Rein GOLD

jelinek rein goldOh, Ihr Schauspieler, die Ihr eines nahen Tages dieses auf Anregung der Bayerischen Staatsoper ausdrücklich für die Bühne geschriebene Zweipersonenstück auswendig lernen müsst, Ihr habt mein tiefstes Mitgefühl, denn schon Brünhilde, die widerborstige Lieblingstochter von Götterpapa Wotan, ergießt sich gleich mit 48 Seiten Text, mit einem Redeschwall in 1.189 Zeilen, in 71.340 Zeichen, bis der gekündigten Walküre erst einmal die Puste ausgeht und der gebrochene Gott, Wotan Wanderer, auf der Suche nach sich selbst und dem eigenen Untergang, zu Wort kommt. Und was antwortet ihr der Olympier, dem eigentlich keiner mehr so recht glauben oder gar folgen mag, da er Verträge nach eigenem Gutdünken interpretiert, sie mit Raubgold erfüllt, und dessen Rechtfertigungen deshalb kaum jemanden wirklich interessieren? »Kind. Soviel hast du ja noch nie gesagt! Ich hör dir jetzt seit Stunden zu, aber was hast du gesagt? Ich weiß es nicht mehr.«

Welch weise Worte, wilder Wotan. Oder ist es die Selbsterkenntnis der Autorin, die denjenigen, der sich an ihren Text wagt, vorwarnen möchte? Denn wer die ersten zwei Stunden des Monologschaums überstanden hat, der hat nur noch gute vier Stunden Wortwahn zu durchschwimmen. Wer Jelinek liest, ahnt wohl, was ihn erwartet, sonst sei er gewarnt. Er wird sich nicht beklagen, sondern vielmehr die philosophische Tiefe in den Texten suchen wie weiland Alberich das tückische Gold im schlammigen Rhein. Er wird vielleicht verstehen, was den rosaroten Panther, das Rheingold und das Jelineksche Verständnis des Marxschen »Kapital« verbindet und daraus ein intellektuelles Rahmenprogramm bestreiten können, das mäandert wie weiland Vater Rhein vor seiner zwanghaften Begradigung, die es den vielen Schatzsuchern unserer Tage so unendlich erschwert, das in den Auenlandschaften wartende Rheingold zu bergen.

Der Text, Elfriede J. mag es mir nachsehen, wirkt wie der innere Monolog einer inmitten des Feuerrings auf ihrem Walkürenfelsen gelangweilt auf die Erlösung durch den einen Helden harrenden Brünhilde mit ihrem Vater, der sie verstieß, nicht mehr mit ihr redet, dem sie jedoch alles nahezu zwanghaft erklären will, ihr Denken, ihr Handeln, ihr Aufbegehren, ihren Verrat. Gemischt mit einem guten Schuss Antikapitalismus macht die Autorin aus Wotan einen Bundespräsident a.D., der einer entwerteten Gesellschaft vorsteht, die sich als Exportweltmeister geriert und glaubt, alle Probleme mit dem Anwerfen der Geldpresse lösen zu können, um auf diesem Wege Erlösung zu spenden. Dies geschieht in einer Kunstsprache, die immer wieder Geld als Meta-Tag einsetzt und als Spiegel der intellektuellen Leere unserer Zeit verstanden werden möchte. Wie Brünhilde schreibt sie fleißig, tippt wütend »Bits und Bytes«, brennt ein Feuerwerk wilder Worte ab und sinniert. Wie heißt es an einer Stelle: »Da regt sich was und vermehrt sich! Wir könnens nicht sein, aber da bewegt sich noch was.»

Jelineks »Rein GOLD« ist, kurz gefasst, eine Suada, die sich über den Leser ergießt und in ihrer Monotonie, von ein paar Kalauern (»Der Wurm, \”ein großer und nicht im Rechner\”, bewacht« … den Nibelungenschatz) abgesehen, wenig Neues oder Erfrischendes zum Thema Wagner bringt. Das »reine Gold«, das die Autorin verspricht, entpuppt sich dabei recht schnell als literarisches Talmi.

Elfriede Jelinek
rein GOLD. Ein Bühnenessay
Rowohlt 2013
ISBN 978-3-498-03339-2



Genre: Oper, Theater
Illustrated by Rowohlt

Familienbande

Familienbande
“Dein Vater wird auch dann noch am Leben sein, wenn längst niemand mehr weiß, dass es Nachkommen von ihm gegeben hat.” *1 Diesen Satz sagt die Mutter nach dem Tod des Vaters zu ihrem jüngsten Sohn Michael. Sie meint das nicht böse, sie sagt es nicht im Streit. Das ist eben ihre Sicht der Dinge, ihre Sicht auf die Bande, die ihre Familie umschlingen. Die Mutter ist Katia Mann und der Vater, das ist Thomas Mann, der Zauberer. Kaum eine Familiengeschichte ist so umfassend dokumentiert wie die der Manns. Doch im Mittelpunkt öffentlicher Aufmerksamkeit stand stets der Zauberer selbst, allenfalls die Söhne Klaus und Golo und die Tochter Erika erfuhren relevantes Interesse.Über den jüngsten Sohn, Michael, liest man meist nur eine Randnotiz wie “Michael ist Musiker und hat ein Programm vorzubereiten.” *2
Michael Degen erzählt in seinem Roman Familienbande von Michaels Leben, seiner zerrissenen Persönlichkeit, seiner Sehnsucht nach Anerkennung und Liebe im kalten Umfeld einer intellektuellen Familie. Michael war von den sechs Kindern Thomas Manns das ungewollte, das ungeliebte Kind. Ein Kind, dem der große Schriftsteller mit Distanz, zeitweise mit Verachtung und Ekel begegnete. Die Mutter stellte ihren Gatten und sein Ausnahmetalent über alles, auch über ihre Kinder. Michael, Bibi genannt, ist als Kind schon schwierig, früh zeigt sich ein Hang zur jähzornigen Gewalttätigkeit. .Seine Frau Gret, Gefährtin seit Jugendtagen, wird die Einzige sein, der es gelingt, ihn halbwegs in der Spur des Lebens zu halten. In den Kriegsjahren, als die Familie in alle Winde zerstreut wird, erblüht Michael Manns Liebe und Talent zur Musik. Er wird zu einem der besten Bratschisten des letzten Jahrhunderts. Gemeinsam mit Yaltah Menuhin gibt er umjubelte Konzert auf ausgedehnten Tourneen. Doch es reicht nie. Der Vater verweigert die Anerkennung. Ein Musiker sei lediglich reproduzierender Künstler, keiner, der etwas erschaffe. Bis zum Lebensende Thomas Manns schaffen es Vater und Sohn gerade eben, ein Arbeitsverhältnis zu haben, als Thomas Mann Hilfestellung Michaels zum Dr. Faustus annimmt. Michaels ältester Sohn, Frido wird hingegen vom Großvater mit Liebe überschüttet, “für dieses junge Leben trägt er Segenswünsche im alten Herzen” *3
Auch dies löst in Michael Mann äußerst ambivalente Gefühle aus, welche seine eigene kleine Familie zu zerstören drohen. Nach dem Tode des Vaters bricht Michael jäh mit seiner bisherigen Karriere und beginnt eine zweite als Germanist. Auf Bitten der Mutter gibt er schliesslich die unveröffentlichten Tagebücher des Vaters heraus. Doch mit dem, was er darin über sich selbst lesen muss, wird er zeitlebens nicht fertig werden können. Wie Klaus hat auch Michael einen Hang zur Selbstzerstörung, schließlich stirbt auch er in einem Exzess aus Alkohol und Drogen.

Michael Degen ist ein großartiger Roman von bemerkenswerter Dichte gelungen. Man merkt an jeder Stelle des Romans, wie sehr dem Autor Sprache am Herzen liegt und wie virtuos er damit umzugehen versteht. Er beschönigt nichts, er wirbt auch nicht um Verständnis, er erklärt. Doch dem Leser sind die Charaktere stets nah. Darin liegt eine große Stärke dieses Buches. Ganz sicher ist es auch ein großer Verdienst des Autors, das Schicksal Michael Manns aus einer Ecke herausgeholt zu haben, in die es nicht gehörte und Dinge zu beleuchten, die bisher kein großes Interesse fanden. So war mir neu, dass Michael Mann gemeinsam mit Yaltah Menuhin konzertierte. Diese Tatsache alleine ist schon so interessant, dass ich mich ernsthaft frage, warum dies niemand bisher eines Romans für würdig befunden hat. Der Sohn eines berühmten Vaters, die Schwester eines berühmten Bruders – “wir haben beide unser Päckchen zu tragen”. So lässt es Michael Degen die schöne Geigerin sagen. Welch ein Thema. Zwei hochbegabte Künstler, gefeiert, aber nie aus dem übermächtigen Schatten der berühmten Verwandschaft heraustreten könnend. Sie werden bejubelt auf ihren Reisen, doch in den Behelfs-Schaufenstern der Nachkriegszeit hängen nur Plakate des Zauberers.

Dennoch – Familienbande ist ein Roman. Keine Biographie.Ich bin hinlänglich, aber nicht in allen Details mit der Geschichte der Familie Mann vertraut und bin mir nicht sicher, was in diesem Roman Fiktion und was wirklich so geschehen ist. Degen belegt zwar seine Zitate, verweist im Roman selbst auch auf verschiedene Quellen, aber ich hätte es schon gerne etwas genauer gehabt. Ich wüsste gerne, ob Katia Mann den eingangs erwähnten Satz wirklich so gesagt hat. Auch erschien mir die Person Gret Mosers zu verklärt. In Interviews mit Frido Mann liest sich das signifikant anders. Darüber hinaus hat mich irritiert, dass die Adoptivtochter von Gret und Michael, Raju, Degen nicht eine einzige Erwähnung wert war.

Nichtsdestotrotz oder gerade deswegen ist Familienbande ein tief berührender, aber auch verstörender Roman, der auch abseits der Thomas-Mann-Gemeinde sein Publikum finden sollte. Er zeigt eindrücklich, was Familienbande lebenslang unabänderlich anrichten können Man ist versucht, während der Lektüre zu seinen Kindern zu gehen und zu fragen: Ihr wisst schon, dass ich Euch lieb habe und stolz auf Euch bin?

Der Autor: Michael Degen ist einer der renommiertesten Schauspieler Deutschlands. Seit seiner Autobiographie “Nicht alle waren Mörder” ist er auch als Schriftsteller überaus anerkannt. Als Schauspieler ist er mir vor allem erinnerlich als Meister der leisen Töne und genau diese sind es auch, welche die Familienbande so lesenswert machen.

Diskussion dieser Rezension im Blog der Literaturzeitschrift.

Quellenangabe: 
*1 S.461, Familienbande
*2 aus Heinrich Breloer, die Manns
*3 aus Briefwechsel Thomas Mann/ Agnes Meyer


 


Genre: Romane
Illustrated by Rowohlt

In Zeiten des abnehmenden Lichts

RugeBereits 2009 bekam Eugen Ruge für sein Prosa-Manuskript den renommierten Alfred-Döblin-Preis. Nun liegt der fertiger Roman vor, bereits mit dem Aspekte Literaturpreis ausgezeichnet und auf der Shortlist des deutschen Buchpreises. Von Kritikern einhellig bejubelt, vom Otto Normal-Leser – zumindest von denen, die es sorgsam lesen und sich nicht nur ins Regal stellen, weil es ja das Must-have des Buch-Herbstes ist – eher zwiespältig beurteilt.

“In Zeiten des abnehmenden Lichts” erzählt Ruge anhand einer sich über 4 Generationen erstreckenden ostdeutschen Familiengeschichte das Epos vom allmählichen Untergang der DDR und der sozialistischen Ideologie. Kaleidoskopartig erzählt er in wechselnden Perspektiven von bröckelnden Mauern sowie vom bröckelnden Familienzusammenhalt. Es darf vermutet werden, dass Ruge mit der Geschichte des Powileit/Umnitzer-Clans weite Teile der Geschichte seiner eigenen Familie bewahrt. Eine Familie, die zum mit der Mauer untergegangenen intellektuellen DDR- Establishment gehörte, dem heutzutage keine größere historische Relevanz mehr zugebilligt wird.

Der 1.Oktober 1989 ist die Klammer, die dieses Buch zusammenhält. Es ist der Geburtstag des Patriarchen Wilhelm – überzeugter Kommunist, der durch die Machtergreifung Hitlers einst mit seiner Frau Charlotte ins russische Exil, später in unbedeutende Geheimdienstmissionen gezwungen wurde. Dieser Tag wird aus der Perspektive jedes einzelnen Familienmitglieds erzählt – immer unterbrochen von szenischen Momentaufnahmen beginnend mit den frühen Fünfzigern bis hin zum September 2001. Wir erleben die Geschichte von Kurt, der als einziger Sohn überlebte – sowohl den zweiten Weltkrieg als auch den sowjetischen Gulag. Kurt, der zwar an die Veränderbarkeit der Welt unvermindert glauben möchte, der aber eher ein sich arrangierender Mitläufer denn überzeugter Parteifunktionär ist. Die Strahlkraft der politischen Utopie nimmt von Generation zu Generation weiter ab, über den unglücklichen, sich aber nicht engagierenden Enkel Sascha bis hin zum schließlich aufbegehrenden Ur-Enkel Markus.

Ruge setzt in seiner Erzählung ganz auf präzise Beobachtung, es ist ihm wichtig, seinen Figuren Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Obwohl von einem melancholischen Unterton getragen, kommt seine Sprache unprätentiös, fast nüchtern daher. Seltsam distanziert bleibt dementsprechend der Leser, zumal die ständigen Zeitsprünge und Perspektivwechsel ihm einiges abverlangen. Dazu kommt, dass Ruge sich des öfteren in kleinlichen Hakeleien verliert, die seinen Hass auf den realen Sozialismus klar zutage treten lassen und den Leser ohne detailliertes Hintergrundwissen leicht überfordern. Die Geschichte verliert in seinem Lauf viel vom furiosen Schwung der Anfangskapitel, zum Ende hin wird es gar mühsam. Man hat das Gefühl: Es reicht. Wir haben es jetzt verstanden. Wir brauchen nicht noch eine Drogenabhängigkeit, nicht noch eine tödliche Krankheit, nicht noch einen Streit, nicht noch eine demente Götterdämmerung, um die Botschaft des Buches entziffern zu können. Denn bei allem Verständnis bleibt doch die unbeantwortete Frage zurück: Wäre die Familie in einem anderem System glücklicher geworden?

Natürlich werden nur wenige dieses Buch emotionslos lesen, sind die historischen Ereignisse doch bei fast allen auch mit privaten Erinnerungen oder Familiengeschichten verknüpft. Umso mehr hätte man sich wenigstens eine Figur gewünscht, mit der man empathisch diese Geschichte hätte miterleben und miterleiden können. Die Zeit war sicher mehr als reif für einen unverstellten Blick auf die DDR, die Nöte aber auch die Freuden des Lebens dort. Dies literarisch bewahrt zu haben, ist das große Verdienst Eugen Ruges und macht “In Zeiten des abnehmenden Lichts” trotz der Kritikpunkte ganz sicher zu einem der wichtigsten Bücher des Jahres. Definitiv kann der Autor für sich verbuchen, Geschichte als Familiengeschichte erlebbar gemacht und dem wiedervereinigten Land ein umfassendes ostdeutsches Panorama geboten zu haben.

Gleichwohl tut man meiner Meinung nach dem Autor keinen Gefallen, wenn man sich in großen Feuilletons dazu versteigt, hohe Erwartungen zu schüren und gleich die ostdeutschen Buddenbrooks heraufzubeschwören. Die Buddenbrooks (diese Bemerkung gestatte ich – die ich Thomas Manns Epos als eines meiner liebsten Bücher bezeichne – mir) sind das Maß aller Dinge und ich glaube auch in der Tat nicht, dass Eugen Ruge mit seinem Buch das ostdeutsche Komplementärwerk vorlegen wollte. Was er vorgelegt hat, ist der derzeit gültige Roman zur deutschen Einheit aus ostdeutscher Sicht.

Eugen Ruge kam 1958 mit seiner Familie zusammen nach Ost-Berlin. Sein Vater ist der bekannte Alt-Kommunist Wolfgang Ruge, der seinerzeit von den Sowjets in ein sibirisches Lager deportiert wurde. Eugen Ruge arbeitete zunächst als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentralinstitut für Physik der Akademie der Wissenschaften der DDR. Seit 1986 arbeitet er schriftstellerisch und wirkt seit 1989 hauptsächlich als Autor für Theater, Funk und Film. “In Zeiten des abnehmenden Lichts” ist sein Debütroman.

Diskussion dieser Rezension im Blog der Literaturzeitschrift


Genre: Romane
Illustrated by Rowohlt

Super Sad True Love Story

Die ganz nahe Zukunft in den USA: Wirtschaftlich spielt die einstige Supermacht keine Rolle mehr, dafür stecken sie nach einer Invasion in Venezuela auch militärisch gehörig in der Bredouille. Ein Euro kostet mehr als acht Euro und Leitwährung ist längst der Yen; als mächtigster Mann der Welt gilt der chinesische Generalbanker.

Lenny Abramov, der reichlich naive Sohn jüdisch-russischer Immigranten, literarisch interessiert und wahrscheinlich der letzte Tagebuchschreiber Amerikas, kehrt nach einem einjährigen Auslandsaufenthalt in Rom zurück nach New York und muss schon bei der Einreise feststellen, dass das politische Klima rauer geworden ist: Polizei und Militär prägen das Stadtbild. Doch Lenny hat andere Dinge im Kopf; ist er doch frisch verliebt: Eunice Park heißt die Angebetete, eine wesentlich jüngere Frau koreanischer Abstammung mit familiären Problemen, die bald zu ihm zieht und das Glück zunächst perfekt macht.

Allerdings plagen Lenny auch Probleme, denn er ist 39 und gehört in einer Gesellschaft, die dem Jugendwahn frönt, längst zum alten Eisen. Seine Arbeit für einen Konzern, der den Superreichen Lebensverlängerung verspricht, konfrontiert ihn täglich mit dieser Tatsache und auch die jungen Konkurrenten im Job setzen ihm gehörig zu. Und so taumeln Lenny und Eunice in eine fragile Beziehung, während sich um sie herum die ökonomischen und politischen Krisen zuspitzen und die Ausgestoßenen der Gesellschaft zu rebellieren beginnen…

Gary Shteyngart zeichnet durchaus überzeugend ein düsteres Zukunfts(?)bild der Vereinigten Staaten, die sich als Folge der nachhaltigen Wirtschaftsturbulenzen zu einer Mischung aus Polizeistaat und Militärdiktatur entwickelt haben. Da man sich den Gläubigern aus Europa und China in strahlendem Glanz präsentieren möchte, sind Säuberungsaktionen beim unterprivilegierten Teil der Bevölkerung an der Tagesordnung, während diejenigen, die noch Arbeit haben weitgehend mit sich selbst beschäftigt sind.

Mit ihren „Äppäräts“ genannten Kleinstcomputern werden permanente Rankings erstellt, gemessen wird dabei alles Erdenkliche, neben Kreditwürdigkeit auch die wirklich wichtigen Dinge wie personality und fuckability. Weiterer unabdingbarer Bestandteil des Daseins ist das GlobalTeens-Network (eine Art überdimensioniertes Twitter), mit dem rund um die Uhr Belanglosigkeiten in alle Welt geblasen werden. So feiert der Analphabetismus fröhliche Urständ, Bücher sind verpönt und auch deshalb ist Lenny, der seine Wohnung mit Literaturklassikern gefüllt hat ein Außenseiter, ein stiller Rebell. Doch auch eher unpolitische Menschen wie er und Eunice können sich nicht entziehen der normativen Kraft des Faktischen.

Der Autor selbst begegnet diesem geschilderten Verfall der Sprache und Kultur mit sorgfältigen und präzisen Formulierungen, bisweilen poetisch, aber nie antiquiert. Der Roman ist aufgebaut aus sich abwechselnden Tagebucheinträgen (Lenny) und Textnachrichten (Eunice); ein gekonnt eingesetztes Stilmittel, das die Gegensätze des ungleichen Paares verdeutlicht, denn „Super Sad True Love Story“ ist trotz aller implizierten Kritik an den realen oder fiktiven politischen und sozialen Verhältnissen eben auch eine Liebesgeschichte. Es kommt nicht allzu oft vor, dass ich unseren Feuilletonisten uneingeschränkt zustimme, aber hier ist die Euphorie angebracht, das Buch sollte man gelesen haben.


Genre: Romane
Illustrated by Rowohlt

Wasser für die Elefanten

Wasser für die Elefanten

Jacok Jankowski ist irgendwas über die Neunzig, so ganz genau weiß er das nicht mehr. Eben noch mitten im turbulenten Trubel seines Familienlebens steckend, findet er sich in den Niederungen eines Seniorenheimes wieder. Hauptsächlich damit beschäftigt, etwas für seine Würde zu tun. Als ein Wanderzirkus seine Zelte auf dem Parkplatz vor dem Seniorenheim aufschlägt, träumt er sich zurück in seine Vergangenheit. In die Zeit, welche die schönste und zugleich auch die schlimmste seines Lebens war. Im Amerika der 30er-Jahre-Depression steht er – Student einer Elite Universität – nach einem Schicksalschlag plötzlich vor dem Nichts. Verzweifelt springt er auf den nächstbesten Zug auf und findet sich als Tierarzt bei “Benzinis spektakulärster Show der Welt” , einem der legendären Eisenbahn-Zirkusse dieser Zeit wieder. Rasch findet er unter den Zirkusleuten Freunde und Feinde gleichermaßen, Leidenschaften, Hoffnung,Existenzkämpfe – und die Liebe. Die Liebe zu Marlena, der geheimnisvollen Dressurreiterin und zu Rosie, der sturen, klugen und treuen Elefantendame. Sara Gruen erzählt Jacobs Geschichte auf beiden Zeitebenen so zart und liebevoll wie leidenschaftlich und bildgewaltig. Auch wenn man kein ausgewiesener Freund des Zirkus ist,schnell ist man mitten in der Manege, schliesst Jacob und Marlena ins Herz, leidet, hofft und bangt mit ihnen.

In diesem Sommer kam der Film ins Kino, die DVD dazu wird in Kürze erwartet. Es heißt, Sara Gruen sei begeistert gewesen. Ihre Leser werden ihr größtenteils zustimmen. Der Film folgt der vorgegebenen bescheidenen Linie, verzichtet auf Effekthascherei und Sensationsgier. Darstellerisch überzeugte er mich nur bedingt. Es fragt sich, ob Robert Pattinson mehr als zwei Gesichtsausdrücke zu bieten hat, Reese Witherspoon kann eigentlich auch anders als nur unterkühlt. Ihre Marlena ist in der Buchvorlage nur vordergründig kühl, ihre besondere Gabe zur Zärtlichkeit kommt deutlich zum Tragen. Böse Zungen behaupten, der Elefant sei der beste Darsteller gewesen, aber es gab ja auch noch Christoph Waltz. Seine Rolle ist eine ambivalente, was ihm bekanntermaßen liegt. Folgerichtig ist sein August die Rolle, welche dem Zuschauer am endrucksvollsten in Erinnerung bleibt. Die Film-Adaption erinnert an das gefühlige Kino der 80er Jahre. Heute wirkt sie altmodisch. Im guten Sinne. Die nostalgische Atmosphäre des Films, seine wehmütige Dichte bieten Kino zum Träumen und zum Eintauchen in eine fremde Welt.

Wer sich in trüben Tagen nach einer seelenvollen Geschichte sehnt, nach einer Geschichte mit einem ebenso überraschenden wie befriedigendem Ende, dem seien Buch und Film ans Herz gelegt.

Diskussion dieser Rezension im Blog der Literaturzeitschrift.


Genre: Romane
Illustrated by Rowohlt

Der Hodscha und die Piepenkötter

Die muslimische Gemeinde einer mittelgroßen deutschen Stadt bekommt ein neues geistliches Oberhaupt, den aus der Türkei strafversetzten Nuri Hodscha, der sich mit der Forderung, eine neue Moschee zu bauen auch gleich angemessen einführt. Entsprechend begeistert ist die amtierende CDU-OB Ursel Piepenkötter, die sich in wenigen Wochen der Wahl stellen muss und alles daran setzt, ihr Amt zu behalten.

So entspinnt sich ein Duell infamer Intrigen, bei dem die mit allen Wassern gewaschenen Widersacher vor kaum etwas zurückschrecken und es dabei nicht nur miteinander zu tun haben, sondern auch mit den jeweiligen Hardlinern in den eigenen Reihen, die es im Zaum zu halten gilt. Bald müssen sie widerwillig feststellen, dass trotz der unterschiedlichen Kulturen durchaus Gemeinsamkeiten bestehen und man manchmal gezwungen ist, im selben Boot zu sitzen. Und dann gibt es ja auch noch die Teenie-Sprößlinge der beiden, die die Dickschädel der Altvorderen anscheinend geerbt haben…

Der Deutschtürke Birand Bingül hat mit seinem zweiten Roman ein unterhaltsames und respektables Werk abgeliefert. Sein humorvoller, aber nie platter Umgang mit den heiklen Themen Islam und Integration weiß auch dadurch zu überzeugen, weil er mit erfreulich wenigen Klischees auskommt. Ein Geistlicher, dem Bruce Springsteen ebenso wichtig ist wie Allah und eine Oberbürgermeisterin, die Treffen mit Parteifreundinnen nur mit erheblichen an Mengen Rotwein erträgt, machen einfach Spaß, besonders gemessen an den Aufgeregtheiten in der realen Welt bei Religion und Politik.

Natürlich liegt ein Vergleich zu Don Camillo und Peppone nahe und ist wohl auch nicht gänzlich unbeabsichtigt (Hodschas Dialoge mit Allah sind nur ein Beispiel), das Buch liest sich durchgehend sehr flott und spannend. So fällt es auch nicht schwer, über kleinere Unzulänglichkeiten wie die bisweilen limitierte Sprachwahl oder die doch arg vorhersehbare Love-Story hinwegzusehen; ich jedenfalls würde mich über baldige neue Abenteuer der unterhaltsamen Protagonisten freuen!


Genre: Humor und Satire
Illustrated by Rowohlt

Angriff auf Amerika

1940 in Europa: Die Deutsche Wehrmacht hat Polen überfallen und Europa mit Krieg überzogen. Die Nazis haben mit der systematischen Verfolgung und Ermordung der Juden begonnen und rüstet sich für den Überfall auf die Sowjetunion.
1940 in den USA: Präsident Franklin Delano Roosevelt kandidiert zum dritten Mal für die Präsidentschaft. Seine Regierung unterstützt Großbritannien im Kampf gegen die Nazis mit Rüstungsgütern und finanziellen Hilfen. Die Republikaner nominieren im Juni Charles A. Lindberg zum Präsidentschaftskandidaten. Lindbergh ist nicht nur ein international bekannter Flughelden, der als erster nonstop den Atlantik mit einem Flugzeug überquerte.
Lindberg ist auch Isolationist, tritt also gegen jegliche Einmischung der USA in den Krieg gegen die Nazis ein, er ist Antisemit und ein kaum verhohlener Bewunderer Hitlers.
Bei den Präsidentschaftswahlen geschieht das Unerwartete: Roosevelt verliert die Wahlen. Lindbergh ist der neue Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika.

Eine absurde Vorstellung? Was aber wäre geschehen, wenn die USA tatsächlich nicht in den Kampf gegen die Nazi-Horden eingetreten wäre? Wie sähen die USA aus, wenn sie sich von einem antisemitischen Präsidenten regiert worden wären?

Im 2006 erschienenen Roman von Philip Roth geschieht genau das. Rot lässt die Leserinnen und Leser diese USA durch die Augen eines jüdischen Kindes in Newark erleben. Das Kind erzählt uns von schleichenden Verwandlungen in seiner Umgebung, in der Schule und in der Familie. Er erlebt, wie die Erwachsenen in der jüdischen Gemeinschaft, in der er lebt, sich gegen die Niederlage von Präsident Roosevelt stemmen und sie doch nicht verhindern können. Er muss hilflos mit ansehen, wie sich die jüdische Gemeinschaft in seinem Stadtteil durch “Einbindung” in die “neue” amerikanische Gesellschaft spaltet. Sein eigener Bruder wird zu einem Fan des neuen Präsidenten Lindbergh. Ein Riss geht – nicht nur – durch seine Familie. Das ganze Land gerät an den Rand eines Bürgerkrieges.

In „Angriff auf Amerika“ lässt Roth das Bild einer liberalen Gesellschaft entstehen, die sich in rasender Geschwindigkeit in ihr Gegenteil verkehrt. Newark, die Stadt am Rande New Yorks, wird zu einer von Rassisten belagerten Stadt. Die USA, deren Entstehungsgeschichte erst durch Immigration und das Zusammenleben verschiedener Nationalitäten und Religionsgemeinschaften geprägt wurde, verwandelt sich in einen nationalistischen und rassistischen Staat.

Ein spannender Roman, ein politisches und psychologisches Lehrstück und ein Stück großer Literatur.


Genre: Romane
Illustrated by Rowohlt

Ein Buch namens Zimbo

Deutschlands Satiremagazine haben einen schweren Stand. Die Hochzeiten von »Pardon« sind lange vorüber, 1982 wurde die damals größte Satirezeitschrift Europas eingestellt, ein Neubeginn missglückte. Seitdem liegt die einstmals in einer Auflage von wöchentlich 500.000 Exemplaren verkaufte DDR-Wochenzeitschrift »Eulenspiegel« als gesamtdeutsches Monatsmagazin auf Platz Eins der Publikumsgunst.

Die als Antwort auf »Pardon« 1979 gegründete »Titanic« ist indes lange nicht mehr das, was sie dem Lesepublikum lange Jahre war. Mein Abonnement hatte ich zuletzt nur noch aufrechterhalten, um die regelmäßigen Beiträge von Max Goldt zu lesen, alles andere fand ich, von der »Humorkritik« abgesehen, fad. Da seine Texte jedoch recht schnell auch zwischen Buchdeckeln erscheinen, habe ich das Blatt inzwischen abbestellt. Denn es schenkt einfach mehr Genuss, Goldt gesammelt zu lesen, zumal er sich auch dagegen wehrt, »Satiriker« genannt zu werden und schon aus diesem Grunde eigentlich nicht in der »Titanic« publizieren dürfte. Nun liegt jedenfalls mit »Ein Buch namens Zimbo« eine weitere Kompilation seiner stets humorvollen »Titanic«-Beiträge vor.

Goldt erweist sich darin wieder als genauer Beobachter des Alltags. Ohne sich die Nase an jeder Schaufensterscheibe platt zu drücken, erfährt er, was das Leben feilbietet. »Wer seine Sinne pflegt und sie nicht mit zuviel Drogen, zuviel Lärm oder zuviel Lektüre malträtiert,« so sein Credo, »dem zeigt sich das Leben von ganz allein«. Spricht´s, steigt in die U-Bahn und schreibt auf, was er dort zwischen kommunistischen Pärchen und bettelnden Zeitungsverkäufern alles erlebt.

Stärker als bisher dominiert die Sprachkritik in Goldts Kolumnen. Er setzt sich mit »sprachlichem Ungeziefer« auseinander und unterhält dabei glänzend. In Anlehnung an Thomas Mann kämpft er gegen die überschäumende Verwendung des Paradoxons in der deutschen Sprache. Er sucht nach den passenden Adjektiven, die zum Begriff des Snobismus passen und helfen, ihn aufzuwerten. Für Bezeichnungen wie »junge Männer mit Migrationshintergrund«, die von Sittenwächtern im sozialharmonischen Eifer als «Denunziation« einer Bevölkerungsgruppe angesehen wird, sucht er Ersatzformulierungen und kommt letztlich auf »Geschöpfe«.

Warum das Buch den Titel »Zimbo« trägt, erfährt der geneigte Leser indes nicht. Wer bei dem Begriff den größten deutschen Wurstwarenkonzern assoziiert, hofft vielleicht, in Goldts Text »Gastronomisches 2« des Rätsels Lösung zu finden. Dort erfährt er jedoch eher etwas über die unbequeme Möblierung von Restaurants und wird in das Lieblingsrestaurant des Dichters entführt: einen Chinesen, der sich seit Jahren nicht verändert hat und »das Klischee von der stehen gebliebenen Zeit gnadenlos beherzt« auslebt. Jeden Montag wird dort ein mit vier Chili-Schoten gekennzeichnetes Mapo-Tofu-Gericht serviert, das einige Übung erfordert. Über eine dampfende Schüssel dieser brennend scharfen Speise gebeugt, fragte ihn Daniel Kehlmann, ob er etwas dagegen hätte, den Kleist-Preis für seine literarische Leistung in Empfang zu nehmen. »Passt schon«, sagte Goldt darauf und veröffentlicht seine Kleistpreis-Rede als Zugabe.

Diskussion dieser Rezension im Blog der Literaturzeitschrift


Genre: Humor und Satire
Illustrated by Rowohlt

Ruhm

Höchste Zeit, daß einer „Reason“ reinbringt, sorgt sich Internetblogger Mollwitz und kann endlich zum 12 342. Mal im Abendnachrichten Forum posten. Hier hat er alles im Griff und etwas zu sagen, hier wird er weder gemobbt noch gehätschelt, kann auf arbeitsgeile Kollegen und übermenschliche Mutterliebe pfeifen. Doch dann geht etwas gründlich schief – er muß den Chef auf einem Kongreß vertreten und vermasselt seinen Auftritt. Mehr noch: Ganz nah dran ist der dicke Suchtblogger an Leo Richter, dem bekannten Schriftsteller, und fast schon Teil einer neuen Geschichte, aber dann wird auch das nichts, und also wird es nie.
Im Gegensatz zum fanatischen Blogger ist die Freundin des produktiven Leo R. fest im Leben verhaftet und strikt dagegen, Teil einer Geschichte zu werden. Rosalie dagegen steckt schon mittendrin in einer Geschichte und soll gerade sterben gehen. Als es ernst wird, geht sie stattdessen auf die Barrikaden. Ein frischgebackener Handybesitzer wird in eine fremde Geschichte hinter dem Telefon hineingezogen, während das Mobiltelefon eines berühmten Schauspielers den Dienst verweigert und gleichsam den Draht zur Welt kappt. Auf dem Gipfel des Ruhms droht ein rasanter Absturz – oder doch ein Neubeginn?
Neun Geschichten hat Daniel Kehlmann zu einem Roman verwoben, neun Fäden von unterschiedlichster Textur und Farbe miteinander verknüpft, und jedes der neun Teile ist auf seine Weise einzigartig. Ohne Euphorie auszulösen, fasziniert und überzeugt auch dieses neue Werk von Kehlmann. Er hat dem ungeheuren Erwartungsdruck des Publikums standgehalten und sich seine Leichtigkeit und Erzählfrische bewahrt. Und er hat die Chance genutzt, die riesige Palette seiner Sprachkunst auszuspielen. Lakonisch, schnodderig, kultiviert – der Autor bewegt sich souverän durch Raum und Stil.


Genre: Romane
Illustrated by Rowohlt

In 80 Tagen um die Welt

»Le tour du monde en quatre-vingts jours«, »Reise um die Erde in 80 Tagen« nannte Jules Verne seinen 1873 veröffentlichten Erfolgsroman. Darin beschreibt er die höchst abenteuerliche Weltreise eines reichen englischen Exzentrikers namens Phileas Fogg sowie seinen Dieners Passepartout. Der Journalist Helge Timmerberg reist 135 Jahre nach Vernes großem Wurf ebenfalls »In 80 Tagen um die Welt«, wobei ihm wesentlich schnellere Verkehrsmittel zur Verfügung standen als dem leidenschaftlichen Whist-Spieler Phileas Fogg. Während Fogg noch sein halbes Vermögen in bar mit sich führte, wurde Timmerbergs Reise durch ein gut gefülltes Spesenkonto abgefedert, das weltweit verfügbar ist.

Der Autor zischt per ICE mit 230 Stundenkilometern von Berlin nach München, wo er in einer Wohnzimmer-Kneipe im Bahnhofsviertel landet, in der sich einsame Männer beim Weizen trösten. Er reist weiter nach Venedig und begegnet bereits am Bahnhof einer Prozession von tausenden Touristen mit Masken, spitzen Nasen und schwarzen Umhängen. Venedig feiert Karneval, und wer so bescheuert ist, ausgerechnet in diesem Trubel den Canale Grande sehen zu wollen, der zahlt für das einzige freie Zimmer im »Marco Polo« eben 330 Euronen, selbstverständlich ohne Frühstück. Irgendwie fällt unserem Weltreisenden auch hier nichts Besseres ein, als die nächste Trinkhalle aufzusuchen, um sich die Kante zu geben. Ihm geht es dabei um »das disziplinierte, konzentrierte, mathematische Besaufen«.

Die dritte Nacht seiner Weltreise verbringt Timmerberg in Triest, und – raten Sie mal – wo er landet? Na klar, in einem kleinen Weinlokal, an den Stehtischen für Raucher. Die Welt in achtzig Tagen zu umreisen verlangt nicht, wie zu Jules Vernes Zeiten, permanentes, pausenloses und zielstrebiges Voraneilen. Heute braucht es das glatte Gegenteil: Trinkfestigkeit, Drogenerfahrung und ein gewisses Klebenbleiben, eine gewisse Unentschlossenheit. Als unentschlossen erweist sich der Autor immer wieder, dies ist sein deutlichster Charakterzug. Später, denn hier soll nicht jede Station erwähnt werden, als er in Bombay, das heute Mumbai heißt, weilt, überlegt er beispielsweise, mit welchem Verkehrsmittel er sich weiter bewegen will. Jules Verne ließ seinen Helden mit dem Zug von Bombay nach Kalkutta reisen, und der hat während dieser Fahrt die Frau seines Lebens getroffen. Die Frau des Lebens, sinniert Timmerberg, ist keine schlechte Vision, aber dafür zweiunddreißig Stunden mit dem indischen Zug?

Nun geht eine Weltreise in heutiger Zeit dank moderner Verkehrsmittel sehr viel unkomplizierter als anno Verne. Und dennoch hat Helge immer wieder Entscheidungsschwierigkeiten, die sein Wesen auszumachen scheinen. Der Reisende, der noch die Nachwehen der Hippie-Zeit in sich spürt, wendet sich an einen Guru um Rat. Schließlich bereiste Timmerberg bereits in der Blütezeit der Gurus Indien und kennt sich nach eigenem Bekunden auf diesem Gebiet aus. Jedoch fehlt die Antwort des Meisters nicht zur Zufriedenheit des Reisenden aus, denn letztlich empfiehlt er ihm, eine Münze zu werfen. So kann es Weltreisenden ergehen! – In dem Augenblick fällt dem Rezensenten ein, dass er selbst eine solche Entscheidermünze in seinem Schreibtisch in Griffnähe hat. Diese Münze, ein Geschenk einstiger Kollegen, sollte ihm helfen, grundsätzliche Entscheidungen seines Lebens zu fällen, da er zu jener Spezies gehört, und hier entsteht eine Gemeinsamkeit mit Timmerberg, die unfähig sind, sich zu entschließen.

Ansonsten erweist sich Timmerberg als arrivierter Althippie, der mit gefülltem Säckel nicht mehr in Hauseingängen oder der Bahnhofsmission kampieren und per Anhalter durch die Galaxis trampen muss. Er genießt den Luxus der Sterne-Hotels und lässt sich vor Ort gern mit dem Taxi chauffieren. Bedrängt ihn ausnahmsweise das nackte Leben, wie beispielsweise in Shanghai in Gestalt besonders aggressiver Bettler, rettet er sich vor dem Mob in eine Droschke und braust davon. Sozialkritik ist nicht das Thema des Buches.

Immerhin schafft es der Autor, seiner Weltreise eine gewisse Leichtigkeit zu verleihen, die den Leser in Bann schlägt. Er unterstützt dies durch eine flotte Sprache sowie milieudichte Schilderungen über Drogenexzesse. Hier spürt der Leser, dass Timmerberg life dabei war und sein Wagemut ihn bevorzugt ins Land der Kopfreisen führte. Er kennt die Illusionsromantik des Reisens, er predigt Toleranz und fühlt sich schließlich doch am wohlsten dort, wo er startete und wieder ankommt: im multikulturell gefärbten Berlin.

»In 80 Tagen um die Welt« ist lesenswert für den gestandenen Reisenden, der sich an dies oder jenes erinnern möchte. Es ist kein Reiseführer, und es sucht auch nicht Erkenntnisse in Slums und Absteigen, wie sie von einem Journalisten vielleicht erwartet werden. Das Buch ist amüsant, und der Autor ist fraglos weit herumgekommen. Die Freude am Reisen, mit Ausnahme des Abstechers nach Mexiko-Stadt, scheint ihm dabei jedoch mit den Jahren verloren gegangen zu sein.


Genre: Reportagen
Illustrated by Rowohlt

Der Wolkenatlas

Am Anfang war die Verwirrung: Das sollte ein Roman sein? Kaum hatte man sich in die Geschichte eingelesen, begann schon eine neue und noch eine und noch eine … Ein fesselnder Roman war versprochen worden, und nun dieses: ein Band abrupt abbrechender Erzählungen ohne inneren Zusammenhang!? Immerhin war die Sprache brillant und die Handlung durchaus spannend … wenn sie nur nicht dauernd abbrechen würde!

Es beginnt mit dem Pazifiktagebuch eines amerikanischen Notars, der Mitte des 19. Jahrhunderts in einer Erbschaftsangelegenheit auf Reisen ist und dabei an die Grenzen seiner moralischen und körperlichen Kraft stößt.

Sodann findet ein junger englischer Komponist auf der Flucht vor seinen Gläubigern Unterschlupf und Inspiration bei einem einstmals genialen Berufskollegen in Belgien, der durch Alter und Syphillis alle Lebens- und Schaffenslust verloren hat und nach anfänglicher Wiederbelebung mitansehen muss, wie der hilfsbedürftige Assistent sich selbst zum Meister mausert.

Eine junge amerikanische Journalistin ist einem Atomskandal auf der Spur, ein abgehalfterter Verleger landet irrtümlich in einem geschlossenen Altenheim, eine geklonte Koreanerin der Zukunft will ein richtiger Mensch werden, und ein vom Schicksal gebeutelter alter Mann erzählt in hinterwäldlerischstem Jargon aus seiner dramatischen Kindheit, die in ferner Zukunft „nach dem Untergang“ verlief, als man die letzten Reste von Zivilisation zu bewahren suchte.

Erst lange nach der Hälfte des Buches bekommen die Geschichten des Anfangs ihre Fortsetzung und ihr Ende, und immer deutlicher verknüpfen sich die einzelnen Handlungsstränge. Immer steht der Mensch im Mittelpunkt, der Mensch in seinem zu allen Zeiten egoistischen Streben nach Macht, Geld und Einfluss im Großen wie im Kleinen. Dieses Streben bringt ihn vorwärts und richtet dabei grässliches Unheil an. Jene Menschen, die andere Ideale verfolgen und / oder aufs Gemeinwohl bedacht sind, müssen aus dem Weg geräumt werden – Wurzel fast allen Übels dieser Welt und genug Stoff für Romane von gestern, heute und morgen. Stoff auch für einen so vielschichtigen und bei aller Dramatik witzigen Roman wie den „Wolkenatlas“, den der anfangs skeptische Leser am Ende doch gefesselt und daher höchst ungern aus der Hand legt. Wie gern würde er zum Finale das so plastisch beschriebene Wolkenatlas-Sextett hören, das der junge Assistent des alten Künstlergenies komponiert hat und das fast verlorengegangen wäre …

David Mitchell präsentiert einen aus verschiedenartigsten Materialien gewebten, eigenwilligen und raffinierten Roman, der bei rororo unlängst als Taschenbuch erschienen ist, sodass sich experimentierfreudige Leser kostengünstig auf ihn einlassen können. Bibliophile werden sich an solchen Bonmots wie dem folgenden erfreuen: „Bücher bieten keine wirkliche Rettung an, aber sie können den Geist davon abhalten, sich wund zu kratzen.“

Ebenfalls bei rororo zu haben und unbedingt empfehlenswert ist ein weiterer Roman des britischen Autors: „Der dreizehnte Monat“, ein literarisches und psychologisches Meisterwerk, das von den Gemeinheiten und Wonnen des Erwachsenwerdens und Menschseins berichtet.


Genre: Romane
Illustrated by Rowohlt

QQ

»Quiet quality«, abgekürzt »QQ«, ist ein amerikanischer Modebegriff und bedeutet so etwas wie »stille Güte«. Es will all das klammern, was nicht schreit und spritzt. Da Max Goldt das Ende seiner Tage in einem gepflegten Altenheim für betuchte Senioren verleben möchte, sieht er sich gezwungen, noch ein paar Jährchen zu schreien und zu spritzen. Dieser Tätigkeit geht der Autor bevorzugt im Satiremagazin »Titanic« nach. 21 seiner doppelseitigen stilbildenden Aufsätze sind in diesem Bändchen still und gut zusammen gefasst.

Goldts Sätze sind Sprachkunstwerke. Der Autor erzählt in locker-legerem Stil und mit einem satyrischen Funkeln in den Augenwinkeln kleine Geschichten aus dem Hier und Jetzt. Was assoziativ aneinander gereiht scheint, ist tatsächlich elegant konstruiert und bis in die letzte sprachliche Wendung ausgefeilt.

Ein fulminantes Feuerwerk ist sein Essay »Über Fernsehmusik«, mit dem der Sammelband eröffnet. Goldt beginnt mit der Rezension eines softlesbischen Mystery-Thrillers über zwei in lodernder Hassliebe verhedderten Frauen aus grauer Vorzeit, die sich in weiblicher Dramatik schlussendlich in einem keltischen Burgfried gegenseitig einmauern. Über diesen Einstieg schwenkt Goldt zur Autorin dieses historischen 800-Seiten-Schinkens, einer gewissen Heidi Würsel. Diese Dame steckt sämtliche Tantiemen aus ihrer literarischen Tätigkeit, die sie im vertrauten Kreis auch schon mal »Leseschrott für fette Frauen zusammenkloppen« nennt, in ihre heimliche Sehnsucht: das Restaurant »Schinkenkeller« auf der Insel Sylt.

In diesem Tempel des erlesenen Geschmacks trifft der Leser auch ihre Halbschwester, eine anerkannte Steingartenexpertin aus dem Hausfrauenfernsehen, die ihre Kohle in das Aufmöbeln alter Lamborghinis steckt und darin Erfüllung sucht. Auch sie steht kurz davor, als Buchautorin zu brillieren.

Gemeinsam ist den Damen ein Freund: der Fernsehkomponist Henner Larsfeld, ebenfalls Stammgast im »Schinkenkeller«. Dieser arbeitet, würde er danach gefragt – aber er wird es nicht – ausschließlich in seiner Küche und mixt dort Klangcocktails für unterschiedlichste Fernsehproduktionen. In dieser Kreativküche schrieb Larsfeld auch die Musik für die TV-Adaption des Würselschen Stoffes der eingemauert Schmachtenden. Wobei »schreiben« so verstanden sein will, dass er aus einer Sammlung von CDs mit Mönchschören und extrem verhallten Wummersounds einen Soundteppich knüpft, über den – unabhängig vom Genre – sämtliche der von ihm beschallten Fernsehfilme und Dokumentationen spazieren.

Auch Larsfeld versuchte einst, sich künstlerisch freizuschwimmen und verzichtete in einem ihm besonders geeigneten Fall auf die Chöre der Kuttenträger. Doch die zuständige TV-Redakteurin machte ihm schnell deutlich, dass dies doch gar nicht passe, und so griff der Meister, von einem »Warum nicht gleich so!« seiner Auftraggeberin angefeuert, wieder ins Mönchsarchiv.

Insofern lässt sich schon jetzt prophezeien, welche Fernsehmusik ertönen wird, wenn er den nächsten Würsel-Erfolg unterlegt, der bald über den Bildschirm flimmert und im übrigen erzählt, wie die beiden eingemauerten Frauen fünfhundert Jahre später aus ihrem Kokon ins Mittelalter entschlüpfen und sich dort wieder ihren heimlichen Leidenschaften widmen.


Genre: Humor und Satire
Illustrated by Rowohlt

Vom Zauber des seitlich dran Vorbeigehens

»Katar will berühmt werden. Ein Mensch, der so ein Ziel vor Augen hat, nimmt an Talentwettbewerben teil. Unter Staaten gilt dieser Weg als unschicklich, also lädt man sich zur Bekanntmachung seiner Herrlichkeiten internationale Schreibkräfte ein, setzt sie an erlesene Tafeln, lässt sie auf King-Size-Betten liegen und erzählt ihnen nebenbei etwas über das hervorragende Erziehungssystem« … Max Goldt zählt zu den Auserwählten, die Katar zum Nulltarif besuchen durften. In dem ihm eigenen überspitzt eleganten und witzigen Stil beschreibt er die Schönheiten des Emirates, das Familien mit Kinder anlocken möchte, ohne den Kleinen auch nur einen Eisstand anzubieten.

Allein diese Geschichte macht Goldts Büchlein »Vom Zauber des seitlich dran Vorbeigehens« empfehlenswert. Aber auch die anderen Dialoge, Szenen und Kolumnen, die der einstige Mitbegründer der Band »Foyer des Arts« und langjährige »Titanic«-Kolumnist in seinem Werk zusammengestellt hat, lesen sich vergnüglich und sich sprachliche Leckerbissen.

In der Titelgeschichte »Vom Zauber des seitlich dran Vorbeigehens« nimmt er freundlich Abstand von den Aufdringlichkeiten einer Wirklichkeit, die er besonders mit dem alljährlichen Weihnachtsmarktzauber verbindet. An der »Volksschwäche«, »historische Marktplätze für geschlagene fünf Wochen mit billigen Sperrholzverschlägen zu möblieren«, geht er gern, »geführt von ruhigem, friedlichem Desinteresse«, seitlich vorbei.

Max Goldt schreibt mild und mit innerer Heiterkeit, er postuliert die Sanftheit der Sprache. Seine Texte haben einen Drall in Richtung »Quiet Quality«. Dieses neue Schlagwort aus den USA steht für alles, was nicht schreit und spritzt, und der Autor hat die stille Qualität »QQ« inzwischen zum Titel einer weiteren Veröffentlichung erhoben.


Genre: Humor und Satire
Illustrated by Rowohlt

Der Seitensprung

Die Ehe von Eva und Hendrik scheint zerrüttet. Er betrügt sie mit der Kindergärtnerin ihres Sohnes. Sie fühlt sich tief verletzt und will sich von ihm trennen. Doch zuvor will sie Genugtuung. Sie rächt sich mit einem One-Night-Stand, bei dem sie allerdings einen Psychopathen aufgabelt. Damit gerät die Geschichte vom Seitensprung aus allen Fugen und führt ins Chaos. Was wie ein Drama sprachlicher Missverständnisse zwischen Mann und Frau beginnt und durch eine klärende Aussprache vielleicht gerettet werden könnte, entwickelt sich zu einem spannenden Thriller voller Hintersinn und doppelter Böden.

Die subtil scheinende Geschichte der schwedischen Krimiautorin Karin Alvtegen entpuppt sich als phantastisch ausgefeilte Fallstudie über die Kommunikationslosigkeit zwischen Mann und Frau vor dem Hintergrund von Zwangsneurosen. Vor allem aus weiblicher Perspektive zeichnet sie das Fühlen und Empfinden der Protagonistin auf, die entdeckt, dass sie von ihrem Ehemann hintergangen wird und vergeblich versucht, die Beziehung zu retten. Als sie erkennt, dass ihre Versuche harsch zurück gewiesen werden, entwickelt sie sich zum verletzten Racheengel.

Eva versucht, die Rivalin fertig zu machen. Sie fälscht deren E-Mails und kramt im Hintergrund der Widersacherin herum, um sie unmöglich zu machen. All das würde auch aufgehen, wäre sie nicht eines Nachts Jonas in die Arme gelaufen. Jonas ist ein von Zwängen getriebener Psychopath, der Frauen, die ihm begegnen, nicht mehr loslässt. Der Wahnsinnige verfolgt die Ehefrau und Mutter und bricht in ihr Leben ein. Damit entsteht in kürzester Zeit ein Tohuwabohu, das Eva nicht mehr beherrschen kann …


Genre: Frauenliteratur
Illustrated by Rowohlt

Heimatliebe ist mehr als eine Spreewaldgurke

»Vor lauter Globalisierung und Computerisierung dürfen die schönen Dinge des Lebens wie Kartoffeln oder Eintopf kochen nicht zu kurz kommen.« Hier spricht eine berufene Hausfrau, es formuliert aber auch die Chefköchin der Bundesrepublik Deutschland, Angela Merkel.

Im Zeitalter der digitalen Medien rutschen immer mehr Äußerungen von Würdenträgern und anderen Wichtigtuern unredigiert in die Öffentlichkeit, die dem Bürger ein Lächeln schenken. Im Falle der Pionierleiterin Merkel ist jetzt daraus ein kleines Büchlein entstanden, das eine Viertelstunde Freude schenkt. Die Zitate werden dem Ruf der großen Führerin gerecht, der kleinstmögliche Abstand zwischen zwei Fettnäpfchen zu sein.

Angelas Welt ist voller Geheimnisse und Abgründe: »Frauen sind wie Teebeutel. Du weißt nicht, wie stark sie sind, bis du sie ins heiße Wasser tauchst«, prophezeite die Oberkommandierende und tauchte unter. Vielleicht dachte sie dabei an den Kochtopf eines Kannibalenstammes und betete: »Die heilige Barbara starb den Martyrertod. Ich hoffe, dass mir das erspart bleibt.

Da sie aber über »gewisse kamelartige Fähigkeiten« verfügt, wird die Merkelin diesen Weg kaum beschreiten müssen. Derweil bereist sie die blühenden Landschaften und lobt dieses, unser deutsches Land: »Ich denke an dichte Fenster! Kein anderes Land kann so dichte und so schöne Fenster bauen!« Das ist auch gut so, dann dringen die Lacher der Bürger selten an die Öffentlichkeit.

Besonders bemerkenswert ist die ausgeprägte Heimatliebe unserer Regierungschefin. »Ich will, dass Mecklenburg-Vorpommern das Bayern des Ostens wird«, lautet ihr politisches Credo. Und so ist es auch ein Merkel-Spruch, der diesem Band seinen Titel verlieh: »Heimatliebe ist mehr wert als eine Spreewaldgurke.« – Guten Appetit!


Genre: Humor und Satire
Illustrated by Rowohlt