Der Seiltänzer

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Die Abschaffung des Zölibats und Konsequenzen aus den Missbrauchsfällen in der katholischen Kirche – das sind die Kernforderungen einer Aufsehen erregenden Predigt, die der Priester Andreas Wingert in seiner Gemeinde hält. Wochen später sieht er sich selbst mit Missbrauchsvorwürfen konfrontiert und steht unvermutet vor einem Scherbenhaufen. Klugen Rat und Hilfe erhofft er sich – wie so oft in seinem Leben – von seinem besten Freund Thomas. Doch dieser liegt ausgerechnet jetzt mit einem Herzinfarkt im Krankenhaus.

Nach einem Besuch bei Thomas in Münster begibt sich Andreas auf eine Autofahrt kreuz und quer durch Westfalen. Diese Fahrt, von mehreren Anlaufstellen unterbrochen, wird insgesamt 5 Stunden dauern. In diesen 5 Stunden erinnert sich Andreas: An eine Kindheit und Jugend in der westfälischen Provinz, an die seitdem bestehende Lebensfreundschaft mit Thomas, an die gemeinsamen Erlebnisse ihrer Studienjahre in Berlin, Köln und Bonn, Wales und München. Danach schlagen die Freunde sehr unterschiedliche Wege ein. Thomas heiratet, gründet in Münster eine Familie und macht als Geisteswissenschaftler Karriere. Andreas hingegen geht ins Paderborner Priesterseminar und wählt die Kirche als Lebenspartnerin, “viel zickiger, viel strenger, viel unberechenbarer” als ein Ehepartner sein könnte, wohl wissend “dass es kein ungefährlicher Bund für ihn” ist. Schon immer fasziniert von den Ritualen der katholischen Kirche ist er sich sicher, dass der Glaube sein Sicherheitsnetz sein kann “über dem das Seil aufgespannt ist, auf dem er geht.”

Michael Göring erzählt in einer sehr klaren, fast nüchternen Sprache von Wendepunkten, vom sich Entscheiden müssen, von den Anfechtungen des Alltags, von religiöser Berufung und von der Gratwanderung eines Priesters. Er blickt dennoch liebevoll und wohlwollend auf seine Protagonisten und bewahrt seine Erzählung so vor einem bitteren Unterton. Göring selbst betont, dass er einen Entwicklungsroman habe schreiben wollen und keine theologische Streitschrift. Die Rückblenden beginnen in den frühen Siebzigern und werden mal aus Andreas’, mal aus Thomas’ Perspektive erzählt. Thomas übernimmt dabei den Part des Skeptikers und Mahners. Die Geschehnisse in der Gegenwart – (im Roman Frühjahr 2010) werden bis auf die allerletzte Seite ausschließlich aus der Sicht von Andreas erzählt und vermitteln ein sehr eindringliches Bild von Problemen und Anfechtungen, die in unserer Zeit sehr ungut in das Leben einzelner als auch der Gemeinschaft eingreifen. Die Missbrauchsvorwürfe sind zwar das vordergründige Thema, doch Michael Göring zeigt anhand des Konfliktes anschaulich, zu welch vergifteter Atmosphäre und zu welch verhärteten Fronten übereifriges Denunziantentum, Kollektivschuld und Generalverdacht führen können. Darüber hinaus vermittelt er in seinem Buch noch eine Erkenntnis, der nicht wenige aus täglichem Erleben heraus zustimmen werden. Kirche als Institution wird heute kaum mehr gehört und akzeptiert. Auch nicht von denen, die den Wunsch, ihren Glauben zu leben, noch nicht aufgegeben haben. Kirche ist für die meisten nur noch die Gemeinde vor Ort. Nicht mehr, aber eben doch auch nicht weniger.

Als Dreingabe neben all diesen “schweren” Themen macht der Autor sich aber auch noch um etwas anderes verdient. Auch wenn die Hauptschauplätze des Romans fiktive Namen tragen, Göring zeichnet mit wenigen Worten ein Bild der alten BRD und fängt die Atmosphäre des zweigeteilten Landes unverfälscht ein. Ein Unterfangen, um das sich noch nicht allzu viele Autoren verdient gemacht haben.

Zum Ende hin verliert der Roman etwas von seinem Schwung, die Dialoge auf den letzten Seiten wirken auf einmal gestelzt und zu bemüht. Auch das Ende selbst – es hat mir so nicht gefallen. Um es westfälisch zu sagen, es war mir zu verschwurbelt und passte nicht zur klaren Sprache des Buches. Ohne zuviel verraten zu wollen – es ist völlig in Ordnung und auch folgerichtig, wenn der Autor die allgemeingültige Lösung nicht geben will. Mir als Leser wäre es jedoch wesentlich lieber gewesen, er hätte sich klar zum offenen Ende bekannt.

Mein Fazit: Der Seiltänzer ist ein mutiges Buch zu einem brandaktuellen Thema, dem Erfolg zu wünschen ist. Nicht zuletzt verbunden mit dem Wunsch, dass die überfälligen Diskussionen in der katholischen Kirche wieder aufleben – wenn möglich auf einer sachlicheren und weniger von persönlichen Eitelkeiten geprägten Ebene als zuletzt. .

Der Autor Michael Göring leitet als Vorsitzender des Vorstandes die ZEIT Stiftung Ebelin und Bucerius in Hamburg. Darüber hinaus ist er Honorarprofessor am Institut für Kultur und Medienmanagement der Hochschule für Musik und Theater in Hamburg. Der Mitte September erschienene Seiltänzer ist – nach vielen Fachpublikationen – sein erster Roman.

Diskussion dieser Rezension im Blog der Literaturzeitschrift


Genre: Romane
Illustrated by Hoffmann und Campe

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