Zuleyka

Als Fan von Bernhardine Evaristo hatte ich die Erwartung, in diesem Buch etwas zu lesen, was originell und witzig ist, aber auch geprägt von der Lebenserfahrung einer Frau an der Schwelle zum Rentenalter. Vielleicht in Richtung Altersmilde?

Stattdessen lese ich von Zuleika, auf Arabisch: die Verführerin, einer strahlenden Schönheit mit den Gedanken eines meinungsstarken Teenagers. Sie macht sich über alle Erwachsenen lustig, die Eltern, aber vor allem über den reichen Römer, alt und fett, der sie, die Schwarze geheiratet hatte, als sie noch nicht einmal ein Teenager war. Und dann ist Alles noch in Versform geschrieben!

Sie lebt in Londinum, als die Stadt von den Römern besetzt war, ihre Eltern sind Migranten aus dem Sudan; der Vater ist ein inzwischen arrivierter Kaufmann, der stolz ist, seine Tochter so gut verheiratet zu haben.

Felix, der Gatte, ist meist geschäftlich unterwegs, sie langweilt sich in ihrem Palazzo, mit diesen ganzen Dienstboten. Sie lernt Latein, liest die Klassiker, die es 200 Jahre vor Christus gab—und macht gerne lateinische Einschiebsel in ihren Texten. Das Buch ist in Kapiteln geschrieben, die einzelne Gedanken ausführen, manchmal nur in der Länge eines Gedichtes. Den roten Faden muss die Leserin sich erspinnen.

In ihrem Netzwerk ist vor allem die Busenfreundin Alba, verheiratet und Mutter, und immer bereit zu Seitensprüngen, deren Schilderungen von Eroberungen sie gerne zuhört. Die findet:

„Ehrlich, kaum hat so‘n Mädchen bisschen Bildung,

wird gleich, das ganze Leben rasend kompliziert.

Du schürfst dermaßen tief, dabei ist die Lösung

ganz einfach: DU GEHÖRST MAL GUT GEFICKT!“

Das überzeugt Zuleika und sie sucht. Als sie sich in den Kaiser verliebt, der sie im Guildhall Theater lange und begehrend angeguckt hatte, wird darüber im „Dum vivimus, vivamus

(Solang wir leben, lasst uns leben)

ODER: GIRLS TALK

gesprochen, auch mit einer anderen Freundin, mit der älteren Venus, die sich gerne in Kneipen aufhält, in der „die Unterwelt“ verkehrt.

Derweil schickt der Kaiser ihr Blumen, die Tanio, der Diener, diskret überreicht. Sie hat bei Tanio etwas gut, hatte sie ihm doch die Frau vermittelt und ausgesucht, nach einer „Shortlist. meine Kriterien willkürlich angeordnet: Schönheit, Alter, Dispositio.“ Ein weiterer Vorzug von Mucia, der ausgesuchten Frau: „sie war schon so reif,

um die erkennbaren faschistischen Tendenzen

unseres versklavten Kleindiktators einzudämmen.“

Bei der Verliebten wird der Kaiser zum:

„Mein Legionarius: ich will dich auf zwei Weisen, leg den Lorbeerkranz ab, lass die lila Roben zu Boden und komm nackt zu mir als Mann…“

Sie lebt auf, gibt sich der Lust hin, in einem Gedicht gibt sie die Domina, die ihn fesselt und verlangt, dass er sie seine Herrscherin nennt, das bringt sie zum Höhepunkt.

Dabei weiß sie, dass Felix sie nun vergiften wird. Schon nach der Hochzeitsnacht spricht sie von Todessehnsucht. Und so kommt es, Tanio verabreicht ihr Arsen, und als Alba sie noch einmal besucht, ergibt sie sich dem Schicksal, als wäre sie eine griechische Tragödin. Und dann gibt es einen Epilog: Vivat Zuleika.

Obwohl ich nicht zur Zielgruppe zähle, fand ich es immer wieder, wie erwartet, originell und witzig.

Das Lesen in Versform bin ich nicht gewöhnt. Hat die Übersetzerin Tanja Handels es gut gelöst? Zufällig war ich in England und wollte das Buch „Zuleika“ einsehen, im gut sortierten Buchladen war es nicht bekannt.

Der Grund: Es ist 2001 unter dem Titel „The Emperor’s Babe“ erschienen und nicht mehr bekannt. Nun grübele ich über die Frage, was Frau Evaristo mit Vierzig dazu brachte, so einen Backfischroman mit Sehnsucht nach Männern zu schreiben, nachdem sie selbst viele Jahre lang weibliche Sexpartner hatte. Wie ein recycelter Teenager? Aber inzwischen weiß ich: die Übersetzung von Frau Handels ist wieder sehr gut!


Genre: Roman
Illustrated by Tropen Verlag

Mr. Loverman

Es ist das dritte Buch von Bernhardine Evaristo, das ich las. Hier stellt sie einen kleineren Kreis eng verflochtener Menschen vor, die in der westindischen Community in London leben. Jeder/m lässt sie ihre/seine Würde und Eigenheiten, Stärken und Schwächen. Neben den hier näher beschriebenen Protagonisten gilt das auch für die Töchter des Paares und den Geliebten Morris.

Am Anfang steht ein Spruch von James Baldwin, dass wir uns den Dingen stellen müssen, wenn wir sie ändern wollen.

Dazu ist der Protagonist, Barrington Jedidah Walker, Esq., erst mit Mitte Siebzig bereit. Nach einem halben Jahrhundert Ehe mit Carmel stellt er sich dem Wunsch, mit seiner Jugendliebe, Morris, zusammenzuziehen.

Das Buch beginnt in London im Mai 2010: Betrunken, und nach Zigarren stinkend, kommt er viel zu spät nach Hause, will sich unauffällig neben Carmel ins Bett schleichen, aber sie wacht auf und macht ihm, wie immer, eine Szene. Beim Einschlafen träumt er von seinem Geliebten. Das Kapitel endet mit dem Liebesgeständnis: von „meinem Morris-liebenden, süß verliebtem, blutvollen, glutvollen, bums fidelen, pochenden Ding von einem unbeherrscht, unentrinn-, unbezähmbar-männerliebenden Herz.“

Dann geht es ein halbes Jahrhundert zurück nach Antigua, wo die gerade angetraute Braut, stolz auf diesen schmucken Ehemann, sich in der Hochzeitsnacht etwas wundert, „er hat ihn nicht reingesteckt, hat sich nur an dir gerieben.“ Bestimmt nur deshalb, weil er ein echter Gentleman ist. So schön können Träume von Verliebten sein. Dabei wissen wir doch schon, wie es um das Paar bestellt ist.

Dann kommt wieder die Jetztzeit des Romans: Im Kapitel Die Kunst des Sonntagsessens kommt Morris zu Besuch, Carmel kann gut kochen, leider kommt sie nach der Kirche mit ihren Betschwestern und wir müssen deren Geschwätz ertragen, das in Teilen homophob ist.

So plätschert es dahin, wir wissen, dass sie immerhin zwei Töchter haben, einen Enkelsohn. Carmel hatte, schon in London, eine Ausbildung absolviert und in einer guten Stellung gearbeitet, sogar mal eine Affäre gehabt, (von der Barry aber nichts ahnt), aber nun sind ihre Betschwestern ihre Bezugspersonen.

Barry hatte immer nur Morris im Sinn, allerdings hat er gerne mit anderen Männern herumgemacht, und dafür auch kein Risiko gescheut. Er ist ein gebildeter Hedonist, hat über Abendschulen sein britisches Allgemeinwissen aufgebaut. Mit einem guten Riecher für Immobilien mit Gentrifizierungsprotenzial ist er sehr wohlhabend geworden – was würde Carmel wohl bei einer Scheidung für sich beanspruchen?

Der englische Text ist im westindischen Slang geschrieben, die Übersetzerin Tanja Handels verzichtet darauf, dies einzudeutschen, und einmal fragt Barry seinen Geliebten: „Wha rong wit yah, Morris?“ Obwohl ich die Bücher lieber auf Englisch lese, genieße ich die Übersetzungen von Barrys drolligen Sprüchen. Und manche Wörter habe ich gelernt, so sind Emanzen braburners.

Dass er Carmel in ihrer tiefen Frustration verachtet und als fett (diese hängenden Oberarme!) und trutschig abtut, stört mich, bis ich zum Schluss den Coup der Autorin genieße, indem sie es ihm heimzahlt, dass er ihr Leben zerstört hat.

Und bei den Gesprächen zwischen Morris und Barry geht es um die Entwicklung der Rechte homosexueller Menschen. Barry hält nichts vom „aufmerksamkeitsheischenden Gehabe dieser Schwulenbewegten.“ Morris geht da eher mit, könnte sich eine eingetragene Partnerschaft vorstellen.

Die letzten 70 Jahre haben Barry kein bisschen weise gemacht. Er ist ohnehin der Meinung, dass die Entwicklung der individuellen Persönlichkeit mit elf Jahren abgeschlossen ist. „Ich bin viel zu sehr daran gewöhnt, in meinem hausgemachten Gefängnis zu sitzen, Amtsrichter, Aufseher und armseliger Zellengenosse in einem.“ Bei so einem Mann war es dann kein Wunder, dass Carmel von seiner Homosexualität nichts ahnte.


Genre: Gesellschaftliche Veränderungen, Leben als Homosexuelle, Schwarze Community im UK
Illustrated by Tropen Verlag

Mädchen, Frau etc.

Dreadlocks etc.

Mit «Mädchen, Frau etc.» hat Bernardine Evaristo 2019 den Booker Prize gewonnen, ihr Roman erschien Anfang dieses Jahres als erstes ihrer Werke auch in deutscher Übersetzung. Die Tochter einer englischen Mutter und eines nigerianischen Vaters war die erste farbige Schriftstellerin, die diesen begehrten britischen Buchpreis bekommen hat. Wie bereits der Titel andeutet, stehen Frauen aller Altersstufen im Blickpunkt, hier natürlich Farbige in sämtlichen Schattierungen. Und ebenso variantenreich ist deren sexuelle Ausprägung. Also vor allem lesbisch, aber auch bisexuell, nichtbinär, trans, queer, schwul – und nur ausnahmsweise auch mal heterosexuell.

In vier Kapiteln stehen abschnittsweise jeweils drei dieser Frauen im Zentrum, allesamt auf verschiedene Weise diskriminiert und deshalb nicht nur wütend, sondern auch sozial und politisch unangepasst. Der Reigen beginnt mit Amma, die als knapp fünfzigjährige Dramatikerin mit ihrer ersten Inszenierung «Die letzte Amazone von Dahomey» am National Theatre Premiere hat. Als ‹frauenmordende›, für Polyamorie schwärmende Lesbe hat sie schon weit über hundert Liebhaberinnen unglücklich gemacht, denn nach wenigen Liebesnächten ist sie ihrer überdrüssig und serviert sie kaltlächelnd ab. Ihre durch die Samenspende eines schwulen Mannes gezeugte Tochter Yazz gehört der «Matchen-Liken-Chatten-Daten-Ficken-Generation» an. Da sie noch nicht den Richtigen gefunden hat, betrachtet sie einen amerikanischen Doktoranden übergangsweise als ihren «Fuck-Buddy». Als kritische Denkerin hat sie bereits erste journalistische Erfolge aufzuweisen und bildet zusammen mit drei ebenfalls unangepassten Kommilitoninnen den Kreis der «Unverarschbaren». Die Lebenswege verschiedenster Frauen unterschiedlichster Herkunft im Alter zwischen 19 und 93 werden in diesem Roman über drei Generationen hinweg kunstvoll ineinander verwoben. Die soziale Stellung reicht dabei von der Putzfrau oder Bäuerin bis zur gefeierten Regisseurin oder erfolgreichen Investment-Bankerin, von bitterer Armut bis zu märchenhaftem Reichtum. «Diese Charaktere repräsentieren für mich die Bandbreite, wer wir sind in dieser Gesellschaft» hat die Autorin erklärt.

Sie verfolge keine didaktischen Absichten, hat Bernardine Evariso betont, ihr Roman behandele das zutiefst Menschliche, Liebesbeziehungen vor allem. Aber auch Familienbande sowie die Gefühlswelt als solche seien ihr Thema. Davon zeugt der Epilog, in dem lebensklug von der späten Liebesgeschichte der siebzigjährigen Penelope mit Jeremy erzählt wird. Sie hat durch einen genetischen Herkunftstest ihre leibliche Mutter ausfindig gemacht und liest auf der Zugfahrt eine «überschwängliche Rezension eines Stücks über afrikanische Amazonen», womit sich der erzählerische Rahmen dieses Romans gekonnt schließt.

Für die narrative Umsetzung ihres Figuren-Reigens hat die Autorin den Begriff ‹fusion fiction› geprägt, «Optisch sieht der Text fast aus wie Dichtung, aber ich verstehe ihn eher als experimentelle Prosa», hat sie dazu angemerkt. Und so mutet dieser Stilmix, – Verzicht auf grammatikalisch korrekte Sätze, kleingeschriebene Satzanfänge, Ersatz von Punkten durch Zeilenumbrüche, Fehlen von Anführungszeichen, – beim Lesen zunächst etwas störend an. Man gewöhnt sich aber erstaunlich schnell daran und merkt schon bald, dass genau dadurch der Lesefluss geschmeidig an die Thematik und den modernistischen Yuppie-Slang angepasst wird. Temporeich wird in diesem Roman vom Anderssein These auf These aneinander gereiht, werden auf gerade mal dreißig/vierzig Seiten ganze Lebensgeschichten erzählt. Weniger überzeugend sind dabei die eher hölzernen Dialoge, denen die Eleganz der Erzählung selbst oft fehlt. Die britische Historie wird hier aus dem ungewohnten Blickwinkel der Diskriminierten und Erniedrigten erzählt, wobei die Autorin mit den Dreadlocks in ihrer auktorial erzählten Geschichte mit kreativen Wortschöpfungen humorvoll zuweilen sogar sich selbst persifliert.

Fazit: erfreulich

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Tropen Verlag