Abrakadabra und Toi, toi, toi

Ausgeschlossen, ich bin doch nicht abergläubisch! Ich halte mich für einen modernen, aufgeklärten Zeitgenossen, weit entfernt von Angst vor schwarzen Katzen und dreizehnten Stockwerken. Doch nach der Lektüre von Dorothea Steinbachers Büchlein zum Thema muss ich mich wohl korrigieren. Denn nun weiß ich, dass der Aberglaube viel tiefer in mir steckt, als ich bislang vermutet hätte.

So halte ich ein zufällig gefundenes vierblättriges Kleeblatt für einen Glücksbringer. Meinen Freunden von Oper und Theater wünsche ich vor der Aufführung mit »Toi, toi, toi!« Glück und spucke ihnen über die Schulter. Bei einer Sternschnuppe schließe ich die Augen und hoffe, ein stumm geäußerter Wunsch möge in Erfüllung gehen. Unterstütze ich jemand aus vollem Herzen, dann drücke ich ihm die Daumen … und mit all dem klebe ich bereits im Spinnennetz des Aberglaubens.

Den Daumen glaubten unsere Vorväter als den kräftigsten der Finger von Dämonen besetzt. Bei einem Epileptiker wurde zuerst der Daumen gelöst, um die bösen Geister, die von ihm Besitz ergriffen, zu vertreiben. Wir sprechen vom »grünen Daumen« erfolgreicher Gärtner und einer »glücklichen Hand«, der dieses oder jenes gelingt. »Den Daumen drücken« bedeutet schließlich, mit den übrigen vier Fingern den Daumen festzuhalten, damit keine Dämonen dazwischenpfuschen können und den Erfolg verhindern. Tief in unsere Alltagssprache ist der Aberglaube eingedrungen.

Was ist Aberglaube? Der Ursprung des Begriffs ist das althochdeutsche »ubarfengida« und heißt »Oberglaube«. Die Gebrüder Grimm definierten den Begriff als das, »was über den wahren glauben hinaus, daran neben vorbei geht«. Aberglaube bezeichnet somit den Glauben an das Übersinnliche und wurde erst im Zuge der Aufklärung zum Irrglauben gestempelt. Derzeit wird all das Aberglaube genannt, was über die Glaubenslehren der Amtskirchen hinausgeht.

Wer sich mit der ursprünglichen Bedeutung vieler heutiger Bräuche, Sitten und Redensarten, mit magischen Zahlen, Zaubersprüchen und Segenszeichen beschäftigen möchte, um dem täglichen Aberglauben auf den Grund zu gehen, wird von Dorothea Steinbacher gut unterhalten. Anliegen ihrer Veröffentlichung ist, die Spuren alten Brauchtums in unserer modernen Welt als Phänomen aufzuzeigen, das uns über Jahrhunderte hinweg mit dem Glauben unserer Vorfahren verbindet. Inzwischen gehe ich jedenfalls vorsichtiger mit der Behauptung um, ich sei frei von jedem Aberglauben …

Bitte kommentieren Sie diese Rezension im Blog der Literaturzeitschrift


Genre: Volkskunde und Brauchtum
Illustrated by Heyne München

Harte Männer tanzen nicht

Der Schriftsteller Tim Madden ist allein. Vor 24 Tagen hat ihn seine Frau Patty Lareine verlassen und nun ertränkt er seine Depressionen in Bourbon, was ihm in dem kleinen neuenglischen Kaff Provincetown nicht schwer fällt. Die Arbeit an dem geplanten Buch „In unserer Wildnis — Studien unter geistig Gesunden“ geht nicht so recht voran und so trifft es sich gut, dass er an diesem Abend in der Bar, in der er Stammgast ist, ein Pärchen kennen lernt, die Blondine Jessica und ihren Begleiter Lonnie.

Danach setzt Maddens Erinnerung aus, denn der Alkohol fließt in Strömen. Als er am nächsten Morgen erwacht, hat er eine neue Tätowierung am Arm, seine Kleidung und sein Wagen sind voller Blut und in seiner Erinnerung tauchen bruchstückhaft Bilder auf, Flashbacks, denen er aber nicht trauen kann, da er nicht sicher ist ob sie real oder seiner Phatasie entsprungen sind. Nach einem (unfreiwilligen) Gespräch mit dem Polizeichef will er sein Marihuana-Versteck überprüfen und findet dort einen abgetrennten Frauenkopf…

Norman Mailer ist einer der großen amerikanischen Schriftsteller, er schert sich einen Dreck um das, was man heute „political correctness“ nennt; seine Sprache ist ungeheuer kraftvoll, bisweilen derb und damit erschafft er prächtige Bilder und Figuren. All diese Fähigkeiten beweist er auch in „Harte Männer tanzen nicht“, eine Geschichte einer außergewöhnlichen Vater-Sohn-Beziehung und zugleich eine schonungslose Darstellung des verlogenen amerikanischen Kleinstadtmilieus, unter dessen Oberfläche Drogen, Hass, Sex und Gewalt lauern. Abgesehen davon liefert der Autor auch noch einen veritablen Thriller um brutale Morde und verschwundene Leichen. „Harte Männer tanzen nicht“ wurde auch durchaus gelungen verfilmt, die Regie führte Mailer selbst.

Zum Abschluss möchte ich euch nicht vorenthalten, woher der Titel des Romans stammt, es ist eine Episode, die Maddens Vater seinem Sohn erzählt: Der Mafia-Boss Frank Costello saß einmal mit seiner Freundin Gloria und einigen seiner Jungs in einem Nachtclub. Die Band spielt und Frank fordert seine Begleiter nacheinander auf, mit Gloria zu tanzen. Zuerst zieren sie sich, es ist schließlich die Freundin vom Chef, aber dann verlieren sie die Scheu und finden auch Gefallen daran. Einer von ihnen ist besonders mutig und fragt den Boss auf Glorias Bitte hin, ob er nicht auch eine flotte Sohle aufs Parkett legen wolle. Costello sieht ihn nur an, schüttelt langsam den Kopf und antwortet: „Harte Männer tanzen nicht.“

Bitte kommentieren Sie diese Rezension im Blog der Literaturzeitschrift


Genre: Thriller
Illustrated by Ullstein Berlin

Die Erbschaft

Heribert Odelshausen, Mitarbeiter im Rat der Stadt Dresden, wird mit einer geheimnisvollen Erbschaft gesegnet. Aus erheblichem Anlagevermögen stehen ihm jährlich eine Million Westmark Zinserträge zu, und dieser Devisensegen verändert den braven DDR-Bürger gründlich und schnell. Es zieht ihn aufs Land, in die Welt seiner Kindheit. Dort errichtet er eine Prachtvilla, mietet Dienstboten an und lässt die begehrte Westkohle auf seine Familie und Umgebung regnen.

Der Arbeiter- und Bauernstaat hegt und pflegt den frisch gebackenen Multimillionär, denn der Geldsegen kommt letztlich dem sozialistischen Staat zugute und belebt dessen Wirtschaftskreislauf. Entscheidungen werden mit Hilfe von Farbfernsehern und anderen begehrten Luxusgütern vorangetrieben, ein Anruf »in Berlin« beseitigt Materialengpässe und erwirkt Genehmigungen, die dem normalsterblichen DDR-Bürger unerreichbar wären. Doch die Zeiten ändern sich, anno 1989 bricht das Land aus seinen Fugen, und auch für Heribert Odelshausen wendet sich das Schicksal.

Rolf Floß, Jahrgang 1936, hat eine Realsatire auf die längst versunkene DDR-Wirklichkeit geschrieben. Er siedelt seine Geschichte, wie aus zarten Andeutungen vermutet werden darf, in der Oberlausitz am Fuße des Hutberges im Naturraum Westlausitzer Hügel- und Bergland an. In dieser zu Honeckers Amtzeit im medialen Schatten liegenden Gegend nahe der Lessingstadt Kamenz lässt Floß seinen Protagonisten eine Geldsturzflut über die Dorfbevölkerung niedergehen und beschreibt das feine Geflecht der Beziehungen der mehrheitlich bäuerlichen Bevölkerung untereinander.

Stilistisch fühlt sich der Rezensent bei der Lektüre an ein klassisches Stück Gebrauchsliteratur aus der guten alten DDR erinnert. Der Roman liest sich, als sei ein Stück bislang unentdeckte DDR-Literatur ans Tageslicht geschwemmt worden. In betulich plätscherndem Stil wird emotionslos und ruhig der Handlungsfaden gewoben. Kritik an gesellschaftlichen Verhältnissen wird stets behutsam und fast lapidar eingeflochten. Dennoch oder gerade deshalb kann sich derjenige, der die Verhältnisse von damals erinnert, durchaus eines gelegentlichen Schmunzelns nicht erwehren.

Floß legt einen Roman vor, der in dieser Form auch in der ausklingenden DDR hätte erscheinen können. Denn es gab durchaus Werke in ähnlichem Duktus, die dort publiziert wurden. Erinnert sei an »Die Entgleisung« von Inge von Wangenheim. Insofern kommt der Text anderthalb Jahrzehnte zu spät. Unter heutigen Bedingungen lässt sich deshalb nur eine Zielgruppe für das Werk vermuten: es sind alt gediente DDR-Leser, die sich in Sprache und Stil wieder finden können.

Bitte kommentieren Sie diese Rezension im Blog der Literaturzeitschrift


Genre: Romane
Illustrated by Das Neue Berlin Berlin

Großmama packt aus

„Jener Teil von meinem eigenen Fleisch und Blut, den ich Enkeltochter nannte, ging eines Tages verloren“, schreibt Großmama. Und da sich solche schauderhaften kleinen Geschichten des öfteren ereigneten, scheint es der alten Dame an der Zeit, der kapriziösen Enkelin das ganze Wie und Warum ihres Lebens, eine Art Beichte, aufzuzeichnen.
Irene Dische, die Enkeltochter, wurde 1953 in New York geboren. Ihre Familie aber stammt aus Deutschland, aus einer oberschlesischen Kleinstadt. Großmama freilich kommt aus den besten katholischen Kreisen des Rheinlandes, das sie der Liebe wegen verlassen hat. Dr. Carl Rother wiederum hat seinen jüdischen Glauben aufgegeben, um für sie zum glühenden Katholiken zu werden. Ein Leben in Wohlstand und Anerkennung erwartet die beiden leidenschaftlichen Glückskinder. Dummerweise kommen die Nazis dazwischen, und nichts ist mehr, wie es einmal war. Rother muß nach Amerika fliehen, Frau und Tochter folgen später nach. Schon beim Empfang in New York beginnt das Elend: Statt mit einem prachtvollen Blumenstrauß empfängt der Familienvater seine beiden Frauen mit schnöden Pampelmusen. Während daheim alle anderen Rothers umkommen, beginnt für die Einwanderer der Kampf um das harte amerikanische Brot. Hartnäckig und effektiv verfolgen die ehrgeizigen Deutschen ihren Weg, und auch ihre eigenwillige Tochter gelangt, wenngleich auf Umwegen, ans Ziel. Schade nur, dass sie sich den unmöglichen Dische zum Wegbegleiter auserkoren hat, einen für den Alltag ungeeigneten, genialen und geizigen Wissenschaftler. Ihre gemeinsame Tochter Irene muß nun die genetisch bedenkliche Suppe auslöffeln, die ihr die verblendeten Eltern eingebrockt haben. Wenngleich sie schon als Kind mit der Mutter Leichen seziert und ihre Schulkameraden mit eingelegten Föten schockiert, gerät sie später auf die schiefe Bahn der Literatur. Doch bis dahin ist es eine lange Geschichte, und die erzählt Großmama trotz aller Katastrophen mit solchem Witz, solch unterhaltsamen Plattitüden und solcher Leidenschaft, daß die Lektüre ein wahres Vergnügen ist. Denn diese Großmutter hat es in sich: Noch mit Siebzig liebt sie das Tempo so, daß sie dafür sieben Strafzettel für ihren alten Studebaker in Kauf nimmt und mit aller Macht aus dem Koma zurück ins Leben prescht, wo es gerade am schönsten ist, denn der Kampf zwischen den Geschlechtern ist in eine Friedenszeit übergegangen. Näher kommt man auf Erden dem Paradies nicht, meint sie, und sowieso ist sie doch noch so neugierig! Leider aber hat die Zeit ihre Röcke gerafft und jagt einfach weiter. So übernimmt irgendwann die wilde Irene das Regiment in der Familie, nachdem sie Europa, Asien und Afrika unsicher gemacht hat und schließlich einen Mann wegen seiner kleinen Nase heiratet, damit Großmama im Himmel endlich zufrieden sein kann und wenigstens ihre Urenkel einmal zierliche Näschen bekommen …
Irene Dische aber hat den richtigen Riecher gehabt, wie Bücher flott und fesselnd werden: durch trockenen Humor, starke Charaktere, originelle Episoden und die geschickte Mischung von Tragik und Komik, Naivität und Respektlosigkeit, untermalt von einer umwerfend unsentimentalen Warmherzigkeit.


Genre: Romane
Illustrated by dtv München

Nach Hause

Mit seinem Band »Nach Hause« bricht Eugen Egner mit seiner bisherigen humoristischen Erzählweise und präsentiert Geschichten, die einer gewissen Phantasie nicht entbehren. Mancher mag sie makaber nennen. Tatsächlich sind es Grotesken, die in der weiten Galaxie des Humors siedeln.

Egners Figuren suchen ihre Wurzeln. Sie wollen nach Hause, doch sie werden nicht fündig. In der Titelgeschichte »Nach Hause« beginnt Judith ein neues Leben in der Karnevalshochburg D. Versehentlich steigt sie jedoch zu früh aus der Straßenbahn und gerät in eine Gruppe von kostümierten Leuten, die sich in Zeit und Raum verirrt haben. Bei diesem Karnevalsscherz mit Folgen werden literarische Verbindungen zu E.T.A. Hoffmann deutlich.

In »Der Bruder« kehrt ein Mann in sein ererbtes Elternhaus zurück, das jedoch einem ominösen Bruder gehören soll. An diesen kann sich der vermeintliche Erbe jedoch überhaupt nicht erinnern. Das führt zu einem flammenden Inferno, dem er nicht gewachsen ist.

Ein Mann fertigt eine Puppe mit dem Ebenbild seiner ihm inzwischen verhassten Gemahlin. Die verlässt ihn darauf. Plötzlich beginnen die Puppen ein geheimnisvolles Eigenleben unter der Leitung einer »Puppenprinzessin«.

Egners Texte wirken gespenstisch, finster und treten durchaus kafkaesk auf. Seine Handlungsstränge wirken auf unheimliche Weise bedrohlich, zumal sie sich alle aus realen Situationen entwickeln. Seine Protagonisten bewegen sich in einer brüchigen Welt, aus der er kein Entkommen gibt.


Genre: Humor und Satire
Illustrated by Zweitausendeins Frankfurt am Main

1975 Im Jahr der Weiber

Sommer 1975. Vier Freunde: Appaz, Kerschkamp, Lepcke und Ratte sind sozusagen im Kollektiv durch das Abitur gefallen. Ungeachtet dieser Niederlage, an der ihrer Meinung nach ohnehin nur die Pauker und das System Schuld sind, beschließen sie, ihre lange geplante Frankreichreise anzutreten.

Zu diesem Zweck wird ein Kleinbus besorgt, ein rotweißer VW-Bus Baujahr 1964. Ausgerüstet mit Unmengen von Lebensmitteln und Getränken jeder Art beginnen die Vier, mit einem weiteren Freund, dem Ami, ihre Reise, die Heavy Tour 75. Kurz hinter Saarbrücken an der Grenze nach Frankreich gibt es den ersten Ärger, als Zoll und Polizei große Beute wittern, da fünf wild aussehende langhaarige Jungs die Grenze überqueren wollen. Nach einem kurzen Aufenthalt liegt Frankreich vor ihnen und es beginnt eine mehrwöchige Reise durch das Land. Sie lernen das Land kennen und Leute, die genau so wie sie auf der Reise sind, sie zelten an den Stränden des Meeres und sie sind Gäste bei Aussteigern und in Wohngemeinschaften.

»1975 Im Jahr der Weiber« ist eine wundervolle Geschichte voller Lebensfreude und gleichzeitig eine sympathische Erinnerung an eine unbeschwerte Jugend. An eine Zeit, in der die Feindbilder klar waren, an eine Zeit, die voll war mit Love, Peace und Rock n\’Roll. Beim Lesen spürt man den Sommerwind auf der Haut, schmeckt den Wein und hört das Knistern der Joints.

Dieses Buch ist eine große Freude.


Genre: Erinnerungen
Illustrated by Ullstein Berlin

Tannöd

Am Ende des dunklen Waldes, wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen, die Menschen bigott sind und beten, liegt in der Einsamkeit Tannöd, ein Flecken im Nichts. Doch bei den gottesfürchtigen Waldbauern wird nicht nur schwer gearbeitet und viel gebetet. Es wird auch gemordet! Eine Bauernfamilie samt Kindern und Hauspersonal fällt einer entfesselten Spitzhacke zum Opfer, und der Leser schaut dem brutalen Täter bei seiner blutigen Tat quasi über die Schulter.

Die Erzählung ist in Form einer journalistischen Befragung verfasst. Die Autorin Andrea Maria Schenkel begibt sich in der Rolle des interessierten Interviewers nach Tannöd, hält ihr Mikrophon in die Manege und schneidet Wortmeldungen von Anwohnern und Dörflern mit. Nachbarn, Bekannte, Pfarrer, Briefträger und Bürgermeister nehmen nacheinander kurz Stellung und teilen ihr Wissen, ihre Vermutungen und Unterstellungen mit. Auf diese Weise entsteht ein Bild vom Ort des grausigen Geschehens, ein Gemälde von Tätern und Opfern. Mosaikartig setzt die Autorin diese fiktiven Zeugnisse aneinander und führt den Leser in das geistige Klima des Dorfes ein. Die Tat selbst ergibt sich letztlich als eine in sich schlüssige Reaktion.

»Tannöd« wurde als »Krimi des Jahres 2007« ausgezeichnet. Es ist kein Jahrhundertwerk, das Spuren hinterlässt und noch in Jahren seine Leser erinnert. Den Zufällen des deutschen Literaturbetriebes ist es geschuldet, dass dieses karge Autorendebüt, das mit einer Startauflage von dreitausend Exemplaren vom Verlag eher mutig angegangen wurde, auf die Topplätze der Hitparaden kraxelte. Urplötzlich erschien es auf der Empfehlungsliste der »Welt«, die Druckmaschinen sprangen an und produzierten Nachschub.

Es folgten Krimipreis und SPIEGEL mit einer ultimativen Lobhudelei. Schließlich empfahl die Fernsehnase Elke Heidenreich in ihrer einflussreichen Sendung Autorin und Werk, und flugs schnellte die Auflage auf inzwischen fast 200.000 Exemplare. Autorin und Text seien es gegönnt.

»Tannöd« bietet Abwechslung im Krimi-Allerlei, wobei Experten darüber streiten mögen, ob es sich bei dem Text überhaupt um einen Kriminalroman handelt.

Bitte kommentieren Sie diese Rezension im Blog der Literaturzeitschrift


Genre: Kriminalliteratur
Illustrated by Edition Nautilus Hamburg

Madame Lai

Marlon Brando, eines der entfesselten Genies der Filmgeschichte, galt lebenslang als Exzentriker. Der Charakterdarsteller der Spitzenklasse (»Endstation Sehnsucht«, »Die Faust im Nacken«, »Der Mann in der Schlangenhaut«, »Meuterei auf der Bounty«, »Der Pate«, »Der letzte Tango«) hinterließ mit seinem Tod im Jahre 2004 nicht nur ein erhebliches Vermögen und eine traumhafte Südseeinselkette. In seinem Nachlass fand sich auch ein Roman, den er gemeinsam mit seinem Freund, dem Regisseur Donald Cammell, verfasst hat. Der postum veröffentlichte Text wird eingeleitet durch ein umfangreiches Porträt des Autors Truman Capote (»Kaltblütig«), der Brando während der Dreharbeiten zum Liebesmelodram »Sayonara« besuchte.

Mit »Madame Lai« schrieb Brando sich wohl die Rolle seines Lebens auf den Leib. Als schwergewichtiger Kapitän Annie Doultry, der mit seinem Handelsschoner »Sea Change« auf dem Südchinesischen Meer mehr oder weniger zwielichtige Handelsgeschäfte abwickelt, spielt er sein Alter Ego aus und schildert einen Mann, der in einer Kombination aus Lebensgier und Todeslust das tägliche Dasein als großes Glückspiel lebt.

Es ist eine Räuberpistole, exakt: eine Seeräuberpistole mit Tiefgang, die während des chinesischen Bürgerkrieges um 1927 zwischen Hongkong und Macao im Südchinesischen Meer spielt. Die Klamotte mit phänomenaler Phantasie und kolossaler sprachlicher Kraft widerspricht gängigen Klischees des Genres. In sexueller wie intellektueller Hinsicht wird das Verhältnis zwischen Ost und West, zwischen den »Schlitzaugen« und den »gwai lo«, den »weißen Teufeln« nämlich als offen und einander faszinierend dargestellt.

So ist auch das Verhältnis zwischen Kapitän Annie Doultry und der Piratin Madame Lai durch starke sexuelle Spannung bestimmt. Doultry rettet durch falsches Zeugnis im Gefängnis von Hongkong, in das er wegen illegalen Waffenhandels gerät, einem Chinesen, den er beim Kakerlakenrennen kennen lernt, den Kopf. Madame Lai will ihn für die uneigennützige Rettung ihres Schiffsführers entlohnen, doch Annie lehnt ab. Letztlich verbünden sich die beiden, um einen bis an die Zähne bewaffneten Silbertransporter zu überfallen. Doch das blutrünstige Spiel um Geld und Liebe nimmt eine unerwartete Wendung …

»Madame Lai« ist ein herrlicher Roman, aus dessen Poren Lebenslust, Laster und Leidenschaft dampft. Der Text beschert sinnenfrohes Lesevergnügen. Sein Stil ist prall und direkt. Seine Milieudichte ist beeindruckend. Der Roman ist von enormer sprachlicher Sensibilität. Selbst in seinen wüstesten Szenen geht er gleichsam auf Zehenspitzen feingliedrig und sensibel einher.

Die Covergestaltung des Buches, ein Filmplakat von »Sayonara«, weckt leider den Eindruck, als wäre das Werk eine klebrige Seifenoper aus Hollywood. Der Leser sollte das Cover verstecken, wenn er das Buch genießt, der Lustgewinn beim Lesen erhöht sich dadurch wesentlich.

Bitte kommentieren Sie diese Rezension im Blog der Literaturzeitschrift


Genre: Abenteuer
Illustrated by Marebuchverlag Hamburg

Ausgebrannt

Blutrote Fässer zieren den Titel von Andreas Eschbachs Roman „Ausgebrannt“. Wer die 750 Seiten des Wirtschafts-Thrillers gelesen hat, der weiß: sie sind leer. Eschbachs Thema ist der viel diskutierte »Peak-Oil«, jener Punkt, an dem die Ölreserven erschöpfen und die Nachfrage nach Öl größer ist als das mögliche Angebot. Von diesem Punkt an verliert die Wirtschaft ihre Antriebskraft, und die Welt beginnt sich zu ändern. Die Handlung des Romans geht dabei von der Prämisse aus, dass dieser Punkt sehr viel näher liegt als gemeinhin angenommen. Weiterlesen


Genre: Romane, Thriller
Illustrated by Bastei Lübbe Bergisch Gladbach

Der Afghane

Bei einem Selbstmordattentat werden in London zahlreiche Menschen von Rucksackbomben getötet. Schon nach kurzer Zeit können die Mörder identifiziert und ihr Wohnsitz ermittelt werden. Bei der Durchsuchung der Wohnung stoßen die Ermittler auf Quittungen, die belegen, dass einer der Bewohner mehrere Billig-Handys gekauft hat. Diese Telefone werden allerdings nicht in der Wohnung gefunden, aber die Polizei kann die Nummern herausfinden und setzt diese auf eine Watchlist für den Fall, dass sie aktiviert werden sollten.

Monate später läutet eines dieser Telefone in Pakistan und ein Sergeant der pakistanischen Abhörabteilung hört das Gespräch mit. Der Anruf kann mit Peilgeräten geortet werden, und nach kurzer Zeit setzen sich pakistanische und britische Spezialisten in Bewegung, um eine Wohnung zu stürmen. In der Wohnung befinden sich fünf Menschen, von denen einer erschossen wird und drei verhaftet werden können. Die fünfte Person, der Anführer, wie sich später herausstellt, versucht zu entkommen, springt aus einem geöffneten Fenster, stürzt auf das Straßenpflaster und stirbt.

Bei der Auswertung aller Spuren wird ein Laptop gefunden und auf dem gibt es Notizen und Spuren zu Al Isra, der Plan zu einem Anschlag der al Qaida. Bei allen amerikanischen und britischen Geheimdiensten schrillen die Alarmglocken, doch niemand scheint von diesem Plan zu wissen oder gehört zu haben. Als letzte Möglichkeit bleibt nur die Chance, einen Agenten in das Terrornetzwerk einzuschleusen.

Mike Martin, ehemaliger Offizier und Spezialist, wird für diese gefährliche Mission ausgesucht. Kann er den Wettlauf mit der Zeit gewinnen und den Anschlag verhindern ?

Frederick Forsyth, ein meisterlicher Verfasser von spannenden Politthrillern, beschreibt kenntnisreich das Vorgehen der Geheimdienste, die Interessen der Großmächte sowie die Welt des Terrors.


Genre: Thriller
Illustrated by C. Bertelsmann München

Wenn Sie mich fragen

Rainer Erlinger bekleidet im Magazin der »Süddeutschen Zeitung« die Position des Moralapostels. Mit seiner Kolumne »Gewissensfragen« behandelt der gelernte Arzt und Jurist Alltagsfragen seiner Leserschaft. Dabei versucht er, auf vergnügliche Weise in die philosophischen und rechtlichen Grundlagen unseres Wertesystems einzuführen.

Darf das Tagebuch einer Verstorbenen, das zur Vernichtung bestimmt ist, geöffnet werden? Verhält sich ein passionierter Radfahrer korrekt, wenn er einem liegen gebliebenen Autofahrer die Hilfe verweigert? Ist es statthaft, den noch nicht abgelaufenen Parkschein eines anderen Automobilisten zu verwenden? Darf ein umweltbewusster Mensch den Verkehr aufhalten? Besteht eine Verpflichtung, seiner besten Freundin zu verraten, dass ihr Lebensgefährte sie ständig betrügt? Sollte eine Mutti mit Kinderwagen einen Radfahrer, der wegen schlechter Straßenverhältnisse den Gehweg benutzt, passieren lassen? Ist es richtig, 8,20 Euro Lohnsteuerjahresausgleich geltend zu machen, wenn es den Staat Hunderte von Euro kostet, das zu bearbeiten?

Erlinger beantwortet diese und ähnliche Fragen, indem er in die Tiefen der Jurisprudenz ebenso einsteigt wie in die Summations- oder Intelgralethik beziehungsweise ihr Gegenteil, die Fraktal- oder Einzelaktethik. Bei der Lösung der moralischen Zwickmühlen vermittelt er Denkanstöße und vermittelt Wissen und Einsichten ohne zu belehren. Dabei differenziert er zwischen der Moral als Ansammlung von formellen oder informellen Regeln des Staates, die sich historisch aus Gründen des Erhalts von der Macht einer Gemeinschaften gebildet haben und der Ethik, die es gestattet, Verhaltensregeln für die Menschen im Staat abzuleiten.

Darf ich dies, darf ich das? – In den Fragen, auf die der Moralkolumnist eingeht, spiegelt sich indes auch die Mentalität seiner Leser, und die ist mitunter erschreckend. Mit der Unbescheidenheit von Erbsenzählern wird auf vermeintlichen Rechtspositionen geritten, und die Hilfssheriff-Mentalität vieler Deutscher schimmert aus dem Dickicht der Fragen. Dennoch oder vielleicht gerade deshalb ist es vergnüglich, Erlingers Antworten zu goutieren. Ob es allerdings dazu eines eigenen Buches bedurft hätte, kann nur der Verlag beantworten, der sich davon eine Zweitverwertung erhofft. Viele der Kolumnen sind jedenfalls auch online zu finden.

Bitte kommentieren Sie diese Rezension im Blog der Literaturzeitschrift


Genre: Kolumnen
Illustrated by Kunstmann München

Der weiße Neger Wumbaba kehrt zurück

Nach dem Erfolg seines ersten Bandes legt Axel Hacke jetzt einen Nachschlag zum Stichwort »Verhören« bei Gedicht- und Liedzeilen vor. Der auf dem Hörfehler eines Musikenthusiasten fußende Buchtitel machte seinen »weißen Neger« zu einer poetischen Traumgestalt. Der Zuhörer verwandelte die vertonten Gedichtzeilen »und aus den Wiesen steiget / der weiße Nebel wunderbar« aus »Der Mond ist aufgegangen« von Matthias Claudius in: »und aus den Wiesen steiget / der weiße Neger Wumbaba«.

Wie bereits im ersten Band schöpft der Autor aus zahlreichen Leserzuschriften auf seine entsprechenden Kolumnen in der »Süddeutschen Zeitung« sowie aus inzwischen entstandenen Internetforen, die sich alle mit dem Thema des Verhörens beschäftigen. So ergänzt er seinen Wumbaba durch den »Kinder-Lehmann«, »Jack, die Sau« und den »Schlächter Müller«, allesamt Gestalten, die aus Hörfehlern resultieren.

Hacke belauscht das kirchliche Leben, wenn Gläubige singen: »Lasst uns froh und Monster sein«. Er besucht Landstriche wie »Hedwig Holstein« und widmet sich der deutschsprachigen Popmusik, für die er eine »Hitparade deutschsprachiger Verhörsänger« aufstellt. Erstplatzierter wird Herbert Grönemeyer, der es mit seiner Nuschelstimme gerade darauf anlegt, dass der Hörer eigene Texte erraten und herstellen soll.

Der Autor widmet sich der Thematik in professioneller Routine. Die Lektüre des Büchleins ist vergnüglich, ein sprachliches oder stilistisches Meisterwerk ist es jedoch nicht. Da hat Hacke mit seinem »König Dezember« wesentlich bessere Leistungen vorgelegt. Deutlich aufgewertet wird das Werk jedoch von dem Berliner Maler und Zeichner Michael Sowa, der herrliche Illustrationen beisteuerte, die allein schon den Erwerb des Buches rechtfertigen.

Bitte kommentieren Sie diese Rezension im Blog der Literaturzeitschrift


Genre: Humor und Satire
Illustrated by Kunstmann München

Das Doppelleben des Vermeer

Er ist bankrott, krank, drogensüchtig, doch triumphierend. Obwohl er ein wahnsinniges Vermögen verdiente, war sein Ziel die Rache an einer Kunstwelt, die sein Werk belächelte. Han van Meegeren ist Künstler, der es verstand, einen der außergewöhnlichsten und geheimnisvollsten Maler der holländischen Kunstgeschichte so perfekt zu fälschen, dass sich die Kunstwelt nach wie vor streitet, ist er echt, ist er nicht echt? Jan Vermeer.
Wie viel muß ein Fälscher wissen, Technik, Malstil, Epoche, Leinwand, Farbzusammensetzung und…?
Der Künstler, der in die Haut eines anderen schlüpfte, um Anerkennung zu finden, wird vom Hochverräter zum Volksheld, als man nach 1945 in Holland entdeckt, dass ein Hauptwerk Vermeers in den Besitz von Hermann Göring gelangte. Der Drahtzieher des Verkaufs war der heruntergekommene Maler Han van Meegeren. Er wird verhaftet und Han van Meegeren gesteht. Doch nicht den Verrat an Holland, den Ausverkauf nationaler Kulturgüter. Er hat das Bild gefälscht, und mit ihm sechs weitere, erst „unlängst“ wiedergefundene Vermeers, mit denen sich die bedeutendsten Museen der Zeit schmücken.
Wie konnten sich die Experten über Jahre derartig täuschen lassen? Wie gelang es einem Autodidakten, alle technischen Analysen auszutricksen und die Mär vom untypischen „anderen Vermeer“ durchzusetzen?
Ein spannendes Buch – wie ein Kriminalroman: ich empfehle es jedem, der sich für Kunst und Malerei und die dahinter steckenden Machenschaften interessiert.


Genre: Kunst, Musik und Literatur
Illustrated by Kunstmann München