Nicht, dass ich ein Anhänger irgendwelcher Kategorisierungen wäre. Nein, im Gegenteil. Schon immer empfinde ich diese zwanghafte Penetranz der Verlage, jedem Buch einen Genre-Stempel aufzudrücken, eher als Ausdruck ihrer eigenen anachronistischen Rigidität. Aber bei Ian McEwans „Solar“ fragt man sich dann doch schon mal, was ist das eigentlich?
Obwohl der Autor sich profunde Kenntnisse in Wind- und Solarenergie erworben hat und diese auch zielsicher und kompetent einfliessen lässt, ist es sicher kein Sachbuch. Es geht um ein (Liebes)Paar, eine Schwangerschaft und um fünf gescheiterte Ehen, aber es ist sicher kein Liebesroman. Es geht um einen Frauenheld mit einigen amourösen Eskapaden, aber ein erotischer Roman ist es auch nicht. Obwohl das Ableben eines Protagonisten durch stumpfe Gewalteinwirkung mit Todesfolge eine zentrale Rolle spielt, ist es sicher kein Kriminalroman. Ich verzichte auf weitere Analogien.
Eigentlich geht es in erster Linie um Michael Beard. Er ist die zentrale Romanfigur, um die sich die gesamte Handlung rankt und die McEwan mit erzählerischer Leichtigkeit und viel Humor aufbaut. Aber dennoch reisst der Autor diesem hochgelobten Physiker Beard als stereotypem Inbegriff eines karrieresüchtigen Akademikers – stellvertretend für alle (vor allem männliche) Vertreter seiner Gattung – die schnöde Maske der Ehrenhaftigkeit vom Gesicht. Einmal in seinem Leben hat er eine wissenschaftlich herausragende Leistung vollbracht und zehrt den Rest seines Lebens vom Beard-Einstein-Theorem. Weil das Nobelpreis-Komitee in Schweden sich nicht zwischen zwei anderen Kandidaten entscheiden konnte, wurde Beard der Preis sozusagen als Notlösung verliehen, was als unaufhaltsamer Karriere-Impuls für den Rest des Lebens genügte. Einladungen zu Kongressen aller Art waren garantiert, hoch dotierte Vorträge waren willkommen, die Zugehörigkeiten zu Expertengremien schier unüberschaubar. Wie so viele reale promovierte und habilitierte Akademiker nutzt die Romanfigur Beard das Prestige, um als evolutionäres Alpha-Tier in rascher Folge wahllose und flüchtige Bekanntschaften in seinem weiblichen Umfeld zu erobern, scheinbar als Zeichen seiner maskulinen Größe, aber de facto eigentlich zur immer wiederkehrenden Therapie seines schwachen Selbstwertgefühls. Und als sich die Chance ergibt, schmückt man sich skrupellos mit fremden Lorbeeren. Willkommen im Sumpf der Krokodile.
Nicht unerwähnt bleiben sollte, dass der Literaturwissenschaftler Ian McEwan dank seines universitären Lebenslaufs und ganz viel literarischem Talent nicht nur einen absolut lesenswerten Schreibstil hat, sondern – wie auch der Rezensent – mit den soziologischen Verhaltensweisen in akademischen Kreisen bestens vertraut ist.
Somit ist „Solar“ am ehesten zeitgenössische Literatur mit einem ganz hervorragendem Stil und mit vielen gesellschaftlichen Einblicken, präsentiert am Prototyp Michel Beard, einem Wissenschaftler, Menschen und Mann.
Danke für den Hinweis auf dieses Buch. Ich lese Ian McEwan mit Hingabe, lediglich »Die Kakerlake« empfand ich als Ausrutscher.
Ich bin durch “Solar” auf Ian McEwan aufmerksam geworden und habe mir aus Begeisterung über seinen Stil gleich noch “Honig” gekauft, das ich nun parallel lese…;-)