Eine dieser Nächte

Diarrhöartige Suada

Von der Schriftstellerin und Übersetzerin Christina Viragh ist nach zwölf Jahren Pause wieder ein Roman erschienen, dessen Titel «Eine dieser Nächte» bereits andeutet, dass sein Plot eine eng begrenzte Zeitspanne umfasst, die hier zwölf Stunden dauert. Dieser neue Roman der in Rom lebenden Schweizerin mit ungarischen Wurzeln ist innerhalb ihres – mit sechs Romanen in fünfundzwanzig Jahren – überschaubaren Œuvres nicht nur seines üppigen Umfangs wegen ihr Opus Magnum, sie hat scheinbar auch alles hineingepackt, was ihr erzählerisch zur Verfügung stand, hat also ihren jahrelang angesammelten Zettelkasten, so stelle ich mir das bildlich vor, komplett abgearbeitet. Mit der Nominierung für die Longlist des Deutschen Buchpreises 2018, – der übrigens vorgestern mit «Archipel» an ein ebenso ambitioniertes, nämlich chronologisch rückwärts erzähltes Werk ging -, hat die Jury jedenfalls viel Mut bewiesen, denn beide Romane sind wenig massentauglich und spalten die Leserschaft, wie die wenigen Rezensionen bisher zeigen, recht deutlich.

«Es war die Dämmerstunde, in der schöne Seelen zu Bekenntnissen und Verbrecher zu Geständnissen neigen und in der selbst schweigsame Menschen gern Geschichten erzählen oder Erinnerungen auskramen, um nicht einzuschlafen» hat Marguerite Yourcenar in «Der Fangschuss» als ersten Satz geschrieben. Bei Christina Viragh liest man zu Beginn: «Das Flugzeug steht am Anfang der Landebahn und scheint sich schon aus dem Stand heben zu wollen, es zittert vor verhaltener Energie, die Flügel wippen». Die beiden Romane trennen zeitlich siebzig Jahre, gemeinsam ist ihnen die zum Erzählen geradezu prädestinierte Nachtzeit und das zum Nichtstun verdammt sein. Im ersten Fall also die Wartezeit im Bahnhof von Pisa, bei Viragh der zwölfstündige Nachtflug mit Thai Airlines Flug TG970 nonstop Bangkok/Zürich in einer Boeing 777. Die von einem Kongress auf Bali zurückkehrende Schriftstellerin Emma, biografisch eindeutig das Alter Ego der Autorin, hat das Pech, neben einem schwatzsüchtigen Amerikaner zu sitzen, dessen voluminöse Stimme auch die umliegenden Sitzreihen erreicht und allen Passagieren gewaltig auf die Nerven geht.

Der diarrhöartigen Suada von Bill, – ein unsympathischer Schwätzer und typisch amerikanische Klischeefigur zugleich -, kann sich niemand in Hörweite entziehen. Aber allmählich beginnen die pausenlos heraussprudelnden, belanglos erscheinenden Szenen und Episoden des aufdringlichen Schwadroneurs, den Emma als Sextourist einschätzt, die kleine Gruppe der Passagiere in Bann zu ziehen. Das Erzählte entwickelt langsam seinen Reiz, es ruft immer wieder neue Storys auch der anderen hervor, beflügelt geradezu die Fantasie und mündet in einen ausufernden und episch breit angelegten Erzählreigen mit überraschenden Querbezügen und Verweisen. Neben Bill und Emma gehören das schwule Pärchen Michael und Stefan zu dem Figurenensemble, ferner der seltsam gehemmte Ethnologe Walter, der über Bestattungsriten forscht, sodann Hagen, ein zwölfjähriger, iPad-süchtiger Blogger, schließlich noch die japanische Familie in der Sitzreihe dahinter. Sie alle eint die Orientierungslosigkeit beim Flug in finsterster Nacht, auf engstem Raum stundenlang schicksalhaft vereint und doch bindungslos mit sich allein, – all das löst auch ihnen allmählich die Zunge.

Sprachlich zieht die Autorin alle Register, variiert gekonnt die interschiedlichen Stimmen ihres Figurenensembles und negiert thematisch jedwede Plausibilität in postmoderner Tradition. Natürlich fordert ein solch komplexer Stoff zu eigenen Interpretationen heraus, er macht damit das Lesen in Anbetracht der Fülle von unmotivierten Verästelungen und Erzählfragmenten, so ging es mir jedenfalls, zu einer Sisyphosarbeit auf der Suche nach Zusammenhängen. Die Suada des Protagonisten findet ihre Entsprechung im Plot dieses ebenso langweiligen wie nichtssagenden Romans, bei dem auch das Lesen selbst zu einem unerquicklichen Langstreckenflug wird.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Dörlemann