Peter Joseph Lenné: Eine Biographie

Das Buch wirkt klein und schlank und ist doch mehr als eine Biografie. Schon der Untertitel verrät: “Mit einer kurzen Geschichte des Landschaftsgartens von seinen englischen Vorbildern bis zum Volkspark.“ Und wir lernen nicht nur über Landschaftsgärten, wir sehen auch Lennés Rolle darin: „Durch ihn wird die Gartenrevolution zur Gartenevolution. Bei ihm beginnt der Übergang in die Moderne mit allen ihren Licht- und Schattenseiten.“ Die Entwicklungsepochen der Landschaftsplanungen werden mit denen der Literatur verglichen, da wird Lenné zum romantischen Gartenpoet, ist mal der Spätromantiker, meist einfach der Landschaftspoet.

Ohff berichtet von der Kindheit als Sohn des Hofgärtners von Brühl, seinen Ausbildungsstätten, etwa in München, der Arbeit in Wien und Paris, die Reisen. Von Hardenberg gelingt es 1816, den jungen Gärtnergesellen an den Preußischen Hof zu rufen.

Als Neuling muss er neben den Altvorderen bestehen, die barocke Schlossgärten für gottgegeben hielten, und da wollte ein Jüngling gerundete statt grader Wege planen, sogar Bäume fällen, wegen der besseren Aussicht! (Dit ham wa ja noch nie jemacht! Höre ich in Erinnerung eigener Tätigkeiten im Öffentlichen Dienst.)

Ohff glänzt nicht nur mit seinem Wissen über Garten- und Landschaftsplanung, er beschreibt Lennés Tricks im Umgang mit seinen Königen und auch mit seinen Kollegen. Lenné muss sich, über die Jahrzehnte, mehrmals auf neue Regenten einstellen. Er hat klare „Verschönerungspläne“ und will deren Umsetzung erreichen.

Er gestaltet die Landschaft, wissend, dass sie auf das menschliche Gemüt eine große Wirkung ausübt. Angestellt ist er als Beamter der preußischen Könige, aber er beginnt früh, über die Grenzen deren Schlossgärten hinaus, die Folgen der Verstädterung gerade für die nicht-adligen Menschen zu sehen, und er versucht, dem gegenzuwirken: Schon 1840 legt er seine „Projectirten Schmuck- und Grenzzüge von Berlin und seiner Umgebung“ vor. Tiergarten, Zoo, Humboldthain werden nach und nach, teils nach seinem Tode von seinen Schülern, umgesetzt. In Magdeburg, Köln und Dresden, um nur einige zu nennen, entstehen öffentlich zugängliche Gärten. Ein Kapitel des Buches heißt: Der Volkspark. Die Idee des Volksparks kommt aus England, später auch die Ballspiele, für die in den Parks Plätze geschaffen wurden.

Bei besonderen Gartenvorhaben kennt Ohff jedes Detail, als Beispiel mag das Projekt von Schloss und Park Babelsberg dienen, wo die übliche Rivalität zu Pückler auch mal zu dessen Obsiegen führte (was ich beim Besuch der Ausstellung vor einigen Jahren nicht verstanden hatte). Augusta, die Gattin des Hausherrn hatte viele, oft wechselnde Vorstellungen, mit denen Pückler, als „Homme de femme par exellence“ besser umgehen konnte als Lenné. Pückler, der selbstbewusste Aristokrat, machte sich zeitlebens gern über Lenné lustig. Schon der Name! Er kommt eigentlich, wie dessen Vorfahren, aus dem französisch sprachigen Belgien: Le nain, (der Zwerg) daraus macht Pückler „laine“ (Wolle).

Zwischendurch wird er als Mensch beschrieben, seine Treue zu „Fritzchen,“ seiner Ehefrau, zu seinen Gefährten, von denen einige zu Duzfreunden werden. Außerdem war er „Frühaufsteher, Weintrinker, mit einer Vorliebe zu Mosel und Rhein, Hundeliebhaber“ insgesamt ein geselliger Mensch, der dazu auch noch gerne sang. Und er unterstützte Arbeitervereinigungen, manche der späteren Tätigkeiten in Berlin, wo er „Buddelpeter“ genannt wurde, werden von Ohff als Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen beschrieben.

Nachdem der Prinzregent Wilhelm 1861 zum König gekrönt wurde, spielten Lennés Verschönerungspläne für die Entwicklung Berlin keine Rolle mehr, Berlin wurde immer mehr zur Steinwüste. Nach seinem Tod wurde Lenné auf dem Bornstedter Friedhof im Bereich des privaten Sello-Friedhofs mit anderen Gärtnern des preußischen Hofes begraben.

Für Lenné begannen die Ehrungen: Ehrendoktor in Breslau und viele andere. Und doch stecken in vielen seiner Werke noch seine „Verschönerungspläne“. „Als Schwärmer ein Praktikus und als Praktikus ein Schwärmer, vollendet er den klassischen Landschaftsgarten, zumindest auf dem Kontinent, und verwandelt ihn gleichzeitig zur Grün-Oase für den luft- und baumhungrigen Menschen der großen Städte.“ Das Buch endet mit einem Gedicht eines ehemaligen Gartendirektors, das Michael Seiler gewidmet ist. Hier die letzten Strophen:

„Laut Stadtplan läuft die Friedrich-Ebert-Straße

Exakt in Flucht der alten Hauptallee;

(hier stand vielleicht einmal die Marmorvase).

Auf Luftaufnahmen kurz nach dem ersten Schnee,

beziehungsweise in der Wachstumsphase,

erkennt man noch die Wege von Lenné.“

Abgerundet wird das Büchlein durch eine Auflistung der Jahreszahlen zur Entwicklung von Landschaftsgärten, denen seiner Biografie, einer Literaturliste und einem Personenregister.

 


Genre: Biographie, Gartenplanung in Berlin/Brandenburg, Volksparks
Illustrated by Jaron Verlag

Dahlienzauber

Das Buch war mein letzter Versuch, mich mit Dahlien zu versöhnen, und es hat funktioniert! Die Autorin hat in diesem kleinen Büchlein auf gut hundert Seiten nicht nur ihre Lieblingsdahlien vorgestellt, sondern auch Pflegeanleitungen gegeben, mit denen ich etwas anfangen kann.

Sie hat einen Blog über ihren Cottagegarten, mit vielen schönen Fotos, einige auch von Profis. Für das Buch wurden viele Dahlienblüten abgeschnitten, teils in Vasen präsentiert, aber auch mit anderen Blüten zusammen fotografiert, um zu zeigen, was gut passt und sich ergänzt.

Der Text beginnt mit der Herkunft aus Amerika, die Nationalblume Mexikos ist die Dahlie. Traditionell wurden alle Teile der Pflanze auch verspeist, bei uns wird dies nicht in dem Maße praktiziert, wie bei Kartoffeln, die ja auch von dort kommen. Inzwischen haben sie sich bei uns eingeführt, in Deutschland anfangs auch unter dem Namen Georgine. Sie wurden weiter gezüchtet, um die fünfzig Tausend Sorten gibt es. Sie sind nicht anfällig für Krankheiten, die ungefüllten auch Insekten freundlich, nur auf die Schnecken ist zu achten.

Nun komme ich zu meinem Verhältnis zu Dahlien:  Sie blühten schön und im Herbst hatte ich sie herausgenommen, kühl und trocken gelagert, dann im Frühling gut gewässert, eingepflanzt und immer weiter gewässert, bis…sie dann verfaulten.

Das war wohl mein Fehler, ich hätte sie nach dem Einpflanzen trocken halten sollen. In zwei Jahren war es so, dass von drei Pflanzen zwei verfaulten und nur eine blieb. Aber es gibt im Buch noch einen weiteren Vorschlag und als Ergebnis meiner Lektüre werde ich meine Dahlien in diesem Herbst nicht herausnehmen. Frau Stiller tut dies, da die Winter bei ihr in Bayern doch sehr kalt wären, aber sie berichtet auch von Erfahrungen in anderen Gegenden, wo es so, wie inzwischen hier in Berlin, nur wenige Frosttage gibt. Danach kann man sie in der Erde lassen, das Grün entfernen und mit mehreren Schichten zudecken, eine Plane drauf gegen zu viel Wasser und dann auf den Frühling hoffen. Diesen Winter wird es also drei kleine Hügelgräber geben bei uns im Garten.

Ein Schwerpunkt des Buches sind die Hauptfeinde, alle Schnecken, vor allem aber Nacktschnecken! Dazu gibt es Tipps, etwa abends Gemüseabfälle auf Schälchen herausstellen, um Schnecken zu locken.

Da auch sie beobachtete, dass Schnecken eher schwache, kränkliche Pflanzen angreifen, könnte man auch Opferpflanzen in die Nähe setzen, etwa Rittersporn, aber wer bringt das übers Herz?


Genre: Blumen, Gartendesign
Illustrated by Callwey

Der glückliche Horizont: Was uns Landschaft bedeutet

Dieses Buch Der glückliche Horizont: Was uns Landschaft bedeutet lese ich seit vielen Monaten mit wachsender Begeisterung: Es kommt mit einem breiten Wissen daher, mit vielschichtigen Beobachtungen und Reflexionen, immer neuen Aspekten, es ist kein Buch zum Auslesen. Die Kolumnen der Autorin über ihren Garten mit seinen vielen Gästen mag ich seit Langem. Nun kommt die Bewunderung für ihre Kenntnisse der Literatur zu Landschaften, in allen Epochen der Literatur, aber auch das naturwissenschaftliche und geschichtliche Wissen.

Wer hat alles zu Gärten geschrieben? Sorgfältig mit Textbeispielen zitiert werden antike Griechen, Shakespeare, Goethe, Schiller, Heine, auch Rosegger und viele mir Unbekannte. Schon im Vorwort werden wir, mit Hilfe von Tucholski auf den „Rhythmus der Landschaft“ hingewiesen, die die Dichter beobachtet, gefühlt und dann beschrieben haben. Und getröstet: „Allen Klagen, sogar allen menschlichen Zerstörungs-Anstrengungen zum Trotz hat die Landschaft um uns herum ihre Seele noch nicht verloren.“

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Genre: Garten, Landschaft
Illustrated by Kunstmann München

Gärten des Jahres 2023

Das Buch Gärten des Jahres 2023 ist das Ergebnis des jährlichen Wettbewerbes, fünfzig Gärten werden vorgestellt: der des Preisträgers, vier Gärten mit Anerkennungen und die restlichen 45 als Projekte. Die Texte sind von Frau Neubauer geschrieben, das Vorwort von Karl Ploberger, dem österreichischen Gartenjournalisten. Die Gärten kommen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz.

Außerdem gibt es einen Preis für den Fotografen Herrn Ferdinand Graf von Luckner, dessen Arbeitsweise vorgestellt wird: er erkundet einen Garten und meldet sich dann für den nächsten Tag an: einmal morgens um sechs und dann noch einmal am späten Abend, um Gärten im besten Lichte erscheinen zu lassen.

Alle Fotos in diesem Beitrag sind im Juli in meinem Garten aufgenommen worden.

Im Vorwort berichtet Herr Ploberger von seiner Gartenbiografie: als Jugendlicher wurde er Fan von Marie-Luise Kreuter und experimentierte im elterlichen „Biogarten“, später wird England sein Vorbild. Als er anfing, als Journalist über Gärten zu schreiben, sprach er nur noch vom Garteln (das ist österreichisch!), denn das deutsche Wort Gartenarbeit bringt die Freude nicht zum Ausdruck, die uns in den Garten lockt. Damit steht er nicht allein!

Gärten des Jahres 2023

Im Englischen heißt es „gardening“. Er hat alle Gärten dort besucht, viele mehrfach, über den Bio-Mustergarten vom (damals noch) Prinz Charles hat er eine TV-Sendung gemacht. Die königliche Gartengesellschaft (RHS) hat sich ganz auf biologisches Arbeiten umgestellt. Und er beobachtet viele Umstellungen in dieser Richtung. Sein Lieblingsgarten dort bleibt Great-Dixter.

Corona hat das Gärtnern beliebter gemacht, gerade junge Menschen begännen nun, mit Nutzgärten Erfahrungen zu sammeln, aber öfter noch setzt sich ist der Hang zum Pool durch, dazu später mehr …

Von den vorgestellten Gärten lädt der Garten in Stemwede-Levern zum Träumen ein. Die Planerin, Petra Hirsch, hatte 25 Jahre Zeit, um auf einem Acker ein Paradies zu planen, das dann von der Familie in Eigenarbeit geschaffen wurde. Und die Maßgabe war „nicht pflegeleicht“! Wie ging die Planerin vor? „Es müssen Räume geschaffen und mit Wegen erschlossen werden. Die Gartenlandschaft braucht Ausblicke innerhalb des Geländes, verborgene Plätze, die Inszenierung der Jahreszeiten. Der Garten muss sich mit Leben füllen und Lebensräume für eine artenreiche Tierwelt bieten.“ Die Fotos zeigen, dass es gelungen ist.

Ein anderer mit einer Anerkennung geehrte Garten ist eine Dachbegrünung in Berlin, gefördert durch das Programm 1000 grüne Dächer. Die abwechslungsreiche Bepflanzung erinnert an einen Präriegarten. Die Laudatorin hat in ihrer Begeisterung folgenden Satz zusammengestellt: „Eine Anlage zur Bewässerung der Flächen, Licht und eine Plastik zeigen, dass in diesem Garten auf einem Dach über Berlin Ästhetik, Natur, Freizeit, aber auch technische und praktische Aspekte eine sehr harmonische Verbindung eingegangen sind.“ Kann man das toppen?

In vielen Gärten wird entsiegelt, einmal gar ein verfallender Pool entfernt, alter Baumbestand erhalten. Neue Nutzgärten kommen kaum vor. Aber, was ist mit den Wasserflächen? In der Einleitung steht noch: „Ja, wir haben umgestaltet, Pool raus, Schwimmteich rein, Thujahecke weg, Wildsträucherhecke gepflanzt.“ Danach hatte ich dann das Gefühl, im falschen Buch zu lesen: Das Wort Pool wird zwar gemieden, nun sind es „Wassergärten“, gerne naturnah.

Hier einige Namen der Projekte: „Wasser-Fiesta“, „Einladung zum Schwimmen unter alten Essigbäumen“, mal wird im Apfelgarten geschwommen, mal im Vorgarten. „Tiefenentspannung im Wassergarten“ verspricht ein anderes Projekt.

Auf die in der Coronazeit gewachsene Sehnsucht der Besserverdienenden wird mit geeigneten Produkten reagiert. Was könnte man sonst schon mit „drei Söhnen“ im Sommer machen? Aber, wer schwimmt im Winter, und dann, wenn die Söhne in das Fridays for Future Alter kommen?

Ein Projektplaner reflektiert immerhin die gewachsene Wasserknappheit, „Burgblick am Wasser“ in Stollberg. Im Bild sehen wir eine Wasserfläche, die aus „Schwimmteich, Quelle und Naturteich“ besteht. Hier besteht die Aufgabe daran, das viele Wasser so abzuleiten, dass es innerhalb des Grundstücks versickert – „ein wichtiges Thema im Hinblick auf die Zunahme von Starkregen-Ereignissen im Zuge des Klimawandels.“ Dazu werden Steinblöcke platziert, an denen das Wasser abfließen kann. In vielen der prämierten Gärten in Alpennähe ist das Material, aus dem die Steinblöcke sind, ein wichtiges Kriterium.

Im Serviceteil gibt es viele Adressen, auch ein Register der Pflanzen. Und viel um das geeignete Zubehör zum Pool. Allerdings gibt es auch etwas für normal Verdienende: eine Pflanzen-App von Petra Pelz, die es ermöglicht, Pflanzkombinationen digital zu planen, mit Hinweisen auf Blühzeiten und -dauer. Man kann sie auf der Webseite petra-pelz.com lesen, einen Tag kostenlos probieren und für Auszubildende kostet sie € 10 im halben Jahr!


Genre: Gartendesign, Gartengestaltung
Illustrated by Callwey

Unser Deutschlandmärchen

Im Buch sprechen Dincer, Fatmas Sohn, und Fatma in Monologen über ihre Erlebnisse, ihre Sorgen und Nöte, ihre Träume und Hoffnungen. Dincer ist Fatmas große Hoffnung, was muss sie stolz gewesen sein, als er den Preis der Leipziger Buchmesse bekam! Bei der Preisverleihung, ich erinnerte mich, kam eine Frau mit auf die Bühne. Beim Lesen war ich mir sicher, dass das Fatma gewesen sein musste, als Mitautorin; aber es war seine Frau, stellvertretend für alle Frauen.

Dass Frauen in der Gesellschaft Unrecht geschieht, sagt uns auf der ersten Seite schon Hanife, Fatmas Mutter: „Es gibt in unserem Glauben eine Regel, die den Männerschwänzen dient: Ein obdachloses Weib zu behüten ist die Pflicht eines jeden Mannes. Die ersten Männer dieser Frauen waren im Krieg gefallen. Jetzt warteten hier die nächsten auf sie, mit ihren steifen Werkzeugen. Bekamen die Möglichkeit, das Gewissen ihrer Schwänze zu beruhigen.“

Auf gut 200 Seiten gibt es rund 60 Kapitel, bebildert mit Fotos der Familie, von 1962 bis 2022: da sitzt Fatma und Dincer steht neben ihr.

Fatmas Mutter wird, in Anatolien, früh Witwe, die beiden Brüder sind behindert, die Hoffnung der Familie liegt auf Fatma, also muss sie Yilmaz, „dem mit dem großen Kopf“, nach Deutschland folgen, als er um ihre Hand anhält. Das Leben dort ist schwer, am schlimmsten ist: Fatma muss über ein Jahrzehnt warten, bis sie schwanger wird, sie lässt kein ihr bekanntes Hilfsmittel aus, betet sogar zu Maria …

Da sie keine eigenen Kinder versorgt, bittet sie Yilmaz, ob sie arbeiten darf, und wird Fabrikarbeiterin (Akkordbrecherin!), und hat Nebenverdienste als Erntehelferin, die die Familie ernähren.

Als Yilmaz eine Kneipe aufmacht, putzt sie und unterstützt im Hintergrund. Aber die Kneipe bringt kaum Geld ein, denn die Kunden lassen anschreiben. Yilmaz ist ein liebenswerter Loser, der viele scheinbar gewinnbringende Ideen hat, die dann scheitern, der Schuldenberg wächst und Fatma arbeitet immer daran, ihn abzutragen. Aber: Als Dincer geboren ist, gibt es eine Woche lang Freigetränke, so hat es, da es nach ihm geht, zu sein.

Als der Vater zusammenbricht, wird die Kneipe geschlossen, die Schulden sollen gepfändet werden. In der größten Not kommt das Rettende in der Person von Herrn Hoeke, Richter am Amtsgericht. Er bekommt am nächsten Tag eine Vollmacht, regelt alles. Als er erfährt, dass Dincer schreibt, kommt er freitags „nach der Schicht“, liest alles, „bringt Bücher mit: Novalis, Rilke, Eichendorff, Fried, Lasker-Schüler. Bespricht mit mir alle Texte.“ Jahre später wird er anregen, „Dincer, deine Zeit kommt langsam, du musst vor Menschen lesen, die müssen deine Gedichte hören.“ Nach der Lesung in der Stadtbibliothek im Nettetal steht in der Westdeutschen Zeitung: „Jedes Jahr gibt Nettetal mit Martin Walser, Elke Heidenreich … an, wird das nicht langweilig? Endlich konnte man gestern Abend eine junge Stimme hören, die viel spannender klingt.“

Das Kapitel geht weiter: „Die Figur Hans Hoeke gibt dem schweigenden Märchen eine Hand, das Märchen beginnt, seine zukünftige Stimme zu suchen.“

Soweit der Plot. Ihn zu erfassen dauert etwas, in den vielen Kapiteln kommen einzelne Mosaiksteinchen. Das macht das Lesen zu einem spannenden Erlebnis, denn es besteht aus vielen Stimmen, in Lyrik und auch Prosa, die mit Offenheit und Zuversicht die Entwicklungen der Familie beschreibt.

Andere Stimmen sind in Anatolien zu hören, die der Eidechsen, Kräuter und der Steine. Und wie klingt Dincers Ablehnung bei seinen Arbeitskollegen? Da ist er, weil er Bücher liest, die Schwuchtel. Oder wie er als Arbeiter neben den StudentInnen in der Theatergruppe gesehen wird. Wie geht es der gut integrierten Gastarbeiterfamilie mit Solingen und Hanau?

Ausführlich beschrieben ist Dincers Abnabelungsprozess von Fatma, die lange hoffte, Dincer könnte als Mann ihre Enttäuschungen über Yilmaz heilen.

Besonders beeindruckt hat mich die Begegnung mit Bernd, „der Kollege, der immer die Gießformen auseinandergebaut hat.“ Er beglückwünscht ihn, dass er „den Sumpf“ hinter sich gelassen hat. Sumpf? Für ihn war es die Schule des Lebens, die ihn zu dem gemacht hat, was er heute ist. „Hätte ich mir damals diese robuste Art nicht zu eigen gemacht, wäre ich heute auch in der Theater- und Literaturszene verloren … Hab Jahre später Gedichte geschrieben und diese der Drehmaschine mit der Nummer 630, dem Schraubstock, der Bandsäge gewidmet.“

Und in der Danksagung kommen nach seinen Nächsten „alle, die mit Körperkraft und Schweißperlen auf der Stirn, mit Verstand und Gewissen versuchen, das Leben für sich und alle erträglicher zu gestalten.

Euer Dincer“


Genre: Frauenrechte, Gastarbeiter, Literatur als Elixier
Illustrated by mikrotext

Backlash – Die neue Gewalt gegen Frauen

Das Buch Backlash – Die neue Gewalt gegen Frauen beschreibt Gewalt gegen Frauen als eine neue Qualität, es sei keine Pendelbewegung, in dem Sinne, dass es nach Fortschritten auch immer Rückschritte gibt, sondern ein Paradox: Je mehr Rechte Frauen haben, umso mehr Hass und Gewalt entwickeln Männer ihnen gegenüber.

In zwölf Kapiteln werden Veränderungen beschrieben und Verbindungen zwischen diesen aufgezeigt. Es folgt eine mehrseitige Literaturauswahl. Zitiert wird nicht, was ich an einer Stelle vermisse, dazu später.

Es gibt eine globale Verbindung rechter Politiker:innen, (während ich dies schreibe, treffen sie sich in Ungarn; manche sind derzeit in der Opposition, wie die aus den USA, aus Europa Zemmour und Nigel Farange, andere haben kürzlich die Regierung übernommen). Die konservative Familienpolitik eint sie, und kürzlich hat der Papst in Budapest, wie zum Auftakt, die ungarische Familienpolitik gelobt. In Italien hat Giorgia Meloni das Ministerium für Gleichstellung und Familie in Ministerium für Familie, Geburtenrate und Gleichstellung umgewandelt.

Abtreibung ist in manchen Ländern wieder verboten, Grundlage sind fundamentalistische Vorstellungen bei Protestanten, vor allem weiße Männer wollen ihre Kontrolle zurück. „Take back Control“ heißen 2 Kapitel des Buches. Trump bedient dies. Die von ihm berufenen Richter des Supreme Court versuchen es, in einigen Staaten ist Abtreibung verboten. In North Carolina sind sie „Babyzide“ und Gewalt gegen abtreibende Frauen zulässig.

Ein weiterer Strang der Argumentation ist die Bedeutung des Internets für die Entwicklung der Identitäten: Anfang der 90er Jahre, also beim Aufkommen des Internets konnten Menschen sich der Illusion hingeben, ihr Geschlecht spielt keine Rolle, sie könnten sich einfach als jemand anderes geben

Diese spielerische Haltung wird durch biologistische Festlegungen gestört. Etwa, wenn gefordert wird, dass Amazon unter dem Titel Diversity Schauspieler:innen in Serien nur Rollen spielen dürfen, die sie auch im Leben haben, schwarz, trans oder queer.

Als Paradox entwickelte sich eine Kultur der Hater, in der Frauen wegen ihres Frauseins angegriffen werden, der Fall von Renate Künast ist eines der Beispiele. Kriminelle Handlungen im Netz werden selten geahndet, es überwiegt der Eindruck, das Internet sei ein rechtsfreier Raum. Daher die Forderung, „kriminelles Verhalten im Netz zu ent-normalisieren.“

Ein anderer Aspekt ist die Position einiger Feministinnen, nach denen Männer „per definitionem Täter (sind), einfach weil sie männlich sind, biologisch gesprochen. Jede Differenzierung geht hierbei verloren, etwa, dass eine männliche Sozialisation im Patriarchat bedeutet, dass mit dem Männlichkeitsideal auch Gewaltbereitschaft verbunden ist, weshalb Männer Gewalt ausüben… Bei Emma ist der Penis der Täter und nicht ein Mensch im System Patriarchat.“

Ein Schwerpunkt sind Schicksale einzelner Frauen, die von ihren Männern auf verschiedenste Weise unterjocht werden: eine Akademikerin, selbst Juristin, wird von ihrem Mann, einem Richter eingesperrt, und kann sich nicht befreien. Am Ende des Buches wird berichtet, dass sie als Einzige, im Gegensatz zu den anderen beschriebenen Frauen, es nicht geschafft hätte, sich aus der Beziehung zu lösen. Daraus entwickelt die Autorin die These, dass gerade in Akademikerehen Frauen zunehmend unterdrückt werden, hier hätte ich gerne eine Quelle!

Die Autorin besucht ein Frauenhaus und berichtet von den andauernden Schwierigkeiten, die den Frauen, meist sind es Mütter, über Jahre Lebenskraft rauben. Aber, immerhin, die Leiterin berichtet, dass Frauen früher öfter zurück in die toxische Beziehung gegangen, nun hätten sie seltener Illusionen.

Beunruhigt haben mich Berichte über Spycams, die Frauen beim Duschen, aber auch beim Toilettengang ausspionieren und dies als Porno verbreiten. Und, dass Jugendliche ihre ersten sexuellen Erfahrungen nach Anweisungen von Pornos einstudieren. Die Rolle der Frauen dabei: demütig werden, und darauf wartend, es besorgt zu bekommen …


Genre: Frauenhass, Männlichkeitswahn, Schwangerschaftsabbruch
Illustrated by Tropen Verlag

Beth Chattos Kiesgarten: Gärtnern auf trockenem Standort

Nachdem ich verstanden hatte, dass wir gerade hier, im Nordosten Deutschlands, mit immer weniger Wasser auskommen müssen, recherchierte ich in dieser Richtung und hörte immer öfter Beth Chattos Namen: auf der Jahrestagung der Gesellschaft zur Förderung der Gartenkultur 2022 und vorher schon bei N. Kühns Werk  zur modernen Staudenverwendung. Ein Kiesgarten ist etwas Anderes als ein Schottergarten, aber was genau?

Nun lese ich seit einigen Monaten immer wieder in diesem umfangreichen Werk und weiß, dass es sorgfältige Planung und umfassende Grabarbeiten voraussetzt. Auf engbedruckten knapp 200 Seiten beschreibt sie ihre Entwicklung als Gärtnerin, ihre Konzepte für Strukturen und Farbzusammenstellungen, warum und wie sie den Kiesgarten schuf und genieße die vielen Bilder der von ihr geschaffenen Farbzusammenstellungen.

Es erschien 2000 in England unter dem Titel Beth Chatto’s Gravel Garden, zu der vorliegenden deutschen Ausgabe von 2022 hat David Ward, ihr Chefgärtner, der die Arbeit seitdem weiterführte, das Vorwort geschrieben. Da fasst er die Richtschnur zusammen: den Wechsel der Blüten einplanen, auch berichtet er über weitere Entwicklungen.

Der Kiesgarten wurde 1991 angelegt, als sie über jahrzehntelange Erfahrungen verfügte, auch Bücher verfasst hatte. Sie beobachtete Pflanzen in ihrer natürlichen Umgebung, interessierte sich für die Soziologie der Pflanzen. Regelmäßig tauschte sie sich mit anderen Gärtnern aus, auch gerne mit Ernst Pagels, dem die oben erwähnte Jahrestagung 2022 gewidmet war. Irgendwo schreibt sie, dass sie nun nicht mehr selbst zupackt, sie dankt den Jüngeren, dass sie die körperlich schweren Arbeiten übernehmen, früher hatte sie diese gerne gemacht. Beim Nachrechnen stelle ich fest, dass sie beim Anlegen des Gartens schon Ende sechzig war, und, als das Buch erschien, Ende siebzig, so etwas beeindruckt mich als Gartenoma!

Sie „lernte, Pflanzengemeinschaften zu bilden, die die Blütezeit verlängern und Bilder ergeben, die uns das ganze Jahr über erfreuen.“ Dazu braucht es genaue Daten über den Boden, über die Niederschlagsmenge, und die Jahrzehnte der Erfahrung mit dieser Mangelsituation.

Das Buch ist in sechs Kapitel eingeteilt, die die Jahreszeiten beschreiben, drei davon im Sommer, und eines heißt: „Der kleine Kiesgarten“. Er wurde später angelegt, um kleinere Kostbarkeiten ins rechte Licht zu setzen, und ist etwa so groß wie ein Tennisplatz.

Bei der Beschreibung geht es mal um Farbkombinationen „Mit Goldfäden durchwirkt“, oder „Ein Dunstschleier aus Violett und Blau“, auch mal „Das Düngeprobleme der Natur“. Oder es werden Pflanzen vorgestellt, mal Sedum, mal die Fritillarien, oder die Euphorbien. Die liebt sie sehr, sie kommen auf vielen Fotos in großen Gruppen vor.

Bei den Strukturen setzt sie immer Senkrechtes und Horizontales in Beziehung zueinander, besonders beachtet sie die Farbzusammenstellungen beim Blühen und Vergehen. Beim Lesen fiel mir auf, dass ich schon lange nicht mehr in einem Frauengarten war, ich glaube, es gefiel mir so gut, weil sie auf die Dinge achtete, die Frauen besonders wichtig sind!

Manchmal fragen Besucher sie, was sie empfehlen würde, dann fragt sie genau nach der Bodenbeschaffenheit, dem Niederschlagsmittel bei ihnen. Und wenn diese andere Pflanzen ermöglichen (Rittersporn, Astern, Phlox!) dann würde sie lieber diese pflanzen. Sie hat aus der Not eine Tugend gemacht und dabei ein Kunstwerk geschaffen …


Genre: Gartendesign, Gartengestaltung
Illustrated by Verlag Eugen Ulmer

Mr. Loverman

Es ist das dritte Buch von Bernhardine Evaristo, das ich las. Hier stellt sie einen kleineren Kreis eng verflochtener Menschen vor, die in der westindischen Community in London leben. Jeder/m lässt sie ihre/seine Würde und Eigenheiten, Stärken und Schwächen. Neben den hier näher beschriebenen Protagonisten gilt das auch für die Töchter des Paares und den Geliebten Morris.

Am Anfang steht ein Spruch von James Baldwin, dass wir uns den Dingen stellen müssen, wenn wir sie ändern wollen.

Dazu ist der Protagonist, Barrington Jedidah Walker, Esq., erst mit Mitte Siebzig bereit. Nach einem halben Jahrhundert Ehe mit Carmel stellt er sich dem Wunsch, mit seiner Jugendliebe, Morris, zusammenzuziehen.

Das Buch beginnt in London im Mai 2010: Betrunken, und nach Zigarren stinkend, kommt er viel zu spät nach Hause, will sich unauffällig neben Carmel ins Bett schleichen, aber sie wacht auf und macht ihm, wie immer, eine Szene. Beim Einschlafen träumt er von seinem Geliebten. Das Kapitel endet mit dem Liebesgeständnis: von „meinem Morris-liebenden, süß verliebtem, blutvollen, glutvollen, bums fidelen, pochenden Ding von einem unbeherrscht, unentrinn-, unbezähmbar-männerliebenden Herz.“

Dann geht es ein halbes Jahrhundert zurück nach Antigua, wo die gerade angetraute Braut, stolz auf diesen schmucken Ehemann, sich in der Hochzeitsnacht etwas wundert, „er hat ihn nicht reingesteckt, hat sich nur an dir gerieben.“ Bestimmt nur deshalb, weil er ein echter Gentleman ist. So schön können Träume von Verliebten sein. Dabei wissen wir doch schon, wie es um das Paar bestellt ist.

Dann kommt wieder die Jetztzeit des Romans: Im Kapitel Die Kunst des Sonntagsessens kommt Morris zu Besuch, Carmel kann gut kochen, leider kommt sie nach der Kirche mit ihren Betschwestern und wir müssen deren Geschwätz ertragen, das in Teilen homophob ist.

So plätschert es dahin, wir wissen, dass sie immerhin zwei Töchter haben, einen Enkelsohn. Carmel hatte, schon in London, eine Ausbildung absolviert und in einer guten Stellung gearbeitet, sogar mal eine Affäre gehabt, (von der Barry aber nichts ahnt), aber nun sind ihre Betschwestern ihre Bezugspersonen.

Barry hatte immer nur Morris im Sinn, allerdings hat er gerne mit anderen Männern herumgemacht, und dafür auch kein Risiko gescheut. Er ist ein gebildeter Hedonist, hat über Abendschulen sein britisches Allgemeinwissen aufgebaut. Mit einem guten Riecher für Immobilien mit Gentrifizierungsprotenzial ist er sehr wohlhabend geworden – was würde Carmel wohl bei einer Scheidung für sich beanspruchen?

Der englische Text ist im westindischen Slang geschrieben, die Übersetzerin Tanja Handels verzichtet darauf, dies einzudeutschen, und einmal fragt Barry seinen Geliebten: „Wha rong wit yah, Morris?“ Obwohl ich die Bücher lieber auf Englisch lese, genieße ich die Übersetzungen von Barrys drolligen Sprüchen. Und manche Wörter habe ich gelernt, so sind Emanzen braburners.

Dass er Carmel in ihrer tiefen Frustration verachtet und als fett (diese hängenden Oberarme!) und trutschig abtut, stört mich, bis ich zum Schluss den Coup der Autorin genieße, indem sie es ihm heimzahlt, dass er ihr Leben zerstört hat.

Und bei den Gesprächen zwischen Morris und Barry geht es um die Entwicklung der Rechte homosexueller Menschen. Barry hält nichts vom „aufmerksamkeitsheischenden Gehabe dieser Schwulenbewegten.“ Morris geht da eher mit, könnte sich eine eingetragene Partnerschaft vorstellen.

Die letzten 70 Jahre haben Barry kein bisschen weise gemacht. Er ist ohnehin der Meinung, dass die Entwicklung der individuellen Persönlichkeit mit elf Jahren abgeschlossen ist. „Ich bin viel zu sehr daran gewöhnt, in meinem hausgemachten Gefängnis zu sitzen, Amtsrichter, Aufseher und armseliger Zellengenosse in einem.“ Bei so einem Mann war es dann kein Wunder, dass Carmel von seiner Homosexualität nichts ahnte.


Genre: Gesellschaftliche Veränderungen, Leben als Homosexuelle, Schwarze Community im UK
Illustrated by Tropen Verlag

Die Transgender-Frage: Ein Aufruf zu mehr Gerechtigkeit

Nach Lektüre (und Rezension bei Literaturzeitschrift.de) des Buches Material Girls von Kathleen Stock, der Transphobie nachgesagt wurde, wollte ich „Transphiles“ lesen, um meinen Horizont zu erweitern.

Das Buch verschafft einen Einblick in die Schwierigkeiten von Transmenschen und in die Debatten dazu, mit dem Schwerpunkt im UK, der Heimat der Autorin. In zehn Kapiteln werden verschiedene Aspekte abgearbeitet, die Quellenangaben sind eher Zeitungsberichte, kaum theoretische Beiträge. Das Patriarchat und der Kapitalismus werden durchgehend als Ursache des gemeinsamen Leids vieler Menschen benannt.

Auf über 300 Seiten werden Ereignisse und Begegnungen beschrieben. Beim Lesen lernen wir den Werdegang der Autorin kennen, die sich als privilegiert bezeichnet, da sie weiß ist, studieren konnte und von ihrer Familie in ihrem Wunsch, zu transitionieren, unterstützt wurde.

Im Kapitel Klassenkampf berichtet die Autorin über die Medien, und von ihren eigenen Anfängen als Journalistin: Sie hätte lieber längere Hintergrundartikel geschrieben, aber von ihr als geoutete Transfrau wollte man lieber persönliche Statements, von Banalem, etwa wie sie sich schminkt, so wie es auch anderen Frauen geht, auf deren Aufmachung mehr Wert gelegt wird, als auf Taten. So machte sie eher Interviews mit Betroffenen, was ihr den Zugang zu einer Fülle von Biografien verschaffte, die das Buch bereichern.

In Der Staat beschreibt sie den Zusammenhang zwischen Diktaturen und gezielter Diskriminierung, hier am Beispiel USA unter Trump und Ungarn. Trump hatte die gesundheitliche Versorgung von Transmenschen in der Armee ausgesetzt. Und fundamentalistische christliche Glaubensgemeinschaften erfreute er mit seinen Besuchen. Ein anderer Aspekt ist der hohe Anteil von Sexarbeitern unter Transmenschen, das Kapitel dazu heißt plakativ „Sex Sells“, es wird aber auch beschrieben, dass Prostitution für viele von ihnen zu den wenigen Möglichkeiten gehört, Geld zu verdienen.

Bei den anderen Gruppierungen, die unter dem Patriarchat leiden, hätte ich mir Konkreteres über ihre Lage, über ihre Klagen, oder Konzepte gewünscht, so las man nur, dass deren Positionen (meist aus moralischen Gründen) abzulehnen seien.

Um das Ausmaß der Leiden von Transmenschen zu ermessen, empfehle ich das Buch, als politische Strategieempfehlung oder „Aufruf zur Gerechtigkeit“ weniger, es fordert diese gezielt für Transmenschen, die anderen Minderheiten, die das Patriarchat unterdrückt, werden in Untergruppen sortiert.

So lese ich von einer Maya Forstater, der gekündigt worden sei, weil sie einen „transfeindlichen Tweet“ geschrieben hätte, den Frau Rowling unterstützt hätte. Was die beiden Transphobisches geschrieben haben, wird nicht benannt, ich muss im Internet nachlesen. Sie hatte in einem Tweet gemeint, das biologische Geschlecht sei eine Realität, und Frau Rowling, hatte sie unterstützt. Ist das ein Kündigungsgrund? Und weiter lese ich, dass sie in 2. Instanz den Prozess gegen den Arbeitgeber gewonnen hatte.

Wir Alt Achtundsechziger sind dafür, dass Freiheit die Freiheit der Andersdenkenden ist, wem gewähren woke Menschen Meinungsfreiheit?

Allerdings sehe ich, dass die Biografien der Transmenschen sehr vielfältig und divers sind, und sie, zu Recht, in ihrem Sosein verstanden werden wollen. Und warum sollte ich einer äußerlich männlich erscheinenden Transfrau nicht am Waschbecken beim Damenklo begegnen? Dann begegne ich auch endlich mal einem Transmenschen persönlich …


Genre: Gesellschaft, Transgender
Illustrated by ‎ hanserblau

Das Romanische Café

Dieses kleine Büchlein von knapp 150 Seiten hat es in sich: Géza von Cziffra hielt sich von 1923 bis 1933 regelmäßig im Romanischen Café auf, traf Gott und die Welt und sammelte Anekdoten. Das Namensregister umfasst bald 300 Einträge und die Seitenzahlen sind aufgelistet, wann die Personen auftraten, oder auch nur zitiert wurden: Shakespeare und Goethe sind dabei. Es erschien 1981, als der Autor über achtzig war und die Geschichte über diese Zeit hinweggegangen war, unter dem Titel „Die Kuh im Kaffeehaus“. So kann er Vergleiche mit der damaligen Jetztzeit anstellen, als es schon Groupies und Hippies gab.

Viele der Prominenten wurden vom Stammgast Emil Orlik porträtiert und bebildern das Büchlein. Ein Nachwort von Ingrid Feix rundet es ab.

Im R.C. gab es feste Tische, was der 23 Jahre alte von Cziffra nicht wusste, als er das erste Mal an einem leeren Tisch Platz nahm. Der Gast, der sich dazu setzte, fragte ihn, wessen Sohn er sei, und der aufgebrachte Kellner klärte ihn auf: „Das hier ist ein höchst reservierter Tisch! Setzen Sie sich bitte anderswohin.“ Später erfahren wir, dass der Stammgast des Malertisches Max Liebermann war. Und ich glaube nun, dass dieser richtig gut berlinern konnte, das hatte ich einem Spross aus großbürgerlichem Haus nie zugetraut. Von Cziffra wurde ja später Drehbuchautor und kann Dialoge. Die noch nicht arrivierten Maler saßen am Nichtschwimmertisch.

Am Tisch der Männer der Feder saßen Schriftsteller, tauschten sich aus, mal auch mit Wissenschaftlern, Einstein verkehrte hier, flirtete heftig, was ihm den Spitznamen „der relative Ehemann“ einbrachte. Mal bot er Zauberkunststücke dar, oder er erklärte die Relativitätstheorie: „Stellen Sie sich vor, Sie sitzen neben einer hübschen und geistreichen Frau, dann wird Ihnen diese Stunde wie eine Minute vorkommen. Sitzen sie aber mit dem nackten Hintern nur eine Sekunde auf einem heißen Ofen, so wird Ihnen die Zeit sicher wie eine Stunde vorkommen.“

Es geht um Freundschaften und Feindschaften, Bewunderung, Eitelkeiten, Eifersucht und Neid. Einmal droht ein Duell: Es ging um die Schauspielerin Elisabeth Bergner, von der alle Männer schwärmten. Ein stattlicher Bursche sagte etwas Abfälliges über sie, woraufhin „ihr Lieblingskameramann Adolf Schlazy“, ein kleiner Schmächtiger, ihn ohrfeigte. Als der Riese ihn angriff, wurde er zurückgehalten, fordert dann aber ein Duell. Als er erfuhr, dass Schlazy Jude war, sagte er, mit Untermenschen duelliere er sich nicht. Der war erleichtert: „Der erste sympathische Nazi, den ich kenne.“ Wir verfolgen die Biografien von vielen der Protagonisten, auch wie sie sich später, während und nach der Nazizeit, entwickelten.

Die Frauen hatten auch ihren Tisch und es gibt auch einiges an Zickenzoff. Für einen alten Herrn, der 1900 geboren wurde, berichtet von Cziffra darüber erfreulich sachlich, etwa so wie über die Männer. Nur einmal kommt ein Herrenwitz, nicht vom Frauentisch, vor dem fürchteten sich die Männer, aber vom Kükentisch: „Hier saßen laute junge Mädchen, die … mit den grimmigsten Gesichtern der Welt verkündeten, dass sie fest entschlossen wären, sich von keinem Mann verführen zu lassen. Kurz nach Mitternacht änderten sie fast immer ihren Entschluss.“

Am meisten war am Tisch der Mimen los, wir erfahren viel, etwa, wie es zur Dreigroschenoper gekommen war. Und wie erfolgreich sie war.

Eine Marke für sich waren auch die selbstbewussten Kellner, und so schließt das Buch mit dem Lied von Friedrich Holländer über die „Romanischen Kellner“, rund um die Gedächtniskirche herum.


Genre: Film, Kultur, Kunst, Unterhaltung
Illustrated by be.bra Verlag Berlin

Was Männer kosten: Der hohe Preis des Patriarchats

Was Männer kostenSchon immer waren Ihnen Männer lieb und teuer? Aber wie viel sie unsere Gesellschaft wirklich kosten, ahnt niemand und man staunt beim Lesen des Buches. Der Autor ist Volkswirt und hat seit Jahrzehnten in der Jugendarbeit Erfahrungen gesammelt, zunehmend berät er Männer, die ihre Rolle in der Gesellschaft nicht gefunden haben.

Das Buch enthält zu jeder Feststellung Tabellen, die den Geldwert aufzeigen dessen, was Männer kosten. Seine Quellen sind allen zugänglich, oft das Statistische Bundesamt. Auf den über 300 Seiten sind neben vielen Grafiken 370 Quellen aufgeführt.

Was das Buch besonders lesenswert macht, sind die jahrzehntelangen Beobachtungen, die Gedanken dazu oder auch Gespräche, sowohl im dienstlichen, als auch im privaten Freundeskreis.

Es gibt originelle Thesen, etwa beim Alkoholmissbrauch (kostet 57 Milliarden Euro jährlich, verursacht zu 73 % von Männern), wo er vorschlägt, die Alkohol produzierende Industrie in Haftung zu nehmen.

Oder, wenn er aufzeigt, dass der Unterschied der Lebenserwartung zwischen den Geschlechtern (sechs Jahre) am risikoreicheren Männerleben liegt; Mönche leben fast so lange wie Nonnen. Hier bleiben die Forderungen allgemein …

Bei seiner Beratung fiel ihm auf, dass Männer mit geringerer Bildung nicht wussten, was die Me too Debatte war (Me-was?). Sie findet in einer Akademikerblase statt, was über die Bedingungen des Patriarchats in großen Teilen der Bevölkerung rückschließen lässt.

Das Buch ist ein drei Teile aufgeteilt: In Teil I die messbaren Kosten (elf Kapitel enthält u. a. Häusliche Gewalt, Wirtschaftskriminalität, Fußballromantik, wo es um Hooligans geht, Verkehrsunfälle, überschrieben mit „Männer mit eingebauter Vorfahrt“.)

Teil II behandelt nicht messbare Nebenwirkungen (sechs Kapitel als Beispiele: Lebenserwartung und Suizid, Rechtsextremismus, Sportverbände).

In Teil III Wege aus der Krise (zehn Kapitel. Hier fordert er Veränderungen in der Bildungspolitik, überhaupt der Politik, zur Männergesundheit)

Zwei Bereiche will ich herausstellen: Rechtsextremismus und Männergesundheit:

Im Jahr 2020 erschien, unter Minister Seehofer, der Verfassungsschutzbericht mit 420 Seiten, auf denen je einmal die Wörter Mann und männlich auftauchen. Das Wort Geschlecht nicht einmal. Dagegen stellt er eine Tabelle der rechten Straftaten in Berlin, bei denen 90,4 % der Tatverdächtigen männlich waren.

Zur Männergesundheit lernen wir in den ersten Teilen, dass Männer sich schlechter ernähren, mehr saufen, übergewichtiger sind, seltener zum Arzt gehen. Sie können Depressionen nicht als solche annehmen und deshalb auch keine Therapien für sich nutzen. Mehrmals weist er darauf hin, dass es in Beziehungen nicht nur Gewalt gegen Frauen gibt, aber dass Männer dies nicht zugeben können.

Die Rollen, die Männern zugeschrieben werden: stark sein, keine Schwäche zeigen (wer wagt, gewinnt), werden in unserer Gesellschaft nicht mehr gebraucht. Schon im Kindergarten, in der Bildung, vor allem aber in den Familien kann hier die Zuschreibung einer einzuhaltenden Rolle vermieden werden, dafür gibt es Beispiele und Hinweise auf Organisationen, die Männer bei der Reflexion und Überwindung ihrer Rolle unterstützen.

Diese Rezension schreibe ich während der Debatte über die Ausschreitungen junger Männer in der Silvesternacht 2022/23. In der Grafik, die ich abfotografiert habe, ist die Entwicklung der Bildungsabschlüsse der letzten Jahrzehnte zu sehen. Bei den jetzt 15-25-jährigen Männern haben 48 % keinen Schulabschluss. Mädchen können in unserem System weiterkommen, inzwischen haben 19 % mehr ein Abitur, als Jungen, diese werden zunehmend abgehängt. Und nicht nur die mit Migrationshintergrund!


Genre: Geschlechter, Gesellschaft
Illustrated by Heyne München

Gegen die Ohnmacht: Meine Großmutter, die Politik und ich

gegen die ohnmachtIm Vorwort verteilt Luisas Oma selbst gestaltete Postkarten vor dem Eingang des Hamburger Botanischen Gartens: „Niemand macht einen größeren Fehler, als derjenige, der gar nichts macht, weil er nicht alles machen kann.“ Auf der Vorderseite ein Foto von einem übergewichtigen Adam, der in einen Apfel beißt: „Adam plündert sein Paradies“ heißt die Statue, die dort, am Eingangstor, steht. Hinten sind der Spruch des Philosophen Burke und ein Link zu einer Webseite, die über Ökostromanbieter informiert. Und das im ersten Jahr der Pandemie, sie ist Mitte Achtzig.

„Meine Großmutter ist dreißig Jahre vor mir Aktivistin geworden“. Ausgelöst durch „die atomare Bedrohung, hat sie die wachsenden ökologischen Krisen und weltweiten Ungerechtigkeiten“ auf ihre Art bekämpft, mit Leserbriefen oder Reden auf Aktionärsversammlungen, die als Beispiele aufgeführt werden.

Das Buch, von Luisa geschrieben, führt uns durch zwölf Kapitel, die jeweils einen Schwerpunkt bearbeiten: Erinnern, Rauchen, Empören, Fossilität, Privilegien sind Beispiele für deren Titel.

Ein Hobby schon der Familie der Großmutter sind Filme über das Aufwachsen der Kinder, und Luisa geht gerne zum Filmegucken, so lernen wir auch etwas über die anderen Familienmitglieder. Einige Bilder sind im Buch zu sehen. Es gibt sie schon aus den dreißiger Jahren, als Dagmar Reemtsma in Tilsit aufwuchs, 1933 geboren, nach der Machtergreifung Hitlers.

Der Vater lehnt den Nationalsozialismus ab, rät der Familie vor Kriegsende, inzwischen sind es fünf Kinder, zu fliehen, obwohl der politische Führer der Region genau das verboten hatte. Mutter und Kindern gelingt die Flucht, der Vater kommt wegen Ungehorsam ins KZ Stutthof bei Danzig, „wo er umkommt.“

Die Familie zieht nach Hamburg, wo Dagmar einen Spross der Reemtsma Familie heiratet. Sie genießt die Zuneigung der Schwiegerfamilie (zur Geburt des ersten Kindes schenkt der Schwiegervater „als Kinderwagen“ einen VW-Käfer!), und erst über vierzig Jahre später erfährt sie von der Verstrickung der Zigarettenfirma mit dem Naziregime. Auch in diesem Kapitel geht Luisa dialogisch vor, fragt sie, wie man nicht fragen konnte, warum eben dieser Schwiegervater nach dem Krieg inhaftiert worden war. Oder, was die Schwiegerfamilie zum Tod ihres Vaters im KZ sagte. „Luisa, darüber sprach man nicht. Ich war völlig ahnungslos. Im Geschichtsunterricht kam die jüngere Geschichte nicht zur Sprache, und sonst auch nicht.“

Nachdem Oma ihre Kinder großgezogen und sich von ihrem Gatten getrennt hatte, nahm sie an Demonstrationen teil. Trotz Hippiezeit blieb sie die Bürgerliche: Gut gekleidet und mit Hut. Bei der Aktionärsversammlung von Adidas beklagt sie die Höhe der Dividenden, die wegen der Ausbeutung der Näherinnen in Asien möglich sind.

Durch den Rückblick auf die Aktivitäten der Oma werden wir erinnert an Vorstellungen vom Fortschritt, die inzwischen Zeitgeschichte sind: den Elbausbau in Hamburg, die Flugzeugfabrik, die inzwischen abgerissen wurde.

Besonders lesenswert sind die Leserbriefe an die WELT, wo sie sich, auch schon 2007, gegen den Autowahn wendet: „Nach der mühevollen Einführung des Katalysators haben die deutschen Autohersteller absolut verantwortungslos agiert und produziert, und Herr Verheugen sorgt gerade in Brüssel dafür, dass es auch in Zukunft so bleiben wird.“ Und so kam es auch.

Manchmal spricht Luisa von ihrer Oma so liebevoll wie Großeltern von ihren Enkelkindern: „Der Computer und meine Großmutter führen eine aufreibende Ehe, stundenlang kann meine Großmutter vor mir stehen und sich beschweren: Heute hat er schon wieder dies gemacht …“

Als das Internet aufkam, hatte sie sofort einen Kurs bei der VHS belegt, weil sie ahnte, dass gerade Rentner hier schnell abgehängt werden können.

Im Kapitel Ostfronten geht es von der Flucht der Oma und den Kriegsfolgen weiter mit dem Krieg in der Ukraine. Wieder einen Krieg zu erleben, war für Europäer außerhalb jeder Vorstellung.

Gegen die Ohnmacht schließt mit den Gefühlen, die Aktivisten haben, wenn sie sehen, dass sie ihre Ziele nicht erreichen. Schon der Bericht, wie Aktivisten in Straßburg vor dem EU-Parlament erfahren müssen, dass Gas und Atom nachhaltig sein sollen, berührt. Ein Buch mit viel Informationen und Tiefgang, und auch noch gut zu lesen.


Genre: Biographien, Klimakrise, Zeitgeschichte
Illustrated by Tropen Verlag

Frei: Erwachsenwerden am Ende der Geschichte

Es geht um Freiheiten und wie sie sich beim Erwachsenwerden ändern. Das Buch gefiel anfangs, weil es die Gedanken und Gefühle eines kleinen Mädchens beschreibt, das im stalinistischen Albanien aufwuchs. Sie liebte ihre Lehrerin, die so schöne Geschichte von Stalin erzählte, und auch den Onkel Hoxha. Und die Lehrerin konnte so gut erklären, dass es im Sozialismus noch Klassenkämpfe geben muss, aber im Kommunismus wären dann alle absolut frei. Ihre Eltern und die Großmutter waren auch Sozialisten, jeder hatte eine Lieblingsrevolution, der Vater liebte die, die noch kommen sollte. Aber, warum wollten die Eltern kein Bild vom Präsidenten Enver Hoxha im Wohnzimmer haben?

Als in Berlin die Mauer fiel, war sie zehn Jahre alt geworden, und alles änderte sich. Die Eltern lästerten plötzlich über die geliebte Lehrerin. „Diesmal gab es keine Fixpunkte, alles musste von Grund auf neu erschaffen werden. Die Geschichte meines Lebens war nicht die von Ereignissen, die sich zu einem bestimmten Zeitpunkt abgespielt haben, sondern die einer Suche nach den richtigen Fragen, jenen Fragen, die mir zuvor nicht in den Sinn gekommen waren.“ Hier nimmt sie die Leser/innen mit beim Erwachsenwerden, bei der Suche nach den Fragen. Nach und nach erfährt sie, dass die Eltern aus der Bourgeoisie stammten und dass sie wegen „der Biografie“ nicht ihre Berufe hatten wählen können.

Zur Oma hat sie eine besondere Beziehung, sie kam aus Saloniki, hatte am Osmanischen Hof verkehrt, in der Familie spricht sie nur Französisch. Da die Familie enteignet worden war, fährt sie zu Verwandten in Athen, in der Hoffnung, manches wiederzuerlangen. Lea darf mit und die Oma kauft ihr ein Tagebuch, wo sie alles vermerkt: Dass hier die Autos Schlange stehen, und nicht die Menschen, dazu gibt es noch Ausführungen über unterschiedliche Taktiken des Schlangestehens, oder, dass die Menschen angeleinten Hunden nachliefen oder Werbeplakate statt anti-imperialistischen Inschriften. Bananen und Jeans gibt es auch.

In Albanien werden die Auseinandersetzungen gewalttätig. Viele Menschen fliehen, aber keiner will die Migranten nun aufnehmen, manche ertrinken im Mittelmeer. „Freiheit wirkt“, sagte US-Außenminister James Baker, und dass die USA das Land auf seinem Weg in die Freiheit helfen würden. „Vor allem kam es aufs Tempo an. Milton Friedman und Friedrich von Hayek ersetzten Karl Marx und Friedrich Engels praktisch über Nacht.“ Es kommen neoliberale Manager. Irgendwann geht der Vater in die Politik, scheitert aber und die Mutter, ehemalige Mathematiklehrerin, wird Altenpflegerin in Italien.

Als sie dann erwachsen geworden ist, am Ende der Geschichte, schreibt sie einen Epilog, Vater und Oma sind gestorben, das Buch widmet sie der Oma. Eigentlich wollte sie ein Sachbuch schreiben, aber die Lektorin riet zu diesem Format, ein guter Rat, denke ich, so bekommen die Gedanken die Gesichter derer, die sie vertreten. Und die Übersetzung aus dem Englischen ist auch gelungen.

Sie berichtet, dass sie Philosophie erst in Italien studierte, wo sie mit neuen Freunden über Politik diskutierte. „Westliche Sozialisten, um genau zu sein. Sie sprachen von Rosa Luxemburg, Leo Trotzki, Salvador Allende und Ernesto „Che“ Guevara, als wären es westliche Heilige. In der Hinsicht ähnelten sie meinem Vater: Alle Revolutionäre, die sie für bemerkenswert hielten, waren ermordet worden.“ Ein Zitat von Rosa Luxemburg ist dem Buch vorangestellt: „Die Menschen machen ihre Geschichte nicht aus freien Stücken, aber sie machen sie selbst.“

Und dann erzählt sie noch, wie sie an der London School of Economics ihre Marx Seminare beginnt. Ob man da wohl mal Gasthörerin werden kann?


Genre: Biographien, Erfahrungen
Illustrated by Suhrkamp Berlin

Zur See

Zur SeeIn ihren anderen Büchern ging es um das Landleben und, wie Menschen sich ändern müssen, um dort zu leben: Im Alten Land suchen Vertriebene eine neue Heimat und bleiben fremd, in der Mittagsstunde flieht ein Einheimischer in die Stadt, aber kommt immer wieder zurück und beobachtet, wer und was sich ändert. (link Landlust und Landfrust) In Zur See bleiben die Inselbewohner der Heimat treu und erleben, wie das Meer auch andere in seinen Bann zieht. Aber auch, was sich hier alles ändert. Da sind alte Geschichten zu erzählen, von Männern, die zur See gingen und von großen Fluten. Wir leben mit den Menschen auch in der Winterzeit, sehen wie die Gewerke der Fischer und Bauern sich ändern und lernen, wie der Zeitplan der Fähre das Leben bestimmen kann.

Auf einer kleinen Nordseeinsel lebt Hanne Sander im Kapitänshaus mit ihrem Ältesten, einem wegen seiner Alkoholkrankheit ausgemusterten Kapitän, der gerne den kauzigen alten Seebären gibt, das lieben die Touristen, besonders weibliche. Das Haus ist seit Jahrhunderten im Familienbesitz. Darüber kreisen Drohnen, denn eine solche Immobilie würde jeder Makler gerne vermarkten. Es gelingt ihr gut, dies zu ignorieren, und wenn sie in Ruhe lesen will, dann versteckt sie sich hinten im Garten neben Komposthaufen und Mülltonnen, denn vorne laufen die Touris.

Ihr Jüngster feiert seinen dreißigsten Geburtstag, in seinem Atelier. Er war schon immer ein Aussteiger, hat die Insel nie verlassen, geht barfuß mit seinem Hund jeden Tag am Strand lang und sammelt Strandgut. Daraus schafft er Kunstwerke, die sich gut verkaufen, an die Städter, die ihre Zweithäuser damit schmücken. Bei der Party kennt sie nur den Pfarrer, die anderen Gäste sind Teil der Parallelwelt, Städter, die vom Meer angezogen wurden. Sie geben sich einheimisch, wenigstens schlurfen keine Tagestouristen mit Schlappen durchs Atelier. Aber auch dieser „zweite Stamm“ bleibt nicht, irgendwann finden sie, dass ihre Sehnsucht nicht gestillt wird, sie bleiben fremd und ziehen wieder zurück aufs Festland. Überhaupt hat sich der Tourismus gewandelt: Früher hat Hanne Zimmer vermietet, an Gäste, die in den Zimmern der Kinder schliefen, die Kinder wurden wegsortiert. Darüber hat sie auch Jens verloren, ihren Mann und Vater der Kinder.

Er zog vor über 20 Jahren aus, lebt als Einsiedler bei seinen geliebten Vögeln, die Zwergseeschwalben haben es ihm besonders angetan. Er kämpft für die Erhaltung der Natur, nicht nur ihm, auch anderen ist bewusst, dass der Meeresspiegel steigt, und größere Fluten kommen könnten. Eigentlich ist er zu alt, um so allein zu leben, zittert stark, seine Vorgesetzten sagen es ihm aber nicht, sie schicken „Prinzen“, junge, dynamische Vogelkundler mit Laptop. Mit dem letzten kommt er klar und mit ihm kann er wieder Menschen in seiner Nähe ertragen, sogar in einem Raum zusammen schlafen.

Tochter Eske ist Altenpflegerin, hört neben Heavy Metal gerne die Geschichten der Alten im Heim, begleitet sie in den Tod. Sie hatte die alten Sprachen der Küsten studiert, kam aber zurück. Sie gibt das Raubein, vertreibt gerne Touristen mit ihrem Auto an die Straßenränder. Eine Inselregel lautet: „Sei nie freundlich zu Touristen!“ Sie schämt sich, wenn die Einheimischen Touristenrummel veranstalten, wie bei der Hafenfeier.  Auch der Pfarrer kennt alle von früher, aus dem Konfa. Sein Glaube, auch an sich selbst, wird bedroht, gerade, als seine Frau aufs Festland zieht, natürlich nicht seinetwegen, sondern, um bei den Enkeln zu sein und er allein zurückbleibt.

In der größten Not … gibt es auch Veränderungen, die die Menschen wieder zusammenbringen, so kommt Jens zurück ins Kapitänshaus, denn schweigen kann er auch dort, bei Hanne.

Ich lese so etwas gerne: die richtige Balance zwischen Sehnsucht und Realität, etwas Spökenkiekerei und viel Empathie.


Genre: Deutsche Literatur, Familiengeschichte
Illustrated by Penguin

Lebendige Gärten im Winter

Für diese Rezension von Lebendige Gärten im Winter habe ich lange gebraucht, und sie ist sehr persönlich geworden: Während der ersten Jahrzehnte meines Gärtnerinnenlebens galt für mich Klaus Foersters Spruch: „Es wird durchgeblüht!” als Leitmotto. Darum geht es auch in meinem Buch „Blütenfreuden“. Ich habe noch einmal die beiden Kapitel zum Winter gelesen: Der Winter war für mich Wartezeit auf und Vorbereitung für den Sommer. Das ist jetzt anders geworden.

Als ich das Buch Lebendige Gärten im Winter bestellt hatte, guckte ich mir die vielen (schönen!) Bilder an, und sah, dass es meist welche aus England waren, ah ja, die Autorin bietet ja Wintergärtenreisen (!) dorthin an, und dann kam erstmal der Sommer. Allerdings hatte ich schon Exemplare von Cornus alba sibirica bestellt, wegen der roten Stiele im Winter.

In den letzten Jahren kann ich den Winter immer besser genießen, etwa wenn rauhreifige Gräser sich bewegen, oder sich die Blüte der Herbstanemone nach dem Frost wie ein Baumwolltupferchen auflöst. Und es gab in meinem Garten auch immer mehr anzugucken, da ich gezielt pflanzte, was im Winter blüht. Dazu gab es im letzten Jahr den Beitrag.

Nun gucke ich mir, im Herbst, das Buch näher an und staune. Es gibt so viel mehr zu sehen. Auf 200 Seiten, fast im DIN A4 Format, werde ich angeleitet, „Eigenschaften von Pflanzen mit winterlichen Höhepunkten“ zu sehen. Dass Frau Ney Gartenplanerin ist, schärfte nicht nur ihren Blick, es prägt auch die Ausdrucksweise.

Es geht um mehr als Blüten, um die Strukturen im Garten, die Texturen und vor allem um „Dauerhafte Farbakzente“, die dann genau aufgeschlüsselt sind in: Farbige Zweige und Rinden, Farbige Nadeln (17 Seiten, mit den Untergruppen; Weißgold, Gelbgold, Altgold und Schwefelgelb), farbiges Laub und die Bodendecker, um Knospen und Früchte, und das bei jeder Wetterlage.

Sie sind beeindruckt und befürchten, in Ihrem Garten so etwas nie schaffen zu können? Dazu kam der Trost schon in der Einleitung: „Unsere Gärten eignen sich eben in der Regel besser für Kammerkonzerte als für Operndramatik.“ Das Kapitel zu meinen geliebten Blüten ist betitelt: „Blüten, kurzfristige Farbakzente und Duft.“ Für eine Oper braucht es eben mehrere Klangkörper …

Es gibt an vielen Stellen Bemerkungen, die würdig sind, gemerkt zu werden. Ich schätze es besonders, wenn sie Gedanken ausdrücken, die mich auch beschäftigen. Als es um Hecken geht: „Man verwendet hierfür gerne Taxus und etwas eingeschränkter auch Buxus – und besonders robuste Gärtner integrieren selbst durch Blattdornen piksende Ilex, Berberis und heimtückisch bedornte Pyracantha.“ Die beiden Letzteren hatte ich nämlich großflächig entfernen müssen, als wir vor bald vierzig Jahren den Garten übernommen hatten und begegneten noch Jahre später heimtückischen Pyracanthadornen.

Im Serviceteil, welches mit dem Register über 20 Seiten ausmacht, werden Pflanzen für verschiedene Rahmenbedingungen kategorisiert.

Ich vermute, diese größere Offenheit für das früher Nebensächliche hat mit dem Älterwerden zu tun. Sie suchen noch ein Geschenk für Oma und Opa, die Gärten lieben? Vielleicht zu Weihnachten, wenn der Winter gerade angefangen hat?

Das Einzige, was ich bemängeln könnte, ist, dass die Autorin, die Schneeglöckchen liebt, im Serviceteil nichts zum Schloss Übigau mit dem Schlossgärtner Manig schreibt. Nach der Erwähnung von zehn Gärten im Vereinten Königreich wäre es dann ein zweiter in Deutschland. Siehe hier.


Genre: Gartengestaltung
Illustrated by Verlag Eugen Ulmer