Das Haus verlassen

Das Haus verlassen. Die Regisseurin Jacqueline Kornmüller brachte gemeinsam mit Peter Wolf u. a. die preisgekrönte Ganymed-Serie im Kunsthistorischen Museum auf die Beine. Zuletzt inszenierte sie Die unheimliche Bibliothek von Haruki Murakami im Wiener Odeon Theater und und brachte damit Kat Menschiks Illustrationen auf die Bühne (2022). In vorliegendem bibliophil gestalteten “Pappband” erzählt sie vom Zauber der Dinge und der Freundschaft mit einem alten Haus, das mit ihr spricht. Oder nur sie mit ihm?

Illustrationen wie ein Garten

Band 17 von Kat Menschiks illustrierten Lieblingsbüchern wird verziert von Skarabäen, Fröschen, Blumen oder Puppen und ist eine wahrlich poetische Geschichte über Besitz und das Loslassen davon. Es geht um das alte Feldsteinhaus, das sich nicht so ohne weiteres von seiner Besitzerin trennen möchte. Sie bemüht sich zwar allerhand illustre Gestalten zur Besichtigung in ihr Anwesen zu laden, aber irgendwie will sie selbst nicht so richtig fortgehen. Zehn Jahre lebt sie nun schon in diesem Haus und will sich nun endlich vom Besitz trennen, denn es warten schließlich noch andere Abenteuer auf sie. Aber denkste! Das Haus hat Krallen und hält sie fest, wie ein von Kafka abgeleitetes Zitat über Prag lauten könnte (“Dieses Mütterchen hat Krallen”). Schließlich gibt es auch nicht viele Häuser, die mit einem sprechen. Aber viele Häuser mit denen sprechen kann, ohne dass diese antworten.

Das Haus verlassen: Oder doch nicht?

Die raubeinige Dorfgemeinschaft ist einerseits neidisch, andererseits belächelt sie ihre Bruchbude, die immerhin Jahre auf dem Buckel hat. Aber vom Dachboden bis zum Kellergewölbe, wo sich das Bad befindet, bis zum verwilderten oder den uralten Obstbäumen: es ist ihrs. Die Bewerber und Bewerberinnen, allesamt Immobilientourist:innen, geben die Klinke in die Hand geben. Da gibt es die Belgier, das Ehepaar Salz, oder die Frau aus dem 19. Bezirk, der Herr der Innenminister-Mann, der Samstag-Mann und die Samstagsfrau, die Schwangere, die Suchende u.v.a.m. Bald dämmert es nur dem Haus, dass die Immobilientourist:innen den Wert des Hauses gar nicht wirklich erkennen und ihn auch nicht zu. Aber da draußen wartet das Leben auf die Erzählerin und sie muss einfach mal wieder weg. Aus diesem Dorf vor allem. Diesem Haus. Doch dann stirbt plötzlich die Queen im fernen England und alles wird ganz anders.

Eine hinreißende kleine Erzählung, die zum Nachdenken anregt und gleichzeitig durch ansprechende Illustrationen von Kat Menschik und Liebhaber:innen von Geschichten wie damals.

Kat Menschik, Jacqueline Kornmüller
Das Haus verlassen
Mit Illustrationen von Kat Menschik
2024, bezogener Pappband, Kupferfarbene Prägefolie, Farbschniþ,Lesebändchenca. 96 Seiten
ISBN 978-3-86971-286-4
Galiani Berlin
22 € (D) / 22,70 € (A)

 


Genre: Erzählungen, Illustrationen
Illustrated by Galiani

Geschichten aus dem Garten. Erlebnisse mit Eichhörnchen, Füchsen & Co.

Der durch die Corona-Pandemie erzwungene Wechsel von Büro- zur Heimarbeit hatte für Patricia Strunk eine positive Seite: Durch ihre tägliche Anwesenheit im eigenen Heim nahm sie ihre Umwelt, und das war in erster Linie ihr Garten, vollkommen neu wahr. Sie entdeckte Tiere, mit denen sie schon länger in enger Symbiose lebte: Spatzen, Amseln, Mäuse, Eichhörnchen, Füchse und Libellen. Mit all diesen freundlichen Gesellen teilte sie ihr Refugium und bemerkte doch erst allmählich, welchen Reichtum ihr die tierische Gesellschaft bescherte. Weiterlesen


Genre: Erzählungen, Tagebuch, Tiergeschichten
Illustrated by BoD Norderstedt

Im Garten meiner Kindheit

Christine Kayser entführt den Leser in die Zeit ihrer Kindheit, in eine ländlich geprägte Zeit. Morgens schöpfte die Milchfrau frische Milch aus Kannen. Abends las die Großmutter vor. Das Leben des Wildfangs spielte sich weitgehend außerhalb des Hauses in der freien Natur ab. Waschmaschinen, Kühlschränke, Telefon und Fernseher gab es noch nicht. Weiterlesen


Genre: Autobiografie, Erzählungen
Illustrated by story.one

Unter der Sonne: Erzählungen

Kehlmanns Titelgeschichte »Unter der Sonne« schildert den Werdegang eines gescheiterten Autors. Ein Mann schreibt über einen berühmten Schriftsteller, er widmet ihm sein gesamtes wissenschaftliches Werk und all seine Arbeitszeit. Doch gelingt es ihm nicht, den Schriftsteller zu Lebzeiten auch nur ein einziges Mal zu treffen oder ihm eine persönliche Zeile zu entlocken. Weiterlesen


Genre: Erzählungen
Illustrated by Rowohlt Taschenbuch Reinbek

Wir Schurken

Peter Sonnbichler ist ein Bewahrer. Er bewahrt kostbare Momente davor, vergessen zu werden, auch behütet er eine Zeit, die erst kürzlich verflossen ist, aber als Epoche – vor dem Handy, dem Internet und der politischen Korrektheit –

Sonnbichler bewahrt so auch das Land vor dem Vergessen, eines, das nicht einzig als Naherholungszone oder Mountainbike-Strecke Wert hat. Weiterlesen


Genre: Erzählungen
Illustrated by edition sonne und mond

Der Alligator. Erzählung

Der Leser ist gut beraten, den Unterschied zwischen Krokodil und Alligator zu kennen, wenn er sich denn mit dem Hauptdarsteller der Erzählung von Francis Mohr anfreunden möchte. Denn der ist ein stolzer Alligator aus Amerika und kein ordinäres Krokodil, dessen grässliche vier unteren Zähne aus dem geschlossenen Maul herausragen. Außerdem werden Alligatoren älter, während Krokodile spätestens mit 70 mit aufgeblähten Bäuchen an der Wasseroberfläche treiben. Weiterlesen


Genre: Erzählungen
Illustrated by Zwiebook

Ein Herr aus San Francisco

Erfreuliche Wiederentdeckung

Eine der berühmtesten Novellen der Weltliteratur gab dem Band mit Erzählungen des russischen Schriftstellers Iwan Bunin aus den Jahren 1914/15 seinen Titel, «Ein Herr aus San Francisco». Der Autor gilt als Klassiker der russischen Literatur und bekam 1933 als erster Russe den Nobelpreis verliehen ‹für seine kunstvolle Prosa, mit der er die literarische Tradition seines Landes fortführt›. In Deutschland war er lange nur Insidern bekannt.

Zwei der sieben Erzählungen dieses Bandes sind in einer für Iwan Bunin untypischen, nichtrussischen Umgebung angesiedelt, in dem Inselstaat Ceylon die eine, die zweite bei einer Reise nach Capri. Er selbst hatte dort seine Erzählung «Die Heiligen» beendet, die erste Geschichte dieser Sammlung, die von einem alten Diener berichtet, der den Kindern seiner ehemaligen Herrschaft vom grausamen Martyrium einiger Heiliger erzählt, während nebenan die Eltern nichtsahnend feuchtfröhlich mit Gästen feiern. Unter dem harmlos klingenden Titel «Ein Frühlingsabend» werden anschließend die letzten Stunden eines Bettlers geschildert, der eine gute Hose geschenkt bekommt und den sein Schicksal ereilt, als er sie in einem üblen Wirtshaus einem verwahrlosten, bösartigen Bauern zu verkaufen versucht, – man ahnt als Leser, wie das ausgehen wird. In «Brüder» wird die traurige Geschichte eines Rikschakulis erzählt, der einen Tag lang einen wohlhabenden Engländer kreuz und quer durch die ceylonesische Hauptstadt karrt, eine berührende Anklage gegen das schreiende Unrecht während der Kolonialzeit. Eine äußerst subtil angedeutete, sich nur mutmaßlich anbahnende Liebesgeschichte wird in «Klaschka« wunderbar leichtfüßig erzählt, und «Eine Geschichte für die Weihnachtszeit» ist der ebenso ironische wie trügerische Titel einer nachdenklich machenden Hommage an einen übereifrigen Archivar, ein geistvolles Plädoyer für das Aufbewahren als Voraussetzung für das Erinnern, von dem ja letztendlich auch die Literatur eine Berechtigung zu ihrer Existenz ableitet. «Die Grammatik der Liebe» handelt von der lebenslangen, geradezu existentiellen Zuneigung eines Gutsherrn zu seinem früh verstorbenen, geheimnisvollen Stubenmädchen, dessen Tod ihn unabänderlich für immer an sie bindet. In der titelgebenden Novelle «Ein Herr aus San Francisco» schließlich thematisiert Iwan Bunin den Tod eines reichen Amerikaners auf Weltreise als grausame Macht, die schlagartig alles ändert.

Mit fast schon minimalistischen Mitteln gelingt es dem Autor, das Menschsein mit seinen vielerlei Facetten in einer einfachen Sprache äußerst expressiv zu beschreiben. Er transportiert seine Themen mit höchster sprachlicher Präzision geradezu beiläufig und gelassen, ohne ihnen dadurch etwas von ihrer Dramatik zu nehmen, eine Sprachkunst auf wahrhaft höchstem Niveau. Dabei verzichtet er vollkommen auf narrative Techniken wie den Bewusstseinsstrom oder die innere Rede, er erzählt geradlinig ohne Umwege oder verwirrende Zeitsprünge, ohne parallele Handlungsstränge oder komplizierte Plotkonstrukte. Trotz dieser spartanischen Mittel erreicht er mit seinem komprimierten Duktus mühelos seine Leser und wird von ihnen intuitiv verstanden, er trifft sie thematisch quasi ohne Umwege mitten ins Herz. Was derart schwerelos daherkommt vermag gleichwohl tiefe Wirkungen zu erzeugen, geht es schließlich doch zielgerichtet um Verfall, Einsamkeit, Angst, Tod, Ungerechtigkeit, aber auch um Liebe.

Unterschwellig ist in diesen Erzählungen als Sinnbild eines rückständigen Russlands der bevorstehende politische Umbruch bereits zu spüren, der Skepsis gegenüber den Menschen steht eine mitreißende Naturbegeisterung des Autors entgegen. Seine allegorisch angelegten Geschichten sind von einer reichhaltigen Symbolik geprägt, alle Figuren sind psychologisch stimmig ausgeformt. Somit trägt auch dieser Band der neuen Bunin-Werkausgabe zur erfreulichen Wiederentdeckung eines Schriftstellers bei, der bislang allenfalls als Geheimtipp wertgeschätzt wurde.

Fazit: erstklassig

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Genre: Erzählungen
Illustrated by Dörlemann

Die Dame mit dem Hündchen

Ein leidenschaftsloser Zeuge

Der unter dem Titel «Die Dame mit dem Hündchen» erschienene Band von Anton Tschechow vereinigt eine Auswahl von dreizehn der späten Erzählungen aus dem Œuvre des berühmten russischen Schriftstellers. In vielen verarbeitet er dabei eigene Erfahrungen als Arzt und übt unverhohlen Kritik am feudalen System des zaristischen Russlands, er prangert aber auch den Stoizismus seiner Landsleute an, die all das Unrecht passiv über sich ergehen lassen – oder im Suff ertränken. Diese im Stil des Realismus verfassten, melancholischen Erzählungen beschreiben eine genau beobachtete Lebenswirklichkeit der damaligen Zeit, ohne sie moralisch zu werten. Sie stellen vielmehr psychologische Studien dar, die – oft unvermittelt – ziemlich ratlos enden. Als Literat sieht Tschechow sich dabei als «leidenschaftsloser Zeuge», wie er in einem Brief schrieb, nicht als Deuter des Geschehens.

Die Sammlung beginnt mit der titelgebenden Erzählung, die zu den berühmtesten Ehebruchsgeschichten der Weltliteratur gehört. Allein auf Urlaub in Jalta, trifft ein Bankangestellter auf eine junge, ebenfalls allein Erholung suchende Frau, deren Hündchen der höchst willkommene Anknüpfungspunkt zum Anbandeln ist. Beide sind unglücklich verheiratet, eine typische Kurschatten-Konstellation also mit erwartbaren Folgen und ebenso erwartbarem Ende. Hier jedoch stellt sich nach der Heimkehr schon bald heraus, dass sie beide nicht voneinander lassen können. «Wie könnte man sich von diesen unerträglichen Fesseln befreien?», fragen sie sich ratlos. Auch in «Angst» geht es um den Ehebruch des Ich-Erzählers mit der Frau seines besten Freundes, der sie in einer eindeutigen Situation überrascht. Entsetzt flüchtet der Ehebrecher und sieht den Freund und seine Frau nie wieder: «Man sagt, sie lebten weiterhin zusammen». Unglücklich endet auch die Liebe eines Malers zur jüngeren von zwei ungleichen Schwestern, die im Giebelzimmer des elterlichen Hauses wohnt, unerreichbarer optischer Fixpunkt des Verliebten. Ebenfalls tragisch endet «Irrwisch», die Geschichte einer flatterhaften Künstlerin, die erst am Sterbebett ihres vermeintlich langweiligen Mannes dessen wahre Größe erkennt.

Die Novelle «Eine langweilige Geschichte» ist als längster Text das berührende Resümee eines hoch angesehenen Professors der Medizin kurz vor seinem unabwendbaren Tod. Mit gedanklicher Tiefe rekapituliert der Ich-Erzähler schonungslos sein für ihn in jeder Hinsicht sinnlos erscheinendes Leben. Wobei seine Adoptivtochter Katja, die selbst beruflich und beziehungsmäßig tief in einer Krise steckt, sich als wichtigste mentale Stütze für ihn erweist. Tschechows Glaube an den Fortschritt wird auch durch seine beißende Kritik an den sozialen Verhältnissen im aufkommenden Kapitalismus nicht gemindert, wie sie in «Ein Fall aus der Praxis» süffisant zum Ausdruck kommt. Und auch in den anderen Geschichten sind immer wieder der Sinn des Lebens, die Liebe mit ihren unvermeidlichen Fallstricken und letztendlich die Suche nach dem individuellen Glück jedes Einzelnen die beherrschenden Themen.

Entwickelt wird all dies aus den glänzend charakterisierten Figuren heraus, deren Denken und Tun er, mit einem deutlich durchschimmernden Glauben an das Gute im Menschen, narrativ ins Zentrum stellt. «Die Kürze ist die Schwester des Talents» hat Anton Tschechow selbstbewusst seinen sparsamen Schreibstil begründet. Er hat nie brikettdicke Romane geschrieben wie Lew Tolstoi und war damit für die russische Literatur mindestens ebenso prägend wie Edgar Allen Poe für die amerikanische. Das Schöne an dieser Sammlung ist, dass man sie immer wieder mal zur Hand nimmt, um eine Geschichte darin zu lesen, sie ist mit ihrer breit gestreuten Figurenschar aus allen sozialen Schichten geradezu ein Kaleidoskop des untergehenden Zarismus. Die von Thomas Mann in einem Essay hoch gelobte Novelle «Eine langweilige Geschichte» war für mich das kontemplative Glanzstück einiger überaus bereichernder Lektürestunden.

Fazit: erstklassig

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Genre: Erzählungen
Illustrated by Insel Taschenbuch

Dubliner

Debüt eines literarischen Olympiers

Zu den drei bedeutendsten Werken des irischen Jahrhundert-Schriftstellers James Joyce, der als ein Wegbereiter der literarischen Moderne gilt, zählt «Dubliner». Die im Gegensatz zu den späteren Prosawerken noch konventionell erzählte Sammlung von fünfzehn Erzählungen fand erst 1914, nach Dutzenden von Ablehnungen und sieben Jahre nach ihrer Fertigstellung, schließlich doch einen Verleger. «Meine Absicht war es, ein Kapitel der Sittengeschichte meines Landes zu schreiben, und ich habe Dublin als Schauplatz gewählt, weil mir diese Stadt das Zentrum der Paralyse zu sein schien», hat er über seine Motive geschrieben. Die autobiografisch geprägte Hassliebe zu seiner Geburtsstadt, deren Mutlosigkeit er darin beklagt und deren Beengtheit er anprangert, spiegelt sich auch in dem später geschriebenen «Ulysses» wider, einige von dessen Romanfiguren tauchen hier schon auf.

Diese Schilderungen des Lebens in Irlands Hauptstadt seien in die Themenkomplexe «Kindheit, Jugend, Reife und öffentliches Leben» gegliedert, hat der Autor erklärt, soziologisch sind sie im Milieu des unteren und mittleren Bürgertums angesiedelt. Kaum eines der Probleme und Sorgen des Großstadt-Menschen fehlt in diesem psychologischen Panoptikum: Allzu strenge Erziehung, freche Lausbubenstreiche, unerfüllte Liebe, maßlose Prahlerei, verlorene Jungfräulichkeit, unstillbares Fernweh, ausbleibender Berufserfolg, späte Eheprobleme, zerstörerische Alkoholsucht, brutale Kindsmisshandlung, selbstlose Aufopferung, beengende Konventionen, politische Intrigen, überfürsorgliche Mütter, verlogener Klerus, die unehrliche Konversation auf dem Ball dreier Jungfern schließlich, und am Ende der Tod als Resümee des Lebens in der letzten und mit Abstand längsten Erzählung. Sie ist eine Art Epilog, der Motive der vorangehenden Geschichten erneut aufnimmt. Der Tod ist es auch, der kontrapunktisch als Klammer dient in der ersten und letzten Geschichte, beim Sterben eines alten Mannes und eines Jünglings.

Als «Karikaturen» hat James Joyce die «Dubliner» bezeichnet, sein Prosadebüt sei «von einer mit Bosheit gelenkten Feder geschrieben». Auffallend ist, dass die dominante letzte dieser Erzählungen ebenso wie im «Ulysses» und in «Finnegans Wake» mit einem Ausklang endet, bei dem ein Ehepartner über den neben ihm schlafenden anderen nachdenkt, was im vorliegenden Erzählband als durchaus versöhnlich interpretierbar ist. Man könnte die chronologische Anordnung der Geschichten inhaltlich auch als theologisch determiniert deuten: Als Verfall der Tugenden Glaube, Hoffnung, Liebe, als Exempel der sieben Todsünden Hochmut, Geiz, Wollust, Neid, Zorn, Völlerei und Trägheit, oder als Verstöße gegen Kardinaltugenden wie Tapferkeit, Gerechtigkeit, Mäßigung und Weisheit.

Heute mag man sich wundern über die Skepsis des Autors seiner Heimatstadt und ihren Bewohnern gegenüber, die brutale Unterdrückung durch die Engländer und der erbitterte Kampf um die irische Unabhängigkeit als historischer Hintergrund machen diese Haltung jedoch verständlich. Die äußerlich handlungsarmen Geschichten mit ihren eher banalen Plots werden mit feiner Ironie aus einer skeptischen Distanz und aus wechselnden Perspektiven erzählt, oft in Form der erlebten Rede. Alle Erzählungen enden abrupt, vieles wird dabei offen gelassen, manches bleibt auch völlig unverständlich, – was dann natürlich reichlich Freiraum für die verschiedensten Interpretationen lässt. Narrativ prägend ist die detaillierte Zeichnung der vielen Figuren, deren physische Eigenschaften ebenso schonungslos – geradezu sezierend – beschrieben werden wie die jeweiligen psychischen Befindlichkeiten. Wobei sich James Joyce jedweder Moralisierung enthält, er ist der Chronist, mehr nicht. Neben der Paralyse als zentralem Thema erlebt jeder Protagonist seine ureigene Epiphanie in diesen Geschichten, – die dann seine Jämmerlichkeit offenbart. «Dubliner» ist ein idealer Einstieg in das Werk eines literarischen Olympiers!

Fazit: erstklassig

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Genre: Erzählungen
Illustrated by dtv München

Das babylonische Wörterbuch

Date mit einem Unbekannten

Der 2018 erschienene Erzählband «Das babylonische Wörterbuch» vom Joaquim Maria Machado de Assis ist eine Auswahl aus seinen insgesamt 226 ‹contos›, einer spezifischen Kurzprosa in Form von Erzählungen, Legenden, Fabeln und mythischen Texten. Der literarische Aufstieg des Brasilianers führte über den Journalismus zu einem äußerst vielseitigen Œuvre, er ist unumstritten der Urvater der modernen südamerikanischen Literatur. «Hinter Garcia Marquez steht Borges und hinter Borges als Quelle und Ursprung von allem Machado de Assis» hat Salman Rushdie geschrieben. Susan Sontag hat ihn 1990 als «großartigster lateinamerikanischer Autor aller Zeiten» gefeiert, Alberto Manguel fragt sich in seinem «Tagebuch eines Lesers», warum er –außerhalb Brasiliens – ein Unbekannter bleibt, denn «Es gibt keinen, der ihm vergleichbar wäre».

In dem vorliegenden, liebevoll editierten kleinen Band, 2018 erschienen, sind dreizehn der besten seiner zwischen 1880 und 1890 entstandenen Erzählungen enthalten, die thematisch wie stilistisch recht unterschiedlich sind. Deren deskriptive Titel allein machen schon neugierig! In «Die Akademien von Siam» tauschen Glühwürmchen mit den Sternen der Milchstraße akademisches Wissen aus, in «Der wahre Grund» wird der abstoßende Sadismus eines scheinbar selbstlosen Arztes entlarvt, und «Evolution» ist eine sozialkritische Skizze, die sich mit unglaublich hohlköpfigen Politikern befasst. Die biblisch konnotierten Erzählungen beschäftigen sich in «Adam und Eva» mit einer erstaunlichen Version der Genesis, in der nicht Gott, sondern der Teufel die Welt erschaffen hat, es gab also auch keinen Sündenfall. Die Geschichte «Auf der Arche» berichtet vom ersten Zwist unter den Menschen, in «Die Kirche des Teufels» gründet der Satan eine eigene Kirche in Konkurrenz zu Gott und erlebt damit eine Pleite, «Die Predigt des Teufels» schließlich ist als konträr angelegte Bergpredigt in biblischer Diktion eine ironische Abrechnung mit dem brasilianischen Kapitalismus jener Zeit. In einer konventionellen Geschichte vom Ehebruch unter dem Titel «Die Wahrsagerin» erfahren wir, dass ‹in jeder Verneinung noch eine Bejahung steckt›. Mit den Worten ‹Es war einmal› führt uns «Das babylonische Wörterbuch» in einen phantastischen Wettstreit, der im Erfinden einer obskuren neuen Sprache gipfelt. Auf Schillers Ballade basiert «Der Ring des Polykrates», und in «Die alexandrinische Geschichte» wird der Frage nachgegangen, ob die Essenz aller menschlichen Fähigkeiten und Empfindungen im Blut enthalten ist. In «Die durchlauchtigste Republik» hält ein Wissenschaftler einen Vortrag, in dem er von seiner bahnbrechenden Entdeckung berichtet, dass die Spinnen eine eigene Sprache haben, und «Der türkische Pantoffel» ist ein Traumsymbol, von dem in einem trivialen Theaterstück erzählt wird, dessen Held in einen Schlaf versinkt, aus dem aufwachend er erklärt, ‹dass das beste Drama nicht auf der Bühne stattfindet, sondern im Zuschauer selbst›.

Der Stil des umfassend klassisch gebildeten Autors ist geprägt durch eine präzise, knappe Sprache, die ungewöhnlich anspielungsreich und klug durchdacht fantasievoll seine anthropologische und philosophische Thematik behandelt und dabei souverän ganz ohne autobiografische Bezüge auskommt. Als wichtiger Wegbereiter der Moderne ist sein Nimbus als skeptischer Schriftsteller vor allem auf seine erzählerische Raffinesse gegründet, in der die Vertauschung und das Verschweigen die Mittel seiner Wahl sind.

Zum Lesevergnügen trägt insbesondere die niemals ins Sarkastische abgleitende, feine Ironie bei, man staunt als Leser immer wieder über die skurrilen Einfälle des Autors und seine absurden Herleitungen, aber auch über die oft erst nach einigem Nachdenken verständliche Katharsis. Man wird gut unterhalten und intellektuell gefordert mit diesen in Deutschland kaum beachteten Erzählungen, ein Date mit einem Unbekannten quasi, das womöglich eine Lücke schließt in der eigenen Belesenheit.

Fazit: erstklassig

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Genre: Erzählungen
Illustrated by Manesse Verlag München

Fiktionen

Mehr Selbstkritik geht ja nicht

Als einer der großen Schriftsteller des Zwanzigsten Jahrhunderts hat Jorge Luis Borges mit «Fiktionen» einen Band von phantastischen Erzählungen vorgelegt, der als ein Schlüsselwerk des Magischen Realismus gilt. Der intellektuelle Argentinier hat mit diesem vielleicht wichtigsten Werk der hispanischen Literatur seit «Don Quijote», wie manche meinen, einen entscheidenden Impuls geliefert, – weg von der «postromantischen Erstarrung». Gabriel Garcia Marquez hat in seiner Nobelpreisrede explizit darauf hingewiesen, wie viel er selbst und andere bedeutende Autoren wie Mario Vargas Llosa oder Julio Cortázar ihm zu verdanken haben. Auch sein Bewunderer Umberto Eco verdankt ihm nicht nur die Idee der Klosterbibliothek als Handlungsort für seinen berühmten Roman «Der Name der Rose», mit der Figur des blinden Bibliothekars Jorge von Burgos hat er ihm auch noch unübersehbar ein literarisches Denkmal gesetzt.

Das Buch beginnt mit der Geschichte einer «Dynastie von Einsiedlern», die heimlich Beiträge über die frei erfundene Welt «Tlön» in einer Enzyklopädie veröffentlichen mit dem Effekt, dass durch die ständige Weiterverbreitung dieser Artikel die reale Welt bald immer mehr der fiktiven, irrealen Welt «Tlön» ähnelt. In einer weiteren Geschichte hat der Schriftsteller Pierre Menard einen «Don Quijote» geschrieben, der zwar wortwörtlich mit dem Text von Cervantes übereinstimmt, aus heutiger Sicht aber ganz anders interpretiert werden muss, – und damit auch eine ganz andere Bedeutung erlangt. In einer anderen Geschichte wird das Schicksal der Menschen in Babylon seit Jahrhunderten von einem Geheimbund durch eine Lotterie bestimmt, deren Einfluss letztendlich jedoch fraglich bleibt. Rätselhaft ist auch die Sprache eines Buches in der «Bibliothek von Babel», bis schließlich entdeckt wird, es handelt sich um einen «samojedisch-litauischen Dialekt des Guaraní mit Einschüben von klassischem Arabisch». In einer Spionage-Geschichte aus dem Ersten Weltkrieg geht es um ein verwirrendes chinesisches Buch, das wie ein Labyrinth voller Symbole verschiedene Zeitabläufe darstellt. Durch die Ausführung einer der dargestellten symbolischen Handlungen erhält der deutsche Geheimdienst schließlich eine entscheidende Information, die der Spion auf andere Weise nicht hätte weitergeben können.

Jorge Luis Borges ist ein Schriftsteller der kurzen Prosa, ein dutzend Seiten reichen ihm meistens. Er hat im Vorwort dazu geschrieben: «Ein mühseliger und strapazierender Unsinn ist es, dicke Bücher zu verfassen; auf fünfhundert Seiten einen Gedanken auszuwalzen, dessen vollkommen ausreichende mündliche Darlegung wenige Minuten beansprucht. Ein besseres Verfahren ist es, so zu tun, als gäbe es diese Bücher bereits, und ein Resümee, einen Kommentar vorzulegen». Vargas Llosa lobt in einem Essay, Borges «sei zwar ein außergewöhnlicher Stilist, sein Übermaß an Intelligenz habe allerdings sein Verständnis für das Leben eingeschränkt». Dieser stilistische Disput verdeutlicht die radikale Form seiner kunstvoll komprimierten Prosa, die sich in einer ungewöhnlich hochstehenden, anspruchsvollen Diktion treffsicher artikuliert.

Imaginäre Bücher spielen in vielen dieser Geschichten eine wichtige Rolle, sie führen oft sogar ein Eigenleben als Buch in Buch. Häufig wiederkehrende Symbole, Anspielungen und Verweise in einer meist ort- und zeitlosen Szenerie geben viele Rätsel auf. Der Leser wird listig getäuscht, muss recherchieren und nicht selten zweimal lesen, was er beim ersten Lesen allzu flüchtig überlesen hat. Man sollte bei aller geradezu systemischen Aporie auch nicht übersehen, dass trotz der dominanten Metaphysik in diesen surrealen Erzählungen immer auch ein subtiler Humor mitschwingt. « Ich habe mich schon heimlich danach gesehnt, unter einem Pseudonym eine gnadenlose Tirade gegen mich selbst zu verfassen», hat Borges geschrieben. Das sei für manchen irritierten Leser tröstend angemerkt, – mehr Selbstkritik geht ja nicht!

Fazit: erstklassig

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Genre: Erzählungen
Illustrated by dtv München

Die Drehtür

Ein Augenblick des Verharrens auf einem Flughafen wird zum Blick zurück. Eine Krankenschwester kehrt nach ihrem letzten Auslandseinsatz aus Lateinamerika heim nach Deutschland. Aber es ist eigentlich keine Heimkehr, sondern eine Strandung. Ihre letzten Kollegen in einer Klinik in Nicaragua haben ihre fehlende Eignung für die dortigen Anforderungen erkannt und Geld für das Rückflugticket gesammelt. Inspiriert vom Vielerlei der dem Ab- und Anschlussflug harrenden Menschen und Gesichter lässt sie ihr eigenes Berufsleben in fernen Landen und  Kulturen noch einmal Revue passieren. Dabei schöpft sie aus viel Selbst- aber auch aus Fremderlebten, indem sie Erinnerungen derer mit ein flechtet, die ihr in all den Höhen und Tiefen, die dieser Beruf ganz besonders im Ausland nun einmal mit sich bringt, begegnet sind. Und führwahr, als Krankenschwester gibt es in der großen weiten Welt viel zu erleben, sei es nun die Frauen verachtende Kastenkultur in Indien, jener kräftige Grauschleier der nur noch wenig Lust auf sonstige spirituelle Erleuchtungen übrig lässt, oder auf den Pfaden von Che Guevara und Guerilla-Ikone Tamara Bunke im bolivianischen Dschungel. Dazwischen eingestreut sind private Reisehumoresken und ihre Auswirkungen auf die Paardynamik im Endstadium.

Das Ganze ist gut geschrieben, mit einem wachen Blick für die großen und kleinen Dramen der Unwägbarkeit des Lebens. Gerade ihr Sarkasmus, der zudem von originellen Bildern gut unterstützt wird, schafft über die Ehrlichkeit die Empathie. Alle, sogar bis hin zur jammernden Katze vor der Appartement-Tür im Ferienparadies bekommen den ihnen gebührenden Anteil davon ab.

Indes ahnt man während der Lektüre zunehmend weniger, worauf das Ganze hinaus laufen soll und auch nach dem Schluss bleibt Ratlosigkeit zurück, denn zu sehr stehen die Geschichten in ihrer Episodenhaftigkeit im Vordergrund und damit für sich alleine da. Sie weisen keinen tieferen Zusammenhang auf, als von ein und derselben Person zum Besten gegeben zu werden. Sie entfalten im Verhältnis zueinander keine Wechselwirkung und münden auch in keinem erkennbaren Entwicklungsstrang ein. Das Ende besteht in der Vorenthaltung von Weiterem. Es ist  eine Begrenzung der Erzählmenge aber kein erzählerischer Abschluss. So gesehen ist das Werk von vornherein dazu verurteilt, nicht mehr sein zu können als die Summe der erzählten Teile, aber die sind durchweg lesenswert und gut.

 

 


Genre: Erzählungen
Illustrated by Kiepenheuer & Witsch Köln