen Ich-Erzähler die Tyrannei der Umstände ist, aus denen man pragmatisch das Beste machen muss, das ist für den vor lauter Moral- und Ehrgefühlen geradezu mystisch überhöhten Helden die pure Theodizee. Er steht der unheilvollen Melange von Schicksalsschlägen und nicht verifizierbaren Selbstvorwürfen jedenfalls völlig ratlos gegenüber.

Ein Abgrund des Trivialen tut sich auf in diesem Roman, Klischees im Übermaß jedenfalls, vom kriminellen Vater, im Kindbett gestorbener Mutter, wahren Gutmenschen als Großeltern, makellosem Doktor als Schwiegervater, bösen Italienern und guten Juden, idyllischem Indianercamp, selbstlosem Liebesverzicht bis hin zum göttergleichen Speerwerfer, der uns am Ende des Buches vorgeführt wird. Hollywood lässt grüßen! Schade eigentlich, denn der Stoff gäbe einiges her, erinnert in seiner Tragik ja durchaus an griechische Dramen. Erzählt ist diese holzschnittartige Geschichte von Idealen, Moral, Verantwortung, Vorurteilen, Schuld und Sühne in einer einfachen, knappen, humorlosen Sprache ohne Raffinesse und Esprit. Lesevergnügen sieht anders aus! Und was die künstlerische Qualität solcher literarischen Produkte anbelangt, hat das Nobelkomitee wohl ausgesprochen weise geurteilt.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Rowohlt

Narrenweisheit

feuchtwanger-1Vitam impendere vero

Zum Spätwerk von Lion Feuchtwanger, einem der erfolgreichsten deutschen Schriftsteller im vergangenen Jahrhundert, zählt der 1952 erschienene Roman «Narrenweisheit», dessen Untertitel «Tod und Verklärung des Jean-Jaques Rousseau» seine Thematik verdeutlicht. Er gehört zur Gattung der historischen Romane, mit denen der Autor, beginnend mit «Jud Süß», weltweit großen Erfolg hatte, und umfasst zeitlich die letzten Monate vor dem Tod des großen französischen Denkers und Schriftstellers 1778 bis zur feierlichen Überführung seines Leichnams ins Pariser Panthéon im Jahre 1794.

Bereits der Titel spielt darauf an, dass Rousseau, der im Roman fast nur Jean-Jaques genannt wird, neben seiner unbestrittenen Weisheit auch ein Narr war mit wahnhaften Ängsten und psychotischen Abwehrreaktionen. Unbeholfen zudem, was seine privaten Lebensumstände betraf, sein Unvermögen beispielsweise, aus seinen Werken den ihm gebührenden finanziellen Nutzen zu ziehen. Wie so oft in seinem Leben war er auch 1778 nach heftigen Querelen in Paris wieder mal auf die Gastfreundschaft eines seiner Gönner und grenzenlosen Bewunderer angewiesen, des Marquis de Girardin, Seigneur von Ermenonville. Der aber konnte sich nicht lange im Ruhme des gefeierten Gastes sonnen, Rousseau verstarb ganz plötzlich, nach offizieller Version an einem Schlaganfall. Feuchtwanger, der sein Buch einen «Detektivroman mit historischem Hintergrund» nannte, ergänzt die Fakten jedoch um eine Mordgeschichte, der Liebhaber von Rousseaus Ehefrau Théresè habe den berühmten Denker aus Geldgier erschlagen, der Mord aber wurde aus den verschiedensten Gründen vertuscht und als haltloses Gerücht abgetan. Ebenfalls in die Handlung eingebettet ist die Romanze von Girardins Sohn Fernand mit Gilberte, eine Jugendliebe, die sich erst auf vielen Umwegen zu erfüllen scheint, wenn da nicht die Einberufung zur republikanischen Armee wäre, die ein mögliches Happy End für die Beiden letztendlich in Frage stellen könnte.

Das Besondere dieses stilistisch ausgezeichneten Romans ist die Fülle von historischen Ereignissen und berühmten Zeitgenossen, die hier eingebaut sind und die eigentliche Handlung immer wieder überlagern, die oft sogar im Zentrum des Erzählten stehen. Man erlebt als Leser den Beginn der französischen Revolution aus der Perspektive der Aristokratie, als deren geistiger Vater Rousseau angesehen wird, von Robbespiere, der ihn in Ermenonville besucht, grenzenlos bewundert. Im Verlauf der Revolution jedoch werden auch Girardin und sein Sohn denunziert und geraten ins Visier des republikanischen Tribunals, Fernand landet in Untersuchungshaft, sei Vater steht unter Hausarrest, beide trotz ihrer republikanischen Gesinnung. Gilberte, die durch Heirat in den Adelsstand erhoben wurde, muss sogar erkennen, dass die frisch errungenen Privilegien nun eher nachteilig, sogar hochgefährlich sind in Zeiten der Revolution mit ihren unvorhersehbaren Auswüchsen an Gewalt. Rousseaus eigentlich ja unpolitische Thesen erweisen sich als widersprüchlich und fragwürdig angesichts des jakobinischen Terrors, den er mit heraufbeschworen hat, Fernands einst felsenfeste Überzeugungen jedenfalls sind gewissen Zweifeln unterworfen.

Der flüssig lesbare Roman veranschaulicht durch seine historische Thematik, trotz mancher fiktiven Ergänzungen, recht eindrucksvoll und ohne wissenschaftlichen Anspruch die Wirkungen des Werkes von Jean-Jaques Rousseau auf den Gang der Geschichte. Insoweit bietet die Lektüre neben ihrem Unterhaltungswert en passant eine Auffrischung, wenn nicht sogar einen nicht unbeträchtlichen Zugewinn an Geschichtswissen für den Normalleser, bei mir war es jedenfalls so. Weit mehr als der ihm zugeschriebene, wirkmächtige Aufruf «Zurück zur Natur» überzeugt mich Rousseaus Wahlspruch «Vitam impendere vero», sein Leben der Wahrheit weihen scheint mir ein nachahmenswerter Vorsatz, auch wenn genau das, wie wir in diesem Roman erfahren, allzu schnell als Narretei abgetan wird.

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Aufbau Berlin

Licht im August

faulkner-1Erzählkunst auf allerhöchstem Niveau

Von den Werken des Nobelpreisträgers William Faulkners gilt «Licht im August» als der in Deutschland meistgelesene Roman, er hat ihn 1931/32 in nur wenigen Monaten geschrieben. Etwa zur selben Zeit ereignet sich auch dessen Handlung, Ort des Geschehens ist die Kleinstadt Jefferson des Bundesstaates Mississippi in den USA. Ein Südstaaten-Roman mithin, dessen spezielle Problematik bei den meisten Romanen dieses dort geborenen Autors den erzählerischen Hintergrund bildet und auch die Thematik des Plots mit beeinflusst.

Der Handlungsrahmen des in 21 Kapitel aufgeteilten schwermütigen Romans ist die im Wesentlichen im ersten und letzten Kapitel erzählte Geschichte von Lena Grove. Sie dauert nur wenige Tage im August, einer Zeit, die dem Roman seinen Titel gab und von der Faulkner schreibt: «Das Licht ist anders als sonst, es hat auf einmal eine seltsam leuchtende Eigenschaft». Lena ist von dem Taugenichts Lucas Burch geschwängert und sitzengelassen worden, kurz vor ihrer Niederkunft macht sie sich naiv zuversichtlich auf die Suche nach ihm, findet ihn schließlich und muss erleben, wie er sich wieder aus dem Staube macht. Von diesem Rahmen ausgehend schildert Faulkner in vielen Rückblenden die Vorgeschichten seiner diversen, von ihm nach und nach eingeführten Protagonisten, deren gemeinsames Merkmal entweder Schrulligkeit oder Stumpfsinn ist, der sich bei einigen aber auch als eine deutlich ausgeprägte geistige Verwirrung zeigt. Diese einzelnen Geschichten sind unglaublich kunstvoll ineinander verschachtelt, bauen aufeinander auf, ergänzen sich schrittweise in ihren Zusammenhängen und lösen sich erst nach vielen eingeschobenen Begebenheiten in einen vollständig erzählten Handlungsstrang auf.

Im Zentrum steht dabei die Geschichte des Findelkindes Joe Christmas – sie macht allein gut die Hälfte des Romans aus – der zum Mörder wird und am Ende einem Lynchmob zum Opfer fällt. Sein Kumpan ist jener Taugenichts Lucas Burch, mit dem zusammen er, der Prohibition zum Trotz, Whiskey verkauft. Der gutmütige Byron Bunch hat sich in Lena verliebt, er hilft ihr aber trotzdem, den liederlichen Kindsvater zu finden. Bei Gail Hightower, einem ehemaliger Pastor, dessen Frau unter dubiosen Umständen ihr Leben verlor und der völlig zurückgezogen lebt, sucht Byron immer wieder Rat. Auch das Mordopfer Joanna Burden, die mit Joe ein Verhältnis hat, lebt einsam in ihrem Haus, sie berät Farbige und hilft ihnen, womit sie sich aus ihrer Gemeinde ausgrenzt, für die «Nigger» trotz verlorenem Sezessionskrieg und Abschaffung der Sklaverei immer noch Menschen zweiter Klasse sind. Gegen Ende des Romans tauchen dann die Großeltern von Joe auf, es klärt sich nun, wie es dazu kam, dass er Weihnachten vor dem Waisenhaus ausgesetzt wurde, um dann mit fünf Jahren zu einem unglaublich bigotten anglikanischen Ziehvater zu kommen, dessen brutale Methoden bei der Erziehung einiges erklären in seinem späteren Verhalten.

Faulkner erzählt seine komplexe, schwermütige Geschichte in einer unglaublich dichten, kompakten Sprache, die vom Leser stets volle Aufmerksamkeit fordert. Sehr häufig setzt er dabei virtuos Bewusstseinsstrom und inneren Monolog ein, nicht selten sogar kombiniert im gleichen Satz. Seine außergewöhnliche Sprachkunst vermag mit wenigen Worten so immens viel zu transportieren, dass man geneigt ist, nach einigen Seiten eine Lesepause einzulegen, um das Gesagte zu verarbeiten, die solcherart entstandenen Bilder auf sich wirken zu lassen, die Geschehnisse gebührend einzuordnen und zu bewerten. Andererseits wird trotz der ungewöhnlich ruhigen, ebenso gemächlichen wie suggestiven Erzählweise Faulkners beim Leser eine Spannung erzeugt, die ihn immer weiter in die Geschichte hineinzieht und dann nicht mehr ruhen lässt, bis er die letzte Seite erreicht hat. Das ist Erzählkunst auf allerhöchstem Niveau.

Fazit: erstklassig

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Genre: Roman
Illustrated by Rowohlt

Der Fangschuss

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Tiefenwirkung

Die unter Pseudonym schreibende Autorin mit belgisch-französischen Wurzeln hat ihren 1939 erschienenen kurzen Roman «Der Fangschuss» in Sorrent verfasst, fernab vom Handlungsort ihrer Geschichte im Baltikum. Marguerite Yourcenar stellt ihren Ich-Erzähler, der morgens um fünf am Bahnhof von Pisa auf seinen Zug nach Deutschland wartet, auf den ersten eineinhalb Seiten kurz vor. «Es war die Dämmerstunde», schreibt sie, «in der schöne Seelen zu Bekenntnissen und Verbrecher zu Geständnissen neigen und in der selbst schweigsame Menschen gern Geschichten erzählen oder Erinnerungen auskramen, um nicht einzuschlafen».

Und nun erzählt Erich von Lhomond, ein vierzigjähriger ehemaliger preußischer Offizier, der in den Wirren nach dem Ersten Weltkrieg ein Jahrzehnt als Kommandeur an verschiedenen Fronten gekämpft hat, seinen beiden Kameraden eine Episode aus dem Bürgerkrieg gegen die Bolschewiken in Estland und Kurland, wo er ein Freikorps befehligt hat. Man ist als Leser sofort mitgerissen durch seinen, entfernt an Fontane erinnernden, ebenso angenehmen wie kurzweiligen Plauderton, den man förmlich hört, nicht liest. Marodierende Banden aus aufgelösten Truppenteilen sorgen für chaotische Zustände, der Tod ist allgegenwärtig. In diesem Schlamassel nimmt Erich mit seinen Männern Quartier im zerschossenen Schloss seines besten Freundes und Kampfgefährten Konrad von Reval und trifft dort auf dessen Schwester Sophie. «Auch in der Liebe bin ich, nebenbei bemerkt, fürs klassisch Einfache», sind seine Worte, und in der Tat erweist er sich im Verlauf der Geschichte als nahezu emotionsloser, kühl denkender Mensch, dem Frauen prinzipiell suspekt sind. Die burschikose zwanzigjährige Sophie aber, die nichts von jungen Männern hält, hat sich Hals über Kopf in ihn verliebt. Erich erfährt, dass sie Opfer einer Vergewaltigung war, spricht aber nie mit ihr darüber. Als sie ihm schon bald offen ihre Liebe erklärt und sich ihm unverblümt anbietet, ist er zwar in seiner Eitelkeit geschmeichelt, hält sie jedoch auf Abstand, lässt außer inniger Freundschaft keine intime Nähe entstehen – und stürzt sie damit in tiefste Seelenpein.

Sophie reagiert schließlich verzweifelt, sucht Abenteuer mit anderen Männern, nur um ihn eifersüchtig zu machen, seine Liebe zu erzwingen. Erichs bisexuelle Orientierung wird an lediglich einer Stelle nur sehr vage angedeutet. Eines Tages verschwindet sie überraschend ohne Abschied aus dem Schloss. Ihre Spur verliert sich schnell, einiges deutet jedoch darauf hin, dass sie sich den Bolschewiken angeschlossen hat. Nach einigen Monaten stehen beide sich ganz unerwartet plötzlich gegenüber. Der Showdown, und hier speziell die letzte Seite des Romans – ein wahrlich wirkungsstarker dramaturgischer Ablauf, erhebt in seiner aufwühlenden Tragik die ganze, überaus fesselnde Geschichte in die Problemsphären eines antiken Dramas, mehr will ich aber nicht verraten. Mich hat diese letzte Szene jedenfalls, obwohl ich nicht gerade zart besaitet bin, nicht nur zutiefst erschüttert, sie hat bei mir sogar körperliche Symptome ausgelöst, ist mir auf den Magen geschlagen, so ungeheuerlich fand ich das Geschehen. So was hat noch kein anderes Buch je geschafft.

«Das Geschehnis hat mich bewegt, und ich hoffe, dass es auch den Leser bewegt», schreibt Yourcenar im Nachwort, eine in Romanen ja recht selten anzutreffende Ergänzung des fiktionalen Textes, die sich hier als äußerst wertvoll erweist. Denn eine derart berührende Geschichte wirkt nach, wirft Fragen auf, und was könnte da hilfreicher sein als entsprechende Hinweise der Verfasserin? Ihre Geschichte beruhe auf einer wahren Begebenheit, erfahren wir, und auch ihre drei Hauptfiguren entsprächen im Wesentlichen der realen Vorlage. Deren Psychogramme sind fein durchdacht und wirken stimmig, überhaupt beweisen Handlung wie auch sprachliche Umsetzung der komplexen Geschichte große literarische Könnerschaft, die das Lesen zum Hochgenuss werden lässt.

Fazit: erstklassig

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Genre: Roman
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Gruppenbild mit Dame

boell-3Fanal der Humanität

Der 1971 erschienene Roman «Gruppenbild mit Dame» habe den Anstoß dafür gegeben, konnte man in der «London Times» lesen, dass Heinrich Böll den Nobelpreis bekam für eine «Dichtung, die durch ihre Verbindung von zeitgeschichtlichem Weitblick und einfühlsamer Charakterisierung erneuernd in der deutschen Literatur gewirkt hat», wie die Stockholmer Jury schrieb. Als wichtigster Schriftsteller der deutschen Nachkriegsliteratur hat Böll hier mit dem Stilmittel der Darstellung historischer Ereignisse anhand ihrer Auswirkungen auf den Alltag der Menschen erzählt, auf deren Lebensweise, auf deren Schicksal. Die Würde des Menschen spielt auch im vorliegenden Roman eine entscheidende Rolle, wobei es dem Autor immer wieder darum ging, mittels seiner Kunst die Individualität in den Fokus zu rücken, seine Gestalten nicht als bloße Manövriermasse der Mächtigen darzustellen. Der dabei benutzte, für ihn typische Erzählstil ist scheinbar naiv, erweist sich aber genauer besehen als klug durchdacht, er ist zudem üppig mit köstlich amüsanter Ironie gespickt, die bei einem Menschenfreund wie Böll aber nie zynisch wird.

Wir haben es mit einem Geschichtsroman zu tun, der das Deutschland der Jahre 1922 bis 1970 beschreibt, wo die Nazizeit und der Zweite Weltkrieg als Zäsur bis lange in die Nachkriegszeit hineinwirken und Verdrängungsmechanismen hervorrufen, die im Wirtschaftswunder sehr schnell die Schuld der Vergangenheit kaschieren. Hauptschauplatz der Handlung ist (ungenannt) Köln, Protagonistin die titelgebende Dame jener Gruppe, die als Figuren in großer Zahl den Roman bevölkern. Der Autor schildert seine Heldin Leni als bildschöne blonde Frau mit blauen Augen, die prompt den Preis als deutschestes Mädel ihrer Schule gewonnen hat. Gutherzig, unglaublich naiv, ungebildet, gleichwohl intelligent, auch künstlerisch begabt, eigensinnig bis zur Sturheit, von den Männern (fast immer erfolglos) umschwärmt, durchlebt sie im Verlauf des Plots den Niedergang von der verwöhnten Tochter eines reichen Kriegsgewinnlers bis zur mittellosen WG-Betreiberin Ende Vierzig, deren Sohn im Gefängnis sitzt und die ungerührt der von Spekulanten betriebenen Zwangsräumung ihrer Wohnung entgegensieht, unterstützt allerdings von einer großen Helferschar, die ihr als von allen Verehrte selbstlos beistehen. Zentrale Episode der Geschichte ist ihre in Kriegszeiten lebensgefährliche Liaison mit einem russischen Zwangsarbeiter, von dem sie bald auch ein Kind hat, der dann aber kurz vor Kriegsende bei einem Grubenunglück stirbt.

Erzählt wird in der dritten Person von einem namenlosen, stets nur als Verf. bezeichneten Erzähler, der den Leser den Entstehungsprozess seiner Geschichte über Leni miterleben lässt, von seinen vielen Gesprächen, Recherchen und Reisen berichtet, mit denen er von Weggefährten seiner zwar lebenden, aber jede Auskunft verweigernden, wortkargen Heldin fleißig Informationen zusammenträgt, die ein möglichst authentisches Bild von ihr ermöglichen sollen. Obwohl zum größten Teil fiktional, sind gelegentlich auch reale Dokumente eingebaut in sein hauptsächlich aus Gesprächsnotizen bestehendes «Gruppenbild», eine Konstruktion, die dem Autor dazu dient, das Leben der damaligen Zeit aus allen möglichen Blickwinkeln zu beleuchten, verkörpert durch seine unglaublich einfühlsam beschriebenen, lebensechten Figuren. Deren Geschichten man en passant ebenfalls erzählt bekommt, wodurch das Ganze zu einem umfassenden Panorama einer unrühmlichen Epoche wird, welches aus der Realität des Alltags eines Volkes geschichtliche Geschehnisse und typische Charaktere widerspiegelt. So mancher ältere Leser dürfte da lang Vergessenes wiederfinden, für jüngere ist es allemal ein wertvolles Zeitzeugnis.

Militarismus, Katholizismus, Kapitalismus, der unbeirrte Moralist Böll baut seine großen Themen auch in diesen Roman ein, er sieht sich auch hier als Anwalt der kleinen Leute, ohne die großen deshalb zu verteufeln. Ein fürwahr grandioser Klassiker!

Fazit: erstklassig

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Genre: Roman
Illustrated by dtv München

Fiasko

kertesz-1Vom Fiasko der Matrǫschka-Romane

Der Autor Imre Kertész gehört nach eigenem Bekunden nicht zur nationalen ungarischen Literatur, er sehe sich vielmehr in einer Reihe mit Paul Celan und Franz Kafka. Seine Befürchtung, dass er «ein ewig verkannter und missverstandener Autor bleibe» wurde durch das Nobelkomitee widerlegt, welches ihn 2002 ehrte und zur Begründung anmerkte: «Sein Werk behauptet die zerbrechliche Erfahrung des Einzelnen gegenüber der barbarischen Willkür der Geschichte». Kertész wurde 1944 als Fünfzehnjähriger nach Auschwitz deportiert und gelangte von dort nach Buchenwald, wo er bei Kriegsende befreit wurde. Diese einjährige traumatische KZ-Erfahrung ist prägend für sein gesamtes, stark autobiografisch inspiriertes Werk, hinzu kommen noch die Jahrzehnte der ebenfalls albtraumartigen Zeit während des kommunistischen Regimes in Ungarn. Sein Roman «Fiasko» ist Teil der «Tetralogie der Schicksallosigkeit», der Autor verarbeitet hierin seine Erfahrungen als Schriftsteller in einem autoritären Staatssystem.

In einer eigenwilligen, nebensatzreichen Sprache, ergänzt durch kaskadenartig in Klammer gesetzte, zahlreiche Hinzufügungen und Wiederholungen wird uns «der Alte» vorgestellt, ein erfolgloser Schriftsteller, der in armseligsten Verhältnissen lebt und dessen KZ-Roman über einen jüdischen Jungen im Vernichtungslager (sic!) vom Verlag abgelehnt wurde. Er ist zu journalistischer Gelegenheitsarbeit und zu Übersetzungen genötigt, nimmt jedoch immer wieder seinen Ordner «Ideen, Skizzen, Fragmente» zur Hand, ohne aber tatsächlich einen neuen Stoff zu entwickeln. Die Perspektive wechselt in diesem ersten Teil des Buches häufig zwischen auktorialer und personaler Erzählsituation, was Kertész hier neben seiner ungewöhnlichen Syntax bewusst als Stilmittel einsetzt. Eines Tages aber spannt der Alte plötzlich einen Bogen in seine Schreibmaschine und tippt in Grossbuchstaben «FIASKO» in die Mitte der ersten Zeile.

Im zweiten, größeren und nun ganz konventionell erzählten Teil lesen wir genau diesen Roman. Er handelt von einem Schriftsteller namens Steinig, der in die kafkaeske Welt eines nicht benannten Staates hineingerät und dort Wundersames, Willkürliches und kaum Erklärliches erlebt, ohne recht zu wissen, welche Mächte da am Werke sind. Sein Leben nimmt beruflich und privat immer wieder völlig überraschende Wendungen, und zwischendurch findet er sogar Zeit, einen Roman zu schreiben, der aber abgelehnt wird. Er lernt immer mehr Menschen kennen, sein beliebtester Treffpunkt ist ein Lokal namens «Südsee». Dort verkehrt auch Berg, ein geheimnisvoller Mann, der ebenfalls schreibt und ihm eines Tages nach langem Zureden aus seinem Manuskript mit dem Titel «Ich, der Henker» vorliest, worauf sich eine kontroverse Diskussion anschließt. Am Ende schließlich erfährt Steinig, dass sein Roman doch gedruckt wird. Der Alte aber, der all das geschrieben hat, ist skeptischer als seine Romanfigur: «Seine Person hat er zu einem Gegenstand gemacht, sein hartnäckiges Geheimnis ins Allgemeine verwässert, seine unaussprechliche Wirklichkeit zu Zeichen destilliert», sein einzig mögliches Buch würde nun «das Massenschicksal der anderen Bücher» teilen.

Es ist keine leichte Kost, die da auf ihren Leser wartet. Kertész hat kunstvoll nach Art russischer Matrǫschka-Puppen drei Romane ineinander verschachtelt und dabei ein unbequemes Thema aufgearbeitet. Er durchleuchtet die Düsternis der menschlichen Seele in unglaublich vielen, tiefsinnigen Gedankengängen. Wer sich die Zeit nimmt und seinen Reflexionen willig folgt, den dürfte diese Lektüre ungemein bereichern.

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Rowohlt

Brand’s Haide

schmidt-1Wer hat Angst vor Arno Schmidt

Der 1951 erschienene Kurzroman «Brand’s Haide» könnte, neben allerlei literarischen Besonderheiten, über die hier gleich zu berichten sein wird, dem saturierten Leser einer der reichsten Nationen dieser Welt ein Schlüsselerlebnis bescheren. Die Handlung ist zeitlich nämlich im Deutschland unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg angesiedelt, wo Autor und Ich-Erzähler Arno Schmidt 1946, nach der Entlassung aus englischer Kriegsgefangenschaft, in das fiktive niedersächsische Dorf Blakenhof eingewiesen wird. Die authentischen Schilderungen der damaligen Not, der äußerst bedrückenden Lebensumstände dürften selbst für ältere Leser schockierend sein. Insoweit ist der Roman geeignet, uns Heutige aus dem vermeintlichen Himmel des fast unbegrenzten Konsums wenigstens lesend mal wieder auf den Erdboden zurückzuholen.

Als Unterkunft wird dem Kriegsheimkehrer eine von ihm als «Loch» bezeichnete Rumpelkammer bei der Dorflehrerin zugewiesen. Zwei Flüchtlingsfrauen bewohnen ein benachbartes Zimmer, sie stammen wie er selbst ebenfalls aus Schlesien, was die drei von den Einheimischen scheel betrachteten Fremden natürlich zusammenschweißt. Man hilft sich gegenseitig im Kampf mit dem drückenden Mangel an allem, was man ganz elementar zum Leben braucht. Und so gehen sie gemeinsam Holz stehlen oder Äpfel, sammeln trotz Verbot heimlich Pilze und anderes mehr. Mit Lore, einer der beiden 32-jährigen Frauen, entwickelt sich bald ein Liebesverhältnis, dem aber kein Happyend beschieden ist, denn sie nimmt das Angebot eines Vetters an, der materiellen Not zu entfliehen und zu ihm nach Mexico zu kommen. Schmidt bringt sie zum Bahnhof und bleibt allein zurück.

Dieser äußere Handlungsrahmen wird ergänzt durch diverse, breit angelegte Einschübe. Der Schriftsteller arbeitet an einer Biografie von Fouqué, ein von ihm als «ewiges Lämpchen» bezeichnetes, mit Hingabe betriebenes, langfristiges Buchprojekt. Friedrich Baron de la Motte Fouqué ist bekannt als romantischer Autor der bei E.T.A. Hoffmann und Lortzing als Opernlibretto dienenden Märchennovelle «Undine». Die Frauen helfen ihm bereitwillig bei der Suche nach Lebensdaten von Vorfahren Fouqués in den örtlichen Kirchenbüchern. Einige Male trifft er auf einen geheimnisvollen «Alten» aus dem Wald von Brand’s Haide, der ihn mit seinen Kenntnissen über Fouqué verblüfft. Mit dem Sohn der Lehrerin, bei der er einquartiert ist, führt er kontroverse politische Diskussionen, in denen er sich als argumentativ deutlich überlegen erweist. Als «Ungläubiger» verwickelt er den Dorfpfarrer in interessante, für einen Kirchenmann jedoch ziemlich unerquickliche Dispute. An dunklen Winterabenden liest er den Frauen einige, im Roman komplett abgedruckte, längere Passagen von Fouqué vor, der Roman stellt mit seiner ständigen Durchdringung Fouqué/Schmidt quasi ein Abfallprodukt der Fouqué-Arbeit dar.

Arno Schmidt wird von einer Schar Getreuer geradezu kultisch verehrt. Den Normalleser jedoch stellt sein Werk vor ziemliche Probleme, so auch «Brand’s Haide». Denn abgesehen von seiner rigoros unkonventionellen Orthografie und Syntax besteht seine eigenständige, kaum einer bestimmten literarischen Richtung zuzuordnende Sprache aus einer collageartige Reihung von etwa dreihundertfünfzig Textabschnitten, von ihm «Fotos» genannt, die häufig in Form des Bewusstseinsstroms geschrieben sind. Es wimmelt dabei nur so von Anspielungen, Zitaten, kryptischen Hinweisen und Anmerkungen, all das üppig angereichert durch eigenwillige Wortschöpfungen, fremdsprachliche Einsprengsel sowie Begriffe aus Umgangssprache und Dialekten verschiedenster Herkunft, somit also geeignet, beim Leser die unterschiedlichsten Assoziationen hervorzurufen. Literarisch hochstehend zweifellos, ist dieser Roman mutmaßlich eine für aufnahmefähige Leser ebenso willkommene wie letztendlich auch bereichernde Herausforderung.

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Fischer Taschenbuch Frankfurt am Main

Berittener Bogenschütze

kronauer-2Das Mirakel der Realität

Man hat vom Höhepunkt ihrer Erzählkunst gesprochen bei Brigitte Kronauers 1986 erschienenem Roman «Berittener Bogenschütze», der nicht nur vom Titel her Rätsel aufgibt. Die mit vielen Preisen geehrte Schriftstellerin hat nach langen Jahren im literarischen Untergrund ihren ganz eigenen Erzählstil entwickelt, den sie nach ihrem erfolgreichen Romandebüt wie ein Markenzeichen konsequent weiterverfolgt und im vorliegenden, sechs Jahre später erschienenen Band auf die Spitze getrieben hat. Mit Realistik im Sinne üblicher Lesererwartungen hat ihr spezieller literarischer Stil rein gar nichts gemein, soviel vorweg!

Der vierzigjährige Matthias Roth ist Literaturdozent an einer nicht genannten deutschen Uni, sein Forschungsschwerpunkt scheint Joseph Conrad zu sein. Er ist allein stehend und lebt als möblierter Herr in zwei einfachen Zimmern beim Ehepaar Bartels. Nachdem Karin ihn verlassen hat, ist er zu Beginn des Romans mit der Biologiestudentin Marianne liiert, die gelegentlich bei ihm übernachtet. Frau Bartels kocht für ihn und erzählt ihm Geschichten über die Mitbewohner, die ihn wirklich nicht interessieren, die er aber aus reiner Höflichkeit über sich ergehen lässt. Als er seinen früheren Freund Fritz und dessen Frau in einer anderen Stadt besucht, staunt er über das für ihn rätselhafte Eheleben der Beiden, spekuliert darüber, wie nahe sie sich menschlich denn tatsächlich sein können. Von den alten Freunden ist nur Hans in der Stadt geblieben, er ist mit Gisela verheiratet und hat einen Job im Kulturamt; Matthias ist öfter bei ihnen eingeladen, die Drei verstehen sich gut. Als Marianne ihn wortlos verlässt, unternimmt er in den Semesterferien eine längere Reise nach Italien, wohnt einige Zeit bei Irene, einer allein stehenden Bekannten in Genua, ohne aber intim mit ihr zu werden, wie er es eigentlich vorhatte. Am letzten Tag seines Badeurlaubs hat er auf einer Wanderung in einem einsamen, mediterranen Tal eine Art Erweckungserlebnis. Zurückgekehrt trifft er zufällig Anneliese wieder, mit der er mal eine Nacht verbracht hatte, und bandelt nun wieder mit ihr an. Der Roman endet mit einer ihn vollends irritierenden Begebenheit: Als er eines Abends seine Freunde besucht, ist Hans noch nicht von der Arbeit zurück. Beim Teetrinken in der Küche kommen er und Gisela sich plötzlich für einen winzigen Moment nahe, man hört aber schon den Schlüssel von Hans in der Haustür. Völlig verwirrt nach schlafloser Nacht trifft Matthias die Beiden am nächsten Abend wieder, und alles ist wie immer, als wäre nichts geschehen.

Brigitte Kronauer versucht in ihrem Roman, den Dingen des Alltags auf den Grund zu gehen, Erkenntnisse zu gewinnen über die Geheimnisse dessen, was wir Wirklichkeit nennen. Ihr sensibler Protagonist ist ein ewiger Grübler, ein Skeptiker, der ständig sinnierend das Innere der sichtbaren Welt ebenso zu erforschen sucht wie das verbindende Beziehungsgeflecht ihrer Teile. Als sehr spezieller Entwicklungsroman, in dem nichts von Bedeutung passiert, enthält er fast ausschließlich tiefsinnige Reflexionen und äußerst detailverliebte Schilderungen. In einer kreativen, wortmächtigen Sprache lassen sie auf der Suche nach Erkenntnis, nach dem Mirakel hinter der Realität, vieles aufscheinen, das sich dem weniger genauen Betrachter völlig entzieht.

Der komplexe Roman erscheint mir ziemlich artifiziell, er ist wahrlich nicht einfach zu lesen mit seinen zuweilen komplizierten Satzgebilden, die partout alles, was ist, zu benennen suchen. Damit erfordert er einiges an Geduld, nötigt zudem den Leser auch zur Mitwirkung bei der Überfülle an Details, die da auf ihn einströmen und sich zu Bildern formen, permanent neue Assoziationen generierend. So sehr die exzessive, fast schon manische Beschreibungslust der Autorin auch zu bewundern ist, das Gros der Leser dürfte den Roman kaum wirklich goutieren, zu abseitig ist diese spezifische Erzählweise, von der schwierigen Thematik ganz zu schweigen.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Klett-Cotta Stuttgart

Mein Herz so weiß

marias-2Was nun?

Die Halbwertszeiten aktueller Romane sind oft nach Monaten gezählt, allenfalls ein Bruchteil davon interessiert nach Jahren noch die Leser, einer jahrzehntelangen Wertschätzung aber erfreuen sich nur ganz wenige. Zu diesen besonderen Romanen gehört zweifellos «Mein Herz so weiß» von Javier Marías, einst hoch gelobt vom Feuilleton und seiner damaligen Lichtgestalt Marcel Reich-Ranicki. «Hingehen, kaufen, lesen» hatte Andreas Isenschmid in der «Weltwoche» geschrieben. Auch ich war damals begeistert von diesem Buch, und ich bin es nach erneutem Lesen heute immer noch, soviel sei vorab schon mal gesagt. Lady Macbeth spricht die Worte aus, denen der Titel des Romans entlehnt ist, «I shame to wear a heart so white». Sie hat den Mord an Duncan nicht begangen, ihr Herz ist weiß, aber sie hatte dazu angestiftet, eine Schuld, die sie letztendlich in den Selbstmord treibt. Dies ist auch das Hauptmotiv des vorliegenden Romans, der wie mit einem Paukenschlag beginnt, dem Selbstmord einer jungen Frau unmittelbar nach der Rückkehr von der Hochzeitsreise. Niemand wird das Buch aus der Hand legen, bevor er nicht erfahren hat, was die Ursache war für diese rätselhafte Verzweiflungstat, der Autor hat seine Leser also fest an der Angel, und das bis zum Schluss. Und auch ich werde mich hüten, die im Roman vierzig Jahre lang eisern verschwiegenen Hintergründe wie ein Spielverderber vorab preiszugeben.

Es geht um die Macht der Worte in diesem Roman, um die Sprache als Werkzeug, um ihre Auswirkung auf das Geschehen. Ich-Erzähler Juan ist Dolmetscher von Beruf, Worte sind also sein Metier, von ihm überaus virtuos beherrscht. Er arbeitet für internationale Organisationen, ist dauernd unterwegs zwischen seiner Heimatstadt Madrid und New York, Genf, Brüssel. Bei einem seiner Aufträge lernt er Luisa kennen, die ihm als Ko-Dolmetscherin beigestellt ist, seine Übersetzung also überwachen muss. Amüsant zu lesen, wie der Small Talk zwischen zwei drögen Staatslenkern mangels Gesprächsstoff peinlich zu werden droht, wie Juan plötzlich, abweichend von den Politikerworten, eine ganz andere Frage stellt ‑ Luisa greift zum Glück nicht ein ‑ und damit erst wirklich ein sinnvolles Gespräch in Gang bringt. Als er später Luisa heiratet, nimmt ihn sein Vater bei der Hochzeitsfeier zur Seite und fragt lapidar: «Was nun»? Ehe und Liebe mit allen ihren Gefährdungen sind ein weiteres dominantes Thema dieses Romans, dargestellt an den deprimierenden, zum Scheitern verurteilten, letztendlich rein sexuellen Männerkontakten von Juans New Yorker Kollegin über die drei Ehen seines lebensgierigen Vaters Ranz bis hin zu seiner eigenen, jungen Ehe, die wenig emotional, eher cool dargestellt wird. Ranz ist im berühmten Prado-Museum angestellt, verfasst nebenbei private Gutachten über Gemälde und tätigt mancherlei dubiose, juristisch grenzwertige Geschäfte auf eigene Rechnung. Neben den Details aus der Dolmetscher-Szene erfährt der Leser also auch viel Interessantes aus der Welt der Malerei und der Museen, von Fälschern und von Kunst-Spekulanten.

Der raffiniert aufgebaute Plot ist in einer anspruchsvollen Sprache geschrieben, die mit langen Satzkaskaden und häufig zusätzlich (in Klammern) eingefügten Anmerkungen alles andere als leicht lesbar ist. Das Geschehen ergibt sich zum überwiegenden Teil direkt aus den Schilderungen des Ich-Erzählers, die Geschichte ist auffallend dialogarm aufgebaut. Weite Passagen des Romans werden in Form des Bewusstseinsstroms erzählt, und oft handelt es sich dabei um ausgesprochen kontemplative Einschübe. Dezidiert leitmotivisch erscheinen mehrmals rätselhafte, nächtliche Beobachter auf der Straße, wartend zu einem Fenster hinaufschauend. Auch das Feuer wird, ziemlich unterschwellig allerdings, als Leitmotiv verwendet, und das Macbeth-Motiv taucht ebenfalls ein zweites Mal auf, vorspielartig gleich zu Beginn. Über allem Erzählten schwebt ein elegischer Hauch, südländisch lebensfroh wirkt keine der Figuren, vor allem aber Juan nicht.

«Ich wollte es nicht wissen» beginnt der erste Satz des Romans, dessen Geschichte also keine forcierte Suche ist nach der Wahrheit über ein vierzig Jahre zurück liegendes, schreckliches Ereignis. Die enthüllt sich nämlich weitgehend zufällig durch Gespräche, die unversehens Licht in die düstere Vergangenheit bringen. Der Romanheld wirkt bei alledem recht unheldisch, und pessimistisch ist er obendrein. «Was nun?» lautet denn am Ende auch für ihn die Frage. Der Wirkung all dessen kann man sich als Leser kaum entziehen.

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Fischer Taschenbuch Frankfurt am Main

Wenn ein Reisender in einer Winternacht

calvino-1L’ironique amusé

Von seinen Freunden in den literarischen Zirkeln von Paris erhielt er den Spitznamen «Der amüsierte Ironiker», sein Entdecker und Mentor Cesare Pavese bezeichnete ihn als «Eichhörnchen der Feder». Beides kennzeichnet äußerst treffend den Stil des italienischen Autors, die in dem 1983 auf Deutsch erschienenen Meta-Roman «Wenn ein Reisender in einer Winternacht» ihre gelungenste Ausformung erhielt. Sprachlich flockig leicht und beweglich, thematisch kunstvoll durchwoben mit nicht zu übersehender Ironie, widersetzt sich dieser so noch nicht dagewesene, ebenso dichte wie komplexe Erzähltext jedem Versuch einer Zuordnung, er ist vielmehr ein kreatives Spiel mit so ziemlich allen modernen literarischen Gattungen auf einmal.

Kann man einem Leser mehr Ehre antun, als ihn zum Protagonisten eines Romans zu erheben? Es wird konsequent in der zweiten Person erzählt, und das hört sich so an: «Vielleicht hast du schon im Laden ein bisschen darin geblättert. Oder du konntest es nicht, weil das Buch noch eingeschweißt war. Nun stehst du im Bus, eingezwängt zwischen anderen Leuten, hängst mit der einen Hand an einem Haltegriff und versuchst mit der freien anderen, das Buch auszupacken, ein bisschen zappelig wie ein Affe, der eine Banane schälen und dabei weiter an einem Ast baumeln will. Pass auf, du stößt die Nachbarn an. Entschuldige dich wenigstens». Natürlich trägt dieses soeben frisch erworbene Buch den Titel «Wenn ein Reisender in einer Winternacht», es bringt dem Helden, seinem Leser also, allerdings wenig Freude. Denn nach 14 Seiten wiederholt sich der erste Textblock des spannenden Romans um eine konspirative Kofferübergabe fortlaufend bis zum Schluss, ein Bindefehler womöglich. Nach diesem Schema werden nicht weniger als zehn Romananfänge erzählt, die aus unterschiedlichen Gründen alle abbrechen. Sie werden jeweils eingeleitet von einem weiteren Teil der Geschichte, die der Leser erlebt auf den Spuren dieses mysteriösen Buches, von der Buchhandlung über Uni, Hörsaal, Café, Verlag bis zur Wohnung von Ludmilla, einer ebenso verunsicherten Leserin wie er. Ergänzt werden diese Einleitungen, welche listenreich die Rahmenhandlung bilden, durch das kuriose Tagebuch eines Schriftstellers. Überhaupt ist die turbulente Geschichte gespickt mit Details verschiedenster Aspekte zum Thema Buch, aus der Werkstatt von Autor und Übersetzer natürlich, aus der Druckerei, dem Verlag, dem Buchhandel und, last but not least, der Lesestube des Buchkäufers. Denn die Lust am Lesen und die Liebe zu Büchern ist das beherrschende Thema dieses Romans.

Calvino unternimmt stilistisch einen Parforceritt durch fast alle Spielarten der modernen Literatur, persifliert sie sehr gekonnt, man muss häufig schmunzeln, der Autor als Schelm und Nestbeschmutzer! In seinem labyrinthischen Plot ohne Ariadnefaden, der wie eine literarische Schnitzeljagd anmutet, finden sich neben einigen ins Nichts führenden Abzweigungen zehn wunderbar gelungene, an Stilübungen erinnernde Textfragmente. Dazu gehören, mit der Zensur in einer osteuropäischen Diktatur zum Beispiel, Anklänge an Kafka, es finden sich ferner Elemente des typischen Campusromans, des Liebes- und des utopischen Romans ebenso wie Sex and Crime des Thrillers, völlig gleichberechtigt übrigens neben solchen des Nouveau Roman, des magischen Realismus oder des Symbolismus.

Der Seitenhieb auf die Bibliophilen mit ihren ungelesenen Büchern, «die sie böse anschauen», wenn schon wieder neue angeschleppt werden, wird manchen Leser wenig freuen, dass Calvino den weitverbreiteten Wunsch nach stringenter Handlung ad absurdum führt, gewiss noch mehr. Wo sonst aber kann der Leser, also du, so viel über sich selbst und seine Leidenschaft erfahren? Das allein schon macht dieses als Jahrhundertroman apostrophierte Buch sehr lesenswert, und das glaubst du dem Rezensenten. Also liest du es einfach …

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Fischer Taschenbuch Frankfurt am Main

Wendekreis des Krebses

miller-1Surrealistischer Klassiker

Der in New York als Sohn deutscher Eltern geborene Schriftsteller Henry Miller hat 1934 mit «Wendekreis des Krebses» einen Roman vorgelegt, der schnell Kultstatus erreicht hat, woran der nach seinem Erscheinen wegen der vulgär sexuellen Textpassagen verursachte Skandal nicht unerheblichen Anteil hatte, das Buch stand lange auf dem Index. Dabei wurde völlig unterschätzt, welchen literarischen Rang der stark autobiografisch beeinflusste Roman in Wahrheit einnimmt, ist er immerhin mehr als achtzig Jahre später noch lange nicht in Vergessenheit geraten, vermag auch heute noch viele Leser zu begeistern. Eindeutig also ein literarischer Klassiker, welcher, folgt man der Definition von Heinz Schlaffer, «gleichermaßen vergangen, erinnert und gegenwärtig» ist oder, wie es Vladimir Nabokov umschreibt, ein «zeitloses Kunstwerk, dem ein individueller Genius innewohnt».

Um es gleich vorweg zu nehmen, ein Klassiker sicherlich nicht der obszönen Stellen wegen, die heutzutage niemanden mehr «hinter dem Ofen hervorlocken können». Im Gegenteil, der Sex ist hier plump, vulgär, primitiv anatomisch, hat zudem einen derart beiläufigen Status, nichts Aufregendes, Ersehntes, Beglückendes, dass Voyeure eher abgeschreckt werden, – was da beschrieben wird hat keinerlei Reiz! Fast alle Frauenfiguren des Romans sind Prostituierte der untersten Kategorie, aus der Gosse, unattraktiv, oft abstoßend, der Umgang mit ihnen ist geschäftsmäßig, die Männer verachten sie abgrundtief. Eine unerträglich überhebliche, machohafte Perspektive des Autors, die selbst manche einschlägig geprägten südamerikanischen Kollegen noch weit in den Schatten stellt in ihrer rigiden Frauenfeindlichkeit.

In teils tagebuchartigen Fragmenten werden, ohne erkennbare Zusammenhänge und chronologisch plausible Abfolge, einzelne Episoden aus der Pariser Zeit des Autors erzählt, wobei Alltagsszenen durchmischt sind mit eigenen Reflexionen und philosophischen Betrachtungen. Der tägliche Kampf ums Dasein in einem prekären Milieu steht dabei im Vordergrund, vergebliche Jobsuche, das Schnorren um einen Drink, um Essen, Unterkunft, käuflichen Sex. Die drastischen Schilderungen sind oft grotesk überzeichnet und erzeugen mit häufig surrealistischen Einschüben erstaunliche Assoziationen, die so gar nicht den üblichen Leseerfahrungen entsprechen. Dieser originäre Stil unterstreicht die unverhohlene, aber auch verzweifelte Kritik des Autors an den gesellschaftlichen Zuständen, die zu ändern auch die Literatur aufgerufen sei, wie er mal angemerkt hat. Miller bezieht den Akt des Schreibens mit ein in seine Sinnsuche, benutzt seinen provokanten Erzählstil als Analogie für ein anzustrebendes, von allen äußeren Zwängen befreites Leben des Individuums. In diesem Sinne sind auch seine bewusst drastischen sexuellen Schilderungen zu verstehen, sie sind ein radikales Mittel zur Entlarvung des lebensfeindlichen Wertesystems der puritanischen Gesellschaft seiner Heimat.

Sprachmächtig und gedankenreich führt Miller seine Leser in eine Welt ein, die als extrem abstoßende Subkultur die schlechtesten aller menschlichen Lebensumstände jener Zeit darstellt, ohne ihr je, als Gegenpol sozusagen, behaglichere gegenüber zu stellen. Damit verstärkt er bewusst deren ohnehin niederschmetternde Wirkung, verstört aber zugleich sicherlich auch manchen Leser, den das trostlose Milieu irgendwann mental doch allzu sehr niederdrückt. Überraschende Begegnungen mit Settembrini oder Molly Bloom, überhaupt eine üppige Intertextualität, wirkten da erfreulich aufhellend: «Verloren war ich wie einst, als ich im Schatten junger Mädchenblüte im Speisesaal jener riesigen Welt von Balbec saß und mir zum ersten Mal der tiefere Sinn jener inneren Stille aufging, die sich durch die Verbannung von Sicht- und Greifbarem äußert». Ein philosophischer Streifzug also durch die nihilistische Gedankenwelt eines unkonventionellen Autors, dessen zeitloser Roman ein Klassiker ist, den man gelesen haben sollte.

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Rowohlt