Herz der Finsternis

conrad-1Der weiße Fleck

Im Werk des in englischer Sprache schreibenden Schriftstellers polnischer Herkunft nimmt die 1899 erstmals erschienene Novelle «Herz der Finsternis» eine Schlüsselrolle ein, sie wird als wichtigste und wirkmächtigste der Erzählungen von Joseph Conrad angesehen. Durch eigene Erlebnisse angeregt beschreibt der Autor eine Flussfahrt ins Innere Afrikas, wobei Fluss und Land unschwer als Kongo erkennbar sind, auch wenn sie im Text unbenannt bleiben. Auf einer Segelyacht warten der Ich-Erzähler und vier weitere Männer in der Themsemündung bei Flut und Windstille auf den Gezeitenwechsel, um flussabwärts zu fahren. In der einsetzenden Dämmerung unterbricht plötzlich der einzige Seemann an Bord die eingetretene Stille: «Und auch dies, sagte Marlow unvermittelt, ist einer der dunklen Plätze der Erde gewesen». Er beginnt von den Römern zu erzählen, die von dieser Stelle aus einst themseaufwärts fuhren, um Britannien zu erobern und auszubeuten.

Mit «seiner Neigung, ein Garn zu spinnen», erzählt der auf allen Weltmeeren herumgekommene, eher biedere Seemann von seiner Sehnsucht nach den weißen Flecken auf der Landkarte, die immer weniger würden, und den größten von allen entdeckt er auf dem afrikanischen Kontinent. Er übernimmt als Kapitän den maroden Flussdampfer einer Elfenbein-Handelsgesellschaft und fährt mit ihm ins «Herz der Finsternis». Gemeint ist damit ein weitgehend gesetzloses, menschenverachtendes Kolonialsystem, das in unersättlicher Gier so viel wie möglich aus dem Land herauszuholen sucht und dabei die Eingeborenen wie Vieh behandelt. Conrads Erzählung geißelt scharf den Rassismus der europäischen Eroberer, der so weit geht, dass nicht wenige von ihnen sogar die These vertreten, die Schwarzen gehörten biologisch nicht der gleichen Spezies an wie die Weißen. Letztere allerdings werden ihrerseits von Marlow als völlig unfähig geschildert, er findet ein heilloses Chaos vor in den Handelsstationen, wo nichts richtig funktioniert, alles irgendwie unsinnig erscheint.

Immer wieder hört er auf seiner Reise 800 Meilen flussaufwärts zu der am weitesten entfernten Station von deren besonders erfolgreichem, fast mythisch verehrten Leiter namens Kurtz, der allein mehr Elfenbein liefere als alle anderen Stationen zusammen. Dieser Erfolg jedoch, das wird Marlow immer deutlicher, ist einzig den perfiden, skrupellosen Methoden des charismatischen Mr. Kurtz zuzuschreiben, dessen habgierige Machenschaften ihn zunehmend abstoßen, je mehr er von ihm erfährt und je mehr er sich seiner Station nähert. Er findet ihn schließlich todkrank vor, nimmt ihn und eine Riesenladung Elfenbein an Bord, – Kurtz jedoch stirbt auf der Rückreise, als letzte Worte haucht er: «Das Grauen! Das Grauen!»

Man muss bei der Würdigung von Joseph Conrads Novelle natürlich berücksichtigen, dass sie zur Blütezeit des Kolonialismus erschien, seine abschreckende Schilderung des Rassenwahns und der ethnischen Säuberungen wurde sicherlich nicht überall erfreut aufgenommen. Gleichwohl ist sie besser geeignet als manche andere Quelle, die Hintergründe der Massaker zu erhellen, die Soziologin Hannah Arendt beispielsweise hat das Buch als Referenz für ihre Darstellung des Rassismus benutzt. Was den puren literarischen Wert anbelangt, und nur das ist hier mein Thema, kann ich den Jubel über diese Novelle nicht nachvollziehen. Das «Grauen», die Finsternis aus dem Titel, bleibt unkonkret, der Bösewicht ist völlig konturlos, die Geschichte ist weder besonders originell noch ist sie sprachlich überragend erzählt, woran, wie verlautet, die «unfähigen Übersetzer» Schuld seien. Mir hingegen scheint die Stärke dieser Prosa vornehmlich in ihrer Thematik zu liegen, die in Joseph Conrads Erkenntnis gründet: «Der Mensch ist ein bösartiges Tier». Warum dies so ist, hat schon Siegmund Freud umgetrieben, die Finsternis hier ist gleichzusetzen mit dem Unbewussten, diesem rätselhaften weißen Fleck auf der Landkarte unserer Seele.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Reclam Stuttgart/Dietzenbach

Blumenberg

lewitscharoff-1Verwirrung in der Gelehrtenstube

Literatur und Philosophie existieren ja nicht selten in symbiotischer Form, meist in Person eines geistigen Schöpfers, als Dichter und Denker bezeichnet, der alle beiden Kulturgattungen bedient, Nietzsche sei als Beispiel genannt. Eng verbunden sind diese Disziplinen aber auch dadurch, dass alle Denkergebnisse irgendwie fixiert werden müssen, sollen sie für die Nachwelt erhalten bleiben, und damit werden sie zwangsläufig zu Literatur. Im vorliegenden Roman bildet die philosophische Wissenschaft den reizvollen Hintergrund für eine raffiniert aufgebaute, komplexe Geschichte, die schon durch ihren Titel als Hommage an den Professor gleichen Namens gedeutet werden darf.

Die Autorin bindet einen Löwen in ihre Handlung ein, den der Gelehrte zunächst als Hirngespinst oder Studentenulk ansieht, der sich in seiner Symbolträchtigkeit jedoch immer mehr als Trostspender und gedanklicher Ruhepol erweist. Mit viel Komik und gekonntem Sprachwitz wird munter fabuliert in diesem ungewöhnlichen Roman mit seinem gewagten Titel, der ja suggeriert, hier stehe der gleichnamige Philosoph und sein Denksystem im Mittelpunkt, was manche Leser mutlos machen könnte. Keine Sorge! Äußerst elegant und schwungvoll führt Lewitscharoff durch ihre originelle Geschichte, und auch wenn man, wie ich, nicht jeden Hintersinn, jede Andeutung versteht als blutiger Laie in Sachen Philosophie, liest man dieses Buch gleichwohl mit geistigem Gewinn, vom geradezu königlichen Lesespaß ganz abgesehen.

Im Milieu professoraler Gelehrsamkeit erleben wir Blumenberg in seinem Arbeitszimmer und in der Vorlesung, einer, der fleißig seine Wissenschaft betreibt und hohe Anerkennung genießt bei seinen ehrfürchtigen, von ihm aber kaum wahrgenommenen Studenten. Vier von ihnen, ergänzt um eine wundersame Nonne, sind die anderen Protagonisten, die ihn in einer Collage von kunstvoll verschachtelten Geschichten umkreisen. Alle Figuren sind liebevoll und eindringlich beschrieben, sie stehen dem Leser beinahe plastisch gegenüber, sind greifbar nahe in dieser zweiten Erzählebene. Ergänzend sind zwei köstliche Kapitel eingeschoben, in denen der Erzähler auf sehr unterhaltsame Weise über Inhalte und Konstruktion seines Textes nachdenkt. «Ob der Erzähler wirklich wissen kann, was einem Selbstmörder zuletzt in den Sinn kommt, ist fraglich» heißt es da. Das Buchstabenleben des Romans und seine Gedankenwelt wird hier verschmitzt hinterfragt. Aber dass man einen Selbstmord so absolut unpathetisch schildern kann hat mir denn doch den Atem verschlagen.

Nach dem Tode aller Protagonisten treffen sie im Jenseits wieder zusammen, auch der Löwe ist zur Stelle. Mit ihrem rätselhaften Bericht aus einer Höhle (wem dämmert da was?) eröffnet die Autorin reichlich Raum für Interpretationen, mit denen man noch beschäftigt ist, lange nachdem man das Buch zu Ende gelesen hat. Was dem Atheisten Blumenberg und den anderen Figuren widerfährt, das langsame Verlöschen ihrer Existenzen, deutet für mich jedenfalls darauf hin, dass dieser Ort eine Vorstufe zum Nirwana ist, Himmel und Hölle existieren ja nicht. Dieses Buch ist ein meisterhaft geschriebener, wunderbar geistreicher Roman, der im wahrsten Sinne des Wortes bereichernd ist, ein selten zu findendes, intellektuell anspruchsvolles Lesevergnügen obendrein.

Fazit: erstklassig

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Genre: Roman
Illustrated by Suhrkamp Frankfurt am Main

Underground

UndergroundEin tödliches Grippevirus grassiert in den USA. Während Chaos um sich greift, flieht eine Gruppe ganz unterschiedlicher Menschen in einen unterirdischen Luxusbunker – das Sanctum –, ihre eigene, sich selbst versorgende Welt. Doch schon bald befeuern Abschottung und Enge erste Spannungen unter den Bewohnern. Als der Erbauer des Bunkers tot aufgefunden wird, bricht Panik aus. Mit ihm ist der Code zum Öffnen der Türen verloren. Der Sauerstoff wird knapp. Die Wasservorräte schwinden. Der Kampf ums Überleben beginnt.

 

Bereits seit einiger Zeit wütet ein tödliches Virus in Asien und tausende Menschen sterben. Nun ist das Virus auch in den USA angelangt und das Massensterben beginnt…

Wie gut dass es das „Sanctum“, einen unterirdischen Luxusbunker, versteckt in den Wäldern von Maine gibt. Für 1,5 Millionen Dollar kann man sich dort ein Luxusappartement mieten um einer drohenden Katastrophe zu entfliehen. Auf 7 Etagen sind 6 Luxussuiten, ein Aufenthaltsraum, ein Fitnessraum, Swimmingpool, eine Krankenstation, eine kleine Hühnerfarm, und ein kleiner Hydrokulturgarten verteilt. So soll das Überleben für ein Jahr gesichert sein.

Aber der Platz im Sanctum ist begrenzt und nur wenige haben das Glück sich so ein Appartement sichern bzw überhaupt leisten zu können.

Fünf extrem unterschiedliche Familien treffen zu Beginn der Geschichte im Sanctum ein, klar dass Spannungen vorprogrammiert sind. Denn nicht nur die grundverschiedenen Charaktere gestalten das Leben im Bunker als schwierig, der Erbauer des Sanctum hat in seiner Hochglanzbroschüre auch mächtig übertrieben und an allen Ecken und Enden gespart…

Die Krankenstation ist nicht einmal ansatzweise fertig, so dass es keinerlei ärztliche Versorgung gibt, der Fahrstuhl zwischen den einzelnen Etagen funktioniert nicht, Essensvorräte und Wasser reichen nicht annähernd für ein Jahr und Vieles ist einfach nur billig zusammengeschustert.

Bereits nach ein paar Tagen bricht ein kleines Feuer aus, welches die Internetverbindung zur Außenwelt abschneidet und der Erbauer Greg wird tot aufgefunden. Leider hatte er kurz vor seinem Tod wohl noch den Sicherheitscode für die Einstiegsluke geändert und diese Luke ist scheinbar das Einzige woran nicht gespart wurde…

Die Geschichte beginnt damit dass erst einmal alle Familien getrennt voneinander auf dem Weg ins Sanctum sind und man einen so einen ersten Eindruck von den Bewohnern bekommt:

• Da wäre die kanadische Zahnärztin Stella, mit Ihrem koreanischen Mann und dem Teenager Sohn Jae, der am liebsten den ganzen Tag World of Warcraft spielt und chattet

• das stinkreiche, verwöhnte und ziemlich arrogante Ehepaar James und Vicky, dessen Ehe auch schon besser Tage gesehen hat

• der alleinerziehende Vater Tyson, mit seiner vier jährigen Tochter Sarita und dem südafrikanischen Aupair Mädchen Cait, die Mitte 20 ist und einfach nur wieder nach Hause möchte

• das 70-jährige Ehepaar Dannhauser und ihre 40 jährige Tochter Trudi

• der Erbauer und Besitzer Greg

• sein Bauleiter Will, der eigentlich gar nicht im Sanctum bleiben sondern zurück zu seiner schwerkranken Frau wollte

• und zu guter Letzt die Familie Guthrie. Vater Cameron und Teenagersohn Brett sind absolute „Alphamännchen“, Waffenbesessen, rassistisch und totale Machos. Mutter Bonnie hat absolut nichts zu sagen, will sie aber auch eigentlich gar nicht denn sie ist übertrieben religiös, eigentlich schon fanatisch und beschäftigt sich am liebsten mit ihrer Bibel und Gebeten. Bretts Zwillingsschwester Gina könnte man schon fast als Hausmädchen statt als Familienmitglied bezeichnen und sie hat noch viel weniger zu melden als Mutter Bonnie.

Klar dass das totale Chaos bei so einer Konstellation, unter Extrembedingungen auf engstem Raum vorprogrammiert ist.

Die Geschichte wird Kapitelweise aus der Sicht von verschiedenen Personen erzählt, wobei aber nicht die Sicht von allen Personen geschildert wird. Interessant fand ich dass die Kapitel über drei bestimmte Personen immer aus der Ich-Erzählperspektive geschildert werden, die anderen aber nicht.

Das Buch war der totale Hammer, von Anfang an sehr spannend und ich konnte es gar nicht mehr aus der Hand legen, so dass ich die knapp 400 Seiten in Windeseile durch hatte.

Absolut großartig, sehr zu empfehlen!!

S.L Grey ist das Pseudonym der beiden Bestsellerautoren Sarah Lotz und Louis Greenberg. Sie leben beide in Südafrika. Unter ihrem Pseudonym beschäftigen sie sich mit Geschichten in denen Menschen in Extremsituationen geraten.


Genre: Dystopie, Endzeitgeschichten, Thriller
Illustrated by Heyne München

Das Nest

daprix-sweeney-1Kreatives Schreiben

Entsteht beim Erscheinen eines neuen Buches ein Hype wie der beim Roman «Das Nest» von Cynthia D’Aprix Sweeny, sollte der Leser gewarnt sein: Vorsicht, Bestseller! Die US-amerikanische Autorin war freiberufliche Werbetexterin und hat nach der Kinderphase ein spätes Studium in Creative Writing absolviert. Ihren Debütroman, den sie bereits während dieser Studienzeit begonnen hat, wäre ihr vom zweitgrößten Verlag der Welt, HarperCollins in New York, geradezu aus den Händen gerissen worden, sie hätte einen Dollarvorschuss in Millionenhöhe bekommen, wird kolportiert. Ein Blitzstart also, der wahr gewordene American Dream, – hält denn das Buch, was der Hype verspricht?

Der inzwischen verstorbene Patriarch der New Yorker Familie Plumb hat vor vierundzwanzig Jahren für seine vier Kinder einiges Geld in einem Fonds angelegt. Ein üppiges finanzielles Polster, wie er damals sagte, an das sie frühestens zum vierzigsten Geburtstag von Melody, seiner jüngsten Tochter, herankämen, damit sie es nicht vorher schon verprassen können. Fortan nannten die Geschwister dieses Erbe unter sich immer nur «Das Nest». Dem Roman ist ein Prolog vorangestellt, der einen schlimmen Autounfall von Leo schildert, dem Playboy unter den vier Geschwistern, bei dem seine junge Beifahrerin einen Fuß verliert. Als nun die Auszahlung des Geldes ansteht, erfahren die Geschwister, dass der wohlhabende Leo auf einen Schlag all sein eigenes Geld verloren hat durch den Unfall und durch seine ruinöse Scheidung, seine Mutter musste sogar den Fonds auflösen, damit er die immensen Schadenersatzansprüche erfüllen konnte, – «Das Nest» ist also leer.

Was folgt ist die abwechselnd in mehreren Handlungssträngen erzählte Geschichte der vier Geschwister, die alle in Geldnöten sind. Die deutlich über ihre Verhältnisse lebende Melody kann die immens hohen College-Gebühren für ihre zwei Töchter nicht aufbringen, die erfolglose Schriftstellerin Beatrice möchte endlich ein größeres Appartement haben, und der schwule Antiquitätenhändler Jack hat hinter dem Rücken seines «Ehemannes» ? das gemeinsame Sommerhaus verpfändet. Der finanziell total abgebrannte Leo stellt seinen Geschwistern bei einem eilig anberaumten Familientreffen in Aussicht, er würde sich schon etwas einfallen lassen, damit ihr Erbteil doch noch ausgezahlt werden kann. Die Gier nach dem Gelde führt die Geschwister notgedrungen wieder enger zusammen, ohne dass dadurch familiäre Wärme entstehen würde, zu sehr träumt jeder von ihnen egoistisch davon, wie sich sein Leben auf Pump schlagartig ändern würde, könnte Leo frisches Geld auftreiben. Der Roman folgt unbeirrt der eingängigen Devise: «Geld macht nicht glücklich, aber es hilft ungemein».

Die Geschichte ist prall gefüllt mit jederzeit leicht nachvollziehbaren, geradlinig und ohne Schnörkel erzählten Geschehnissen, wobei der sprachliche Stil doch ziemlich bieder wirkt, ohne Esprit und kaum je witzig. All die glaubhaft beschriebenen Figuren agieren aber so munter, dass es dem Leser dieser verzwickten Geschwisterstory nicht langweilig wird. Und auch die Dialoge sind stimmig, der plausible Plot konzentriert sich weitgehend auf die schwierigen Charaktere der vier durchaus sympathisch erscheinenden Protagonisten, von deren Irrungen und Wirrungen im Wechsel so flott berichtet wird, oft in Form innerer Monologe. «Kreatives Schreiben will Anleitung zum Schreiben sein, ohne notwendigerweise anspruchsvolle Texte zu produzieren», heißt es bei Wikipedia, und genau diese Definition trifft hier auch voll zu. Dem mit offensichtlichem Kalkül auf Erfolg getrimmten Roman, an dessen Verfilmung schon eifrig gearbeitet wird, fehlt jedenfalls völlig ein wirklich authentischer Duktus, von inhärentem literarischem Genius ganz zu schweigen. Derart konstruierte Bücher, – so mein Albtraum, nachdem autonomes Autofahren ja schon Realität geworden ist -, werden künftig wohl Computer schreiben, mit intelligenten Algorithmen für das Creative Writing.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Klett-Cotta Stuttgart

Der Besen im System

wallace-1Für Leser mit Sinn für das Absurde

Nach der Lektüre von «Unendlicher Spaß», seinem berühmten Erfolgsroman, war ich nun auch auf den Erstling «Der Besen im System» von David Foster Wallace neugierig, schon der Titel weckt ja gewisse Assoziationen. Eines vorweg: Es macht wenig Sinn, bei diesem amerikanischen Autor der Postmoderne eine Inhaltsangabe zu schreiben, wie es der Klappentext versucht. Dieser Roman folgt keiner literarischen Konvention und ist deshalb schwer fassbar mit den gängigen Maßstäben. Er ist surreal wie ein Bild von Salvatore Dalí, aber anders als in der Malerei ist in der Literatur ja eher Rembrand gefragt, ein klar erkennbarer und nachvollziehbarer Plot jedenfalls. Den sucht man hier vergeblich, auch wenn uns der schon erwähnte Klappentext das vorgaukelt und uns damit (bewusst?) in die Irre führt. Wittgenstein kommt nicht vor, und Ur-Oma Lenore bleibt ohne erkennbaren Grund spurlos verschwunden, bis zum Schluss. Der übrigens, wie es sich gehört im Surrealismus, mitten im Satz, auf Seite 624, abrupt endet, ohne Schlusspunkt eben, arglose Leser könnten an einen Fehldruck glauben.

Ähnlich wie beim Opus magnum findet sich der Leser auch in diesem satirischen Roman mit einer ziemlich komplexen Syntax konfrontiert, die seine volle Aufmerksamkeit fordert, ihn dann aber umso mehr mit spaßigen, unerwarteten, aufregenden Gedanken belohnt und ihn viele abstruse Situationen miterleben lässt in den diversen Handlungssträngen. Der unglaubliche Wortreichtum des Autors wird radikal, ironisch und völlig absurd eingesetzt. Neben hochgestochenen Fremdwörtern findet man absoluten Nonsens als Wortgebilde und, völlig gleichberechtigt, auch den vulgären Jargon des Alltags. Mit diesem Instrumentarium formt er ein literarisches Werk, das seinen Reiz gerade darin hat, in kein Klischee zu passen.

Negative Kritiken sprechen von einem durchgedrehten Roman, in dem ein kreatives Chaos herrsche, und bemängeln den Patchwork-Charakter der diversen, ziemlich wirr zusammengefügten Textabschnitte und Kapitel, einem Zettelkasten ähnlich. Da haben sie wohl Recht, einen Spielfilm könnte man schwerlich machen aus diesem Romanstoff, obwohl – man soll nie nie sagen! Denn in einem Film könnte man alle diese neurotischen Protagonisten und schrillen Charaktere wunderbar darstellen, sämtliche Figuren dieses Romans werden einem nämlich schnell sympathisch, so meschugge sie auch sein mögen. Im Kopfkino des Lesers funktioniert das jedenfalls bestens.

Für mich ist «Der Besen im System» nicht nur eine gnadenlose Abrechnung mit dem American Way of Live, sondern darüber hinaus allgemein mit unserer neurotischen Informationsgesellschaft, eine wirklich amüsante Lektüre außerdem, sehr empfehlenswert insbesondere für Leser mit Sinn für das Absurde, sie werden voll auf ihre Kosten kommen.

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Rowohlt

Anna Karenina

tolstoi-2Literarische Zauberei

Ohne Zweifel ist «Anna Karenina» von Lew Tolstoi auch ein Eheroman, oft verglichen mit Fontanes «Effi Briest» oder Flauberts «Madame Bovary», primär aber ist er, was man ziemlich unbesorgt den größten Gesellschaftsroman der Weltliteratur nennen mag. Der 1878 erschienene, grandiose Roman bedeutet außerdem eine entscheidende Wegmarke hin zu dem radikalen Moralismus dieses russischen Schriftstellers, der sich dann bekanntlich, in seiner geradezu peinlichen Spätphase, ins völlig Absurde hineingesteigert hat. Hier aber, in diesem voluminösen Epos über die adelige russische Gesellschaft des 19ten Jahrhunderts, fungiert noch eine Art Räsoneur als Statthalter des Autors, ein Sinnsucher und – wie man heute sagen würde – unermüdlicher Querdenker, das Alter Ego von Tolstoi also mit nahezu kongruenter biografischer Konstellation, nur das Künstlertum fehlt seinem Helden Lewin. Genau diese unvergleichliche Begabung aber hat der literarische Olympier zunehmend negiert, hat von «all dem künstlerischen Geschwätz» gesprochen, mit dem sein Werk gefüllt sei und dem dessen Leser «eine unverdiente Bedeutung beimäßen».

Anna also ist nicht die Hauptfigur des Romans, auch wenn sie titelgebend ist und ihr unübersehbar die ganze Sympathie des Autors gilt. «Im Hause der Oblonskijs herrschte große Verwirrung» heißt es im – ursprünglich – ersten Satz, Annas Eingreifen verhindert jedoch das Auseinanderbrechen der Ehe ihres untreuen Bruders und führt zu einem verlogenen Modus Vivendi mit seiner Frau. Deren Schwester gibt Lewin einen Korb, der von ihr als sicher angesehene Heiratsantrag des strahlenden Helden Wronskij aber bleibt aus. Er hat sich nämlich in die mit einem ungeliebten Mann verheiratete Anna Karenia verliebt, ihr leidenschaftliches Verhältnis endet jedoch tragisch. Lewin endlich bekommt beim zweiten Versuch keinen Korb mehr und findet zu seinem späten Eheglück. In mehreren parallelen Handlungssträngen des achtteiligen Romans präsentiert Tolstoi die gescheiterte Ehe- und Liebesgeschichte von Anna Karenina, das heuchlerische Ehe-Arrangement ihrer Schwägerin und die geradezu idealtypisch erscheinende, glückliche Ehe von Lewin.

All das ist eingebettet in ein großartiges Panorama der Adelsgesellschaft Russlands, die in allen ihren Facetten dargestellt ist, mit unzähligen, wunderbar stimmig beschriebenen Figuren, deren mitreißende Dialoge uns Einblick in ihr innerstes Wesen geben. In diesem üppigen personalen Ensemble findet man sich als Leser aber jederzeit zurecht, so treffend skizziert sind Tolstois literarische Geschöpfe. Von denen der Gutsbesitzer Lewin mir regelrecht ans Herz gewachsen ist, verkörpert er doch, obwohl selbst adelig, den ländlichen Gegenpol zum Luxusleben des Champagner trinkenden städtischen Adels. Sein Wissensdrang, seine Gedankenwelt, seine zahlreichen Dispute, seine Geradlinigkeit und gutmütige Offenheit sind geradezu herzerfrischend, die vielen ihm gewidmeten Kapitel sind jedenfalls sehr amüsant zu lesen. Man lernt ihn letztendlich so gut kennen, dass man seine Reaktionen, seine Gedanken nicht nur nachvollziehen, sondern oft auch voraussehen kann. Und so findet er schließlich dann durch die Worte eines einfachen Bauern zu der Erkenntnis, dass wir nicht leben, «um unseren Wanst zu füllen», sondern dass man «für das Gute» lebt, ein außerhalb der Vernunft liegender Gedanke, für den der wissenschaftliche Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung nicht gilt. Ein Wunder also, das sich dem Verstande schlichtweg entzieht und doch von jedem begriffen wird.

Dieser Roman selbst aber ist auch ein Wunder, er ist literarische Zauberei, die alle Maßstäbe sprengt. Ich habe noch nie etwas Besseres gelesen!

Fazit: erstklassig

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Genre: Roman
Illustrated by dtv München

Ansichten eines Clowns

boell-1Das muss ihm erst mal einer nachmachen

«Ich glaube, dass kein Buch so missverstanden worden ist wie die Ansichten eines Clowns. Es war eigentlich nur eine Liebesgeschichte, wirklich nicht mehr.» Darf man als Leser dem Autor widersprechen? Und dem Großkritiker Reich-Ranicki gleich mit, der vom «Alltag einer Liebe» sprach? Ich meine ja, denn für mich ist dieser berühmte Roman von Heinrich Böll keine Liebesgeschichte, es wäre nämlich eine lausig schlechte. Es geht um viel mehr in diesem Roman, die Liebe spielt keinesfalls die Hauptrolle, und wenn Böll das anders sieht, dann hat er das Grandiose in seinem Werk ungewollt und unbewusst geschaffen. – Was ja nicht weiter stört beim Lesegenuss!

Schon der Buchtitel spricht doch Bände: Es geht um Ansichten, also Subjektives, dem in der Regel andere Meinungen gegenüberstehen, was Streit bedeutet. Und es geht um einen Clown, eine komische Figur mithin, der immer auch Tragik anhängt, wo Lachen und Weinen zusammengehören, wie jeder weiß, der mal im Zirkus war. «Ich bin ein Clown», lässt Böll seinen Helden sagen, «und ich sammle Augenblicke». Und so ist es denn auch diese sehr spezielle Perspektive eines gesellschaftlichen Außenseiters, die entlarvend und anklagend zugleich ist und einem die Augen öffnet für die alltägliche Unmenschlichkeit, gestern wie heute, für das permanente Versagen Derjenigen, die Gottes Ebenbild sind, wie wir uns einreden lassen von der Bibel. Das ist Thema dieses Romans, nicht die Liebe zwischen Mann und Frau!

Fünfzig Jahre nach seinem Erscheinen ist Bölls Roman als hintersinnige Parabel auf die Gnadenlosigkeit der menschlichen Gesellschaft immer noch unvermindert gültig und nach wie vor ergreifend. Konformismus, Oberflächlichkeit, Scheinmoral, Heuchelei und Verlogenheit seiner Mitmenschen machen Bölls Protagonisten Hans Schnier, Clown von Beruf, wütend und angriffslustig, aber auch zutiefst melancholisch in einer Geschichte, die kein gutes Ende nehmen kann, das merkt der Leser schon am Anfang sehr deutlich. In der Ich-Perspektive, mit einfachen Worten und ohne komplizierte Syntax erzählt, in wenigen Stunden eines einzigen Nachmittags sich ereignend, zeigt uns der Roman in vielen Rückblenden, oft in Form ausgedehnter innerer Monologe, die Geschichte einer nur wenige Jahre andauernden Beziehung zwischen Hans und seiner Marie, eine von ihrer Umgebung argwöhnisch betrachtete, außereheliche Liaison, gemischt konfessionell obendrein.

Als Roman, was die Rezeption anbelangt, leicht verständlich also, schwer verdaulich allerdings, was die Thematik betrifft. Denn es gelingt dem begnadeten Erzähler Böll, dass der Leser sich, ungewollt und unbewusst zunächst, mit seinem Protagonisten identifiziert, die gleiche Ohnmacht spürt wie er, genau so leidet an der Lieblosigkeit und Gedankenlosigkeit vieler Mitmenschen, am damals wie heute fragwürdigen Zeitgeist, am Tanz ums Goldene Kalb. Getroffene Hunde bellen, und so war denn der Aufschrei der Katholiken im Erscheinungsjahr 1963 entsprechend laut, denn jede Form von Doppelmoral, die ganze verlogene Religiosität entlarvt Böll äußerst gekonnt aus einer ironisch-sarkastischen Perspektive. Als kleines Beispiel sei der ehrwürdige, hochangesehene Prälat genannt, in dessen Haus gleich mehrere gestohlene Madonnen stehen. Und dass der Hund am Wahlplakat der CDU sein Bein hebt und nicht nebenan bei der SPD, das kann doch auch kein Zufall sein. Trotz aller Tragik gibt es also öfter Grund zum Schmunzeln für den Leser dieses grandiosen Romans. Wenn am Ende der Clown als bettelnder Straßenmusikant am Bahnhof sitzt, ist er nicht gescheitert, sondern ist er selbst geblieben, hat sich nicht verbiegen lassen, allen Widrigkeiten zum Trotz. Respekt, das muss ihm erst mal einer nachmachen!

Fazit: erstklassig

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Genre: Roman
Illustrated by dtv München

Mrs Dalloway

woolf-1Keine Angst

Selbst notorischen Büchermuffeln dürfte der Name dieser englischen Autorin geläufig sein, von dem Bühnenstück «Wer hat Angst vor Virginia Woolf?» nämlich, 1966 kongenial verfilmt mit Elizabeth Taylor und Richard Burton. Die Idee zu diesem Titel kam Edward Albee im Waschraum einer Bar, er hielt den graffitiartig auf einen Spiegel geschmierten Satz für einen Ulk, bei dem der gefürchtete Wolf aus dem Spottlied des englischen Märchens als Wortspiel durch den Namen der Schriftstellerin ersetzt wurde, – oder etwa, weil sie als schwieriges Studienobjekt bei den Literaturstudenten gefürchtet war? Anspruchsvoll jedenfalls ist auch ihr vierter Roman «Mrs Dalloway», der einen künstlerischen Höhepunkt im Œuvre dieser bedeutenden Autorin darstellt. Vor dem kontemplativ veranlagte, aufnahmefähige Leser aber keinesfalls Angst haben müssen, soviel vorab!

Virginia Woolf wird neben Gertrude Stein als berühmteste Autorin der klassischen Moderne angesehen. Sie hat in ihren Werken unermüdlich gegen das englische Spießertum angeschrieben, gegen den elitären Snobismus gehobener Kreise und die als zunehmend unerträglich empfundene gesellschaftliche Unterdrückung der Frauen. Zeitlich im Umbruch nach dem Ersten Weltkrieg angesiedelt, stimmungsmäßig der «Lost Generation» Pariser Prägung vergleichbar, diente beim vorliegenden Roman die literarisch interessierte Mäzenatin Lady Ottoline Morrell als Vorlage für die titelgebende Protagonistin Clarissa Dalloway. Mit der in diesem Roman von 1925 avantgardistisch benutzten, damals neuartigen Erzähltechnik des Bewusstseinsstroms gewährt Virginia Woolf einen tiefen Einblick in das Innerste ihrer Figuren, hier nun sehr konsequent großräumig eingesetzt als sprachliche Form, erlebte Rede und inneren Monolog einschließend. Aus dieser multiperspektivischen, vom Blickpunkt her willkürlich erscheinenden Erzählweise generiert sich letztendlich der eigentliche Plot, der auktoriale Erzähler selbst ist damit über weite Textabschnitte hinweg nicht mehr vernehmbar. Die stilistischen Parallelen zu dem drei Jahre vorher erschienenen «Ulysses» von James Joyce sind überdeutlich, und auch hier ereignet sich das gesamte Geschehen an einem einzigen Tage im Juni 1923. Als Tempus fugit- Symbol wird dabei leitmotivisch sehr wirkungsvoll immer wieder der Glockenschlag von Big Ben eingesetzt.

«Die Psyche des Menschen zu ergründen» sah Virginia Woolf als Aufgabe des Schriftstellers an, und so kreist ihr Roman, in dem sie sich Freuds neuartige Erkenntnisse der Psychoanalyse zunutze macht, um einige wenige Personen: Die 52jährige Clarissa Dalloway, eine Salondame der Oberschicht, Septimus Warren Smith, Kriegsveteran mit massiven posttraumatischen Störungen, der umtriebige Peter Walsh, nach fünf Jahren aus dem Kolonialdienst zurückgekehrter, ehemaliger Verehrer von Clarissa, sowie ein völlig unfähiger Psychiater. Mit Letzterem laufen die Fäden der beiden losen Handlungsstränge am Ende zusammen, auf jener Abendgesellschaft, deren Gastgeberin Clarissa ist und um deren Gelingen sich letztendlich alles dreht für sie. Was geschieht in diesem Roman, das erfahren wir zu großen Teilen nur durch den Gedankenfluss des jeweils im Fokus stehenden Protagonisten, entsprechend sprunghaft ist das Erzählte denn auch, ohne allerdings jemals unverständlich zu bleiben, wenn man denn den Text aufmerksam liest.

So ereignisarm dieser Plot um die beginnende Vereinsamung des Menschen in der modernen Massengesellschaft auch erscheint, so reich ist die Gedankenfülle, die da vor dem Leser ausgebreitet wird in Tausenden von Bildern, die breitgefächert Assoziationen auslösen, Gefühle wachrufen, Einblicke gewähren, Reflexionen anregen. Virginia Woolfs Sprache scheint anspruchsvoll, – ist aber keineswegs artifiziell -, mit zum Teil ausgedehnten Satzkonstruktionen, denen zu folgen dank gut durchdachtem, klarem Aufbau jedoch stets gelingt. Trotz seiner Kürze ein großer, ein grandioser Roman der Weltliteratur, den zu lesen man nicht versäumen sollte.

Fazit: erstklassig

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Genre: Roman
Illustrated by Fischer Taschenbuch Frankfurt am Main

Stadt aus Glas

auster-1Spurensuche

Der amerikanische Schriftsteller Paul Auster wird als typischer Vertreter des Postmodernismus angesehen, er benutzt eine Erzählstruktur, die collageartig reale und fiktionale Elemente zu einer neuartigen epischen Form zusammenfügt. Dabei wird die gängige Erwartung des Lesers auf Stetigkeit und lückenlosen Zusammenhang bewusst konterkariert, wofür der Roman «Stadt aus Glas», erster Teil der New-York-Trilogie dieses Autors, als ein gelungenes Beispiel gelten kann. Die darin anzutreffende Diskontinuität verweist auf irrational erscheinende Realitäten, denen das Individuum in der modernen Massengesellschaft oft ratlos gegenübersteht, an denen es nicht selten ja auch scheitert.

Schon im zweiten Satz des Romans kommt der unter Pseudonym schreibende Krimiautor und Protagonist Daniel Quinn zu dem Schluss, «nichts ist wirklich außer dem Zufall». So eingestimmt wundert sich der Leser dann kaum noch, als ein nächtlicher Anrufer Quinn beharrlich für den Privatdetektiv Paul Auster hält, er lässt sich nach anfänglichem Zögern unter diesem falschen Namen sogar als Detektiv engagieren. Der Autor erzeugt von den ersten Seiten an einen erzählerischen Sog, wie er sonst oft nur in guten Detektivromanen zu finden ist, man mag das Buch nicht zur Seite legen, bevor man nicht weiß, wie diese mysteriöse Geschichte endet, wo die Fäden des Plots zusammenlaufen. Genau damit aber werden die Leser auf den Leim geführt, vieles nämlich ist irrelevant, man wird bewusst auf falsche Fährten gesetzt. Der spannend erzählte Roman folgt also nicht den konventionellen, sprich rationalen Handlungsmustern und liefert schon gar nicht ein logisches Ende, geschweige denn eine Katharsis.

Was Auster stattdessen liefert ist ein nach bester amerikanischer Erzähltradition verfasster, flüssig zu lesender Roman, der äußerst komprimiert eine Fülle von Themen anreißt und en passant so manches Wissenswerte vermittelt. Detailliert wird die Kaspar-Hauser-Thematik beleuchtet, die eine lange Vorgeschichte aufweist bis in die Antike hinein, sie bildet hier im Roman den Kern der Story. In einem makabren Experiment auf der Suche nach der Ursprache hat ein psychopathischer Professor den eigenen Sohn als Studienobjekt missbraucht, ein beklemmendes Zeugnis davon ist der seitenlange Monolog des Opfers Peter Stillman junior. Quinn folgt vielen Spuren, stellt Hypothesen auf und verwirft sie wieder, kritzelt sein rotes Notizbuch voll mit akribisch gesammelten Details. Der von ihm observierte Professor scheint mit seinen endlosen Spaziergängen durch ein genau umrissenes New Yorker Viertel – zeichnet man diese Wege im Stadtplan nach – Buchstaben zu bilden, die auf den Turmbau zu Babel hinweisen. Und schon ist die babylonische Sprachverwirrung Thema, man befindet sich mitten in der Genesis. Die Initialen von Daniel Quinn sind identisch mit denen seiner literarischen Lieblingsfigur Don Quichotte, beide verbindet aber vor allem der aberwitzige Kampf gegen eine fiktive Bedrohung. Der labyrinthische Moloch New York dient hier als Spiegel einer gegen Ende kafkaesk erscheinenden Geschichte, deren einsamer Held an seiner eigenen Identitätskrise zerbricht, sich quasi auflöst, eine gelungene Parabel auf das moderne Leben und ein Sujet, das prompt einen munteren Wettstreit nach plausiblen Interpretationen initiiert hat.

All das ist eingebunden in ein faszinierendes Spiel mit namensgleichen Figuren, Initialen, Verwechslungen, mit einem Schriftsteller Paul Auster, der persönlich auftritt, ohne wirklich etwas beitragen zu können, und einem fiktiven Autor, der das rote Notizbuch des spurlos verschwundenen Helden als Stoffquelle für seinen Roman hernimmt. «Was Auster angeht, bin ich überzeugt, dass er sich in der ganzen Sache schlecht benommen hat», heißt es am Schluss. Und über Quinn: «Er wird immer bei mir sein. Und wohin immer er verschwunden sein mag, ich wünsche ihm Glück». Genau das ist dem interpretierenden Leser dieses surrealen Romans ebenfalls zu wünschen.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Süddeutsche Zeitung München

Verlorene Illusionen

balzac-1Vom Scheitern

In dem gewaltigen Zyklus «Die menschliche Komödie» von Honoré de Balzac, der von den geplanten 137 Romanen und Erzählungen «nur» 91 Werke fertig stellen konnte, ist der 1843 erstmals in einem Band herausgegebene, dreiteilige Roman «Verlorene Illusionen» das umfangreichste und wohl auch schönste Werk. Die vorliegende Neuübersetzung von Melanie Walz macht die Lektüre dieses im Stil des literarischen Realismus erzählten, grandiosen Gesellschaftsromans sprachlich zu einem Leseerlebnis besonderer Art, ist es ihr doch gelungen, den vor etwa 180 Jahren geschriebenen, anspruchsvollen altfranzösischen Text in ein flüssig zu lesendes, modernes Deutsch zu transferieren. Gleichwohl wird dem Leser volle Aufmerksamkeit abverlangt in diesem großangelegten Sittengemälde, sowohl was die gewaltige Zahl an Figuren anbelangt als auch das adäquate Milieu, der uns Heutigen unbekannte Erfahrungshintergrund der damaligen Epoche, insbesondere in Hinblick auf die politischen, sozialen, wirtschaftlichen und künstlerischen Gegebenheiten im Frankreich der ersten Hälfte des 19ten Jahrhunderts. Hilfreich dabei sind die Vorworte aus Balzacs Feder zu den ursprünglich drei einzelnen Bänden sowie insbesondere ein umfangreicher Anhang, in dem neben einem kenntnisreichen Nachwort der Übersetzerin vor allem deren umfangreiche Anmerkungen zum Text mir unabdingbar erscheinen zum tieferen Verständnis des vielschichtigen Geschehens.

Julien Chardon, ein auffallend schöner junger Mann, der sich für einen großen Dichter hält, wird von Madame de Bargeton protegiert, unumstrittene Grande Dame der Salons in der Provinzstadt Angoulême. Als sie mit ihm nach Paris geht, schämt sie sich dort plötzlich seiner Armut und Provinzialität wegen und überlässt ihn einfach sich selbst. Es gelingt Julien, sich in der Boheme der französischen Metropole als Journalist nach oben zu arbeiten, in die Gesellschaft eingeführt zu werden. Eine schöne Schauspielerin wird seine Mätresse, er lebt in Saus und Braus, bekommt aber schon bald Missgunst und Neid zu spüren und gelangt in einen finanziellen Abwärtsstrudel, dem er auch durch Glücksspiel und, als letzte Rettung, das Fälschen dreier Wechsel auf seinen Freund Daniel Séchard nicht entkommt. Er flüchtet aus Paris und kehrt nach Angoulême zurück. Daniel, der Juliens Schwester geheiratet hat, arbeitet dort verbissen an einer Erfindung zur Papierherstellung und vernachlässigt sträflich seine Druckerei, er bringt sich damit letztendlich in den Ruin. Die bei Fälligkeit präsentierten Wechsel kann er nicht einlösen und landet schließlich im Gefängnis. Julien als Schuldiger an diesem Unglück will sich daraufhin das Leben nehmen, trifft aber auf der Landstraße einen geheimnisvollen spanischen Abbé, der ihn von seinem Vorhaben abbringt. Er gibt ihm sogar das Geld für Daniel, mit dem der sich von allen seinen Schulden befreien kann, und macht ihn zu seinem Sekretär unter der Bedingung, dass er ihm blind gehorchen müsse, wofür er ihm in Paris eine glänzende Karriere ermöglichen werde.

Es sind in der Tat viele Illusionen, die Balzac als auktorialer Erzähler in seinem Roman platzen lässt. Er führt seine vielen überaus lebensvollen Figuren zielstrebig durch eine weit ausholende Handlung, immer mit dem Ziel, die Usancen und Hintergründe der vornehmen Gesellschaft und des korrupten Literaturbetriebs sowie der Theaterwelt seiner Zeit detailliert und so realistisch wie möglich darzustellen. Insoweit handelt es sich bei seinem Werk auch um ein wichtiges Dokument der Zeitgeschichte. Dünkel und Hochmut, Missgunst, Neid und Hass sind Auslöser absolut skrupelloser Ränkespiele und korrupter Machenschaften in dieser Erzählung, dem Sieg des Bösen stehen nur wenige ins Positive weisende Lebenslinien gegenüber, ein fürwahr pessimistisches Menschenbild, das Balzac da entworfen hat. Wer sich die Zeit nimmt, genüsslich in diesen Kosmos einzutauchen, dem stehen viele anregende Lesestunden bevor mit einem Klassiker der Weltliteratur.

Fazit: erstklassig

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Genre: Roman
Illustrated by Hanser

Suite française

nemirovsky-2Ein literarischer Live-Mitschnitt

Dieses posthum, mehr als sechzig Jahre nach dem Tode der jüdischen Autorin erstmals veröffentlichte Romanfragment wurde in Frankreich als literarische Sensation gefeiert, was erstaunlich ist, wird doch die «Grande Nation» darin alles andere als ruhmreich beschrieben. Irène Némirovsky lebte als russische Exilantin und Schriftstellerin in Paris, wo ihr 1929 mit dem Roman «David Golder» der Durchbruch als Autorin gelang. Ihr Opus magnum «Suite française» blieb unvollendet, fertig wurden nur die ersten beiden Teile des fünfteilig angelegten Epos über den Zweiten Weltkrieg aus französischer Sicht. Wie man ihren im umfangreichen Anhang des Buches abgedruckten Notizen entnehmen kann, hatte sie dabei durchaus auch Tolstois «Krieg und Frieden» im Blick, wobei sie ihren Roman allerdings als zeitnah entstehende und damit bestmöglich authentische Erzählung nicht im Nachhinein, sondern quasi als Live-Mitschnitt niederschreiben wollte. Sie arbeitete bis unmittelbar vor ihrer Verhaftung am 13. Juli 1942 an ihrem Manuskript, einen Monat später starb sie in Auschwitz.

Der erste Teil des Romans mit dem Titel «Sturm im Juni» behandelt den bevorstehenden Einmarsch der deutschen Truppen 1940 in Paris. In Panik fliehen viele Franzosen Richtung Süden, wobei auf den heillos verstopften Fluchtwegen schließlich niemand mehr voran kommt, alles im Chaos versinkt. Némirovsky baut hier ein umfangreiches Figurenkabinett auf mit den verschiedensten Charakteren, die sie kapitelweise abwechselnd in etlichen parallel verlaufenden Strängen der Handlung auftreten lässt. Sie schafft damit ein großformatiges Panorama der französischen Gesellschaft, dargestellt speziell unter den moralischen Aspekten einer Ausnahmesituation wie der des Krieges. Vom einfachen Bauern über die verschiedenen Schichten der Bourgeoisie bis in höchste Kreise der Regierung hinein zeigen die Menschen ihr wahres Ich, sind Feiglinge oder Helden, Aufrechte oder Lumpen, der Exodus entlarvt allenthalben böse charakterliche Mängel. Und auch historische Gesichtspunkte sind im Spiel, wie man ihren Notizen entnehmen kann: «Niemand wird wissen, wie es zugegangen ist, es wird um alles eine solche Verschwörung aus Lügen geben, dass man daraus wieder einmal eine glorreiche Episode der französischen Geschichte machen wird».

Unter dem Titel «Dolce» wird im zweiten Teil, ein Jahr später, im Sommer 1941, die Okkupation im Dörfchen Bussy beschrieben, wobei die von General de Gaulle denn auch prompt heroisch verklärte Résistance der Franzosen hier von der Autorin als kleinmütiges Wegducken, als bloßes Ignorieren und ängstlich verborgenes Verachten der deutschen Besatzer dargestellt wird, die man bauernschlau übervorteilt, wo immer es geht. Insgeheim, zuweilen auch offen, bewundert man aber die einquartierten Soldaten, sie werden als korrekte, nette und oft auch gebildete Männer geschildert, mit denen man bald schon gute Kontakte hat, mehr noch, es entstehen natürlich auch zarte Liebesbande. Mit der Kriegserklärung gegen Russland endet dieser Teil dann ziemlich abrupt, alle deutschen Soldaten werden an die neue Front verlegt.

Dieser unter allen literarischen Aspekten großartige Roman ist ebenso aufwühlend wie das Schicksal der Autorin selbst, die ihren Tod voraussah, obwohl sie das Thema Judenverfolgung mit keiner Silbe erwähnt. «Gefangenschaft», «Schlachten» und «Frieden» sollten die drei folgenden Teile betitelt werden, wie wir aus ihren Notizen wissen, und dort sind auch ihre Überlegungen nachzulesen, wie sie die Fäden der Handlung zu verknüpfen gedachte, alles natürlich unter dem Vorbehalt der realen Entwicklung. Ein grandioses Werk zweifellos, die ergänzenden Informationen über seine Entstehung, die abenteuerliche Wiederentdeckung und seine Schöpferin aber machen es einzigartig.

Fazit: erstklassig

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Genre: Roman
Illustrated by Knaus München

Rot und Schwarz

stendhal-1To the happy few

Der zweite Roman von Henri Beyle, des unter dem Pseudonym Stendhal schreibenden französischen Schriftstellers, wird in Fachkreisen als sein Meisterwerk und als ein Klassiker der Weltliteratur angesehen. Der suggestive Titel «Rot und Schwarz» dieses 1830 erschienenen Prosawerkes, das zeitlich in einigen wenigen Jahren davor angesiedelt ist, spielt mutmaßlich auf die damalige politische Situation in Frankreich an, die Zeit nach Napoleon zwischen Restauration und Julirevolution, wird aber auch als Symbol für die Gegenpole Militär und Klerus gedeutet, bei denen sich der noch unentschlossene junge Protagonist eine Laufbahn erhofft, die ihn aus der Bedrückung seines niederen gesellschaftlichen Status befreit.

Julien Sorel, feinsinnig, intelligent, außergewöhnlich gut aussehend, – sein Vater besitzt eine Sägemühle, für die sich der Sohn so gar nicht eignet, – beschließt als 14Jähriger, das Priesterseminar zu besuchen. Darin wird er bestärkt und jahrelang gefördert vom Priester des Provinzortes in der Franche-Comté, durch dessen Protektion er später eine gutbezahlte Stelle als Hauslehrer beim Bürgermeister, Monsieur de Rênal erlangt. Er beginnt eine Affäre mit dessen Ehefrau, durch ein in ihn verliebtes Hausmädchen wird der Ehebruch im Ort bekannt, Julien flüchtet nach Besançon ins Priesterseminar. Er wird schnell Protegé von dessen Leiter, und als der wegen interner Querelen das Seminar verlässt, vermittelt er Julien eine Anstellung als Sekretär des Marquis de la Mole in Paris. Schnell gewinnt er das Vertrauen seines Dienstherrn und wird in die Salons der Metropole eingeführt, wo er einflussreiche Adelige kennenlernt. Als sich nach einiger Zeit Mathilde, die schöne und launenhafte Tochter des Marquis, in ihn verliebt und ihm dies in einem Liebesbrief gesteht, bleibt er abweisend, befürchtet eine Falle, die ihn kompromittieren soll. Juliens Desinteresse reizt Mathildes Eitelkeit, allmählich finden die Beiden doch zueinander trotz aller gesellschaftlichen Unterschiede. Mathilde wird schließlich schwanger, bei Nachforschungen ihres den Skandal fürchtenden Vaters stellt Madame de Rênal, seine einstige Geliebte, Julien in einem Brief als Frauenheld dar, der es nur auf das Geld reicher Frauen abgesehen habe. Außer sich vor Zorn über diese Verleumdung, die mit einem Schlag alle seine Pläne zerstört, schießt Julien in der Kirche auf sie, verletzt sie aber nur, und landet im Gefängnis. In einem fein ausbalancierten Schluss, die Figuren psychologisch geradezu sezierend, kämpfen beide Frauen aus ganz unterschiedlichen Motiven um seine Freiheit, er selbst hingegen hält sich unbeirrt für schuldig.

Stendhal versucht in seinem Roman nachzuweisen, dass es die Eitelkeit ist, welche die Menschen ins Unglück stürzt. Juliens Aufstieg in die bessere Gesellschaft muss, anders als in der napoleonischen Epoche, während der Restauration am Standesdünkel scheitern, aber auch an der Angst des Adels vor einem neuen Danton, den Mathilde in Julien schon zu erkennen glaubt, was ihre Schwärmerei für den aufstrebenden jungen Mann erklärt. Die Jagd nach Geld, Einfluss und Posten macht aus den handelnden Figuren allesamt eiskalte Heuchler, die aus nüchternem Kalkül niemals sagen, was sie denken, und das gilt uneingeschränkt auch für den gesamten Klerus. Als Vertreter des Realismus schildert der Autor das Geschehen, der Psyche seiner Protagonisten folgend, nüchtern, lakonisch, zuweilen auch desillusionierend und enthält sich, nur auf seine Figuren fokussiert, aller romantisierenden Beschreibungen seiner Szenen, man findet folglich auch kein Wort über Paris.

Allein die sprachlichen Qualitäten dieses großen Romans empfehlen ihn unbedingt zur Lektüre, aber auch als Sittengemälde und psychologische Studie zweier ziemlich konträrer Liebesaffären hat er mich sehr gefesselt. Stendhal hat seinen Roman den «happy few», den wenigen Glücklichen gewidmet, nach der Lektüre von «Rot und Schwarz» gibt es davon sicherlich schon wieder einige mehr.

Fazit: erstklassig

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Genre: Roman
Illustrated by Hanser

Aus dem Leben eines Fauns

schmidt-2Heilitler, Herr Düring

Schon der Titel des Kurzromans «Aus dem Leben eines Fauns» von 1953 weist deutlich auf das Wesen seines Protagonisten hin. Der dem Autor Arno Schmidt in vielem ähnelnde Ich-Erzähler flüchtet aus der Öde seines langweiligen Beamtenalltags, der Trostlosigkeit seiner familiären Situation und den zutiefst verachteten politischen Verhältnissen in eine entlegene Einsamkeit, wo er faunisch, als lüsterner Waldgeist, ein von allen Zwängen befreites Doppelleben genießt. Der dreiteilig aufgebaute Roman, in der NS-Zeit angesiedelt, beleuchtet das Bürgertum in typischen Phasen dieser verhängnisvollen geschichtlichen Epoche aus einem ganz speziellen Blickwinkel. Dem des kritischen, aber nicht rebellierenden Intellektuellen nämlich, der seinen Rückzugsraum in der inneren Emigration findet.

Im mit «Februar 1939» überschriebenen ersten Teil wird Heinrich Düring als gebildeter Beamter geschildert, der im Landratsamt von Fallingbostel einer ihn deutlich unterfordernden Beschäftigung nachgeht. Im Privaten findet er keinen Ausgleich, seine Frau weist ihn sexuell ab, der Sohn schließt sich, provokativ ihm gegenüber, der Hitlerjugend an, die pubertierende Tochter bleibt ihm fremd. Er findet seinen Ausgleich in der Natur, unermüdlich die geliebte Heidelandschaft durchstreifend, außerdem in der Beschäftigung mit alter Literatur, die ihm als geistige Fluchtburg aus der realen Welt dient. Dabei erweist er sich als glühender Verehrer Wielands, hebt aber auch Ludwig Tieck Prosa heraus: «Und wie steifbeinig-altklug dagegen Goethes ‚anständige’ Geheimratsprosa: der hat nie eine Ahnung davon gehabt, dass Prosa eine Kunstform sein könnte». Als ihn der Landrat mit der Errichtung eines Kreisarchivs betraut, kann er der Ödnis seines Berufslebens nun wenigstens zeitweise entfliehen.

Im zweiten Teil «Mai/August 1939» stürzt er sich begeistert in die Arbeit, lebt regelrecht auf dabei. Besonders fasziniert ihn die Geschichte eines Deserteurs aus dem Deutsch-Französischen Krieg, der jahrelang versteckt im Moor gelebt haben muss, ohne dass man ihn ergreifen konnte. Zufällig entdeckt er dessen Hütte und errichtet dort sein Refugium, das zum Liebesnest wird, als die Nachbarstochter sein Liebchen wird. Den nahen Krieg richtig einschätzend hebt er schließlich all sein Geld vom Konto ab und deckt sich mit Dingen ein, von denen er aus dem Ersten Weltkrieg weiß, dass sie schon bald kaum noch zu haben sein werden. Nach dem Zeitsprung zum dritten Teil «August/September 1944» werden seine Vermutungen bestätigt, man lebt in bitterer Not, wobei schließlich die hartnäckig verkündeten Endsieg-Phrasen in einer Art Autodafé widerlegt werden, bei dem die benachbarte Munitionsfabrik im Bombenhagel zerstört wird. Die mich unwillkürlich an Picassos berühmtes Guernika-Gemälde erinnernde Schilderung des Infernos aus Bomben und explodierender Fabrik ist in seiner drastischen Ausformung kaum zu überbieten, der zweifellos stärkste, aber natürlich auch am meisten schockierende Teil dieses Romans.

Schmid hat von Pointillier-Technik gesprochen bei seiner expressionistischen Erzählweise, die aus aneinander gereihten, im Layout deutlich erkennbaren kurzen Textschnipseln bestehend den Leser ständig zum ergänzenden Mitdenken zwingt. Über weite Teile als innerer Monolog angelegt, spiegeln die Textfragmente die menschliche Denkweise wider; sein Leben sei «kein Kontinuum», lässt Düring den Leser gleich auf der ersten Seite wissen. In seinen Reflexionen formuliert er vehement, oft auch polemisch, seine Antipathien gegen Religion, NS-Regime, Übervölkerung, vermeintlich schlechte Literatur; aber auch gegen bergige Landschaften, die seinem Flachland-Ideal widersprechen. Der überbordende Wortwitz von Arno Schmidt wird von unzähligen kreativen Neubildungen jenseits aller Dudenregeln noch übertroffen, oft auch verballhornt im Argot des Alltags, «Heilitler» heißt die Grußformel dann. Eine ungemein bereichernde Lektüre mithin, für denkfreudige Leser geradezu ein Muss!

Fazit: erstklassig

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Genre: Roman
Illustrated by Fischer Taschenbuch Frankfurt am Main

Alle Namen

saramago-1Eine Parabel auf uns alle

«Jemand musste Josef K. verleumdet haben» lautet der erste Satz in dem berühmten Roman ‚Der Prozess’ von Franz Kafka. Jemand musste mir das falsche Buch untergeschoben haben, ging es mir unwillkürlich durch den Kopf nach einigen wenigen Sätzen von José Saramago. Die Schilderung einer völlig absurden Bürokratie an einem anonym bleibenden Schauplatz war dann aber auch die einzige Gemeinsamkeit beider Romane. Im Gegensatz zu Kafkas lakonischer und bedrohlich klingender, unheimlich wirkender Prosa nämlich, die ja häufig mit dem gattungsprägenden und sogar dudenwürdigen Attribut kafkaesk umschrieben wird, – welche Ehre für einen Dichter! – im Gegensatz dazu also ist der Schreibstil von José Saramago regelrecht anheimelnd, darüber hinaus aber vor allem äußerst witzig und von einer immer wieder zum Nachdenken anregenden philosophischen Tiefe. Diesem Romancier ist zu Recht der Nobelpreis von 1998 für ein Gesamtwerk verliehen worden, »dessen von Fantasie, Leidenschaft und Ironie geprägte Parabeln den Menschen die trügerische Wirklichkeit begreifen lassen«, wie die Jury es formuliert hat. ‚Alle Namen’ ist eine Lektüre, bei der man sich pudelwohl fühlt, laut lacht und weitersuchend sinniert, und so was kann regelrecht süchtig machen. Leserherz, was begehrst du mehr?

Im Unterschied zu anderen großen Autoren aus dem iberischen Sprachraum wie Gabriel García Márques oder Mario Vargas Llosa verzichtet Saramago in seinem Roman auf jedwedes Lokalkolorit und verdeutlich damit recht drastisch, dass sein Thema alle Menschen betrifft, egal wo sie leben. Was ist der Mensch vor dem Hintergrund der ewig verrinnenden Zeit, so lautet ganz lapidar seine Frage. Aus Sicht der Bürokratie, in der Welt des Personenstandsregisters, nichts weiter als eine Abfolge von Geburt und Tod, ergänzt durch Heirat und zuweilen auch Scheidung, die ja ebenfalls dazu gehört. Mit diesen wenigen Daten ist Senhor José, der Held dieser satirischen Geschichte, als Amtsschreiber in seiner aberwitzigen Behörde befasst. Jeder Mensch ist dort eine Karteikarte, die seinen Namen trägt und die nach Namen sortiert verwahrt wird, getrennt nach Lebenden und Toten, und das seit undenklichen Zeiten. In diesem Register wird nichts gelöscht, werden keine Karteien vernichtet, es enthält also alle Namen, und genau das ist auch die erklärte Devise dieser Behörde, die sich im Romantitel wiederfindet. Zwangsläufig wächst das monströse Archiv unaufhaltsam immer weiter, was zu einer permanenten baulichen Erweiterung des Amtsgebäudes zwingt. Als sich ein Heraldikforscher irgendwann in dem riesigen labyrinthischen Papierlager der Toten verirrt und nur durch Zufall nach einer Woche noch lebend aufgefunden wird, ergeht der streng zu befolgende Diensterlass, das Archiv künftig nur noch mit dem Ariadnefaden gesichert zu betreten.

Der Roman ist gespickt voll von ähnlich skurrilen Einfällen des Autors, der immer wieder mit Metaphern und Symbolen virtuos seine philosophische Thematik verdeutlicht. Sr. José, der stille, pflichtbewusste Protagonist, durchbricht zaghaft seine strengen beruflichen Zwänge. Er widmet sich privatim einem Zufallsfund, der sich für ihn als Trouvaille, als glücklicher Fund erweist, die Karteikarte einer unbekannten, 36jährigen Frau nämlich. Seine Obsession, sie zu suchen, den leibhaftigen Menschen hinter dieser Karteikarte zu entdecken, verblüfft sogar ihn selbst. Der Leser erlebt diese wahnwitzige Suche als spannende Groteske mit einem durchaus überraschenden Ende. Alles das ist ein detektivisches Abenteuer für den unbeholfenen Sr. José, der sogar kriminelle Mittel einsetzt bei seiner verbissen verfolgten Mission. Durch die mannhafte Überwindung seiner drögen Alltagsroutine und seiner Ängste und Schwächen erhält sein armseliges Leben plötzlich einen Sinn, auch wenn das, was er tut, rational völlig sinnlos ist. Ist denn unser aller Leben ebenso sinnlos? Sind wir nichts als Namen auf Karteikarten, die irgendwann zerbröseln und zu Staub werden, die genau so zerfallen wie unser Leib, wenn er erstmal unter der Erde begraben liegt?

Saramago ist ein faszinierender Sprachkünstler, der ironisch, aber nicht zynisch, uns allen in diesem Roman den Spiegel vorhält. Dabei beraubt er mit seiner im Plauderton erzählten Satire manchen wohl auch einer trügerischen Hoffnung auf das Jenseits, entlarvt gedankenlos übernommene Dogmen und Kulte, wofür die Schäferszene auf dem wie eine Krake ausgewucherten Friedhof gegen Ende der Geschichte ein ganz wundervolles Beispiel ist. Ohne unseren Leib nämlich sind wir letztendlich alle – nur Namen.

Fazit: erstklassig

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Rowohlt