Der seekranke Walfisch

kishon-1Eine typische Sommerlektüre

Seit jeher haben ja Reisebücher in der Literatur ihren festen Platz, gehören doch die erstaunlichen Eindrücke und unerwarteten Erlebnisse in fremden Landen mit zu dem Interessantesten, was man erzählen kann. Und so reicht diese Art von Literatur bis weit in die Antike zurück und hat selbst die berühmtesten Autoren auf den Plan gerufen, Goethe mit seiner «Italienischen Reise» sei da als hochrangiges Beispiel genannt. Mark Twain hat nach seinen ausgedehnten Reisen durch Europa in humorvollen Reiseberichten voller Anekdoten das soziale Verhalten in den besuchten Ländern auf lustige Art beschrieben. Ausgesprochen Satirisches ist von Ephraim Kishon in «Der seekranke Walfisch» mit dem Untertitel «Ein Israeli auf Reisen» zu diesem Thema zu lesen, womit er deutlich über Twains erstaunt lächelnde Ironie hinausgeht. Ferenc Hoffmann, in Budapest geboren und 1949 nach Israel ausgewandert, nahm dort, wie allgemein üblich damals, als israelischer Neubürger auch einen neuen Namen an, und wie es bei einem Schriftsteller mit humoristischem Schwerpunkt nicht anders zu erwarten ist, gibt es auch dazu eine nette Anekdote. Charakteristisch für Kishons Werk ist seine derb-humorige Erzählweise, mit der er überaus erfolgreich war, seine weltweite Auflage, in viele Sprachen übersetzt, liegt bei mehr als vierzig Millionen Büchern, oft verfilmt, teilweise auch unter seiner Regie.

Die skurrile Übertreibung als Wesensmerkmal seines Schreibstils findet sich auch in diesem Reisebuch, und in deren Schutz nun übt er zum Teil bissige Kritik an den gesellschaftlichen Zuständen und an den Menschen, die dafür Verantwortung tragen oder die sich dem alltäglichen Wahnsinn widerspruchslos ergeben haben. Mit Ironie und Spott werden sie der Lächerlichkeit preisgegeben, sehr zum Vergnügen des Lesers natürlich, der sich ja immer freut, wenn über andere Witze gemacht werden. Aber Kishon prangert auch die Zustände im eigenen Lande an, geißelt mit seinem scharfen Zynismus Israel und die Juden, und er macht dabei auch vor sich selbst nicht Halt, sogar «die beste Ehefrau von allen», wie er sie nennt, wird bei passender Gelegenheit gelegentlich auch als «Die Schlange, mit der ich verheiratet bin» bezeichnet.

In acht Kapiteln wird diese wunderliche Reise Kishons mit seiner Frau beschrieben, die sie nach Europa und Amerika führen soll. Schon die Zeremonien der Vorbereitung bergen viel humoristischen Zündstoff, und auf den verschiedenen Stationen dieser Reise, beginnend auf Rhodos, weiter nach Italien, der Schweiz, Frankreich, England und schließlich Amerika, kommt man aus dem Schmunzeln nicht mehr heraus. Denn immer wieder wird Absurdes entlarvt in den Charakteren der Einheimischen und in den Eigenheiten ihrer Lebensweise. Zum Glück für uns deutsche Leser wird uns der Spiegel nicht vorgehalten von Kishon, er hat Deutschland links liegen gelassen auf dieser Reise, und so bekommen nur die Anderen ihr Fett ab. Kishons Sicht auf die alltäglichen Begebenheiten und seine Schlussfolgerungen sind immer wieder staunenswert, wobei er für meinen Geschmack aber deutlich zu stark aufträgt, so als ob er befürchtet, der Leser könnte eine feinsinnigere Satire nicht als solche erkennen. Diese zum Absurden neigende Holzhammermethode ist gewöhnungsbedürftig und teilt die große Schar der Leser in zwei Fraktionen, zu deren eindeutig kleinerer, diesem speziellen Schreibstil eher skeptisch gegenüberstehender, ich mich ausdrücklich auch zähle. Wer’s hingegen drastisch mag, für den ist dieses amüsante Buch eine wahrlich beschwingte Lektüre, idealerweise zu lesen, wenn die flirrende Hitze eines Sommers mit der Rangbezeichnung «Jahrhundert» ernsthaftere und anspruchsvollere Lektüre schier unmöglich macht.

Fazit: mäßig

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Illustrated by Bastei Lübbe

Der Dieb

nakamura-1Ästhetik des Taschendiebstahls

Im Jahre 2015 erschien als erster der mehr als ein Dutzend bisher veröffentlichten Bände des unter Pseudonym schreibenden japanischen Schriftstellers Fuminori Nakamura sein Roman «Der Dieb» auch in deutscher Sprache. Vorbild für den Titelhelden war, wie er in einem Interview erklärte, Nezumi Kozō, ein 1832 hingerichteter Dieb, der in Japan oft mit Robin Hood verglichen wird. Anders als sein Pendant in der englischen Ballade hatte der allerdings seine Beute nicht unter die Armen verteilt, sondern selbst verprasst. Unser Romanheld wiederum ist Taschendieb, er bestiehlt nur Männer und ist ausschließlich auf deren Geld aus, die leer geräumten Brieftaschen wirft er in den nächsten Postkasten, sodass der Bestohlene sie mit dem übrigen Inhalt von der Polizei zurückbekommen kann.

Wir erleben den Ich-Erzähler, dessen richtiger Name Nishimura nur ein einziges Mal ganz nebenbei erwähnt wird, bei der Ausübung seiner Kunst, er streift ruhelos durch Tokio, sucht gezielt die für sein Metier geeigneten Orte auf, überfüllte U-Bahnen oder belebte Geschäftsstraßen, Einkaufszentren. Er beherrscht alle Tricks seines nicht ehrbaren Handwerks, agiert auf dem Höhepunkt seines Könnens instinktiv sicher und mit fließenden, geschmeidigen Bewegungen, behält seine Umgebung dabei stets genauestens im Auge, immer auf der Lauer nach dem richtigen Moment für seinen Zugriff. Nakamura hat all diese handwerklichen Details akribisch recherchiert, sich, um Genauigkeit bemüht, sogar selbst als Taschendieb geübt, wie er im Interview erklärt hat, mit einem Freund als Testopfer. Der Romanheld ist Taschendieb seit frühester Jugend, und so ist er ziemlich irritiert, als er im Supermarkt einen kleinen Jungen beim Ladendiebstahl beobachtet, in dem er sich selbst erkennt und den er spontan vor dem Ladendetektiv schützt. Der Junge sucht nun ständig seine Nähe, will von ihm lernen. Schon bald aber holt den Ich-Erzähler seine dunkle Vergangenheit als ehemaliges Mitglied der japanischen Mafia ein, Kizaki, ein Boss der Yakuza zwingt ihn, drei Aufträge für ihn zu erledigen, bei einem brutalen Überfall mitzuwirken, ein geradezu faustischer Pakt.

Nakamura erzählt seine verstörende Geschichte von den Randfiguren der japanischen Gesellschaft scheinbar teilnahmslos in einer knappen Sprache ohne jede Raffinesse, wobei er den Dieb als einsame, tragische Figur darstellt, der in geradezu missionarischer Absicht stielt. Kizaki stellt er hingegen als blumig sprechend und nachdenklich dar, quasi als Alltagsphilosoph, um so die Brutalität des Geschehens zu konterkarieren und Spannung zu erzeugen. Seine literarischen Vorbilder, hat er erklärt, wären Kafka, Camus und Dostojewski, und prompt wird Raskolnikow bemüht beim Briefing mit Kizaki. Der Roman ermöglicht dem Leser einen illusionslosen Blick in die Welt des Bösen, das Gute kommt im Roman nicht vor. Nakamura erzeugt seine unheilvolle Atmosphäre einerseits durch den menschenfeindlichen Moloch der Metropole Tokio, andererseits durch den Schauplatz einer mafiosen Unterwelt, ohne gleich ins Spektakel blutrünstiger Thriller abzugleiten. Eher kann man den Roman als Gesellschaftskritik auffassen oder als psychologischen Exkurs in moralische Grenzbereiche.

Kann Taschendiebstahl eine Ästhetik haben, kunstvoll sein? Man ist verunsichert, nicht zuletzt durch den Robin-Hood-Bonus, der in diesem «roman noir» auch mitschwingt. Leitmotivisch blendet der Autor immer wieder einen nur schemenhaft erkennbaren Turm in die Erzählung ein, den man als Symbol einer übergeordneten Macht, ja als Metapher für Gott deuten kann. Das düstere Geschehen ist deterministisch, ganz am Ende, beim blutigern Showdown, enthüllt Kizaki, dass alles, was passiert ist, genau so von ihm vornher bestimmt war. In seiner minimalistischen Sprache nicht überzeugend, vom Plot eher simpel und klischeehaft aufgebaut, bietet dieser Buch literarisch, abgesehen vom schelmenromanhaften Beginn, aus meiner Warte wenig Anreiz zur Lektüre.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Diogenes Zürich

Tabu

schirach-1Nomen est omen

Als Senkrechtstarter der deutschen Literaturszene hat Ferdinand von Schirach mit «Tabu» einen Roman vorgelegt, an dem sich die Geister scheiden. Monatelanger Bestsellerstatus und große Breitenwirkung auch im Ausland taugen mitnichten als Indiz für gute Literatur, und so mischt sich in den Chor der Jubel-Rezensenten denn auch prompt manche kritische Stimme, literarisch sei «noch reichlich Luft nach oben», urteilt beispielsweise die FAZ. Die Hassliebe des deutschen Feuilletons polarisiert sich in der hymnischen Rezension im «Spiegel» und dem gnadenlosen Verriss der «ZEIT». Was stimmt denn nun?

Letzteres, sage ich, der ich unwissend zu diesem Roman gegriffen habe, weder seine Thematik kennend noch die konträren Rezensionen oder gar ein anderes Werk des gefeierten Autors. Dieses Buch, war mein für mich ziemlich überraschendes Fazit, ist gründlich danebengelungen, und zwar aus vielerlei Gründen. Beginnen wir bei der Handlung, die grotesk unwirklich ist, zu abstrus, um hier komplett darüber zu berichten, auf einige wenige Einzelheiten will ich dennoch eingehen. Erzählt wird die Lebensgeschichte von Sebastian Eschburg, aus verarmtem «guten Hause» stammend, mit lieblosen Eltern, von Synästhesie betroffen, jahrelang Internatszögling. Anschließend Lehre als Fotograf, der dann in Rekordzeit ein weltweit gefeierter Künstler wird. Im zweiten Teil wechselt die Handlung abrupt, ein knorriger alter Rechtsanwalt übernimmt die Verteidigung des wegen Mordes angeklagten Protagonisten. All das wird in kurzen, präzise formulierten Sätzen nüchtern, geradezu «sachdienlich» erzählt, Schlag auf Schlag die Fakten aneinanderreihend und damit den Plot vorantreibend in einem selten so ausgeprägt zu erlebenden, komprimierten Text. Wer es sprachlich absolut schnörkellos mag, wird jubeln. Gar nicht schnörkellos hingegen ist der Plot selbst, man wundert sich über viele Abschweifungen, die dem Geschehen rein gar nichts hinzufügen, die eher falsche Erwartungen wecken wie das Nietzsche-Haus in Sils Maria mit seinen geraniengeschmückten Fenstern, um nur ein Beispiel zu nennen. Farblos bleiben auch die meisten Figuren, sie wirken gefühlsarm und ziemlich unsympathisch, allenfalls der Verteidiger vermag Empathie zu wecken beim Leser.

Zweifel sind angebracht, ob der anonyme Telefonanruf eines vermeintlichen Entführungsopfers und ein unter Folterandrohung erlangtes Geständnis tatsächlich einen Mordprozess ohne Leiche, – die einer unbekannten Frau obendrein, auszulösen vermag. Absurd auch die ausufernde Befragung des vernehmenden Polizisten über seine Einstellung zur Folter, ist doch aktenkundig und steht also von vornherein fest, dass so ein Geständnis gar nicht verwertbar ist. Fiktion des Autors? Oder denkbare Realität, ist er doch selbst Strafverteidiger, dessen Kompetenz ja wohl außer Frage steht. Fragwürdig, um nicht zu sagen geradezu lächerlich, ist auch das ins Pornografische abgleitende, bis dato größte Werk des gefeierten Künstlers mit dem Titel «Sofias Männer», für das Goyas Zwillingsgemälde «Die nackte Maja» und «Die bekleidete Maja» die Idee geliefert haben. Auf Eschburgs Foto ist seine Freundin Sofia nackt und 16 Männer in Anzügen stehen um sie herum und starrten sie an. «Auf dem zweiten Bild trug Sofia die Kleider der Maja. Die Männer standen so wie auf dem ersten Bild, aber jetzt waren sie nackt. Mit der gleichen Kopfhaltung starrten sie Sofia an, ihre Schwänze waren steif, sie zeigten auf das Gesicht und auf den Körper Sofias. Zwei der Männer hatten ihr Sperma auf Sofias Bluse gespritzt». Was will uns der Autor damit sagen? Und natürlich wird dieses grandiose Kunstwerk sogleich an einen Japaner verkauft, «du bist jetzt reich», sagt Sofia dazu. Es gibt dergleichen Peinliches mehr in diesem Buch, mancherlei philosophisches Geschwafel und psychologische Plattheiten obendrein, allzu viel ist inkonsistent und reichlich irritierend.

Mit minimalistischen Hauptsätzen als Werkzeug malt man literarisch kein hinreißendes Ölbild wie das der nackten Maja, eher die hastige Entwurfsskizze eines Frauenakts. Dementsprechend wirkt dieser Roman mit seiner verworrenen Geschichte, deren tieferer Sinn sich wohl nur der geistigen Elite unter den Lesern zu erschließen vermag, stilistisch freudlos, bar jeder Emotion, garantiert humorfrei außerdem. Wer eine erfreuliche, eine bereichernde Lektüre schätzt, dem sei geraten, den nebulösen Buchtitel hier mal ganz wörtlich zu interpretieren, frei nach Plautus: «nomen est omen».

Fazit: miserabel

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Genre: Roman
Illustrated by Piper Verlag München

Verführungen

streeruwitz-2Für die Fragen- und Denkbereiten

Schon mit ihrem 1996 erschienenen Debütroman «Verführungen» hat die österreichische Schriftstellerin Marlene Streeruwitz eine ganz eigenständige Poetik etabliert, an der man ihre Texte unschwer erkennen kann. Prägend für sie war nach eigenem Bekunden Faulkners Roman «Schall und Wahn», ein Schlüsselerlebnis literarischer Dekonstruktion. Die davon inspirierte, eigenwillige Syntax der nicht nur politisch, sondern auch ästhetisch streitbaren Autorin kann als ihr ureigenes literarisches Markenzeichen gelten. Als Zielgruppe ihrer stets infrage stellenden Literatur wolle sie die etwa zehn Prozent «Fragen- und Denkbereiten» erreichen, mit ihnen möchte sie «ins Gespräch kommen». Was nach Gutenbergs Erfindung ja nichts anderes bedeutet, als von ihnen gelesen zu werden. Also los!

Im vorliegenden Roman bezieht sich das literarische Infragestellen auf den trostlosen Alltag der Protagonistin Helene, einer dreißigjährigen Mutter von zwei kleinen, schulpflichtigen Töchtern, die von ihrem Ehemann verlassen wurde. Als Alleinerziehende kämpft sie einen einsamen Kampf mit widrigen Lebensumständen, zu denen die prekäre Teilzeitbeschäftigung in einer kleinen PR-Agentur ebenso gehört wie die ständigen Geldnöte, ihr bösartiger Exmann zahlt nämlich keinen Unterhalt, auch für die Kinder nicht. Die gleich nebenan wohnende Schwiegermutter hilft ihr, so gut sie kann, versorgt ihre beiden Enkeltöchter. Ihre beste Freundin Püppi, ebenfalls allein erziehend, lebt im Chaos und verfällt immer mehr dem Alkohol, sie ist eher Belastung als Hilfe. Helene ist oft so verzweifelt, dass sie an Suizid denkt, ihr desaströser Seelenzustand zeitigt sogar körperliche Beschwerden. Sie ist oft zum Umfallen müde, möchte einfach nur daliegen, nichts mehr sehen und hören. Als der Musiker Henryk in ihr Leben tritt, entsteht aus dem anfangs prickelnden, leidenschaftlichen Verhältnis bald eine weitere Enttäuschung. Er erweist sich nämlich als undurchschaubar, unzuverlässig, verschwindet oft für längere Zeit ohne jede Nachricht, der Mann ist ein weiterer Alptraum in ihrem ohnehin schon beschwerlichen, freudlosen Alltag. Immer wieder entflieht Helene für kurze Zeit in die Natur, fährt mit dem Auto ins Grüne, sucht im Alleinsein fernab vom geschäftigen Wien neue Kraft zu schöpfen für den Lebenskampf, in den sie sich vehement immer wieder von neuem stürzt, stürzen muss.

«Das reale Frauenleben hat in der Kunst keinen Platz, und diese humorigen Bücher für den Strand schwindeln sich ununterbrochen über diese Tatsache hinweg. Der Alltag der Frauen ist in Deutschland nicht genug literaturfähig. Ich will mit meinen Texten dieses Tabu brechen.» Streeruwitz tut dies in einer stakkatoartigen, adjektivarmen, spröden Sprache, die ihre engagiert feministische Thematik wirkungsvoll unterstreicht mit kurzen, meist kommalosen Hauptsätzen, oft sogar nur rudimentären Satztorsos. Sie erzählt ihre zeitlich etwa sieben Monate bis zur Deutschen Wiedervereinigung 1989 umfassende Geschichte strikt chronologisch, in episodenhaft aneinander gereihte, für sich genommen banale Einzelszenen gegliedert. Dabei benutzt sie als Stilmittel häufig den inneren Monolog und bleibt als auktoriale Erzählerin nicht erkennbar im Hintergrund.

Das Leitthema dieses Romans ist die verzweifelte Ohnmacht einer Frau und Mutter in einer männlich dominierten Gesellschaft, hier von der Autorin aus einer sehr zugespitzt feministischen Perspektive erzählt. Die Männer machen dabei allesamt keine gute Figur, sind jedenfalls wenig hilfreich, eher ursächlich für Helenes ermüdenden, zermürbenden Lebenskampf, für den eine strukturierende Moral oder Werteordnung nicht zu existieren scheint. Ein Roman zum Weiterdenken also, gekonnt und ambitioniert geschrieben zudem. Er endet ziemlich abrupt – und unerwartet versöhnlich – im Warteraum des Arbeitsamtes: «Zuerst würde sie den Computerkurs machen. Und dann war Weihnachten. Und dann. Im nächsten Jahr würde alles besser werden. Helene wurde aufgerufen».

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Fischer Taschenbuch Frankfurt am Main

Was für ein schöner Sonntag

semprun-1Was für ein schöner Kommunismus!

Das Werk des spanischen Schriftstellers Jorge Semprún ist geprägt durch seine bewegte Jugend, 13-jährig ging er mit seiner Familie wegen des Bürgerkriegs ins holländische Exil, nach dem Sieg Francos dann nach Paris. Er studierte dort Philosophie und trat 1941 der kommunistischen Résistance bei, wurde 1943 von der Gestapo verhaftet und 1944 ins KZ Buchenwald deportiert. Sein 1980 erschienener Roman «Was für ein schöner Sonntag» ist der Versuch einer späten, nachträglichen Aufarbeitung dieser für den damals jungen Mann prägenden Erlebnisse, sie stellt eine berührende Mahnung zur Humanität dar. Wie auch in vielen anderen seiner Werke geht es ihm hier besonders um das Vergessen, dem beschönigenden Verblassen historischer Schreckensbilder, dem er literarisch entgegen wirken will.

Die eigentliche Handlung betrifft einen einzigen Tag, einen Sonntag im Dezember 1944. Der Autor ist als Häftling 44904 in der Arbeitsstatistik des Konzentrationslagers Buchenwald eingesetzt, in dem viele politische Gefangene interniert sind. Ein privilegierter Schreibtischjob, der ihn vor den gefürchteten Außeneinsätzen bewahrt. In einer Art Vorspiel im Kapitel Null der in sieben Kapitel gegliederten Geschichte erzählt Semprún von einem Freigang, bei dem er die auf einer Wiese stehende, vermeintliche Goethe-Buche auf dem Hügel von Ettersberg bewundert. Was ihn fast das Leben gekostet hätte, denn ein SS-Mann entdeckt ich dort abseits des Weges. In diesem Vorspann bereits lässt der Autor Léon Blum, den ehemaligen französischen Ministerpräsidenten, und Goethe mit Eckermann auftreten, man ahnt da schon, dass wohl recht unkonventionell erzählt werden wird im Weiteren.

Und so ist es denn auch, die Erzählung folgt keinem planvoll angelegten Handlungsfaden, sie ist in keiner Weise chronologisch aufgebaut. Vielmehr folgt sie den Assoziationen des Ich-Erzählers, seinen zeitlich wilden Gedankensprüngen, die irgendein geschildertes Detail, eine bestimmte Erinnerung bei ihm auslösen, ihn damit allerdings auch permanent vom Thema ablenken. Und so findet man massenhaft Sätze wie «Aber wir wollen nicht abschweifen» oder, noch besser: «Aber wo bin ich stehen geblieben»? Oder Sätze wie: «Aber wir sind zwanzig Jahre früher an einem Sonntag in Buchenwald». Ein weiteres Stilmittel ist der häufige Wechsel der Erzählperspektive, der personale Ich-Erzähler wird unvermittelt zum Er-Erzähler, der von Gérard berichtet, den Decknamen aus dem kommunistischen Untergrund benutzend, und plötzlich wird dann auch noch suggestiv in der Du-Form erzählt, alle drei Formen finden sich zuweilen auf einer einzigen Seite.

Semprún stellt dem KZ-System der Nazis den stalinistischen GULAG gegenüber, manche seiner russischen Mitgefangenen landen nach der Befreiung gleich wieder in einem sowjetischen Straflager, man hält sie für Kollaborateure. Als Philosoph ergeht sich der Autor in schier endlosen Erörterungen des Kommunismus, redet von Dialektik, von Treffen der Komintern, vom Untergrundkampf in einer Detailfülle, die den Normalleser nicht nur überfordert, sondern verschreckt. In nicht nachvollziehbaren politischen Diskussionen und Winkelzügen einer endlos erscheinenden Reihe von Figuren, deren Namen allenfalls Insidern bekannt sein dürften, mit seinen ständigen Reisen kreuz und quer durch Europa verwirrt uns der Autor, der oft selbst nicht mehr weiß, wann, wo und warum. So ist dieser zwiespältige Roman einerseits eine fiktional angereicherte, interessante Autobiografie, andererseits die selbstgerechte Nabelschau eines kommunistischen Intellektuellen, der erst spät begreift, welcher menschenverachtenden Ideologie er gefolgt ist, wessen Sache er in Wahrheit gefördert hat. Den wenigen erfreulich zu lesenden Passagen dieses Romans steht eine nur Insider interessierende Textmasse gegenüber, die ungeordnete Gedankenflut eines spät geläuterten kommunistischen Aktivisten. Dem aber konnte ich, bei allem Respekt, partout nichts abgewinnen!

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Suhrkamp Frankfurt am Main

Lebensstufen

barnes-3Ein literarisches Taj Mahal

In seinem neuen Buch «Lebensstufen» verarbeitet der englische Schriftsteller Julian Barnes seine Trauer über den Tod seiner innig geliebten Frau. «Zwischen Diagnose und Tod lagen 37 Tage», wie er schreibt, und diese wenigen Tage waren beherrscht von «Angst, Schrecken, Sorge, Entsetzen». Nun könnte jemand, der das Buch schon kennt, einwenden, es gäbe neben dem letzten Teil über die Trauerarbeit des Autors ja noch zwei weitere, vorangehende Teile, in denen es um Anderes geht. Und in der Tat, der für sein Romanwerk mit bedeutenden Literaturpreisen geehrte Autor hat im vorliegenden Band versucht, so Verschiedenes wie die Anfänge der Ballonfahrt und der Fotografie mit solchen Themen wie Liebe und Trauer zu verbinden. Dieser Versuch aber ist gescheitert, es würde dem Buch nichts fehlen, hätte er die beiden ersten Teile einfach weggelassen. Denn die wenigen Stellen, in denen vage Bezüge zwischen ihnen geknüpft werden, sind keineswegs überzeugend, sie wirken konstruiert und nur dazu bestimmt, die seltsame literarische Melange aus einem Essay, einer Kurzgeschichte und einem autobiografischen Bericht irgendwie zu rechtfertigen.

Unter der Überschrift «Die Sünde der Höhe» wird im ersten Teil von den Anfängen der Ballonfahrt erzählt, als kühne Männer den Traum vom Fliegen verwirklicht haben auf den Spuren von Ikarus. Der von mir ungemein geschätzte, ironische Erzählton von Julian Barnes, sein trockener britischer Humor, blitzt hier – aber leider nur hier – an einer Stelle kurz auf. Wenn nämlich die englischen Ballonfahrer nach glücklicher Landung in Frankreich dem Wind dankbar sind, der sie dorthin getrieben habe, der kulinarischen Genüsse wegen, denen sie bei der Begrüßungsfeier entgegensehen, kein Vergleich mit dem, was sie bei einer Landung irgendwo auf englischem Boden erwarten würde, erklärt der frankophile Autor. Auch «La divine Sarah» wagt sich in den Ballon, die legendäre Schauspielerin Sarah Bernhardt, die Göttliche, und Gaspard Félix Tournachon alias Nadar macht aus der Gondel die ersten Luftaufnahmen. Zu den kühnen Aeronauten gehört auch Fred Burnaby, der sich im mehr fiktional angelegten zweiten Teil «Auf ebenen Bahnen» in die Diva verliebt und natürlich scheitert, eine Göttin heiraten zu wollen muss ja schiefgehen.

«Ein Buch über das Wagnis zu lieben» kündet der Klappentext an, und so ist denn schließlich, nach einem Zeitsprung von mehr als hundert Jahren, auch der dritte Teil das, worum es eigentlich geht: Die tiefe Liebe des Autors zu seiner Frau Pat Kavanagh und der Schrecken, als er sie nach dreißig Ehejahren plötzlich verliert. Es ist eine wahrhaft grenzenlose Liebe, die da vor uns ausgebreitet wird, man ist geschockt und tief gerührt als Leser über den unbewältigten Schmerz dieses Mannes, der mit seiner neuen Lebenssituation nicht umgehen kann, sie nicht akzeptieren will, auch nach mehreren Jahren noch nicht. Mit einer Fülle von Gedanken und leidvollen Erfahrungen als Hinterbliebener versinkt Julian Barnes in eine scheinbar nicht enden wollende Trauer, bei der ihn, der sich einmal selbst als glücklichen Atheisten bezeichnet hat, keine Jenseitsversprechen, kein Glaube an Wiedergeburt oder den Eingang ins Nirwana trösten.

In seiner posthumen literarischen Liebeserklärung, die souverän konventionelle Gattungsgrenzen ignoriert, hat Julian Barnes, den man der Postmoderne zuordnet als Autor, in beeindruckender Weise die Schrecken geschildert, die der Tod auf den hinterbliebenen Partner auszuüben vermag, ja die in seinem Fall sogar Gedanken an Suizid ausgelöst haben. Nicht alle seiner diesbezüglichen Reflexionen sind überzeugend, manche Vergleiche erscheinen mir missglückt in seiner sehr persönlich gehaltenen Geschichte. Er erzählt unpathetisch und atmosphärisch dicht von der unsäglichen Trauer um seine Frau, der er mit diesem intimen Buch eine Art literarisches Taj Mahal errichtet hat, das mir allerdings in etlichen Aspekten nicht als gelungen erscheint.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Kiepenheuer & Witsch Köln

Nachgetragene Liebe

haertling-1Von der Seele geschrieben

In dem autobiografischen Band «Nachgetragene Liebe» widmet sich der 1933 geborene Schriftsteller Peter Härtling seiner eigenen Vergangenheit, er erinnert sich darin an seine Kindheit bis hin zum Ende des Zweiten Weltkriegs, zeitlich also denkungsgleich mit der unsäglichen Geschichte des Nationalsozialismus. Es ist eine späte Aufarbeitung des Verhältnisses zu seinem Vater, zum Zeitpunkt der Veröffentlichung seiner Erinnerungen war Härtling immerhin schon sechzig Jahre alt. Im umfangreichen Werk dieses vielseitig interessierten, mit Vielem befassten Autors hat die Thematik des Erinnerns und der Bewältigung der Vergangenheit, sowohl in seiner Lyrik als auch in seiner Prosa, einen gewichtigen Anteil.

«Mein Vater hinterließ mir eine Nickelbrille, eine goldene Taschenuhr und ein Notizbuch, das er aus grauem Papier gefaltet und in das er nichts eingetragen hatte als ein Gedicht Eichendorffs, ein paar bissige Bemerkungen Nestroys und die Adressen von zwei mir Unbekannten. Er hinterließ mich mit einer Geschichte, die ich seit dreißig Jahren nicht zu Ende schreiben kann». Diesen einleitenden Worten folgt eine im Präsens erzählte Geschichte, beginnend mit den ersten Entdeckungstouren des fünfjährigen Peter Härtling auf dem Dreirad, der wissbegierig seinen Heimatort Hartmannsdorf bei Chemnitz erkundet. Schon die ersten Seiten dieser Erzählung erzeugen einen Sog, dem man sich als Leser kaum entziehen kann, mir ging es jedenfalls so, man fühlt sich wohl im Strom der Worte und will mehr wissen. Besonders reizvoll dabei ist die ungewohnte Ich-Perspektive eines Kindes, aus der heraus der Autor erzählt, er hat dafür eine überzeugende sprachliche Form gefunden, die man nirgendwo als aufgesetzt oder unglaubwürdig empfindet.

Härtlings Vater erscheint abweisend, fast unnahbar, ist als Richter und später als Rechtsanwalt immer beschäftigt, er ist die Respektsperson der Familie, nur selten auch Vollstrecker von Strafen, kümmert sich aber sonst kaum um die Erziehung des Sohnes. Umso stärker ist deshalb die Beziehung zur Mutter und zu den Großeltern, zu Onkeln und Tanten, die Peter in regem Wechsel gerne besucht. Zunehmend jedoch spielt die politische Situation in dieses friedliche Leben hinein, die Familie zieht nach Olmütz in Mähren um, wo sich Peter der Hitlerjugend anschließt, eine unbedachte und grobe Provokation seinen regimekritischen Eltern gegenüber, er entfernt sich dadurch erschreckend weit von seinem Vater. Der hilft als Anwalt tschechischen und jüdischen Mitmenschen gegen die Naziwillkür, ohne viel bewirken zu können, und wird bald zur Wehrmacht eingezogen, Peter sieht ihn für längere Zeit nicht mehr. Gegen Kriegsende, die Front rückt immer näher, taucht der Vater unerwartet wieder auf und evakuiert die Familie nach Zwettl in Niederösterreich. Dort hilft er im Chaos der Truppenauflösung als Offizier beherzt den flüchtenden Soldaten, indem er ihnen unautorisiert Entlassungsscheine ausstellt. Allmählich erscheint er dem vom Endsieg träumenden Peter in einem ganz anderen Licht. Kurz darauf jedoch stirbt der Vater in russischer Gefangenschaft, ohne dass Peter Gelegenheit zu einer Versöhnung mit ihm hatte, ohne dass er vorbehaltlos wieder Sohn werden konnte.

Als Zeitdokument beleuchtet dieses Buch eindrucksvoll das dunkelste Kapitel der deutschen Geschichte, vor dessen Hintergrund sich schicksalhaft eine Vater-Sohn-Beziehung entwickelt, die mit ihrer zunehmender Entfremdung die politischen Ungeheuerlichkeiten widerspiegelt. Präzise erinnert, ebenso detailreich wie glaubhaft erzählt, entsteht das damalige Leben vor dem Auge des Lesers, und mittendrin immer Peter Härtling, der sich Jahrzehnte später hier offensichtlich etwas von der Seele schreiben musste.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by dtv München

In Zeiten des abnehmenden Lichts

ruge-1Vergänglichkeit war noch nie ein vergnügliches Thema

Es ist erfreulich, dass immer wieder neue Autoren mit ihren Debütromanen renommierte Literaturpreise erringen, auf Anhieb also gleich in den Olymp der Literatur aufsteigen. So auch Eugen Ruge, der 2011 mit seinem Erstling eine Familien-Saga ablieferte, die jenen deutschen Staat widerspiegelt, der den real existierenden Sozialismus zu höchster Blüte getrieben hat, nach eigenem Verständnis jedenfalls. Als „gelernter Ossi“ hat der Autor manch Autobiografisches in seinem Roman verarbeitet, die Befindlichkeiten seiner Protagonisten, die vier Generationen repräsentieren, sind jedenfalls stimmig dargestellt in seiner kunstvoll aufgebauten Geschichte, die mit ihren diversen Kapiteln und einer Geburtstagsfeier im Zentrum ans Theater erinnert, – wen wundert’s denn auch!

«Ich hab eigentlich genug Blech im Karton» oder «Bring das Gemüse zum Friedhof» lässt Ruge den senilen Patriarchen der Familie, Altkommunist und Betonkopf zugleich, bei seiner Geburtstagsfeier immer wieder sagen, wenn ihm wertloses Ordensblech und heuchlerische Blumen überreicht werden. Wir lesen von all den Unzulänglichkeiten des täglichen Lebens, da wird überzähliger Kaviar gegen fehlende Dachfenster getauscht, die Suche nach einer akzeptablen Gaststätte gerät zur Odyssee in klirrender Kälte und endet in einer Imbissbude. Mit subtiler Ironie wird das Alltagsleben in jenem dem Untergang geweihten deutschen Staate geschildert, dessen Ideologie keinesfalls absurder war als die des Turbokapitalismus, wie wir ihn heute im wiedervereinigten Deutschland zelebrieren.

Eugen Ruges DDR-Saga ist übrigens weder mit den Buddenbrooks noch mit Tellkamps «Der Turm» vergleichbar, wie verschiedentlich behauptet. Hier geht es um die Lebenswelt einer zunächst weitgehend systemkonformen Familie, bei Tellkamp um eine eher oppositionell eingestellte systemferne Bourgeoisie. Und bei Thomas Mann ist die Familie kein Vehikel, mit dem eine Staatsordnung vorgeführt wird, sondern alleiniges Thema, bei ihm geht die stolze Familie unter, nicht der Staat.

In den nicht chronologisch angeordneten zwanzig Kapiteln wird alternierend jeweils aus Sicht eines der Protagonisten erzählt, oft in Form innerer Monologe und als kleine, in sich abgeschlossene Geschichten. Mit Abstand die Beste war für mich das liebeswerte Kapitel über die geradezu archaisch wirkende russische Großmutter, für die «schon jedes Haus aus Stein eine Kirche war». Diese aufgefächerte Erzähltechnik sorgt einerseits für Spannung, erfordert andererseits aber auch viel Aufmerksamkeit, denn alle diese Mosaiksteine formen sich erst im Kopfe des Lesers zu einem stimmigen Panorama, er muss also aufmerksam sein und mitdenken. Macht er sich diese Mühe, wird er mit einem großartigen Gesellschaftsbild einer vergangenen geschichtlichen Epoche bestens unterhalten. Ihm wird außerdem je nach Herkunft, als „Wessi“ aber ganz bestimmt, der Horizont erweitert, und zwar nicht nur ideologisch. Dass man nicht gerade in Hochstimmung gerät bei Ruges melancholischem Text, das liegt in der Natur der Sache, in Zeiten des abnehmenden Lichts, im Herbst des Lebens also, denn die Vergänglichkeit war noch nie ein vergnügliches Thema.

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Rowohlt

Pixel

toth-1Wie gewollt und nicht gekonnt

Bereits mit dem Titel «Pixel» und der dazu passenden Covergrafik gibt die ungarische Autorin Krisztina Tóth einen Hinweis auf die Struktur ihres Buches, eine Sammlung von dreißig Kurzgeschichten, von ihr als Novellen bezeichnet. So wie sich aus kleinsten Bildelementen ein digitales Bild zusammensetzt, so ergibt sich auch aus ihren Geschichten von dreißig menschlichen Körperteilen, die sie für ihre kapitelweise aneinandergereihten kurzen Prosatexte jeweils thematisch nutzt, ein Gesamtes.

Als vorherrschendes Thema dieser Kurzgeschichten kann man im weitesten Sinne die Liebe bezeichnen, in allen ihren Spielarten, von Trieben ausgelöst und von Urinstinkten gesteuert. Der Leser folgt der Autorin in einem tollkühnen Parforceritt durch das verminte Gelände aller Arten von menschlichen Bindungen, die nicht immer allen Belastungen standhalten, manchmal in ausweglose Situationen münden und dort nicht selten seelische Abgründe offenlegen. Gleich im ersten Kapitel mit der Überschrift «Die Geschichte der Hand» wird es dramatisch, eine Szene aus dem Warschauer Getto. Mit kindlichen Patschhändchen malt ein kleiner Junge mit Schneiderkreide Kreise auf den Tisch. «Die Tür wird eingetreten, die drei Menschen im Zimmer werden in die Ecke gedrängt. Celina springt auf, sie bemerkt noch die Schneiderkreide, doch sie kann nichts mehr sagen, weil sie erschossen wird». Es folgt ein Verwirrspiel, bei dem die Autorin als personale Erzählerin ihre Erzählung korrigiert, aus dem in Treblinka gestorbenen Jungen das Mädchen Irena macht, die zuletzt in Wirklichkeit Gavriela heißt und gar nicht tot ist. «Ich weiß, das hört sich so immer komplizierter an, doch können wir die widerstrebenden wirren Fäden der Wahrheit nicht zu einer glänzenden Quaste glätten».

Die literarisch bisher vorwiegend als Lyrikerin hervorgetretene Autorin biedert sich, ein wenig zu aufdringlich für meinen Geschmack, immer wieder ihren Lesern an. Sie treibt ihre kleinen Geschichten vehement voran, brilliert mit originellen Einfällen und verblüfft häufig mit überraschenden, manchmal wahrhaft aberwitzigen Wendungen. Erzählt ist das alles sehr distanziert, fast lakonisch, in einer einfach strukturierten, etwas holprigen Sprache, der man anmerkt, dass hier vom Ungarischen ins Österreichische übersetzt wurde; – ein Deutscher wie ich fragt sich beispielsweise verblüfft, was denn ein «Unterstandsloser» ist. Einige der Figuren tauchen in den dreißig Geschichten immer wieder mal auf, die «Frau mit den weinroten Haaren» ist so eine. Aus scheinbar zusammenhanglosen Begebenheiten formen sich auf diese Weise allmählich schwache Beziehungsfäden, es entsteht eine zeitliche Abfolge von miteinander verbundenen, sich gegenseitig bedingenden Ereignissen, die sich puzzleartig zu einem Gesamtbild fügen wie die Pixel eines digitalen Bildes. Auf ihren Text bezogen schreibt die Autorin im Klappentext dazu: «Die Worte für die Prosa stellen sich ein».

So kühn der Entwurf für dieses Buch auch anmutet, so wenig kann mich die daraus entstandene Prosa überzeugen. Das beginnt schon bei den Körperteilen, deren erzählerische Funktion häufig sehr aufgesetzt wirkt, eine geradezu zwanghafte Konstruktion, nur um ein vorgegebenes Schema durchzuhalten. Einige der Kurzgeschichten erscheinen mir weitgehend sinnfrei, die für eine übergeordnete Sinnhaftigkeit beschworenen Querverbindungen sind oft nur schemenhaft zu erkennen, zuweilen auch gar nicht. Alle Figuren bleiben unkonturiert, erzeugen keine Empathie, sie stehen schablonenhaft für bestimmte menschliche Typen. Der lobenswerten Intention der Autorin folgt leider keine adäquate literarische Umsetzung, alles bleibt gutgemeintes Stückwerk, wirkt «wie gewollt und nicht gekonnt», und der Unterhaltungswert all dessen erscheint mir ebenfalls äußerst dürftig.

Fazit: miserabel

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Genre: Roman
Illustrated by LZ.Nischen Verlag

Das bessere Leben

peltzer-1Modern Times

Mit seinem fünften Roman «Das bessere Leben» hat es Ulrich Peltzer unter die Finalisten des Deutschen Buchpreises 2015 geschafft, eine aktuelle Prosa also, die von der Jury als «Ein Werk von enormer Wucht und Relevanz» angesehen wird. Charakteristisch für diesen Autor ist einerseits das Ausblenden einer realistischen, glaubwürdigen Außenwelt, sein Augenmerk liegt dominant, fast ausschließlich sogar auf der Innenwelt seiner Protagonisten, die immer wieder, und das ist ebenfalls spezifisch Peltzer, reine Großstadtmenschen sind. Landschaften würden wenig auslösen bei ihm, hat er dazu angemerkt, er sei am liebsten in Metropolen, und so sind denn auch viele seiner Figuren Weltbürger, den ökonomischen Global Players entsprechend, als deren Akteure sie fungieren.

Zwei solcher Managertypen sind Protagonisten des vorliegenden Romans, zum einen der Sales-Manager Ulrich Brockmann, der für einen in Turin ansässigen Hersteller von Anlagen zur Oberflächenveredlung tätig ist, und der Versicherungshändler Sylvester Lee Fleming, der Risikomanagement betreibt. Peltzer beschreibt deren berufliches Leben als ewige Hetze von Termin zu Termin, zwischen VIP-Lounges an den Flughäfen dieser Welt und den Rezeptionen und Lobbys der noblen Hotels, die sich weltweit so gleichen, dass man beim Aufwachen im Hotelzimmer schon mal kurz überlegen muss, wo man hier denn eigentlich ist. Beide bewältigen ihren stressigen Job, immer am Rande des Zusammenbruchs, nur mit dem extensiven Einsatz von Medikamenten, leiden unter Schlaflosigkeit ebenso wie unter Dauerkopfschmerzen. Der Sinn des Ganzen, so erfahren wir, ist «das bessere Leben» im Sinne materiellen Wohlergehens, Kapitalismus in reinster Ausprägung also, ein biblischer Tanz ums Goldene Kalb. Mit diesem sehr speziellen Gegenwartsbild wird eine ökonomische Wirklichkeit beschrieben, in der mit höchstem Risiko nur noch dem schnellen Geld hinterher gejagt wird von Deal zu Deal, bei dem die Akteure allerdings ständig der Gefahr des bodenlosen Absturzes ausgesetzt sind. Die Casino-Mentalität der Finanzwelt ist also auch in der sogenannten Realwirtschaft angekommen. Die Produkte scheinen nebensächlich geworden zu sein, man identifiziert sich nicht mehr mit ihnen, nur der kurzfristig erzielbare Profit zählt noch.

Dass Zwischenmenschliches dabei entschieden zu kurz kommt, versteht sich von selbst. Der Autor erzählt seine Geschichte zu weiten Teilen in Form des Bewusstseinsstroms aus der Perspektive verschiedener Protagonisten. Das führt dann dazu, dass seine entsprechend verknappte Prosa gespickt ist mit Schlagwörtern, unvollständigen Sätzen, der Globalisierung geschuldeten Anglizismen sowie banalen Phrasen aus der Alltagssprache, häufig natürlich auch in Englisch. Zusätzlich bremsen viele eingestreute, in Klammern gesetzte Ergänzungen, Fragen, Bekräftigungen ebenso wie häufige Auslassungen den Lesefluss. Angereichert ist das Ganze mit Reminiszenzen an einstige linke Ideale und mit alltagsphilosophischen Anmerkungen, deren gedankliche Tiefe konsequent auf Stammtischniveau begrenzt bleibt.

Unwillkürlich fühlte ich mich bei der Lektüre an den Chaplin-Film «Modern Times» erinnert. Der damals thematisierten Zeitenwende der industriellen Revolution entspricht die hier geschilderte ökonomische Wende von Nutzen stiftender, realer Produktion hin zu rein virtuellen, anonymen Geschäften, denen anscheinend nichts Greifbares mehr gegenübersteht. Ein vom Ziel her ambitionierter Roman also, dessen Umsetzung allerdings nicht überzeugen kann. Indem der Autor die aufgeworfenen Themen ohne eigene Reflexion ausschließlich der intellektuellen Ebene seines Figurenensembles überlässt, fehlt seinem Text ein wichtiges Korrektiv, macht ihn gedanklich damit trivial. Er ist auch nicht gerade leicht zu lesen mit seinem üppig mäandernden Plot, der in einer kitschigen Familienfeier endet, die so gar nicht zum vorher Erzählten passen will. Schade eigentlich, die Intention hinter alldem ist ja lobenswert!

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Fischer Taschenbuch Frankfurt am Main

Der Zementgarten

mcewan-1Sex sells

Der englische Schriftsteller Ian McEwan hat 1978 mit seinem vielgerühmten Romandebüt «Der Zementgarten» den Einstieg zu einer Weltkarriere geschafft, er gilt heute als der erfolgreichste Autor seines Landes. Zur Popularität beigetragen haben sicherlich diverse Verfilmungen seiner Romane, die ausgeklügelte Konstruktion seiner Plots wie auch die von ihm favorisierten, psychologisch ergiebigen Thematiken Liebe, Selbstfindung, Verlust, Verrat, Vergänglichkeit, sind schließlich in ihrer Kombination ideale Vorlagen für filmische Adaptionen. Hinzu kommt, im vorliegenden Roman unübersehbar, die wie festzementiert ewig gültige Marketing-Erkenntnis: Sex sells!

«Der Zementgarten» beginnt mit einem Paukenschlag, sein erster Satz lautet: «Ich habe meinen Vater nicht umgebracht, aber manchmal kam es mir vor, als hätte ich ihm nachgeholfen.» In einer trostlosen Umgebung, im letzten noch nicht abgerissenen Haus einer Siedlung, die einer Straße weichen musste, lebt eine sechsköpfige Familie. Der Vater erleidet einen Herzinfarkt und fällt in ein frisch angelegtes Zementbett, mit dem er seinen Garten pflegeleichter machen wollte. Sein 13jähriger Sohn Jack, der dazukommt, wartet bewusst viel zu lange, bis er Hilfe holt. Als zwei Jahre später die Mutter zuhause stirbt, nach langer Krankheit und auf eigenen Wunsch ohne ärztliche Betreuung, melden die Kinder ihren Tod den Behörden nicht, weil sie dann als Waisen auseinandergerissen in irgendwelchen Heimen landen würden. Sie benutzen Sand und Zement des Vaters und lassen die Leiche der Mutter in einer Kiste im Keller verschwinden, die sie bis obenhin mit Mörtel auffüllen. Die älteste Tochter, die inzwischen achtzehnjährige Julie, nimmt die Stelle der Mutter ein, niemand merkt etwas, die kontaktarme Familie bekommt so gut wie nie Besuch. Der Haushalt verkommt allmählich, es ist ein heißer Sommer, die Jugendlichen haben Schulferien und lassen sich ziellos treiben, haben zu nichts Lust. Als Julie dann Derek kennenlernt, einen eitlen professionellen Billardspieler, und ihn nach Hause mitbringt, wird der schon bald misstrauisch. Er stellt einen merkwürdigen Geruch im Haus fest, der aus dem Keller kommt, und entdeckt die Kiste. Jacks Hund wäre dort begraben, sagen ihm die Teenager. Eines Tages albert Julie mit Jack herum, sie raufen miteinander, ziehen sich nackt aus, beginnen mit Petting. Derek, den Julie immer keusch auf Abstand gehalten hat, erwischt sie dabei. Er läuft empört aus dem Zimmer, Julie riegelt die Tür zu, es kommt zum Inzest; für Julie die Entjungferung, auch für Jack ist es das erste Mal. Wütend zertrümmert derweil Derek im Keller mit einem Vorschlaghammer den Zement und alarmiert die Polizei. Buch und Beischlaf enden mit Blaulicht.

Nicht nur die äußeren Kontakte fehlen dieser Familie, auch innerhalb herrscht eine bedrückende Verständnislosigkeit füreinander. Julie, die Älteste, sucht Bestätigung im Sport. Jacks Pubertät äußert sich im ständigen Onanieren, der Autor erspart uns nichts davon. Überhaupt ist Sexualität ein wichtiges Thema, in Doktorspielen ist die jüngere Schwester Sue Untersuchungsobjekt für Julie und Jack. Als sie dafür dann zu alt ist, nicht mehr mitspielt, verschanzt sie sich hinter ihren Büchern. Der fünfjährige Nachzügler Tom schließlich reagiert mit einem Rückfall ins Babyalter.

Es sollte wohl ein Lehrstück der Psychoanalyse werden, was McEwan da, in uninspiriert einfacher Sprache, aus der unbekümmert naiven Perspektive seines Ich-Erzählers Jack berichtet. Die Geschichte einer Verwilderung, deren Ursachen in der völligen sozialen Isolation ebenso liegen wie im Fehlen der elterlichen Autorität. Den Nachweis allerdings, dass zwischen chaotischer familiärer Situation und sexuellem Tabubruch ein Zusammenhang besteht, eindeutig ja Intention des Autors, bleibt er dem Leser schuldig. Das wäre auch kaum plausibel, inzestuöse Triebe gibt es schließlich in allen gesellschaftlichen Schichten. Es ist in jeder Hinsicht wenig überzeugend, was man da liest!

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Diogenes Zürich

Rot ist mein Name

pamuk-1Gipfel literarischer Ambivalenz

Der Nobelpreisträger Orhan Pamuk nutzt seine Reputation als hochgeachteter Schriftsteller gern zu politischer Einflussnahme. Er ist als Mahner unbequem in seiner vom Selbstverständnis her zwischen Orient und Okzident zerrissenen, türkischen Heimat, in der man ihn als besonnenen Vermittler denn auch heftig anfeindet. Von diesen spezifisch nationalen Identitätsproblemen handelt auch sein Roman «Rot ist mein Name», der die Konflikte historisch am Buchmalerstreit Ende des 16ten Jahrhunderts spiegelt. Die zunächst nur auf prachtvoller Kalligrafie und üppiger Ornamentik beruhende orientalische Buchkunst wurde damals zunehmend ergänzt durch eine figurale Malerei, die im Widerspruch stand zum streng orthodoxen Islam. Einige Maler jener kunstvollen Miniaturen in den wertvollen Büchersammlungen der osmanischen Herrscher sind Protagonisten des vorliegenden Romans.

Die zeitlich neun Tage im schneereichen Winter des Jahres 1591 umfassende, in 59 Kapiteln multiperspektivisch erzählte Geschichte beginnt furios: «Ein Toter bin ich nun, eine Leiche auf dem Grund eines Brunnens.» Fein Efendi, ein Ornamentierer und Vergolder aus einer Malertruppe in Istanbul, die im Auftrag des Padischahs an einem geheimen Buch arbeitet, wurde erschlagen und in einen Brunnen geworfen, er spricht nun aus dem Zwischenreich, jener Zeit zwischen Tod und Jüngstem Gericht, direkt zum Leser und fordert ihn auf, seinen Mörder zu finden. Im nächsten Kapitel «Mein Name ist Kara» berichtet der Meister-Illustrator von seiner Ankunft in Istanbul nach zwölfjährigem Aufenthalt in fernen Ländern. Sein Oheim, der ihm damals die Hand seiner Tochter Şeküre verweigert hatte, braucht ihn zur Fertigstellung des geheimen Buches. Außer dem Oheim, Kara und Şeküre kommt ein Hund zu Wort, ein Baum, der Altmeister Osman, die Straßenhändlerin Esther, der Mörder, die drei Maler aus der Werkstatt des Oheims Schmetterling, Storch und Olive, eine Münze, der Tod, die Farbe Rot natürlich, die dem Roman seinen Titel gab, Satan, eine Frau und zwei Gottesnarren. Die Liebe zwischen Kara und Şeküre bildet den einen, die Suche nach dem Mörder, der später auch den Oheim umbringt, den zweiten Handlungsstrang in dem chronologisch erzählten Plot. Im letzten Kapitel, ganz am Ende, überrascht uns Şeküre: «Weil es unmöglich sein wird, diese Geschichte zu malen, habe ich sie meinem Sohn Orhan erzählt, damit er sie vielleicht aufschreibt.» Sic!

Neben der kurz skizzierten eigentlichen Handlung nehmen endlos scheinende Gespräche der Buchmaler den weitaus breitesten Raum ein, historische Einschübe und ausufernd detaillierte Erörterungen der orientalischen Maltechniken, bis zum letzten Pinselstrich sozusagen. Die aus Venedig stammende Neuerung perspektivischer Malerei und die «fränkischen» Art der realistischen, nicht idealisierten Darstellung, zu der zum Beispiel auch das Hinzufügen von Schatten gehört, die das vorher flächige Bild erstmals plastisch wirken lässt, erregt die Gemüter ebenso wie ganz neuartige Bildmotive. Diese im Islam als Revolution, ja als Ketzerei empfundene neue Malweise ist denn auch der Anlass für die beiden Morde.

Wem, fragte ich mich am Ende bestürzt, könnte man diesen Roman zur Lektüre empfehlen? Nur hartgesottenen Lesern, die auch noch unendliche Geduld mitbringen! Geduld mit einer verschnörkelten, überbordend arabesken Erzählweise, mit in epischer Breite abgehandelten, kulturhistorischen Details, mit einer auch für Orientalisten wohl kaum verifizierbaren, inflationären Schar von Herrschern, Kriegern, Malern, deren eigentlich völlig irrelevante Namen die Verwirrung des Lesers vollends auf die Spitze treiben. Zudem stehen dem beim Lesen zuweilen wohltuenden Humor schockartig brutalste Grausamkeiten gegenüber, viel abstoßender noch wirkt die omnipräsente, häufig thematisierte Päderastie. Ich habe selten einen so ambivalenten Roman gelesen – und mich auch noch nie so schwer getan, ihn für mich stimmig zu bewerten!

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Fischer Taschenbuch Frankfurt am Main

Der Cembalospieler

morsbach-1Weniger wäre mehr gewesen

Man kann der Schriftstellerin Petra Morsbach nicht vorwerfen, dass sie sich auf ein Lieblingssujet konzentriert in ihren Romanen, ihr Interesse richtet sich auf unterschiedlichste Stoffe. Mit «Der Cembalospieler» hat sie sich der Alten Musik zugewandt, wobei sie zu gedanklichen Höhenflügen abhebt, die dem in der Musiktheorie und –geschichte weniger bewanderten Normalleser deutlich seine Grenzen aufzeigt, ihn häufig kaum noch folgen lässt bei feinsinnigen Analysen hochkomplexer Kompositionen, – für fachlich kompetentere Leser andererseits sicherlich ein willkommener Streifzug durch ein elitäres Spezialgebiet klassischer Musik.

Felix Bauer, der Ich-Erzähler, entdeckt mit fünf Jahren seine Liebe zum Klavier, spielt schon nach wenigen Tagen erstaunlich gut, ein typisches Wunderkind. Er stammt aus prekären Verhältnissen, der Vater ist Trinker und verlässt die Familie, die Mutter zermürbt die beiden Söhne mit permanenten Anschuldigungen, sie ist der personifizierte Vorwurf, eine im Dauerfrust lebende Frau, die sich durch die Söhne ein Ventil zum Frustabbau verschafft. Das Dauerfeuer an Vorhaltungen treibt Felix von frühester Jugend an, – neben seinem sowieso grenzenlos scheinenden Enthusiasmus -, ebenfalls in die Gefilde der Musik. Er durchläuft die übliche Wunderkindkarriere mit Höchstleistungen auf allen Gebieten, findet durch glücklichen Zufall zum Cembalo, seiner großen Liebe, die sein ganzes Leben dominieren wird bis zum Ende der Karriere. Bald gibt er die ersten Konzerte, wird zum gefeierten Star an seinem Instrument, arbeitet am Konservatorium in Salzburg, erfreut sich der Gunst vieler Mäzene, die ihn nach Kräften fördern. Schnell wird er in prominente Künstlerkreise aufgenommen, kann sich sein sündteures Traum-Cembalo bauen lassen.

Als er zehn Jahre alt war, wurde bei ihm eine unheilbare Netzhauterkrankung diagnostiziert, die die Sehfähigkeit bald auf wenige Prozent herabsetzen wird. Als junger Mann schließlich bemerkte er seine homosexuelle Orientierung, die ihm neben seiner einseitig der Musik gewidmeten Lebensplanung und dem Versinken in die dunkle Welt des weitgehend Blinden auch noch eine geschlechtliche Außenseiterrolle zudiktiert. Sein System sozialer Beziehungen ist deshalb mehr als kümmerlich entwickelt, er lebt zumeist allein in einer winzigen Wohnung in München, sein Privatleben besteht zu großen Teilen aus Üben für das nächste Konzert, aus Cembalounterricht oder der Vorbereitung von Fachvorträgen. Als er jenseits der Vierzig ist, erlischt allmählich das Interesse des Publikums an Alter Musik und am Cembalo als Instrument, die Mäzene ziehen sich zurück; der Absturz in prekäre finanzielle Verhältnisse steht ihm bevor, darüber ist er sich illusionslos im Klaren.

In fünf Kapitel unterteilt erzählt die Autorin in zwei alternierenden Zeitebenen, durch normale und kursive Schrift leicht unterscheidbar, abwechselnd von Vorbereitungen des Superstars auf lukrative Privatkonzerte und vom Lebensweg ihres Protagonisten. Beide Handlungsebenen münden in eine fatale Zukunftsperspektive für das einstige Wunderkind. Die schlichte, humorlos ernste Sprache bietet keine literarischen Höhenflüge, sie vermittelt zweckgerichtet und schnörkellos die Lebensgeschichte eines Hochbegabten, damit einerseits an den «Doktor Faustus» von Thomas Mann erinnernd, vor allem aber an «Der Untergeher» von Thomas Bernhard. Die Tragik des Genies, seine Zwanghaftigkeit, die Defizite im Menschlichen, der zerstörerische Kunstbetrieb, all dies erscheint mir hier sehr klischeehaft erzählt, die so selbstsicher demonstrierte Fachkompetenz ist mir verdächtig, zumindest aber hinterfragbar, ein Adorno wie beim «Doktor Faustus» wird jedenfalls nicht benannt. Weniger wäre mehr gewesen, meine ich, der Plot mit seinem blinden, schwulen Wunderkind trägt deutlich zu dick auf, er verprellt zudem mit seinem musiktheoretischen Fachchinesisch eher, als dass er unterhält oder den Leser wirklich bereichert.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Piper München, Zürich, Piper Verlag München

Die Angst des Tormanns beim Elfmeter

handke-1Eine literarische Anamnese

Auffallend oft werden Schriftsteller aus Österreich der Kategorie «Enfant terrible» zugerechnet, man denke nur an Elfriede Jelinek oder Thomas Bernhard, und auch Peter Handke gehört zu dieser aufmüpfigen Spezies. Wusste doch der noch nicht Dreißigjährige mit seinem deutlich auf Konfrontation weisenden Sprechstück «Publikumbeschimpfung», 1966 unter Claus Peymann erstmals aufgeführt, früh zu schockieren, und auch seine Erzählung «Die Angst der Tormanns beim Elfmeter» von 1970, bereits ein Jahr später von Wim Wenders verfilmt, machte ihn plötzlich einem breiten Publikum bekannt, – woran die beiden ungewöhnlichen Titel einen nicht zu unterschätzenden Anteil haben dürften. Lohnt es sich also, diese frühe Erzählung des Avantgardisten zu lesen, auch wenn sie, das sei hier gleich vorweggeschickt, mit so eindeutig Realem wie Fußball herzlich wenig zu tun hat?

Zwar ist Handkes Held ein ehemaliger Torwart, in dieser Eigenschaft allerdings tritt er nicht auf, nur sein entsprechendes Insiderwissen wird auf der letzten Seite des Buches thematisiert. Denn da erklärt Josef Bloch als Zuschauer einem anderen Mann die Finten, mit denen Tormann und Elfmeterschütze sich gegenseitig auszutricksen versuchen, um die richtige Schussrichtung vorauszuahnen. Wir lernen Bloch kennen als Monteur, der eine Geste seines Poliers bei der Jause in der Bauhütte als Entlassung missdeutet. Er streift rastlos durch Wien, besucht Restaurants und Cafés, mietet sich in einem Hotel ein, geht öfter ins Kino, sucht Kontakt zu Frauen und landet schließlich ganz unvermutet mit der Kassiererin eines Kinos im Bett. Am Morgen sieht er statt der Teeblätter Ameisen in der Teekanne. «Ich heiße Gerda, sagte sie. Bloch hatte es gar nicht wissen wollen.» Das stockende Gespräch zwischen ihnen irritiert ihn zunehmend. «Aber dann störte ihn alles immer mehr. Er wollte ihr antworten, brach aber ab, weil er das, was er vorhatte zu sagen, als bekannt annahm». Plötzlich, ganz unvermittelt, erwürgt er die Frau. Von der ersten Zeile an deutet Handke durch seine lakonisch knappe Erzählweise in einfach strukturierten Sätzen auf die Schizophrenie seiner Figur hin.

Blochs Wahrnehmung ist sichtlich gestört, Gegenstände und deren Bezeichnungen scheinen ihm nicht mehr zusammenzupassen, er kann Wesentliches nicht mehr von Unwichtigem trennen, sucht Streit, kann kaum noch eine sinnvolle Unterhaltung führen, ist getrieben von seinem haltlosen Bewegungsdrang. Handke schildert strikt aus der Sicht seines Helden, was dazu führt, dass der Leser gefordert ist, aus dem Erzählten jeweils das herauszudestillieren, was signifikant ist für die Geschichte. Und andererseits zu erkennen, was überhaupt nicht relevant ist, was nur die psychotisch bedingten Wahrnehmungen des Protagonisten verdeutlichen soll. Ein solcher Text ist natürlich nicht gerade leicht zu lesen, will man seinen Hintersinn erfassen, auch wenn die anspruchslos klare Sprache, ein Stilmittel, mit dem der Autor die Wirklichkeit zu reflektieren sucht, dies dem Leser suggerieren könnte. Allerdings wäre das Ganze dann völlig sinnfrei, es ist nämlich kein Krimi, was wir da lesen trotz des Mordes, es gleicht eher einer Anamnese.

In seiner verstörenden Erzählung beschreibt Peter Handke den Wirklichkeitszerfall seines Protagonisten Josef Bloch, ein ambitionierter Versuch, sich in den Kopf eines Geisteskranken hinein zu versetzen, strikt aus der verqueren Perspektive seiner von der Realität überforderten Figur zu berichten, auch wenn das Geschilderte vordergründig keinen Sinn macht. Oder doch? Nicht immer ist ja die Wirklichkeit genau das, was wir glauben, in ihr zu sehen. Die Erzählung endet jedenfalls mit den Sätzen: «Der Schütze lief plötzlich an. Der Tormann, der einen grellgelben Pullover anhatte, blieb völlig unbeweglich stehen, und der Elfmeterschütze schoss ihm den Ball in die Hände». Ob da der Schlüssel für das Verständnis dieses Buches liegt, muss jeder Leser für sich selbst entscheiden.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Suhrkamp Frankfurt am Main

Der Verfolger

cortazar-1Phantasmagorien eines Jazz-Idols

Drei Jahre nach dem Tode von Charly Parker erschien die Erzählung «Der Verfolger» von Julio Cortázar, dem argentinischen Schriftsteller, der die zweite Hälfte seines Lebens in Frankreich gelebt hat. Er war als Meister der kleinen epischen Form vor allem bekannt für seine Kurzgeschichten und Erzählungen. In seiner Prosa treibt er die Fiktion bis an den Rand des Phantastischen, ohne je vollends ins Surreale abzugleiten. Auch für «Der Verfolger» gilt, was er ganz allgemein dazu geäußert hat: «…meine Erzählungen sind niemals fröhlich. Sie sind eher tragisch oder dramatisch. Sie sind der Nacht näher als dem Tag».

Gleichwohl schimmert da zuweilen auch Humor durch, dem Lächeln ähnlich, das selbst auf einer Beerdigung manchmal unvermeidlich ist. Womit das Ende vorab schon angesprochen ist. Denn der Held der Erzählung, der begnadete Saxophonist Jonny Carter, für dessen Figur bereits durch die Widmung «In memoriam Ch. P.» deutlich auf die Jazzlegende Charly Parker als Vorlage hingewiesen wird, stirbt zum Schluss. Wir erleben den Niedergang des großen Musikers aus der Sicht des Ich-Erzählers Bruno, eines Jazzkritikers, der zu seinen glühenden Bewunderern gehört, eng mit ihm befreundet ist und eine Biografie über ihn geschrieben hat, die «sich verkauft wie Coca Cola». Die handlungsarme Geschichte kommt einem bekannt vor, vom Absturz berühmter Musiker hat man so oder ähnlich schon dutzend Male gehört, und die Ingredienzien sind auch immer die selben, Alkohol und Rauschgift. Cortázar aber unternimmt hier den Versuch, hinter das Geheimnis einer solch tragischen Entwicklung zu kommen, die Ursachen der nicht kurierbaren Schizophrenie seines Helden herauszuarbeiten.

Dem Besessenen, der Figur seines Saxophonisten auf der Suche nach dem Absoluten in seiner Musik – und nach einem Sinn darüber hinaus -, stellt er den Getreuen gegenüber, den besten Freund, «sei getreu bis in den Tod» lautet das entsprechende Bibelzitat im Buchvorspann. Bruno, Freund und Helfer, aber auch Journalist und Buchautor, lebt in bürgerlichen Verhältnissen, hat Frau und Kinder und repräsentiert damit die Normalität der Außenwelt. In den Dialogen zwischen diesen ungleichen Freunden, die einen großen Teil des Textes ausmachen, offenbart sich das Wirre in den Gedankengängen des Jazz-Idols, verblüfft er seinen Biografen durch eine nur ihm eigene Sicht auf die Welt, die für ihn fast ausschließlich aus Musik besteht. In den Gesprächen ist Bruno überwiegend Zuhörer, ihm fehlt jegliches Verständnis für Jonnys geistige Eskapaden, und er ist auch entsetzt über dessen erschreckende Lebensuntüchtigkeit, aber er profitiert auch nicht gerade wenig von seiner intimen Nähe zu der Musikerlegende. Resignierend merkt er an: «Ich weiß wirklich nicht, wie all das schreiben, auch wenn es mir Frieden bringt, mir die Professur einbringt, diese Autorität, die einem die unangefochtenen Thesen und die gut organisierten Begräbnisse verschaffen».

Letztendlich sind es zwei, die da scheitern, der Musiker an seinen Idealen, der Sucht nach höchster Vollendung, die ihn in den Wahnsinn treibt, und der ihn bewundernde Biograf, der außen vor bleibt bei Jonnys Phantasmagorien, sie weder begreifen kann noch gar nachvollziehen, und der auch keine Worte findet, sie treffend zu beschreiben. In einer präzisen Sprache entwirft Cortázar das Psychogramm eines Getriebenen, den er «Der Verfolger» nennt in Hinblick auf dessen Jagd nach dem Absoluten in seiner Musik. Dem, was der Autor sich vorgenommen hat, die Innenwelt eines künstlerisch Besessenen in Worte zu fassen nämlich, ist er erstaunlich nahe bekommen mit seiner ambitionierten Erzählung. Niemand kann ja berichten, was dem Tode folgt, und auch beim Wahn gibt es keine Berichterstatter mehr, ist die Schwelle erst mal überschritten. Diese ungemein schwierige Thematik glaubwürdig umzusetzen in einen angenehm zu lesenden Plot, das scheint mir hier gelungen, ich empfand die Lektüre genau deshalb als bereichernd.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Suhrkamp Frankfurt am Main