Durch ein Jahrhundert geweht

Elf Gedichte hat Elsa Rieger versammelt, die sie zum Familienbuch anordnet. Beginnend anno 1909 mit ihrer Großmutter, einer Gutsverwaltertochter aus dem Lande Rübezahls, ordnet sie anhand von markanten Jahreszahlen lyrische Blitzlichter.

Die Autorin erzählt von der wilden Zwanziger Jahren, in denen ihre Mutter aufwuchs, die dann 1939 dem zweiten Weltkrieg ins Auge blicken musste. Der endete für sie mit dem Einzug der russischen Befreier in Wien und der großen Lüge, auch nur einer habe für den Gröfaz aus Österreich den Arm ausgestreckt.

Zwischen „Heil“ und „Shalom“ erblickte die Autorin 1950 selbst das Licht der Welt, halb jüdisch, halb arisch. Mit 16 sieht sie in Gestalt von Jimi Hendrix die vermeintlich große Freiheit, um dann in den Iden des März 1974 ein Kind des Rock´n´Roll zur Welt zu bringen.

1985 stirbt der Papa – nur seine Brille erinnert noch an ihn. Fünf Jahre später hat sich der gewaltsam geteilte Himmel wieder geschlossen. Berlin tanzt auf den Resten der Mauer, und es beginnt eine vermeintlich bessere Zeit.

1999 zieht die Autorin ein Resümee ihrer Betrachtung von Großmutter, Mutter und Tochter: Drei Frauen haben sich behauptet. Mit einem Lächeln schaut die Dichterin zurück.

Elsa Rieger ist mit ihrem kleinen, nachdenklich stimmenden Gedichtband Großes angegangen. Wo andere Autoren ein dreibändiges Prosawerk schreiben, um Familiengeschichte generationenübergreifend schildern zu können, greift sie auf die gebundene, rhythmische Sprache zurück und belichtet Momentaufnahmen. – Ein interessantes Experiment!


Genre: Lyrik
Illustrated by Kindle Edition

Eine Weise von Liebe und Tod

Rainer Maria Rilkes lyrisch-expressionistische Erzählung „Die Weise von Liebe und Tod des Cornet Christoph Rilke“ aus dem Jahre 1899 diente dem Wortkünstler Horst A. Bruno, der im Netz auch als Brunopolik bekannt ist, als Vorlage für seine experimentelle Wort-Collage.

Brunopolik verdichtet Rilkes Erzählung, bei der es um ein kriegerisches Thema aus dem siebzehnten Jahrhundert (Soldaten marschieren gegen die nach Europa einfallenden Türken) zu einem Sprach-Objekt in Haiku-Metrik. Haiku gelten als die kürzeste Gedichtform der Welt. Horst A. Bruno sieht sich damit in Traditionsfolge von Dada-Künstler Kurt Schwitters bis hin zu Vertretern der mit Namen wie Allan Ginsberg („Howl“) verbundenen Beat Generation.

Interessant bei der vorliegenden Arbeit ist, dass Brunopolik sich dem klassischen japanischen Haiku verschrieben hat. Diese strenge Form besteht aus jeweils drei Wortgruppen von 5 – 7 – 5 Silben. Mit seiner Entscheidung für jeweils 17 Silben setzt sich der Haiku-Poet bewusst von modernistischen deutschsprachigen Poeten ab, die mit weniger als 17 Silben auskommen wollen, weil deutsche Silben mehr Informationsgehalt transportieren können als japanische Lauteinheiten.

Wer Freude an offenen Texten hat, die sich erst im Erleben und Fühlen des Lesers vervollständigen, findet mit dieser Wortcollage ein anschauliches Beispiel über die Möglichkeit, bewusst mit Sprache zu gestalten.


Genre: Lyrik
Illustrated by Kindle Edition

In hora mortis

Wild wächst die Blume meines Zorns
und jeder sieht den Dorn
der in den Himmel sticht
dass Blut aus meiner Sonne tropft
es wächst die Blume meiner Bitternis
aus diesem Gras
das meine Füße wäscht
mein Brot
o Herr
die eitle Blume
die im Rad der Nacht erstickt
die Blume meines Weizens Herr
die Blume meiner Seele
Gott verachte mich
ich bin von dieser Blume krank
die rot im Hirn mir blüht
über mein Leid.

Zum Frühwerk von Thomas Bernhard zählen rund 400 Gedichte. Sein Gedichtzyklus „In hora mortis“ („In der Stunde des Todes“) erschien erstmals 1958 und war der zweite Lyrikband, der von dem österreichischen Schriftsteller veröffentlicht wurde.

Der Titel ist dem „Ave Maria“ entlehnt und beschwört die Todesstunde eines Sterbenden. In Form eines direkt an Gott („Oh, Herr!“) gerichteten Stoßgebetes beschreibt der Dichter die Qualen, die er angesichts des Wartens auf seine Todesstunde empfindet. Thomas Bernhard stand aufgrund schwerer Lungenprobleme wiederholt auf der Schwelle des Todes und beschäftigte sich wohl auch deshalb immer wieder mit dem Thema Sterben.

Der Text beginnt mit der durchaus noch festen Klage „Wild wächst die Blume meines Zorn …“, um dann abzuklingen und in Traurigkeit zu verbrennen: „Ich bin vor Frost schon müd´ und traurig, weil mein Tag verglüht.“

Der Tod und die Relativierung aller anderen Werte angesichts dessen steter Nähe und Bedrohung ist eines der wichtigsten Motive des Zyklus. „Wo ist, was ich nicht mehr bin? – Die Zeit ist ausgelöscht“ schreibt der Dichter und stammelt schließlich am Ende des Textes: „zerschnitten ach zerschnitten ach zerschnitten ach ach ach mein Ach.“ Zerschnitten wird die Wahrnehmung der Außenwelt und des eigenen Ich. Der Tod erwischt alle, und keiner entkommt.

Deutlich klingt in dem Gebet auch die katholische Prägung Bernhards durch, wenn er mehrfach den Wunsch zu beten äußert und Gott als seinen Herrn preist. Später sagte er sich von der Amtskirche los und erklärte sie als eine der Hauptschuldigen für die Verkrüppelung des Individuums.


Genre: Lyrik
Illustrated by Insel Frankfurt am Main

Mein Lied geht weiter

Eine Schwalbe macht noch keinen – wie bitte?

Der kahle Lindenbaum vor det Museum,
Is -haste Worte- wieda jrien belaubt.
Die Amseln üben wieda ihr „Te deum“,
Der Friehling kommt. Wer hätte det jejlaubt!
Ick laß mia von´ Aprilwind nicht vaschrecken
– Von wejen „Volksmund“, ick bleib fest dabei:

Eene Schwalbe macht eenen Sommer!
Eene Rose macht eenen Mai!

In meinem Blumentopp blieht schon een Krokus
– Na, und mein Emil is so jut wie neu!
Nachts im Park jibts wieda Hokuspokus.
Aus eins und eins wird zwei. Und späta drei!
Det een Mal keen mal sein soll, is een Märchen.
Man hat oft Pech, doch bleib ick fest dabei:

Eene Schwalbe macht eenen Sommer,
eene Rose macht eenen Mai.
Ei wei!

Wenn die ersten Schneeglöckchen blühen und die letzten Schneeflocken fallen, draußen die Sonne scheint, es aber noch a…kalt ist, kann man drinnen noch getrost seinen Leidenschaften frönen, z.B. ein Gedichtbuch zur Hand nehmen…
Dies tuen wahrscheinlich nur wenige Menschen, denn man musste in der bereits verflossenen Schulzeit andauernd Gedichte auswendig lernen und interpretieren…
Aber es gibt auch eine stets wachsende Fangemeinde, die in Gedichten etwas ganz anderes findet, z.B. Humor…
Und den feinen Humor, trotz aller ernsthaften Lebensangelegenheiten, atmen die meisten Gedichte von Mascha Kaleko ein und aus…

Der vorliegende kleine Band ist eine Auswahl von einhundert Gedichten aus Mascha Kalekos Nachlass, der sich in sieben „Kapitel“ gliedert…
Das Gute daran ist, dass man die Kapitel nicht, wie in einem Roman, nacheinander lesen muß, sondern man einfach irgendeine Seite aufschlagen und loslesen kann…
Aber Vorsicht, alles in Maßen und nicht in Massen! Auch für Mascha Kalekos Kleinode gilt: Weniger ist mehr!
Man kann den kleinen Band schon jetzt „durchkämpfen“, aber er liest sich bestimmt auch genauso schön unter einem sommerlichen Apfelbaum…

Zum Schluss noch etwas in Hochdeutsch für alle Fans dieser Internetseite, natürlich von Mascha Kaleko (1907-1975):

Ansprache eines Bücherwurms

Der Kakerlak nährt sich vom Mist,
Die Motte frißt gern Tücher,
Ja selbst der Wurm ist, was er ißt.
Und ich, ich fresse Bücher.

Ob Prosa oder Poesie,
Ob Mord – ob Heldentaten –
Ich schmause und genieße sie
Wie einen Gänsebraten.

Ich bin ein belesner Herr,
Nicht wie die andern Viecher!
Daß Bücher bilden, wißt auch ihr,
Und ich – ich fresse Bücher.

Die Nahrung, sie behagt mir wohl,
Verleiht mir Grips und Stärke.
Was andern Wurst mit Sauerkohl,
Das sind mir Goethes Werke.

Ich fraß mich durch die Literatur
So mancher Bibliotheken;
Doch warn das meiste, glaub es nur,
Bloß elende Scharteken.

Das Bücherfressen macht gescheit.
So denken sich´s die Schlauen.
Doch wer zuviel frißt, hat nicht Zeit,
Es richtig zu verdauen.

Drum lest mit Maß, doch lest genug,
Dann wird´s euch wohl ergehen.
Bloß Bücher fressen macht nicht klug!
Man muß sie auch verstehen.


Genre: Lyrik
Illustrated by dtv München

Weltende

Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut
In allen Lüften hallt es wie Geschrei
Dachdecker stürzen ab und gehn entzwei
Und an den Küsten – liest man – steigt die Flut.

Der Sturm ist da, die wilden Meere hupfen
An Land, um dicke Dämme zu zerdrücken
Die meisten Menschen haben einen Schnupfen
Die Eisenbahnen fallen von den Brücken.

Dieses Gedicht des genialen Jacob van Hoddis leitete im Januar 1911 die AKTIONSLYRIK ein, die heute als »expressionistische« Lyrik bezeichnet nennt. Ohne van Hoddis wären die meisten »fortschrittlichen« Lyriker unserer Tage undenkbar, meint der Expressionismus-Forscher Paul Raabe, der die wichtigsten Texte des Dichters in einem schmalen Band zusammengestellt hat.

Zwischen 1911 und 1918 wurden die Texte van Hoddis in verschiedenen zeit- und kulturkritischen Zeitschriften wie »Die Aktion«, »Der Sturm«, »Die Fackel«, »Revolution« und »Dada« publiziert. Dabei erschien das Titelgedicht »Weltende« erstmals am 11. Januar 1911 in der Zeitschrift für freiheitliche Politik und Literatur, »Der Demokrat«. Das Gedicht ist in Inhalt und Stil das berühmteste des Dichters geblieben. In seiner ahnungsvollen Schilderung des Untergangs des Welt nimmt es den Ausbruch des Ersten Weltkrieges vorweg und symbolisiert den Aufbruch der expressionistischen Lyrik seit 1910.

Der expressionistische Lyriker und spätere DDR-Kulturminister Johannes R. Becher schrieb 1957 dazu: »Diese zwei Strophen, o diese acht Zeilen schienen uns in andere Menschen verwandelt zu haben, emporgehoben zu haben aus einer Welt stumpfer Bürgerlichkeit, die wir verachteten und von der wir nicht wussten, wie wir sie verlassen sollten. Diese acht Zeilen entführten uns. Immer neue Schönheiten entdeckten wir in diesen acht Zeilen, wie sangen sie, wir summten sie, wir murmelten sie, wir pfiffen sie vor uns hin, wir gingen mit diesen acht Zeilen auf den Lippen in die Kirchen, und wir saßen, sie vor uns hin flüsternd, mit ihnen beim Radrennen. Wir riefen sie uns gegenseitig über die Strasse hinweg zu wie Losungen, wir saßen mit diesen acht Zeilen beieinander, frierend und hungernd, und sprachen sie gegenseitig vor uns hin, und Hunger und Kälte waren nicht mehr …«

Jakob van Hoddis wurde am 16. Mai 1887 als Hans Davidsohn in Berlin geboren. Nach einem abgebrochenen Architekturstudium an der TU Berlin studierte er Klassische Philologie in Jena und Altphilologie in Berlin. 1908 hielt er seine erste öffentliche Lesung und nahm dazu sein Pseudonym an. Aufgrund seines unsteten Gemütszustandes wurde er am 31.10.1912 zwangsweise in eine Nervenheilanstalt eingewiesen, aus der er kurz darauf nach Paris entflieht. Wieder zurück in Deutschland, wo er am 25. April 1914 letztmalig öffentlich las, wurde der Kranke privat gepflegt und wanderte durch verschiedene Kliniken und Heilstätten.

Am 30. April 1942 wurde der Dichter von den Nazis deportiert und in einem Massenvernichtungslager in Polen ermordet. Sein genaues Todesdatum ist unbekannt.

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Genre: Lyrik
Illustrated by Arche Zürich