Auf meiner Haut

Ros Taylor erwacht nach einer durchfeierten Nacht in blutigen Laken, kann sich an nichts erinnern und findet zu allem Überfluss auch noch ihre Mitbewohnerin tot im Bad auf. Auf Ros Rücken findet sich das Datum des Tattages eingeritzt. Bill Thomson übernimmt die Ermittlungen des Falls und kümmert sich sehr intensiv um Ros. Es stellt sich heraus, dass beide Frauen vergewaltigt worden sind, nur wer der Täter war, ist aufgrund des Gedächtnisverlustes zunächst nicht zu ermitteln. Die Indizien der Polizei sprechen für den Freund der Toten und Ros lässt sich durch Bill zu einer Falschaussage überreden. Der mutmaßliche Täter wird verurteilt, alles scheint geregelt, doch dann findet Ros täglich mysteriöse Briefe vor ihrer Tür, die darauf schließen lassen, dass der wahre Täter noch auf freiem Fuß ist, was Ros und Bill in Erklärungsnot gelangen lässt.

Die Geschichte wird immer abwechselnd aus der Sicht von Ros oder Bill erzählt, wodurch sich vieles wiederholt, trotzdem aber nicht langweilt, weil immer neue Details dazukommen, die dem Leser die Lösung des Falls näher bringen. Der Roman beruht auf wahren Begebenheiten, was schon nachdenklich stimmt, wenn man bedenkt, wie schnell ein Mensch aufgrund eines Meineids verurteilt werden kann. Insgesamt spannend zu lesen, mit einem überraschenden und blutigen Ende.


Genre: Thriller
Illustrated by Rowohlt

Drachentochter

Buchmessen sind immer wieder inspirierend. In diesem Jahr aber habe ich den wichtigsten Buchtipp erst bekommen, als die quirlige Leipziger Messe gerade hinter mir lag. Eher zufällig — oder doch schicksalhaft? — fiel mir das Buch einer Frau in die Hände, die ebenso wie ich sorbische Wurzeln hat. Erstes Interesse war geweckt, aber dann: Vom ersten Satz an entfaltet sich ein Feuerwerk an Worten, Bildern und Gedanken. Ein lakonischer Sturmwind fegt durch die Seiten, überfliegt das Leben der eigenwilligen Heldin, das tragisch zu nennen wäre, trüge seine Eigentümerin nicht ein hieb- und stichfestes Fell, das sie vor einem Teil der ihr zugefügten Verletzungen schützt. Als Tochter einer überforderten dreizehnjährigen Mutter im Auffanglager für danebengegangene Kinder aufgewachsen, absolviert sie diverse chaotische Stationen zwischen Ostsee und Niederlausitz, bringt mit ihrer ungebärdigen Art ihre sorbische Großmutter aus der Ruhe und versetzt die jeweiligen Entwicklungshelfer regelmäßig in Aufregung. Wo sie ist, bleibt sie Außenseiterin, behauptet sich tapfer gegen alle Anfechtungen von Gruppenzwang und öffentlicher Meinung. Fieberhaft sucht sie nach Halt. Nervös setzt sie die Segel, kaum dass der Anker ausgeworfen ist. Ruhelos strebt sie in die Ferne. Beharrlich reizt sie die Grenzen der allzu engen DDR aus. Auf dem Rad erobert sie sich sorbisches Minderheitenland, froh, endlich ein Stück Identität errungen zu haben. Doch sie bleibt zerrissen, sucht die Liebe und stößt sie weg, findet hie und da Anschluss bei anderen Außenseitern, die sich in den Nischen der sozialistischen Realität eingerichtet haben. Immer wieder bricht sie auf, auch wenn sich Wetter und allgemeine Lage erkältet haben. Die Wende eröffnet ihr Unglaubliches, aber die vermeintlich unbegrenzten Möglichkeiten bleiben ihr verwehrt, denn auch die Haut, in der sie steckt, ist von Vorurteilen gesprödet. Die atemlosen Leser in irdischeren Gefilden zurücklassend, gelingt der Ausbruch am Ende auf eine irrsinnig konsequente Art …

»Drachentochter« — ein großartiger, verstörender Roman einer bemerkenswerten Debütantin, die über einen unerschöpflichen Fundus an Sarkasmus, Wortwitz und Sprachspielen zu verfügen scheint und hoffentlich aufs neue zu Atem und Schöpferkraft kommen wird, um weitere literarische Werke hervorzubringen. Wir dürfen gespannt sein.


Genre: Romane
Illustrated by Rowohlt

Kaiserstraße

Der Mord an Rosemarie Nitribitt ist der Einstieg in die »Kaiserstraße«. Der Junge Leo Böwe wird von nun an von dem Klang des Namens Nitribitt verfolgt. Er setzt sich fest in sein Gehirn. Leo Böwe beginnt eine Karriere als Waschmaschinenvertreter in der Wirtschaftswunderzeit der 50er Jahre. Er lernt, dass »der Verkauf erst dann beginnt, wenn der Kunde NEIN sagt«. Jule, seine zehnjährige Tochter, entstanden in einer enttäuschenden Ehe, sieht im Fernsehen den erschossenen Benno Ohnesorg und beschließt: Papi, wenn ich groß bin, erschieße ich dich auch.

Dieses Buch, gedacht als Streifzug durch das bundesrepublikanische Deutschland, ist an verschiedenen geschichtlichen Daten jüngster deutscher Vergangenheit festgemacht: 1957, 67, 77, 89, 99 und zeigt eigentlich sehr schön die Veränderung seiner Bürger, die Waschmaschinen verkaufen lernen müssen und schließlich sich selbst.

Leo Böwe, die zentrale Figur in den parallel erzählten Geschichten, beginnt seinen Aufstieg im Adenauerdeutschland und vertritt gewissermaßen die Träume aller (wahrscheinlich hofft die Autorin es). Es ist eine knappe Prosa, gut und flott erzählt, nur die Personen gehen doch farblos durchs Leben und könnten besser mit Stoff ausgefüllt werden. Hinter den flotten Sprüchen mancher Personen zeigt sich eigentlich nur stumme Resignation. So ist es doch bestimmt nicht gelaufen — in der BRD. Interessant ist das Buch auch in anderer Hinsicht noch, es zeigt doch dem ehemaligen DDR-Bürger ein bisschen die Lebenssituationen im anderen Deutschland.


Genre: Romane
Illustrated by dumont Köln

Schattenturm

Soll ich wirklich einen Roman lesen, der sich Thriller nennt und bereits auf den ersten 25 Seiten 27 verschiedene Personen als schwer verdauliche Vorspeise einführt? Tu es, ermuntert der Klappentext, denn die Autorin konnte mit dem Werk »ihren lang gehegten Wunsch« verwirklichen, »vor dem Erreichen des dreißigsten Lebensjahres einen Thriller zu schreiben«. Nun, das ist ein umwerfend starkes Argument!

»Schattenturm« erzählt von einem New Yorker Polizisten, der im Dienst einen Mörder erschossen hat und sich von diesem Trauma eine einjährige Auszeit mit seiner bezaubernden Frau und seinem pubertierenden Sohn in Irland schenkt. Doch sein Opfer hat einen ihn im tödlichen Schwur verbundenen Kumpel, der nicht nur ein grässlicher Serienkiller ist sondern sich darüber hinaus furchtbar an dem ehemaligen Cop rächen will. Auf verschiedenen Erzählebenen werden die Schicksale der guten und der bösen Parteien gegeneinander gestellt, und dann kommt es, wie es kommen muss: der clevere US-Polizist kollidiert in dem irischen Dorf, in dem er wohnt, mit tumben Lokalpolizisten. Dabei ist er wirklich ein schlauer Kerl, er stellt praktisch aus der Erinnerung sämtliche Zusammenhänge her und deutet auch instinktsicher das teuflische Muster, das hinter den bizarren Sexualmorden lauert. Es kommt zum Showdown, doch der eigentliche Bösewicht entkommt … und damit deutet alles auf eine Fortsetzung hin, die uns die Autorin vermutlich rechtzeitig zu ihrem vierzigsten Geburtstag schenken wird.


Genre: Thriller
Illustrated by Bastei Lübbe Bergisch Gladbach

Nacht des Orakels

In »Nacht des Orakels« schildert der Ich-Erzähler Sidney Orr Ereignisse seines Lebens. Der nach schwerer Krankheit Genesende berichtet über Liebe, Freundschaft, Tod sowie über seine Schwierigkeiten als Schriftsteller, dem es nicht gelingt, seine Gedanken in Worte zu fassen. Als er aber im Papierladen des geheimnisvollen Mr. Chang ein blaues Notizbuch erwirbt, scheint die Schreibhemmung zu verschwinden …

Mehrere Geschichten, die manchmal etwas konstruiert wirken, verbinden sich zu einem lesenswerten Buch, das außerdem durch eine schöne handwerkliche Ausstattung auf sich aufmerksam macht.


Genre: Romane
Illustrated by Büchergilde Gutenberg Frankfurt am Main

Gnadenfrist

Jean Baptist Warnke lebt mit Frau und Kindern als zweiter Mann der niederländischen Botschaft im peruanischen Lima und pflegt das diplomatische Nichtstun. Täglich sieht man ihn in einem kleinen Café, wo er »Newsweek« liest. Dort begegnet er Marlena, einer Studentin, die Englisch lernt und in einem geheimnisvollen Chor singt. Schnell verzaubert ihn die aparte junge Frau und macht ihn zu ihrem »chunquituy«, ihrem Hündchen. Für den Diplomaten, der nur gelernt hat, sich überall heraus zu halten, gerät eine Welt aus den Fugen, als es sich auf das Abenteuer einlässt und sich abgöttisch in das Mädchen verliebt.

Warnke genießt seine neue Liebe, widmet ihr Sonette und fühlt sich wie im siebten Himmel. Ins Rutschen kommt die Sache, als Den Haag wissen will, warum er dem Weihnachtsempfang der japanischen Botschaft fernblieb, bei der er zu einer blutigen Geiselnahme kam. Bald tauchen auch Fotos auf, die den Vertreter der Königin mit seiner Flamme im Zoologischen Garten von Lima zeigen …

Grünberg erzählt mit viel Witz und trockenem Humor die Geschichte vom verliebten Repräsentanten des niederländischen Königreichs, der Kontakt zur Bevölkerung eines Landes sucht, von dem er herzlich wenig weiß. Er schildert eine naive Beziehungsgeschichte, die im wahrsten Sinne des Wortes explosiv endet.


Genre: Romane
Illustrated by Diogenes Zürich

Ich

Rechtzeitig zu ihrem 50. Geburtstag am 14. Juni 2006 legt die italienische Rocklady Gianna Nannini ihre Autobiographie vor. Die Musikerin präsentiert sich darin als eine von vielen Seiten getriebene, in einem bunten Mix von zufälligen und geplanten Begegnungen geformte Persönlichkeit auf dem Weg zum Olymp der europäischen Rockmusik.

Früh rebellierte der Spross einer reichen Konditorenfamilie aus dem toskanischen Siena und versuchte, aus vorgezeichneten Bahnen auszubrechen. Sie ging nach Mailand, tingelte durch Kneipen und lernte dabei immer wieder Menschen kennen, die ihren Weg bestimmten: Musiker, Texter, Journalisten, Produzenten, Schallplattenbosse. Wer die im Stakkato geschriebene und sich gern in Andeutungen und Sprachbilder fliehende Lebensgeschichte liest, gewinnt den Eindruck, dass Gianna Nannini in einem Wirbelsturm aus Drogen, Depressionen und Desaster zum Erfolg flog und davon selbst äußerst wenig bewusst wahr nahm. Eher zufällig promovierte sie nebenher und schuf musikalische Welterfolge. Erst spät scheint sie sich zu besinnen und auf die Suche nach sich selbst zu gehen.

»Ich« orientiert sich im Aufbau an den Songs der Künstlerin, die in den letzten dreißig Jahren entstanden. Das Buch empfiehlt sich damit vor allem denjenigen Fans, die mit den rebellischen, oft bitteren und impulsiven Songs der Schöpferin von »Latin Lover« und »Notti magiche« vertraut sind.


Genre: Erinnerungen
Illustrated by List München

Fußballdeutsch

Beim Stichwort »Fußballdeutsch« denken Freunde gepflegter Sprache an begriffliche Blutgrätschen deutscher Kommentatoren, an Eindeutschungen aus dem Sturmtank, an Sprechblasen an der Kotzgrenze sowie an schillernde Stilblüten in Form einer Weizenbierdusche. Dass es noch schlimmer geht, beweist Ulf Geyersbach mit seiner Zusammenstellung von Sprechblasen der Kicker, Phrasen der Journalisten, und Worthülsen der Vereinsmeier und Politiker. Aus den lieblichsten Sprachverzierungen stellte er das Wörterbuch neudeutscher Fußballhöhen und -tiefen zusammen. Freunde intelligenter Sprachkritik sowie neugierige Sportfreunde werden gleichermaßen neugierig wie fassungslos reagieren.


Genre: Sprache
Illustrated by Ullstein Berlin

Ein Mann wie Holm

Holm wird mit 37 Jahren aus dem elterlichen Nest geschubst und zieht auf die Couch zu Tante Hede, mit der er ein autistisches Zusammenleben zwischen Pantoffeln, Staubsauger und Kaffeetasse pflegt. Er begegnet in kleinen, vorsichtigen Schritten dem Leben, lernt Supermärkte und andere Herausforderungen des Alltags kennen. Um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, nimmt er sogar eine Verkaufstätigkeit in einem Zigarrengeschäft auf. Schließlich drängt ihn die Tante, eine Damenbekanntschaft zu machen. Nach einem missglückten Treff mit einer Kontaktanzeige begegnet er Ulrike, Verkäuferin in der Herrenkonfektionsabteilung des Berliner KaDeWe. Tapsig und stets auf der Lauer vor den vielen Risiken im Umgang mit dem anderen Geschlecht schleicht Holm um die junge Frau herum, bis er schließlich mit seiner bescheidenen Habe vor ihrer Tür steht und einzieht.

»Ein Mann wie Holm« ist die kuriose Skizze eines sympathisch-schrägen Spießers, der sein Dasein und vor allem den Umgang mit dem anderen Geschlecht als Erkundung eines unwirtlichen Planeten erlebt. Das Buch ist skurril, amüsant und unterhält die Lachmuskulatur.


Genre: Humor und Satire
Illustrated by Rogner & Bernhard bei Zweitausendeins Berlin

Der Befehl

Wer schlägt mehr als sechzig Jahre nach Kriegsende noch einen dickleibigen Roman auf, der haarklein und bis in blutige Details das Grauen entbehrungsreicher amerikanischer Entscheidungsschlachten gegen Hitlers Armeen schildert? Scott Turow schafft es, mit einem literarischen Kunstgriff sowie einer packenden Story den Leser in das verheerende Kriegsgeschehen längst vergangener Zeiten hinein zu ziehen: Ein Journalist findet ein autobiographisches Manuskript, das sein verstorbener Vater aus den letzten Kriegsjahren hinterlassen hat. Anhand dieser Unterlagen folgt der Sohn der Spur des Vaters bei dessen Heereseinsätzen. Sein Auftrag als Militäranwalt in den Ardennen lautet, einen im Auftrag westlicher Geheimdienste in vorderster Front tätigen Major festzunehmen, der sich der Befehlsverweigerung schuldig gemacht haben soll und von einem mit ihm im Clinch liegenden General sogar als Gegenspion betrachtet wird.

Anhand des nachgelassenen Manuskriptes sowie einiger Feldpostbriefe wird die Entwicklung des jungen Anwaltes vom Sesselpupser zum Frontschwein deutlich. Träumte er anfangs schwärmerisch davon, für sein Land zu kämpfen, wird er nun durch seinen Auftrag Schritt für Schritt in die allererste Frontlinie gezwungen. Dort lernt er die ungeschminkte Seite des Krieges kennen. Er muss mit dem Fallschirm über einer belagerten Stadt abspringen und sieht, wie nahe Tod und Leben beieinander liegen. Er führt in Ermangelung erfahrener Frontoffiziere eine verzweifelt ums Überleben kämpfende US-Kompanie, die unter deutschen Beschuss gerät und nahezu vollständig zerrieben wird. Er erfährt den Wert des menschlichen Lebens sowie den Widersinn des Völkermordens, vor dem die Soldaten im Angesicht des Todes zittern. Er lernt aber auch abzuwägen zwischen hölzernen Kommissköpfen und menschlich empfindenden und mitdenkenden Vorgesetzten und macht dadurch einen inneren Reifungsprozess durch.

Der Militäranwalt findet den Geheimdienstoffizier und lernt ihn genauer kennen. Er unterstützt ihn sogar bei einem Sabotageakt auf deutscher Seite und erlebt dessen Mut und Opferbereitschaft. Zu allem Überfluss verliebt er sich auch noch in eine polnische Partisanin, die an der Seite des Angeklagten kämpft. Bald zweifelt der Jurist am Sinn des ihm übermittelten Befehls, den bei den kämpfenden Truppen hoch angesehenen und beliebten Offizier zu inhaftieren und vor ein Kriegsgericht zu bringen, doch er befolgt den Auftrag. Allerdings lässt er seinen Gefangenen letztlich entkommen und bekennt sich schuldig, um dafür selbst eine langjährige Haftstrafe verbüßen zu müssen.

Wer sich nicht scheut, durch Schlammpfützen zu robben und zerfetzte Körperteile im Kugelhagel regnen zu sehen, der findet in Turows fesselnd geschriebenem Kriegsroman die differenzierte und nachvollziehbare Zeichnung eines Helden, der zu selbständigem Denken und Handeln gelangt, sich als Rädchen in der Maschine verweigert und dem Herzen folgt.


Genre: Romane
Illustrated by Blessing München

Minimum

»Deutschland stirbt aus!« warnt Frank Schirrmacher und dramatisiert in »Minimum« das drohende Sterben einer Nation durch fehlende Brut. Wir leben immer länger, wir zeugen kaum noch Nachwuchs; und vor allem gebärfreudige Frauen, die Träger der Familien als Urzellen der Nation, fehlen auf allen Betten und Matratzen. Uralte Kinder erleben ihre bald hundertjährigen Eltern, doch jeder dritte Verbund bleibt ohne Nachwuchs. Die Brutöfen sind kalt. Siegfrieds einstmals kriegerische Erben sind müde geworden. — Armes Deutschland! —

»Na und?« mag man ungerührt fragen. Ganze Kontinente kämpfen mit der explodierenden Bevölkerung, und wir beklagen mangelnde Fruchtbarkeit! — Fakt ist: aus dem einstigen »Volk ohne Raum« wird schleichend aber unaufhaltsam ein Raum ohne Volk. Deutschland hat mittelfristig nur eine Überlebenschance: als multinationaler Mischmasch. — Ist das wirklich ein derartig schmerzliches Szenario, dass wir zur Abwehr wieder Mutterkreuze und Abschussprämien stiften sollten? —

Vielleicht siedeln in Zukunft kinderreiche Mongolenstämme zwischen Rhein und Weser! Vielleicht treiben anno 2112 tibetische Hirten zottelige Yaks über die Schwäbische Alb! Vielleicht leiten schwarzafrikanische Voodoo-Priesterinnen dann in Berlin das Fruchtbarkeitsministerium und konservieren germanisches Sperma zur völkerkundlichen Dokumentation in Kryobanken!

Solange in allen Bereichen deutlich wird, dass Kinder eine kaum zu tragende wirtschaftliche Last mit ungewissen Zukunftschancen sind und es an attraktiven Hortplätzen und Schulen mangelt, wird kaum einer aus selbstloser Verantwortung gegenüber dem gesellschaftlichen Ganzen bereit sein, zusätzlich ein Dutzend Kinder in die Welt zu setzen und aufzuziehen. Bevölkerung entwickelt sich natürlich, Appelle halten ebenso wie Anreize keinen Untergang auf. Wie eines schönen Tages keine Saurier mehr auf dieser Erde grasten, und die Hochkultur der Maya im Orkus verschwand, so geht auch das Volk der Dichter und Denker früher oder später den Bach hinunter und wandert ins Geschichtsbuch.

Es sei denn, es sei denn, es sei denn … Frank Schirrmacher weist in seinem nächsten Buch den Weg aus der Misere und rettet good old germany.


Genre: Politik und Gesellschaft
Illustrated by Blessing München

Minimum

Mit seinem Bestseller »Das Methusalem-Komplott« thematisierte Frank Schirrmacher das Phänomen einer rapide alternden Gesellschaft. Mit »Minimum« legt er den Finger auf die wunde Familie und das drohende Sterben einer Nation durch fehlenden Nachwuchs. Auch mit diesem Buch gelingt es ihm, demografische Entwicklungen populär zu veranschaulichen.

Der Autor sieht in der aktuellen gesellschaftlichen Situation Parallelen zum Jahre 1945: heute müsse sich Deutschland ebenso wie nach Kriegsende um einen Wiederaufbau bemühen; es gelte, die Familie als existentielle Kraft wieder zu beleben, um das Land neu zusammen zu setzen. — Warum? — In naher Zukunft seien fast siebzigjährige Kinder mit ihren noch lebenden Eltern unterwegs, von denen bereits ein Drittel gänzlich ohne Enkel bleibe. Eine Welt, in der wir aber aufgrund steigender Lebenserwartungen siebzig Jahre lang Kinder sein können und in der gleichzeitig Kinder als nachwachsende Ressource fehlen, sei so ungewöhnlich, dass uns dafür im Augenblick sogar noch die Begrifflichkeit fehle, schreibt Schirrmacher.

Eine Gesellschaft ohne Kinder ist eine sterbende Gesellschaft, das bedarf keiner Erläuterung. Dabei lässt sich nachweisen, dass nur durch den Kontakt mit Kindern das Bedürfnis, selbst Kinder haben zu wollen, geweckt wird. Abhängig ist dies bereits von den Familienverhältnissen der Elterngeneration: wachsen Kinder mit jüngeren Geschwistern auf, entsteht eine Fürsorgemotivation, die sich bei Erwachsenen in höherer Kinderliebe und stärkerem Kinderwunsch ausdrückt — und umgekehrt! Daraus folgt: immer weniger Kinder werden später immer weniger Nachwuchs produzieren wollen, Familienbande reißen, Sippen erlöschen, der Staat zerfällt.

Die heutige von Telenovelas erzogene Elterngeneration hat vor dem Hintergrund sozialer Krisen und kultureller Konflikte andere Interessen, als ausgerechnet Kinder in die Welt zu setzen. So schließt sich der Kreis, den Schirrmacher schlägt. Dabei weist er leider keine Wege, wie sich die Erkenntnis, wonach Blut dicker ist als Wasser, in konkretem Kindersegen niederschlagen könnte. Aber vielleicht erklärt er in seinem nächsten Buch, wie Deutschland vor titanischem Untergang und sozialem Bankrott bewahrt werden kann?


Genre: Politik und Gesellschaft
Illustrated by Blessing München

Spiegelhölle

Sieben von mörderischer Langeweile gequälte Männer treffen sich, um den öden Alltag mit kleinem Kitzel zu lockern. Sie nehmen zur Abwechslung teil an spiritistischen Experimenten, besuchen Gefängnisse, psychiatrische Kliniken und Vorlesungen in Anatomie; an einem Abend gesteht ein Novize in ihrem Kreis, dass er 99 Menschen in den Tod schickte und sich selbst zum 100. Opfer bestimmte. — Flackernd und unheimlich beginnt »Das Rote Zimmer«, eine der acht in diesem Band versammelten sonderbaren Schauergeschichten, die der Begründer der japanischen Kriminalgeschichte im zweiten Quartal des vorigen Jahrhunderts veröffentlichte.

Rampos grotesk gedehnte Geschichten spielen in der begüterten oberen Mittelschicht und atmen die Monotonie dieser sorgenfrei lebenden Kaste. Komplizierte und aufwändig konstruierte Verbrechen aus Langeweile werden veranstaltet, um die eigenen Grenzen auszureizen und den eintönigen Alltag aufzulockern. Oft verfallen die Akteure dem Zwang, sich alles von der Seele reden zu müssen: sie beichten ihre Sünden im Angesicht des Todes oder gestehen ihre Untaten in Brief- oder Buchform. Rampo tuscht seine Gestalten mit haarfeinem Pinsel und schafft es, subtile Geständnisse in eine fesselnde Form zu fassen; das macht diesen Sammelband literarisch faszinierend und lesenswert!

Um die Lust auf die Lektüre zu reizen, seien schnell noch die weiteren Rampo-Stories beleuchtet: »Zwei Versehrte« treffen sich auf einen Tee und berichten aus ihrem Leben. Der eine ist von Messerstichen und Granatsplittern entstellt, der andere leidet darunter, seit Jahrzehnten Schlafwandler zu sein, der nachts stiehlt und einen alten Mann im Schlaf erdrosselt haben soll. Besteht eine Verbindung zwischen den beiden Männern? — In »Zwillinge« gesteht ein zum Tode verurteilter Mörder, auch seinen älteren Zwillingsbruder beseitigt zu haben sowie in dessen Identität geschlüpft zu sein, bis er wegen einer Nachlässigkeit überführt wird. — »Der psychologische Test« dient als letzte Gelegenheit, in einem eigentlich klaren Mordfall den wahren Schuldigen kunstvoll zu überführen. — Die Titelgeschichte »Spiegelhölle« beschreibt den Wahnsinn eines Mannes, der sich an Glas und Spiegeln berauscht. — »Die Raupe« ist der im Krieg grässlich verstümmelte Torso eines Soldaten, der sich vor seiner Frau in einen Brunnen wirft. — »Auf der Klippe« stürzt eine Ehefrau ihren Gatten in den Tod, nachdem sie bereits ihren ersten Mann in angeblicher Notwehr getötet hat. — »Der Sesselmann« ist ein kunstfertiger Möbelmacher, der im Inneren eines von ihm gefertigten großen Lederfauteuils haust und einer wohl geformten Schriftstellerin, die sich täglich auf ihm reibt, einen Liebesbrief schickt … oder ist es etwa nur der perfide Trick eines genialen Autors, um gelesen zu werden???


Genre: Kurzgeschichten und Erzählungen
Illustrated by Maas Berlin

Deutsch fürs Leben

Dieses für jeden, der schreibt, nützliche Buch will dreierlei erreichen: erstens, die Autoren für die Einsicht gewinnen, dass sie sich mit der Technik des Schreibens plagen müssen, um den Leser zu fesseln; zweitens, ihnen klarzumachen, dass dies im Wettlauf mit elektronisch bewegen Bildern immer mehr Mühe, Grips und Phantasie erfordert; drittens, ihnen Werkzeuge für jene Art des Formulierens zu liefern, die das Lesen attraktiver macht.

Schneider erwartet von Journalisten, Lektoren und Schriftstellern ebenso wie von Verfassern komplexer Gebrauchsanweisungen, präzise, konkret und anschaulich zu schreiben. Auf 50 Regeln verdichtet er den Umgang mit der Sprache unter Berücksichtigung neuester Erkenntnisse der Verständlichkeitsforschung und aktueller Richtlinien für eingängiges Deutsch! Dazu zählen das Anstechen von Wortballons, das Zertrümmern von Hülsen, das Vermeiden von Klischees und Floskeln sowie der bewusste Umgang mit Nebensätzen, Schachtelungen, Attributen und Präpositionen. Er behandelt Lesehilfen (Satzzeichen, Zahlen, Kursiva), das Spiel mit Metaphern und die hohe Kunst, den richtigen Einstieg zu finden.

Wer gelesen werden möchte, findet in Schneider einen Ratgeber, der ohne Rohrstock und Peitsche hilft, den Texter wieder stärker an den Leser zu binden. Sein Lehrbuch ist gleichzeitig ein Plädoyer für eine »Stiftung Schreiben«, die der umtriebigen »Stiftung Lesen« viel Aufwand ersparen könnte.


Genre: Sprache
Illustrated by Rowohlt

Wüste Meere

Mit sieben Erzählungen legt Dominguez nach »Das Papierhaus«, seiner Hommage an die Welt der Bücher, eine poetische Huldigung an Wasser, Fluss und Meer vor, die den Einfluss des feuchten Elements auf die Welt der davon abhängigen Menschen bezeugt. Der Autor wurde im argentinischen Buenos Aires am Südufer des Rio de la Plata geboren und lebt im uruguayischen Montevideo am Nordufer der gewaltigen Mündung des Silberflusses. Für die eng besiedelte Region rund um das von den südamerikanischen Strömen Paraná und Uruguay gebildete Delta spielt die Nähe zum Wasser eine elementare Rolle.

Ein Junge schwimmt mit seinem alternden Idol, dem Tarzan-Darsteller Johnny Weißmüller, um die Wette und versucht, dessen Ehre zu wahren. — Der einzige Bewohner einer kleinen Insel, die im Orkan untergeht, rettet seine nackte Haut auf einen Baum zu einer Schar Reiher, während Wind und Wasser seine Habseligkeiten zerfetzten. — Mancuso, ein alt gedienter Kapitän, will ein viel versprechendes Wrack bergen, das sich aber als Versicherungsbetrug entpuppt, und verschwindet von der Bildfläche. — Die tapfere Besatzung eines durch viele Hände gegangenen Schiffes, das einer Sandbank in die Falle ging und auf ihr gefangen liegt, verliert langsam den Verstand, während sie auf das befreiende Hochwasser wartet. — Ein junger Mann geht auf die Suche nach seinem Vater, der bei Flusspiraten im Delta des großen Flusses vor sich hin vegetiert. — Ein Offizier eines Öltankers berichtet vom Angriff eines iranischen Raketenschnellbootes im Golfkrieg und dem verheerenden Brand seines Schiffes. — Auf einem riesigen Frachter, für den kaum noch Personal benötigt wird, treffen sich ein spanischer Offizier und ein polnischer Maschinist auf eine Flasche Grappa und führen in ihrer Einsamkeit eine aufrichtige Unterhaltung, ohne dass der eine auch nur ein Wort des anderen versteht.

Durch geschickt gewählte unterschiedliche Perspektiven versteht es der Erzähler, einen Eindruck von der grandiosen Macht der Elemente zu vermitteln. Besonders auf Landratten wirken die Texte über die erstaunliche Natur wüster Flüsse und Meere eindringlich und dicht.


Genre: Kurzgeschichten und Erzählungen
Illustrated by Eichborn Verlag