Wir leben in einer Welt zunehmender Spezialisierung, eine Entwicklung, die dem rasant wachsenden Wissensstand in Wissenschaft und Technik geschuldet ist. Doch während Spezialisten in ihren engen Fachgebieten brillieren, sind die Risiken und Nebenwirkungen dieser Spezialisierung weithin bekannt. In dieser Zeit des Wissens-Turms zu Babel blicken wir mit ehrfürchtigem Staunen auf jene seltenen Persönlichkeiten, die ein umfassendes Weltverständnis verkörpern. Weiterlesen
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De Subtilitate. Von der Feinheit der Welt und des Denkens
Allein
Allein. Der Susan-Sontag-Biograph (Geist und Glamour, 2007) und Autor vieler Beiträge für die Zeit, Deutschlandradio Kultur und die taz war auch in der Pandemie nicht untätig. Nach “Nüchtern” (2014) und “Zuhause” (2017) erscheint nun ein weiteres sehr persönliches Buch. Dessen Thema erfüllt immer noch viele Menschen mit Unbehagen. Dabei muss sich jede/r ihm stellen. Nicht nur einmal im Leben.
Allein: Einsamkeit als Chance
Das Thema Allein-Sein ist so alt wie die Menschheit und sicherlich kein Phänomen der Moderne oder allein von Krisenzeiten wie eben Pandemien, Kriegen oder anderen Apokalypsen: “Niemand von uns kann der Einsamkeit entkommen. Sie ist eine unabwendbare, eine existentielle Erfahrung. Vielleicht auch eine notwendige.” In seinem Bestseller (SPIEGEL, FOCUS, stern und Börsenblatt) erzählt Schreiber, wie er sich gerade in der paradoxen Situation der Einsamkeit auf eine Insel (Fuerteventura) flüchtete, um dort zu schreiben und schließlich zu sich selbst zu finden. Schreiber zeigt, dass gerade Menschen in Einsamkeit ihren Egoismus schließlich besiegen lernen, sich reorganisieren und damit zu neuem Wachstum finden. “Das Erleben von Einsamkeit bringt, mit andren Worten, eine Form der Selbstwahrnehmung mit sich, die wir anders nicht erlangen können. Gerade der Schmerz, der der mit ihr einhergeht, sorgt dafür, dass wir eine neue Art des Mitgefühls in uns entdecken, für uns selbst und andere Menschen. Uns neue Lebenswege erschließen und innere Auseinandersetzungen zulassen, die sonst ausblieben.”
Allein: Praktiken der Selbstreparatur
Mit seinen Gedanken über das Allein-Sein befindet Schreiber sich übrigens in bester Gesellschaft, schon Roland Barthes, Hannah Arendt, Sartre oder andere Choryphän des abendländischen Denkens haben sich in ihrem Schreiben damit beschäftigt. Oft hätte er sich unvollkommen gefühlt, weil er keine Zweierbeziehungen führen hätte können, jedenfalls keine auf Lebenszeit. Vor allem die Rituale, die den Alltag, das Leben zusammenhalten, würden einem abgehen, wenn man alleine ist, gerade in Zeiten einer Pandemie. Ähnlich wie die traditionellen kollektiven Rituale in westlichen Gesellschaften (Hochzeit, Taufe Beerdigungen, etc.) als rites de passage in neue Lebensabschnitte führen, habe nun aber auch die Pandemie einen solchen Schwellenzustand, eine Liminialität, geschaffen, die, wie zu befürchten ist, zu einem permanenten zu werden droht.
Das Narrativ von der Apokalypse
Denn die Welt ist nicht erst seit der Pandemie aus den Fugen geraten und die Apokalypse wieder in aller Munde. Aber selbst das ist nur Teil der ewigen Wiederkehr des Gleichen, denn die Menschheit hat immer schon von ihrem Untergang geschwärmt, seit Anbeginn der Zeit. Schreiber bezieht sich auf viele Autorinnen und Autoren der Gegenwart oder Antike und stellt einen Zusammenhang her mit seinem eigenen persönlichen Leben als homosexueller Mann, dem sich herkömmliche Glücksversprechen von Eigenheim und Kleinfamilie vorerst verwehren, er sich dann aber bewusste dafür entscheidet, eben nicht dazuzugehören: “Ich gehörte nicht mehr zu diesen Menschen, und wollte auch nicht mehr zu ihnen gehören.” Er entscheidet sich dafür, “uneindeutige Verluste” als eben solche stehen zu lassen und mit der Ambivalenz zu leben, da manche Fragen eben unbeantwortet blieben. So wie Derek Jarman auf seinem Prospekt Cottage: “Er nahm ein paar Samen, Stecklinge und etwas Treibholz und begann dieses Gefühl vom Ende der Welt in Kunst zu verwandeln und so dessen Schrecken zu lindern.”
Liminalität: der neue Schwellenzustand
Aber mehr noch als das, ist “Allein” vor allem auch ein äußerst lesenswertes Buch über die Segnungen von Freundschaft und das eigentliche Wesen dieser wohl größten menschlichen Tugend. Wer sich nämlich nicht in einer von der Gesellschaft vorgegebenen patriarchalisch-normativen Kleinfamiliensituation in der Mitte seines Lebens wiederfindet, wird ebenfalls dankbar sein für dieses so wertvolle Buch, das Einblicke gewährt, mit dessen Abgründen sich jeder einmal in seinem Leben wird auseinandersetzen müssen. Spätestens nach einer Scheidung, einem Verlust oder wenn die Kinder erwachsen sind und das Haus verlassen. Die wohl prägendste Erfahrung im Leben eines Menschen ist nämlich gerade diese Einsamkeit, deren Potential und heilsamer Charakter erst noch entdeckt werden muss. “Paare” gälten oft als dominantes Lebensmodell, während sie doch eigentlich oft “patriarchale Horrofilme” ähnelten, wie Hannah Black etwa meint. Black beschreibt Paare als “reduktionistischste, ausgrenzendste und prekärste Methode, um das wahrscheinlich universale Bedürfnis nach Nähe zu stillen”.
Liebe vs. Freundschaft
Auch queere Paare würden dies oft nur reproduzieren, dabei liege das wahre Glück doch in der Freundschaft und der Auflösung jedweder Arten von Herrschaft und Macht. Freundschaft beruhe ja gerade auf Freiwilligkeit und sei deswegen losgelöst von Verpflichtungen und Normierungen wie etwa Familie, Verwandtschaft oder Ehe. Aber oft würden sich Freunde oder Freundinnen dann doch in eine Zweierkiste verabschieden und man bliebe alleine zurück. Dabei sei Liebe ohnehin nur eine Illusion, die für einige Jahre vielleicht “die Angst vor dem Sterblichen und dem Tode” zu bannen vermöge. Es ist kein Geheimnis, dass Liebe tatsächlich sehr viel der Kraft unserer Fantasten bedarf. “Erst unsere Vorstellungskraft schenkt uns die Magie der Hingabe“, zitiert Schreiber Lauren Berlants “Desire/Love“. In der Einsamkeit lässt sich die Nähe zu Gott und zu seiner/m Nächsten. erfahren. Die Liebe kommt dann von ganz allein. Denn sie genügt sich selbst.
Ein beflügelndes, inspirierendes Essay, das nicht nur über die Pandemie, sondern noch so manchen anderen Schmerz hinwegtrösten kann. Das Buch zur Apokalypse.
Daniel Schreiber
Allein. Essay
2023, Broschur, 160 Seiten
ISBN: 978-3-518-47318-4
suhrkamp taschenbuch 5318
12,00 € (D), 12,40 € (A), 17,90 Fr. (CH)
Unordnung im Himmel
Unordnung im Himmel. Die Unordnung, die Slavoj Žižek in seinem neuen Buch meint, geht auf ein Zitat des Großen Vorsitzenden Mao Tse-tung zurück. Denn Krise (Unordnung) bedeutet bekannterweise nicht nur Chaos, sondern auch Chance. Der vorliegende Band enthält kurze Aufsätze zu den Themen, die uns seit Ausbruch der Krise (Pandemie) in Atem halten. So analysiert Žižek – kurzatmig und kurzweilig wie immer – etwa die Tatsache, dass die USA ihre moralische Führung verloren haben, warum Assange immer noch nicht frei ist und weswegen wir heutzutage mehr radikale Veränderungen statt Mitgefühl brauchen. Trägt er deswegen eine Mao-Uniform auf der Illustration am Cover?
Unordnung im Himmel
“Freundlichkeit und Mitgefühl können sich in der Regel nur diejenigen leisten, die oben stehen“, meint Žižek etwa, wenn es um Migration geht und verlangt ausgerechnet mit einem Oscar Wilde (!) Zitat, unseren altruistischen Tugenden, die genau die Erreichung ihrer eigenen Ziele verhindern würden, enndlich abzuschwören. Genau das ist es wohl auch, was er ein paar Zeilen weiter als “liberalen Opportunismus in seiner schlimmsten Form” bezeichnet: “Aus Angst, die Mitte zu verschrecken, sagt man sich von den linken ‘Extremisten’ los.” Aber gerade in Zeiten des Trumpismus hätte man schon mit der Verteidigung der liberalen Demokratie alle Hände voll zu tun und es scheint wirklich zu viel verlangt zu sein, darüber hinaus noch eine Perspektive zu entwerfen. Schließlich wird das Feld der politischen Spannung, der hegemoniale Diskurs, längst von den Rechten bestimmt, und das nicht erst seit der Pandemie.
Lageberichte aus dem irdischen Chaos
Der letzte, 35. Aufsatz, in vorliegendem Band trägt denn auch den provokanten Titel “Warum ich immer noch Kommunist bin” und wird wohl viele Leser:innen allein deswegen schon abschrecken. “Tout ce qui bouge n’est pas rouge“, zitiert Žižek Alain Badiou und tatsächlich dominiert die politische Rechte der Gegenwart den hegemonialen Diskurs indem sie sich einer langen Tradition überwiegend linker Volksproteste bedient, gibt Žižek zu bedenken. Warum also klammert sich Žižek immer noch an den “verfluchten Namen des Kommunismus“, wie er schreibt, wenn er doch wisse, dass das kommunistische Projekt des 20. Jahrhunderts längst fehlgeschlagen ist und dabei nur “neue Formen mörderischen Terrors” hervorgebracht habe? Da wir uns dem Ende in Form einer apokalyptischen Katastrophe nähern, sei es umso klarer sich zur Freiheit als erkannte Notwendigkeit zu bekennen: “Das Ende der Zeit wird als die Unmöglichkeit des Endes erlebt“. Für Žižek bleibt die letzte Wahl immer noch der Kommunismus.
Slavoj Žižek
Unordnung im Himmel.
Lageberichte aus dem irdischen Chaos.
Aus dem Engl. von Axel Walter
2022, Broschur, 288 S. 13,5 x 21,5 cm
ISBN 978-3-8062-4487-8
wbg Theiss, Darmstadt
The Secret Teachings of All Ages
The Secret Teachings of All Ages. Dem Stein der Weisen dürfte wohl niemand je so nahe gekommen sein, wie Manly Palmer Hall, der 1928 erstmals diesen Klassiker publizierte. Der gelernte Philosoph aus Kanada behandelt darin
antike Symbole, verborgene Rituale und arkane Praktiken.
Das Wissen der Alten
Eine Enzyklopädie der verborgenen Lehren und das Wissen der Alten in einer luxuriösen Ausstattung mit vielen Abbildungen und zudem 4 hochwertigen Drucken in einem Portfolio. Die Ausgabe erscheint in zwei Bänden im sog. Baby Sumo Format mit kunstledergebundenem Rücken und Goldfolienprägung. Halls Werk war zu seiner Zeit auch als “Das Großes Buch” bekannt, weil es beinahe das gesamte Wissen der damaligen Welt beinhaltete. Anschauliche Illustrationen des Künstlers J. Augustus Knapp und zusätzliche Abbildungen von Mihran Serailian, die im Begleitband zu finden sind, lassen eine okkulte Welt auch in bunten Farben erstehen und bieten den Leser:innen einen einzigartigen Zugang zu fast 60 Kunstwerken. Qabbala, Alchemie, Tarot, Ceremonial Magic, Neo-Platonische Philosophie, Mystery Religions, und auch die Theorie des Rosicrucianism und der Freemasonry werden in vorliegender Prachtausgabe ins Zentrum der Aufmerksamkeit gestellt.
Faith, Honesty, and Common Sense
Die ursprüngliche Idee entstand schon 1923, als der junge Redner aus Los Angeles eine monatelange Reise um die Welt unternahm. Damals noch mit dem Schiff. Hall umrundete Ägypten, China und Indien und vertiefte sich in philosophische und religiöse Geschichten und Praktiken dieser Länder. Sieben Jahre soll er dann an seinem Werk gearbeitet haben, das nun als minutiös restaurierte Version von Halls “Großem Buch” beim TASCHEN Verlag, rund 100 Jahre nach seinem Entstehen, vorgelegt wird. 1934 gründete Hall die Philosophical Research Society (PRS), deren Präsident er bis zu seinem Tod war. Die Philosophical Research Society verfolgt weiterhin seine Mission, die Quellen für all diejenigen zu erforschen, die grundlegendes und praktisches Wissen für das 21. Jahrhundert suchen. Laut ihren Statuten ist die PRS auch heute noch “dedicated to the ensoulment of all arts, sciences, and crafts”. Halls Vermächtnis wird von der PRS mit folgenden Worten zusammengefasst: “With faith, honesty, and common sense we can build a better world than any we have known.”
The Secret Teachings of All Ages
Das Begleitbuch ergänzt das Werk mit Zusammenfassungen der einzelnen Kapitel der Secret Teachings sowie neu entdeckten Kunstwerken, seltenen Fotografien aus Halls Archiven und Essays von den Journalisten Mitch Horowitz und Jessica Hundley.
Manly Palmer Hall
The Secret Teachings of All Ages
Hardcover mit Ausklappseiten im Schuber,
33,5 x 47,5 cm, 356 Seiten, mit Begleitbuch, 23,8 x 32,2 cm, 256 Seiten, beide mit
kunstledergebundenem Rücken und Goldfolienprägung;
4 Drucke in einem Portfolio, je 33,5 x 47,5 cm, Gesamtgewicht 13 kg
ISBN 978-3-8365-8576-7 (Englisch)
TASCHEN Verlag
€ 500 | CHF 500
Katzen und der Sinn des Lebens
Katzen und der Sinn des Lebens. Natürlich ist allein die Frage nach dem Sinn des Lebens gerade in Tagen wie diesen purer Luxus. Ebenso lapidar fällt denn auch die Antwort aus: leben. Das ist auch die Antwort die Katzen geben würden. Denn es ist genau das, was sie tun: leben.
Das Glück der struppigen Vierbeiner
“Feline Philosophy” lautet der vorliegende Text im englischen Original, wo das Buch erstmals 2020, im Pandemiejahr, erschien. “Katzen ist ein Glück angeboren, das Menschen oft nicht erreichen”, heißt es darin etwa, weil der Mensch unablässig danach strebe etwas zu sein, was er nicht ist, während die Katzen einfach sie selbst sind. Ausgehende von der Phänomenologie Platons bestreitet Gray diese, indem er behauptet, dass jede einzelne Katze einzigartig ist und sogar mehr Individuum als so mancher Mensch. Anhand mehrerer Beispiele aus der Literaturgeschichte oder einfachen Erzählungen, weist Gray in Folge dann nach, was an dieser Einzigartigkeit der Katzen dran ist. Natürlich stets mit philosophischem Augenzwinkern und dem Ernst des Themas angemessen. Die sog. Selbstbewusstheit des Menschen habe die immerwährende Unruhe geweckt, von der uns die Philosophie vergeblich zu kurieren suche, schreibt Gray.
Vorbildhafte Katzen in der Menschengeschichte
Nicht erst seit Michel de Montaigne, dem Begründer des modernen Humanismus und Katzenliebhabers, wissen wir, dass vielmehr die Katzen mit uns spielen als wir mit ihnen. In der Geschichte “Mèos Reise“, dem ersten Beispiel von John Grays Katzenapotheose, wird die innige Beziehung eines GIs zu seiner vietnamesischen Katze, Mèo, beschrieben, die der amerikanische Soldat vor dem Massaker von Hué errettete. Und obwohl das Schicksal dieser einen Katze im Verhältnis zu 58.000 US-Soldaten und zwei Millionen vietnamesischen Zivilisten obszön ist, vermochte es die Katze doch zumindest ein Menschenleben zu verschonen: das des Erzählers, dem GI. Auch andere Katzen aus fernöstlichen und anderen Kulturen werden von John Gray um ihre Bedeutung für den Menschen festzuhalten erwähnt: Colette’s Saha, Highsmith’s Ming, Jun’ichiro’s Lily, Gaitskill’s Gattino, Berdjajew’s Murris, etc.
Katzen und der Sinn des Lebens
Katzen bringen keine Asphaltiere oder Anführer hervor, sie leben lieber alleine als im Rudel und kooperieren doch, wenn es draufkommt. Sie ordnen sich nie unter und gehorchen oder huldigen nicht, wenn sie gehen wollen, gehen sie, wenn sie bleiben wollen, bleiben sie aus ihrem eigenen Wunsch. Sie sind so ehrlich wie kein Mensch es vermöchte zu sein. “Während Glück bei Menschen ein künstlicher Zustand ist, ist es bei Katzen die Verfassung, die ihrer Natur entspricht.” Wir lieben Katzen, weil sie so anders sind als wir selbst und vielleicht auch, weil sie uns an unseren eigenen Tod gemahnen. John Gray zitiert Ernest Becker, wenn es um die Grausamkeiten des Menschen gegen den Menschen geht, ihre Lebenslügen und Ideen für die sie zu sterben vorgeben. Schon Wittgenstein aber wusste, dass nur jene ewig leben, die in der Gegenwart leben (“Unzeitlichkeit”) und genau das tun unsere Katzen: sie sind sterbliche Unsterbliche, leben ihrer Natur entsprechend und sind das, was sie am besten können. Sie selbst.
Ganz nebenbei lernen wir mit vorliegender unterhaltsam geschriebener Lektüre auch viel über andere Philosophen wie etwa Epikur, Lukrez, Seneca, Pascal, Spinoza, Comte und vor allem über den Sinn des Lebens: zu leben. Eine gute Einführung zu John Grays philosophischen Betrachtungen geben auch die vom Verlag auch online (im Buch im Anhang am Ende) zugänglich gemachten “10 Tipps von Katzen an Menschen” über den Sinn des Lebens. Hier abrufbar!
John Gray
Katzen und der Sinn des Lebens
Philosophische Betrachtungen
Übersetzer:in: Jens Hagestedt
2022, Hardcover, 159 Seiten
ISBN: 978-3-351-03923-3
Aufbau Verlag
22€
The Hottest State – Hin und weg
„Hin und weg“ ist der erste Roman des Schauspielers Ethan Hawke, den man sowohl aus Action-Filmen als auch aus Liebes-Filmen kennt. Die „Before“-Trilogie von Regisseur Richard Linklater (bei Studiocanal gerade als solche im Bundle als BluRay und DVD erschienen) zeitigte auch ein neues Format mit Hawkes schriftstellerischem Lieblingsthema: Beziehungs-Kino. Ganz groß. In Cinemascope sozusagen. Auch zwei Buchdeckeln.
The Bitter End im Hottest State
Wahrscheinlich hat noch nie jemand so ehrlich über das „Thema Nr. 1“ in unser aller Leben, Beziehungen, geschrieben, wie Ethan Hawke. „Hin und weg“ ist sein erster Gehversuch in diese Richtung, der erstmals 1996 unter dem Originaltitel „The Hottest State“ erschien. 1997 erstmals auf Deutsch bei KiWi. Auch wenn der Romanautor sich beizeiten hinter dem Schauspieler William Harding, seinem Protagonisten, der auch in seinem vierten Roman „Hell strahlt die Dunkelheit“ (ebenfalls bei Kiepenheuer & Witsch 2021) wiederkehrt, versteckt. In „Hin und Weg“ ist er noch zarte 20 Jahre alt und lernt in einer New Yorker Bar im Bitter End (sic!) ausgerechnet am Ferragosto Sarah kennen. Seine erste große Liebe, die ihn in Bann schlägt. Jeder von uns kennt es. Aber noch niemand hat es mit so treffenden und aufregenden Worten beschrieben, was diese erste so verheißungsvolle Fantasie mit uns allen macht. In nur drei Monaten erlebt William sämtliche Höhen und Tiefen der ersten Liebe, den alles übertreffenden Irrsinn und den heftigsten Schmerz. Und natürlich auch die ganze Idiotie dahinter.
Hin und weg zwischen New York und Paris
„In Paris ging alles den Bach runter.“ Was in New York beginnt kommt in einem vorläufigen Höhepunkt, der Peripetie, in Paris zu einem jähen Ende. William muss aufgrund von Dreharbeiten dorthin und nimmt Sarah kurzerhand mit. Aber sie haben nur eine Woche Zeit, sich im Hotel de Nesle aufeinander abzustimmen. Denn dann muss William arbeiten und Sarah wieder zurück nach New York. Aber was in diesem Hotelzimmer in Saint Germain de Près, mitten in Paris, passiert, verändert ihrer beider Leben. Zumindest wollen sie, dass es ihr Leben verändert. Für immer. Doch als William nach seinen Drehtagen in Paris wieder nach New York zurückkehrt, hat Sarah sich verändert. William versucht sie mit einem Romeo-Monolog vor ihrer Wohnung zu beeindrucken, doch er macht sich mehr lächerlich als nützlich. In einem letzten Showdown lädt sie ihn dann an ihren Arbeitsplatz ein und zeigt ihm ihr Leben. Aber kann es jetzt noch zu einem Happy-End kommen? Ebenfalls bei Kiepenheuer & Witsch erschienen sind der zweite Roman und die „Regeln für einen Ritter“ (2010, dt.: 2016), ein Handbuch mit feinen Zeichnungen und einer bezaubernden Geschichte für die Helden unserer Tage.
Ethan Hawke
Hin und weg. Roman
Übersetzt von: Kristian Lutze
2016, KiWi-Taschenbuch, 240 Seiten
ISBN: 978-3-462-04962-6
Kiepenheuer & Witsch
9,99 €
Illustrated by Kiepenheuer & Witsch Köln
Der Alchimist
Der Alchimist. Erstmals erschien die vorliegende Geschichte 1988 in der Originalsprache. Die deutsche Erstausgabe folgte 1993. Die hier nun vorliegende folgt der 1996 im Diogenes erschienenen Version und wurde für die 22. Auflage 2020 ergänzt und überarbeitet. Der bunte Umschlag sowie das schöne Leinen auf der Innenseite des Buchcovers und das praktische Format zeichnen diese Ausgabe, dessen Design von Harper One stammt, besonders aus. Auch Oprah Winfrey hat sie am Nachtkästchen liegen – allerdings auf Englisch.
Seinem Traum folgen
Santiago ist ein andalusischer Hirte mit einem wiederkehrenden Traum: Am Fuß der Pyramiden liege ein Schatz für ihn bereit. Aber eigentlich hat er schon lange den Wunsch seßhaft zu werden. Und er kennt auch schon ein Mädchen, das in einem Dorf auf ihn wartet. Sein Vater wollte einen Priester aus ihm machen, aber er wollte immer reisen. Deswegen besorgte er sich 60 Schafe und tingelte durch Spanien. Bis er den Traum hatte und ihn einer Zigeunerin mitteilt. Diese macht ihm die Prophezeiung und schließlich siegt die Neugierige und er macht sich auf den Weg, indem er die Schafe verkauft und nach Tanger übersetzt. Aber Santiago wird gleich auf der ersten Station seiner Reise bestohlen. Soll er jetzt schon umkehren? Oder seinem Traum folgen? Aber wer ist schon so naiv und macht sich auf eine so lange Reise nur wegen einem Traum? Jedoch ist sein Traum auch seine Bestimmung und das Glück immer mit denen, die ihrer Bestimmung folgen, so Coelho.
Der Weg ist das Ziel
Träume sind die Sprache Gottes und wer Zeit und Muße findet, sollte ihnen zuhören. Ein alter Mann, ein ehemaliger König, übergibt Santiago zwei Steine, Urim und Thummim, schwarz heißt ja und weiß heißt nein. Die beiden Steine helfen Santiago auf seiner langen Reise seine Entscheidungen zu treffen. Denn es vergeht mehr als ein Jahr, bis er sein Ziel erkennt. Aber oft führt einen das Erreichen eines Zieles wieder an den Anfang zurück. Man kennt das von dem Brettspiel „Mensch, ärgere Dich nicht“. „Der Alchimist“ steckt voller Weisheit und das lange bevor Santiago ihm begegnet. Die Geschichte ist hilfreich in kritischen Lebenssituationen und wenn Orientierung notwendig wird. Denn oft vergisst man den Weg zur eigenen Bestimmung, kommt vom Weg ab und landet in einer Sackgasse. Aus dieser Sackgasse führt die vorliegende Lektüre heraus. Obwohl es natürlich schon schön ist, die Pyramiden wirklich gesehen zu haben.
Paulo Coelho
Der Alchimist
Aus dem Brasilianischen von Cordula Swoboda Herzog
2021, Hardcover Leinen, 176 Seiten
ISBN: 978-3-257-07155-9
€ (D) 18.00 / sFr 24.00 / € (A) 18.50
Diogenes
Hell strahlt die Dunkelheit
Hell strahlt die Dunkelheit. Schauspieler, Regisseur und Schriftsteller Ethan Hawke legt in seinem vierten bei Kiepenheuer&Witsch auf Deutsch erschienen Roman die Latte hoch. In einer Melange aus seinen eigenen Eheproblemen und dem Shakespeare-Stück „Henry IV“ schreibt Hawke ein Stück Weltliteratur über die Dilemmata des modernen Mannes in einer ehrlichen, aber auch sehr lyrischen Sprache, die ihresgleichen sucht. Ein fiktiver Roman, so authentisch wie die eigene Biographie und zugleich witzig und voller intrinsischer Kraft.
Ein Roman zur Ehetherapie
Natürlich ist dieses Stück Prosa Fiction. Aber wer die Biographie des Tausendsassas Hawke kennt, weiß, dass er mit Uma Thurmann (der Uma, ja!) verheiratet war und sich dann mit der Kindersitterin – nicht ganz freiwillig – aus seiner Ehe verabschiedete. Aber alle autobiographischen Übereinstimmungen sind natürlich rein zufällig und unbeabsichtigt. Sein Protagonist der 32-jährigeWilliam Harding ist mit dem Rockstar Mary verheiratet und sie haben zwei Kinder. Als er bei einem Dreh in Kapstadt der Untreue überführt wird und die Medien die Affäre aufbauschen, will Mary sich trennen. Auf seinem Rückweg nach New York ist er praktisch schon geschieden, denn selbst sein Taxifahrer vom JFK zum Mercury Hotel in downtown weiß Bescheid und kennt ihn und seine ganze Geschichte. Die Schattenseiten des Berühmtseins eben. Allein diese Taxifahrt vom Flughafen in die Stadt ist schon so kurzweilig und witzig geschrieben, dass sie alleine schon ein Sketch sein könnte. Mühelos versteht es Hawke die witzigsten Dialoge rauszuhauen und eine subtile Ironie über die Situation seines Protagonisten zu legen. Aber es gibt auch viele Dinge über die man genauer nachdenken sollte.
Humor ohne Grenzen
Das Stück in dem William am Broadway mitwirkt, ist für das Ohr und nicht für das Auge bestimmt. Denn nur das Ohr ist immer in der Gegenwart. „Der Schauspieler musst die Absicht des Autors für die Zuhörer `sichtbar´ machen. Das erreicht man durch klare Aussprache und durch Atmen – am Ende, nie in der Mitte – eines Verses.“, rät ihm sein Regisseur. Henry Percy, genannt Hotspur, ist die für William reservierte Rolle in Shakespeares Henry IV., also der Rebell gegen den König, der schließlich sterben muss, um die alte Ordnung wiederherzustellen. Ähnlich wird es auch William im realen Leben ergehen, denn er muss am Ende auch sterben, weil er sich gegen seine Königin auflehnt, aber selbstverständlich nur als Metapher. „Da draußen tobt ein Krieg der Geschlechter“, berät ihn Dean Deadwilder, ein Freund, und William müsse endlich kapieren, dass alles bedeutungslos sei und alles Reale nur in einem selbst passiere. Der sympathische Looser und Slacker William, der gerne weint, erzählt seine Probleme nämlich jedem, der zuhört. Aber das ist kein Jammern, sondern Melancholie. Mary vergnügt sich in der Zwischenzeit mit Valentino Calvino, sie ist kein Kind von Traurigkeit, auch wenn sie am Telefon heult.
Ethan Hawkes sprachliche Bilder sind fantastisch, die Dialoge süffisant, der Erzählstrang schlüssig und die vermittelte Philosophie erleuchtend. „Hell strahlt die Dunkelheit“ erleuchtet auch die dunkelsten Gemüter und ist nicht nur eine Hommage an das Theater und den Beruf des Schauspielers, sondern ein ehrliches Stück Weltliteratur, das man auf keinen Fall versäumen sollte, so hell strahlt es in der Dunkelheit.
Ethan Hawke
Hell strahlt die Dunkelheit. Roman
Übersetzt von: Kristian Lutze
2021, Hardcover, 336 Seiten
ISBN: 978-3-462-00165-5
23.-€
Illustrated by Kiepenheuer & Witsch Köln
Einfach mal nichts tun
Was für ein Traum: sich vollkommen zu entschleunigen, nichts mehr tun zu müssen und mit größtmöglicher Gelassenheit und Ruhe durchs Leben zu hangeln. Das Buch »Einfach mal nichts tun« von Tim Collins regt dazu an. Jedoch: Die Lektüre kann starke Nebenwirkungen zeigen. Weiterlesen
Selbstverteidigung – Eine Philosophie der Gewalt
Selbstverteidigung – Eine Philosophie der Gewalt. In ihrem Prolog zum Buch stellt die Philosophie-Professorin eine Foltermethode des beginnenden 19. Jahrhunderts den Geschehnissen um die Ermordung von Rodney King durch das LAPD im 20. Jahrhundert gegenüber. In beiden Fällen galt, dass je mehr sich der „Delinquent“ wehrte, desto mehr wurde er geschlagen oder gefoltert. Der Prozess um die Polizisten endete mit einem Freispruch. Rodney King hatte sich verteidigt, doch indem er sich verteidigte, wurde er unverteidigbar. Der Inhalt des Zeugen-Videos wurde in seiner Bedeutung einfach umgedreht. Schuldumkehr.
Selbstverteidigung: Tanz als Widerstand
Die Ergebnisse des Freispruchs sind bekannt. Die als „L.A. Riots“ in die Geschichte eingegangenen Unruhen von 1992 kosteten weitere 63 Tote und 2000 Verletzte sowie einen Sachschaden in Milliardenhöhe. Die Geschichte der USA ist vor allem auch eine Geschichte von Rassismus. Die USA waren eine Sklavenhaltergesellschaft, deren Opferbilanz insgesamt sogar höher als der Holocaust ausfällt. Man schätzt, dass er 40 Millionen (schwarze) Leben kostete. „Jede Verknüpfung von Tanz, Gesang und Musik, deren Aufführung in einem Kreis eine agonistische Disposition annimmt, stellt eine Kampfkultur mit bloßen Händen dar und loste eine weiße Panik aus”, schreibt die Autorin. Dennoch entstanden Kampftänze, die zu den kodifizierten Formen der Gegenkultur gehörten, die als traditionelle Kultur bis heute überlebten. Während in Übersee die Sklaven also entwaffnet und unterworfen blieben, machte sich das französische Kolonialrecht mit Hilfe einer schwarzen Streitmacht auf eine Mission der Zivilisierung der Welt. Sie wurden sogar als „Geheimwaffe gegen Deutschland“ gehandelt, da die personellen Ressourcen unerschöpflich schienen.
Gewalt: Vigilanten und weiße Justiz
In einem weiteren Kapitel beschreibt die Autorin den Aufstand des Warschauer Ghettos als ein Beispiel der Zeugnisse der Selbstverteidigung (Kapitel 3). Eines der interessantesten Kapitel ist die Beschreibung des Vigilantismus in der jungen Nation der USA, der sich im Grunde bis heute erhalten hat. Während der gesamten Kolonisierung Amerikas schlossen sich Gruppen von Männern zu Verteidigungsmilizen zusammen, die sich selbst das außerordentliche Recht der Gerichtsbarkeit (Justiz und Polizei) einräumten. „Der Vigilant ist der große Verteidiger der amerikanischen Nation, der Held, der immer bereit ist, sie zu verteidigen: Die Kultur des Vigilantismus hält so das Narrativ von der weißen Rasse in Gang und aktualisiert es ständig.“ Diese sog. „Weiße Justiz“ (Kapitel 5) schreckte auch vor Lynchmorden nicht zurück, ein Begriff übrigens der auf den tatsächlich existenten Charles Lynch zurückgeht, der in Virginia, zur Zeit der Amerikanischen Revolution seinen Männern eine Blankovollmacht gab, um Pferdediebe und andere Banditen „auszumerzen“. Aber natürlich auch zur Verfolgung von Landstreichern, Fremden, weißen Dissidenten sowie schwarzen Sklaven und Rebellen. Die Legende vom Black Beast Rapist – dem schwarzen Vergewaltiger weißer Frauen -wurde dabei zur treibenden Kraft. Eines der düstersten Kapitel der „besten Demokratie auf Gottes Erden“. Etwa wenn man vom Waco-Horror von 1916 spricht, bei dem ein unschuldiger Schwarzer gelyncht und Teile seines Körpers als Souvenir verkauft und Fotos der Szene in Form pittoresker Postkarten verbreitet wurden, „um den Tourismus in der Stadt anzukurbeln“ (sic!).
Geschichte des Widerstands gegen den weißen Mann
Weitere Kapitel beschäftigen sich u.a. auch mit Martin Luther King, „der besten Waffe des weißen Mannes“ oder den Black Panthern for Self-Defense sowie feministischen Organisationen wie den Suffragetten oder der Association of Southern Women for the Prevention of Lynching oder auch anderen. Ein wichtiges Buch, das zwar keine Antwort auf
Die Autorin wurde mit dem Frantz Fanon Prize 2018 und dem Prix de l’Écrit Social 2019 ausgezeichnet.
Elsa Dorlin
Selbstverteidigung – Eine Philosophie der Gewalt
Aus dem Französischen von Andrea Hemminger
D: 32,00 € / A: 32,90 € / CH: 42,90 sFr
2020, Gebunden, 315 Seiten
ISBN: 978-3-518-58756-0
Suhrkamp Verlag
Melancholie
Melancholie. „Nullum magnum ingenium sine mixtura dementiae (Kein großes Genie ohne eine Mischung von Irrsinn)“, wie schon der griechische Philosoph Aristoteles wusste. Ein wohl ebenso gewaltiges wie „irrsinniges“ Werk hat der 1952 in Debrecen (Ungarn) geborene Kunsttheoretiker, Literaturwissenschaftler und Essayist in den Achtzigern des 20. Jahrhunderts zur Melancholie vorgelegt.
Kulturgeschichte einer “Krankheit”
Das als Kulturgeschichte der Melancholie angelegte Werk aus dem Jahre 1984 (Original „Melankólia“) resp. 1988 bei Matthes & Seitz strotzt vor brillanten Ideen und Formulierungen sowie literarischen, ästhetischen und historischen Einsichten zur „Gemütskrankheit“ Melancholie. Denn Földényi beschreibt die Melancholie auch als Energie und Kreativitätsquelle, die trotz ihre schlechten Rufs auch in der Lage ist, uns in Bewegung zu setzen, wenn wir es nur zuließen. Schon in seinem Vorwort lässt der Autor klar erkennen, worin die eigentliche Melancholie besteht und dass sie uns alle betrifft: „Die Wörter, sie sagen weniger als wir durch sie auszudrücken wünschen- sie leiten uns fehl, entführen unsere Gedanken ihrem eigentlichen Ziel (…)“. Unsere Wörter drücken eben nicht nur das aus, was wir mitzuteilen wünschen und das allein genügte schon, einen denkenden und sensiblen als den wir uns wohl alle betrachten möchten, in die entsprechende Gemütslage zu bringen. Aber je stärker die Angst und der Wahnsinn beim Melancholiker überhandnehmen, umso mehr würden sich bei ihm auch Klarsicht und Urteilsvermögen verstärken. Der Melancholiker ist also auch ein: …Seher!
Das Wissen der Ausgestoßenen
Schon Hippokrates habe von den Melancholikern als aus sich selbst Heraustretende und sich in Ekstase Befindlichen gesprochen. Die Nähe zum Wahrsager und Wahnsinnigen im Griechischen weist Földényi auch etymologisch nach: „Der Wahrsager (μάντης) ist nicht nur etymologisch, sondern auch schicksalsmäßig ein Verwandter des Wahnsinngen (μανιακός), der wiederum ein Zwilling des Melancholikers (μελαγχολία) ist.“ Schon , Hölderlin fluchte in seinem Empedokles, dass gerade die Melancholiker ob ihres Wissens „von der Welt der Übrigen“ ausgeschlossen seien: „Oh ewiges Geheimnis! Was wir sind und suchen, können wir nicht finden; was wir finden, sind wir nicht.“ Sie seien einfach nicht fähig, zu leben wie die anderen, aber ihre Einsamkeit sei keineswegs die eines Romantikers, so Földényi. Ausgerechnet die Melancholiker seien jahrtausendelang zu Wahrsagern gemacht worden, eben weil sie über ein höheres Wissen verfügten, da sie isoliert und einsam lebten. Vor diesen Eingeweihten würde Leben und Tod nicht aufeinander folgen, sondern sich im Augenblick vereinen. (Bei Empedokles sind die zwei wichtigsten Triebfedern des Seins die Liebe und der Streit, also Vereinigung und Trennung.) Eben deswegen erzeuge das Wissen der Wahrsager, Wahnsinnigen und Philosophen Melancholie, weil es den Menschen an den Punkt “des letztendlichen Unwissens, der ihm entzogenen Geheimnisse” führe. Die unter dem Saturn (Melancholiker) geborenen könnten auch in der Nacht sehen und diese verlöre so ihren Schrecken. Die antike Nacht strahlte eben heller, während die christliche vor Dunkelheit starrte.
Melancholie: Mann der Extreme
Rotwein, Rufus von Ephesos, die vier Temperamente, Kierkegaards Verdauungsproblem des Melancholikers sind nur ein paar Tags, die sich hier hinzufügen ließen. Mehr aber noch die außerordentlich handlichen Zitate: “Der Melancholiker möchte sich selbst genügen, er möchte durch sich selbst die Vollkommenheit erreichen.” Oder: “Melancholie…das Vorrecht des Hofnarren.” Aber auch: “Der Melancholiker ist ein Mann der Extreme und wird aus allen Richtungen von Gefahren bedroht. Seine Fähigkeiten reichen bis zu den Grenzen es menschlichen Seins und wie der Planet Saturnus kann auch der Melancholiker verkünden: Nach mir folgt entweder des Nichts oder Gott.”
László F. Földényi zählt nicht nur zu den bedeutendsten ungarischen Intellektuellen und leitet als Professor den Lehrstuhl für Kunsttheorie an der Akademie für Theater und Film, Budapest. Zudem ist er Herausgeber der gesammelten Werke von Heinrich von Kleist in ungarischer Sprache und u.a. Friedrich-Gundolf-Preisträger. Seit 2009 ist er auch Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Für sein Werk „Lob der Melancholie. Rätselhafte Botschaften“ wurde er 2020 mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung ausgezeichnet.
László F. Földényi
Übersetzung: Nora Tahy, Gerd Bergfleth
2020, 438 Seiten, Broschur
ISBN: 978-3-95757-926-3
Preis: 15,00 €
Matthes & Seitz Berlin
Ikigai – japanische Lebenskunst
Ikigai. Der Hirnforscher Ken Mogi gibt in vorliegender Publikation nicht nur Einblicke in die japanische Lebenskultur, sondern zeigt auch, dass das japanische Ikigai der Schlüssel für ein langes, gesundes und erfülltes Leben ist. Ikigai bedeutet „das, wofür es sich zu leben lohnt“. Der 92-jährige Jiro Ono, der älteste mit drei Michelin-Sternen ausgezeichnete Koch etwa, hat sein Ikigai gefunden. Aber man muss dafür nicht so alt werden.
Des Ikigais fünf Säulen
Auch die Obstbauern von Sembikiya oder der Keramiker Sokichi Nagae sind Beispiele, die Ken Mogi anführt, um zu zeigen, dass man zufriedener lebt, wenn man sein „ikigai“ gefunden hat. Denn damit man Sinn und Freude im Leben wiederfindet, reicht es schon, die fünf Säulen des ikigai zu beherzigen: 1. Klein anfangen, 2. Loslassen lernen, 3. Harmonie und Nachhaltigkeit leben, 4. Die Freude an kleinen Dingen entdecken,
5. Im Hier und Jetzt sein. Der japanische Neurowissenschaftler Ken Mogi erklärt anhand obiger und anderer inspirierender Lebensgeschichten und fundiert durch wissenscha liche Erkenntnisse in vorliegendem Buch die japanische Philosophie, die hilft, Erfüllung, Zufriedenheit und Achtsamkeit im Leben zu finden.
Praktikables Ikigai
Als eines seiner Beispiel führt Ken Mogi Jiro Ono an, der in dem Film „Jiro und das beste Sushi der Welt“ (Regie: David Gelb) porträtiert wird. Der 2010 erschienene Film ist bei Koch Media als BluRay und DVD erschienen und zeigt die kleine Sushi-Bar in einer U-Bahn Station in Tokio mit nur zehn Sitzplätzen, die Jiro sein ikigai finden hat lassen. Sein Restaurant Sukiyabashi Jiro wurde 2009 mit drei Michelin-Sternen ausgezeichnet und gilt heute als das beste Sushi-Restaurant der Welt. Jiro Ono wird in Japan geradezu verehrt und sein Restaurant ist jetzt schon eine Legende. Sein Sohn Yoshikazu Ono, der bald in seine Fußstapfen treten wird, hat es nicht leicht, das Sukiyabashi Jiro zu übernehmen und erfolgreich weiterzuführen. Denn wer kann schon eine Legende übertreffen?
Ken Mogi
IKIGAI. Die japanische Lebenskunst
Übersetzung: Sofia Blind
176 Seiten, gebunden mit gestaltetem, farbigem Vorsatzpapier und Lesebändchen
2018
ISBN 978-3-8321-9899-2
Dumont Buchverlag
Wittgenstein zum Basteln
Wittgenstein zum Basteln. „Was ist dein Ziel in der Philosophie? Der Fliege den Ausweg aus dem Fliegenglas zu zeigen.“ Wittgensteins Welt von Hanno Depner ist tatsächlich ein Bausatz, der das Verständnis des Hauptwerkes von Ludwig Wittgenstein, den „Tractatus logico-philosophicus“, leichter verständlich machen soll. Also Philosophie in 3D sozusagen: Wovon man nicht sprechen kann, das kann man eventuell erbasteln. Die Fliege wird’s einem danken.
Wittgenstein zum Basteln
Ein Gedankengebäude aus Karton, das mit Händen greifbar wird. Es reicht ein paar Stunden Nachdenk- und Bastelzeit und fertig ist ein Turm aus Wittgensteins Gedanken. Auch in den einführenden Gedanken des Autors und Bastelanleiters Depner wird die Philosophie Wittgensteins so unterhaltsam erklärt, dass man (fast) schon von einem Vergnügen sprechen könnte. Es reicht ein Pappkleber und ein wenig Geduld, denn die Pappteile im Anhang des Buches sind alle perforiert und so leicht herauszulösen. Denn wie sagte schon Ludwig selbst: „Wenn wir über den Ort sprechen, wo das Denken stattfindet, haben wir ein Recht zu sagen, dass dieser Ort das Papier ist“. In diesem Fall halt der Pappkarton. Die „Verhexung unseres Verstandes durch die Sprache“ kann vielleicht durch die Erbauung dieses Wittgenstein-Turmes endlich aufgelöst werden.
Ein Turm aus Gedanken
Wittgenstein stammte aus einer reichen Großindustriellenfamilie in Wien. Seine Eltern waren beide Katholiken und hatten insgesamt acht Kinder. Drei von fünf Brüdern Wittgensteins wählten den Freitod, der Pianist Paul, der im Ersten Weltkrieg verwundet worden war, bekommt von Maurice Ravel ein Klavierstück „für die linke Hand“ zugeeignet. Genauso aufregend wie seine Philosophie war aber auch das Leben Ludwig Wittgensteins, der stets unter Keuschheit litt. Im Ersten Weltkriege meldete er sich als Freiwilliger: „Vielleicht bringt die Nähe des Todes das Licht des Lebens. Möge Gott mich erleuchten.“ Später verschenkte er sein ganzes Vermögen an seine Geschwister und arbeitete als einfacher Grundschullehrer, dann wieder an der renommierten Cambridge University. Das vorliegende Bastelbuch ist nach den 7 Hauptsätzen des „Tractatus logico-philosophicus“ aufgebaut. Der erste Satz lautet: „Die Welt ist alles, was der Fall ist.“ Mal sehen, ob der Turm stehen bleibt. Der letzte Satz lautet: „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.“ Oder basteln. „Wittgensteins Welt – selbst hergestellt. Der »Tractatus« als Turm zum Basteln und Begreifen.
Mit Anleitung und Bausatz.“ – ein unvergessliches Vergnügen.
Hanno Depner
Wittgensteins Welt – selbst hergestellt
Der »Tractatus« als Turm zum Basteln und Begreifen
Mit Anleitung und Bausatz
Hardcover, Pappband, 82 Seiten, 21,0 x 27,0 cm
mit ca. 17 Seiten Bastelbögen
ISBN: 978-3-328-60075-6
2019, Penguin Verlag
€ 22,00 [D] inkl. MwSt.
€ 22,70 [A] | CHF 30,90 * (* empf. VK-Preis)