Silo

SiloIn einer feindlichen, zerstörten Umwelt gibt es nicht mehr viele Menschen. Sie haben sich in ein riesiges Silo unter der Erde geflüchtet. Um zu überleben, müssen sie die strengen Regeln des Silos befolgen. Aber einige Wenige tun das nicht. Sie sind gefährlich. Sie wagen es zu hoffen und zu träumen und stecken andere mit ihrer Hoffnung an. Ihre Strafe ist einfach und tödlich. Sie müssen nach draußen. Raus aus dem Silo. Juliette ist eine von ihnen. Vielleicht ist sie die Letzte.

 

Die Erde ist unbewohnbar, die Luft giftig! Seit mehreren Hundert Jahren leben die letzten Menschen in einem riesigen unterirdischen Silo auf 144 Stockwerken unter der Erde und wissen eigentlich nichts über die Außenwelt oder die Menscheitsgeschichte denn dieses Wissen ist verloren gegangen … Die Regeln im Silo sind streng denn nur so ist das Überleben möglich. In welchem Jahr die Geschichte spielt wird leider nicht erwähnt.

Das Silo ist in 3 große Bereiche unterteilt. In den oberen Stockwerken sitzt die Bürgermeisterin, eine gute und liebenswürdige aber auch naive Frau die nur das Beste für Ihr Volk will. Außerdem gibt es dort die Polizeistation, eine von mehreren Kranken- und Säuglingsstationen und eine von mehreren Hydrofarmen, auf denen Gemüse angebaut wird und sogar ein paar Nutztiere wie Kaninchen und Schweine gehalten werden.

Der wirkliche Strippenzieher des Silos ist allerdings die IT Abteilung die sich in der Mitte des Silos befindet und alles peinlich genau überwacht und kontrolliert. Jeder hat seine Aufgaben zu erfüllen, es gibt Träger, die den ganzen Tag zwischen den verschiedenen Stockwerken auf und abgehen um Lebensmittel oder Nachrichten zu übermitteln.

Auch Partnerschaften und Familiengründungen werden strengstens überwacht, denn der Platz im Silo ist schließlich begrenzt. Paare, die sich offiziell als solche eintragen lassen, dürfen erst ein Kind kriegen, wenn sie in der Lotterie gewinnen und diese Lotterie findet nur dann statt, wenn Jemand gestorben ist und seinen Platz quasi für einen neuen Menschen freigegen hat.

Um die Kontrolle nicht zu verlieren, gelten aber auch noch ganz bestimmte und extrem strenge Regeln, denn es ist z.b absolut verboten, das Silo zu hinterfragen, Fragen über die Außenwelt zu stellen oder sogar nur von der Außenwelt zu sprechen oder gar den Wunsch zu äußern das Silo zu verlassen. Dies sind die schlimmsten Verbrechen die man im Silo begehen kann und ziehen den Tod durch die „Reinigung“ nach sich.

Oberhalb des Silos gibt es nämlich einen Turm, der mit Kameras ausgestattet ist und über diese Kameras werden Bilder der Außenwelt in die erste Etage des Silos übertragen. Die Menschen aus der ersten Hälfte des Silos kommen nach Feierabend gerne dorthin um einen Blick auf die Außenwelt zu werfen, obwohl diese immer trostlos, grau und leer ist. Sandstürme verschmutzen die Kameralinsen aber immer wieder, so dass die Sicht getrübt wird und zwar so lange, bis wieder eine Reinigung ansteht und die Verurteilten zum Säubern der Linsen aus dem Silo verbannt werden. Sie bekommen zwar einen Schutzanzug, aber ihr Tod ist unausweichlich, denn die giftige Atmosphäre zersetzt die Anzüge innerhalb kürzester Zeit.

Das Silo ist so gewaltig, dass es 1-2 Tage dauert, die gigantische Wendeltreppe komplett zu beschreiten und von ganz oben bis ganz unten zu gelangen. Dort in den Tiefen des Silos sitzt die Mechanik und dort lebt und arbeitet die 34-jährige Juliett leidenschaftlich an ihren Pumpen und Generatoren, um den Menschen im Silo das Leben so angenehm wie möglich zu machen. Sie interessiert sich nicht die Bohne für die oberen Etagen des Silos oder gar die Außenwelt sondern ist als Mechanikerin einfach nur zufrieden.

Eines Tages hinterfragt der Sheriff des Silos zu viel und wird zur Reinigung verurteilt, so dass nun ein neuer Sheriff her muss. Die Wahl fällt auf Juliett, denn die clevere und fleißige Frau hat in der Vergangenheit bereits einmal bei polizeilichen Ermittlungen in der Mechanik geholfen und interessiert sich absolut nicht für die Außenwelt –eine perfekte Frau für diesen Posten also.

Juliett ist zuerst gar nicht begeistert über ihre Beförderung, denn ihr Herz schlägt für die Mechanik, sie lässt sich dann aber doch auf den Job ein und zieht in den oberen Bereich des Silos. Dort fängt sie an das Vergehen des alten Sheriffs zu hinterfragen, beginnt in dieser Richtung heimlich zu ermitteln und stößt dabei auf jede Menge Ungereimtheiten was das Silo und die Außenwelt betrifft.

Endlich mal wieder eine richtig geniale und ausführliche/umfangreiche Dystopie, von der ich völlig begeistert bin. Ideal für Leute, die sich gern so richtig in Endzeitgeschichten festfressen denn dazu ist das Buch mit seinen 530 Seiten bestens geeignet. Von Anfang an ist die Geschichte sehr spannend und hat mich voll in ihren Bann gezogen. Teilweise konnte ich das Buch gar nicht mehr aus der Hand legen. „Silo” ist der erste Teil einer Trilogie und schon bevor ich das Buch auch nur zur Hälfte durch hatte, habe ich mir die anderen beiden Bücher besorgt.

Tolle Charaktere, eine außergewöhnliche und detailliert erschaffene Welt, unerwartete Wendungen, viel Spannung –was will man mehr?

Für Endzeitfans wirklich ganz großes Kino, ich kann das Buch nur wärmstens empfehlen und werde jetzt gleich direkt mit dem zweiten Teil „Level“ beginnen!

Hugh Howey wurde 1975 geboren und verdiente sein Geld als Skipper, Bootsbauer, Dachdecker und Buchhändler, bevor er als Romanautor erfolgreich wurde. Sein Endzeitthriller »Silo« war eigentlich als Erzählung angelegt, fand aber so  überwältigend viele Leser dass schließlich ein Roman daraus wurde. Mit Silo gelang ihm auch der internationale Durchbruch. Inzwischen verkaufte sich die Trilogie weltweit mehr als 3 Millionen Mal. Hugh Howey lebt mit seiner Frau in Jupiter, Florida.


Genre: Dystopie, Endzeitgeschichten
Illustrated by Piper Verlag München

Warum die Sache schiefgeht

In ihrem Buch »Warum die Sache schief geht« schildert Karen Duve, wie Egoisten, Hohlköpfe und Psychopathen uns um unsere Zukunft bringen. Die Autorin geht dabei davon aus, dass die Menschheit in eine unkontrollierbare Katastrophe rast und sich letztlich selbst ausrottet. Vor allem Bankenwesen, Pharmakonzerne, Großindustrie und die ihre Interessen vertretenden Regierungen seien an dem unvermeidlichen globalen Kollaps schuld. Erforderlich sei eine sofortige radikale Änderung unseres Lebensstils und vor allem die Abschaffung des gedankenlosen Konsums, um anständig überleben zu können. Weiterlesen


Genre: Sachbuch
Illustrated by Goldmann München

Ein wenig Leben

Blick in die Hölle

Ein wenig Leben präsentiert sich, zumindest am Anfang, als eine bescheidene Chronik der Art und Weise, wie das Leben in einer kleinen Gruppe von ein-wenig-leben-hanya-yanagihuraLeuten zusammenhängt, die ein Stück Geschichte gemeinsam haben, als Katalog einer schrittweisen Ansammlung der Dinge ihres Lebens: die Arbeitsplätze und Wohnungen, die One-Night-Stands und Freundschaften und Groll, die Möbel und Kleidung, Liebhaber und Ehepartner und Häuser. Yanagihara folgt den Spuren von vier talentierten und künstlerischen Freunden von ihren gemeinsamen Collegetagen bis sie jetzt, als sie sich mit Anfang dreißig in und um New York City zu etablieren beginnen. Folgt ihrem Sex und Essen und Schlaf und Freunde und Geld und Ruhm. Es ist wie eine Studie über eine geschlossene Gesellschaft, ihre Sprache, ihre Rituale und ihre geheimen Codes.

Vier College-Freunde haben das Studium an einer unbenannten Universität abgeschlossen (scheinbar Harvard) und sind auf dem Weg in ihr berufliches Leben.

Malcolm, ein Mischlingskind, arbeitet in einem Architekturbüro und lebt noch bei seinen reichen Eltern. Sein Vater ist ein unerhört reicher, afroamerikanischer Finanzier.

J.B (Jean Baptist) ist ein homosexueller, haitianischer, ehrgeiziger Künstler an der Schwelle zum Erfolg. Er wurde von seiner Mutter allein erzogen. Er malt gegenständlich und konzentriert sich auf das Malen seiner Freunde.

Willem, gutaussehend, stattlich und liebenswürdig von isländischer-schwedischer Abstammung arbeitet als Kellner und denkt an eine Schauspielkarriere.

Und da ist Jude, faszinierend und verwundet, ein brillanter, gequälter Protagonist, über den die anderen drei wenig herausfinden können. Er hat keine klare Rassenzugehörigkeit, seine Sexualität scheint verwischt oder nicht existent. Vor allem hat er ein dunkles Geheimnis, das sein Leben und das seiner Freunde überschattet. Diese gehen aber nicht den offenen Fragen nach, sondern feiern seine Unterschiede. JB nennt ihn den Post-Mann „… post-sexuell, post-ethnisch, Post-Identität, Post-Vergangenheit.” (Seite 129)

Alle vier sind gottlos und postmodern. Aufwärts und voran geht es für alle. Aber es ist keine glückliche Geschichte.

Zunehmend konzentriert sich der Roman auf Jude und Willem. JB und Malcolm verschwinden weitgehend von der Bühne und machen ihre eigenen, eher unwahrscheinlichen Sprünge zum amerikanischen Traum. Ein wenig Leben dreht sich um Jude, und Willem spielt eine führende Rolle dabei. „Willem war gut für ihn, aber er war schlecht für Willem.“ (Seite 649) Wir werden schichtweise tiefer in Judes Elend und sein geheimes Leid gezogen, sehen ihn sich ritzen, bemerken Narben auf seinem Rücken, verstehen, dass es vor vielen Jahren einen Unfall gab, der seine Beine stark beschädigt hat. „ … die Schmerzen, die an seiner Wirbelsäule hinab in eines seiner Beine krochen, als hätte man einen Holzpflock in Flammen gesetzt und in ihn hineingebohrt.“ (Seite 139) Und wir erkennen, dass das Geheimnis seines Lebens der erzählerische Motor ist, der den Roman antreibt.

Der Roman führt uns auf eine über 900-seitige Reise durch das Leben eines emotional und körperlich geschädigten Jude St. Francis, und das Leben seiner Freunde, die zwischen ihm und den Dämonen oder Hyänen, die er sieht und peinvoll spürt, stehen. Es ist ein Buch der Selbstbeobachtung, das seinen Focus setzt auf die Grenzen der Freundschaft, die Tiefen des Schmerzes, auf  individuelles Leid, auf Selbstverletzung und auf die Schande, die ein Mensch mit diesem unseligen Erbe kaum ertragen kann.

Yanagihara füttert uns in Rückblenden mit Geständnissen über Judes Leben, Rückblenden, die elektrisieren und gleichzeitig entsetzlich sind. Jude ist Mann, der mehr und mehr Geduld und liebevolle Pflege erfordert. Die frühe Freundschaft ist so warm beschrieben, dass dieser lebendige Teil des Buches unwiderstehlich ist. Willem und Judes Liebe für einander existiert auf einer höheren Ebene, mit Willem als den liebevollen Elternteil, den Jude nie hatte.

Hanya Yanagihara schreibt einen üppigen, fast wollüstigen Prosa-Stil, der zwischen dem exquisiten und maßlos schwankt, mit langen und kraftvollen Beschreibungen. Es gibt aber auch etwas Kühles, Unerbittliches in der Art und Weise, wie Yanagihara den Leser mit Judes Leiden konfrontiert. Yanagihara gibt diesem unerbittlichem Leiden und dem tiefen Schmerz eine intime, innere Stimme. Ein überbordendes Werk, groß, emotional und voller Trauma.

Ihr Stil erinnert mich an Donna Tartt, die gleiche schockierende erzählerische Energie, die gleiche faszinierende Sprache. Und immer wieder schieben sich bei mir die Bilder von Hieronymus Bosch in die Lektüre, Bilder die das Unheimliche in einer Weise zur Darstellung bringt, die uns deshalb so unmittelbar berührt, weil sie nicht mit dem Anonymen und dem Unbekannten agiert, sondern weil sie uns Vertrautes und Bekanntes vor Augen führt, weil sie die Schmerzen der Hölle und deren Fremdheit, dieses gleichzeitig im Feuer brennen und zugefroren sein, weil sie die Schmerzen und das Leiden von Höllenqualen anschaulich macht. Der Ort der Qual ist immer genau dort, wo Deine Gedanken hängen.

Lesen Sie unbedingt dieses Große menschliche Epos, die perfekte Chronik unserer Zeit der Angst, des Leidens und des Überlebens, mit all ihren Begleitdramen und Träumen. Es gibt keine Ruhe, keine Atempause, keine verbindlichen Überzeugungen, die uns zusammenhalten, und es gibt eine Lücke zwischen Träumen und Wirklichkeit. Dem großen Leben, das sie wollten, steht das kleine Leben gegenüber, das sie führten.

Sie werden nicht nur dieses Buch verschlingen, ebenso wird es auch Sie verschlingen und ganz lange nicht mehr loslassen. Es ist dunkel und traumatisch, aber ein erfrischender Roman über moderne Freundschaft. So notwendig in diesen Zeiten der Angst.

 


Genre: Romane
Illustrated by Hanser Verlag München

1933 war ein schlimmes Jahr

john_fanteDer deutschstämmige US–Kultautor Charles Bukowski war einer seiner größten Fans. In höchsten Tönen lobte der »Mann mit der Ledertasche« seinen Schriftstellerkollegen John Fante und schrieb ihm sogar ein Vorwort für eines seiner Bücher. Grund für so viel Begeisterung: Beide Autoren schöpften ihre Geschichten direkt aus dem eigenen Erleben, sie schrieben klar und wahr, blieben stets authentisch und waren genauestens vertraut mit ihren meist gebrochenen Charakteren. Weiterlesen


Genre: Biographien
Illustrated by Blumenbar Verlag

Leaving Berlin

Leaving Berlin von Joseph Kanon

Leaving Berlin von Joseph Kanon

Januar 1949. Berlin liegt immer noch weitgehend unter Kriegsschutt und Trümmern begraben. Das Alltagsleben in den vier von den Besatzungsmächten errichteten Sektoren erholt sich mühsam. Ohne Schwarzhandel oder Beziehungen zu den Siegern lässt sich kaum ein halbwegs erträgliches Leben führen. Die Rote Armee hat einen eisernen Ring um die Stadt gelegt, im Minutentakt versorgen die Alliierten über eine Luftbrücke den Westen der einst so stolzen Reichshauptstadt. Stromausfälle gehören zum Alltag. Jeder bespitzelt jeden oder zieht Gewinn aus seinem Wissen über die Vergangenheit. Weiterlesen


Genre: Spionageroman, Thriller
Illustrated by C. Bertelsmann München

Der Mann in der fünften Reihe

der-mann-in-der-fuenften-reihe-veronique-olmiDas Buch startet auf einer Freilichtbühne. „Ich weiß nicht, wie lange ich schon auf dieser Bank sitze. Seit Stunden fährt kein Zug mehr ab, kommt keiner mehr an. Ein regloser Bahnhof. Eisige Stille bis ins Mark meiner Knochen.“ (Seite 7) So beginnt die Erzählerin ihren vielschichtigen Monolog.  An diesem Abend kehrt sie nicht nach Hause zurück, sondern verbringt die ganze Nacht auf dieser Bank am gare d l’est. Sie ist in einem Vakuum gelandet, aber ihr Gehirn ist in vollem Gange, bereit zur Explosion. Sie beginnt Wer ist diese Frau?

Nelly ist eine 47 Jahre alte Frau, Mutter von zwei Jungen und Theaterschauspielerin, die ihre Tage im Erwartungsstress bis zu ihrem Auftritt, zu ihrer Show-time am Abend verbringt. „Ich bin siebenundvierzig und warte immer noch darauf, dass mein Leben anfängt.“ (Seite 24)

Im Augenblick spielt sie in dem Stück „Sechs Personen suchen einen Autor“ von Luigi Pirandello. Es ist eine Tragödie von Missverständnissen und Schrecken; von der Unfähigkeit, sich auszudrücken und, zu kommunizieren. Und tatsächlich scheinen die Frau und die Schauspielerin zu verschmelzen. Wer leidet hier? Die Rolle oder die Frau selber. Bilder ihres Lebens kommen zu ihr zurück wie Bumerangs. Sie liefert eine Art Beichte ab: über die Atmosphäre in der Umkleidekabine, über die panische Angst vor dem Zuspätkommen, vor dem Vergessen ihres Textes, über die Aufregung auf der Bühne, über ihre Kindheit am Meer, ihre Eltern, ihren Geliebten, über eine Mutter, die nach und nach in die Dunkelheit des Vergessens sinkt; über einen Vater, eine wunderbar tragische Figur in seiner zweiten schüchternen Rolle, wo es vielleicht Einsamkeit oder Versuchung von Selbstmord gab; über ihre Söhne, die nicht wissen, „wie sehr sie schon vor mir wegrennen.“ (Seite 36) Und natürlich über den Mann, den idealen Mann am idealen Platz in der Mitte der fünften Reihe, dem sie sich verweigerte, ohne ihn zu vergessen. „Diesen Mann in der Mitte der fünften Reihe – der ideale Platz. Diesen Mann, dessen Name ich seit sechs Monaten verschweige, dessen Existenz ich verleugne. Seine Anwesenheit, die meine vernichtet.“ (Seite 61)

Es gibt keine Gnade für Nelly. Woher bezieht sie die Kraft, sich vor dem Versinken zu retten? Eine lange Geschichte, ein schöner Monolog einer Frau, die in den Fallen der Leidenschaft gefangen ist. Véronique Olmi variiert ihr Hauptthema: das leidenschaftliche Leben von und für Liebe. Sie zeigt uns die Schwierigkeit der Liebe, die Sehnsucht nach Liebe und die unmögliche Liebe. Und sie beschreibt perfekt die verheerenden Auswirkungen der Leidenschaft, das Glück, das sie bringt, und vor allem die Schmerzen die sie verursacht. Wie kaum eine Zweite versteht es Véronique Olmi auf sehr reife, subtile Weise Emotionen genau und kraftvoll zu destillieren und diese Schlüsselmomente festzuhalten, wenn ein ganzes Leben kippt. „Lieben oder sterben wollen, eigentlich ist es dasselbe: der Wunsch, woanders zu sein.“ (Seite 18)

Die zerbrechliche Nelly Bauchard sucht nach Antworten: „Wie nennt man eine Liebe, die weder enden noch neu beginnen, sich weder belügen noch erniedrigen kann?“ (Seite 100); Warum vereinigen wir uns mit Menschen, die uns lieben und uns irgendwann in Fetzen zurücklassen? Warum geben wir dem anderen, was wir so sorgfältig bewahrt haben?“ (Seite 107)

Véronique Olmi liefert eine fragmentierte Erzählung. Kurzer Absatz auf kurze Absätze, mit viele kleinen Szenen. Ihre Sprache ist wie Musik, einfache Akkorde, die den Ton verzweifelter, weiblicher Charaktere treffen. Ein Text kurz, aber reich, gefühlvoll und subtil, der uns auf zwei Ebenen unterhält. Mich berührt dieser präzise und fast minimalistische Stil. Mir scheint, dass dieses Buch eine ganz ausgezeichnete Vorlage für ein Ein-Personen-Stück am Theater geeignet wäre. Ein herausfordernder Monolog für eine große Schauspielerin, wie zum Beispiel Isabell Huppert.

Véronique Olmi hat uns eine brillante zeitgenössische Variation zum Denken von Tristan in „Tristan und Isolde“ geliefert, der Beweis, dass Leidenschaft ebenso zeitlos ist, wie sie der menschlichen Natur eigen ist: Oder wie Gustave Flaubert sagte „Liebe erblüht im Staunen einer Seele, die nichts erwartet und sie stirbt an der Enttäuschung des Ichs, das alles fordert.“

Mit Véronique Olmis traurigem und berührendem Buch „Der Mann in der fünften Reihe“ wählen Sie eine Lektüre in dessen erzählerischen Spannung Sie sich verlieren, ja ertrinken können. Das Buch wird Sie verführen.


Genre: Romane
Illustrated by Kunstmann München

Hool

41YX++daNcL._SX289_BO1,204,203,200_Ach was muss man oft von bösen Schlägern hören oder lesen, wie zuletzt als streitbare Anhänger des BVB Dortmund auf die Fans des Bayern-Jägers RB Leipzig losgingen. Mit seinem Romandebüt liefert Philipp Winkler nun prosaische Innenansichten dazu ab.

Hauptfigur ist der ganz und gar unzart besaitete Heiko K.. Er ist ebenso wie sein überschaubarer Freundeskreis eingefleischter Fan von Hannover 96. Wenn ihr Verein auf Tournee geht, richten sie gemeinsam mit Schlachtenbummlern von gegnerischen Mannschaften ihre ganz eigenen Spielpaarungen aus. Anstelle mit den Füßen wird mit Knien und Fäusten herausgefunden wer das stärkere Team ist, mal in Shopping-Malls, mal auf der grünen Wiese.

Heiko hat sich mit seinem scheidungs- und alkoholgeschädigten Vater überworfen, hat eine viertelintakte Beziehung zu seiner Schwester, lebt zur Untermiete bei einem schrägen Vogel auf dem Land, der ihn in im wahrsten Sinne des Wortes in tierisch krumme Geschäfte hinein zieht und hasst seinen Schwager, weil der die Verstachelung einer Frisur vermittelst Haargel für ganz toll Hipster hält. Seinen Lebensunterhalt verdingt er als Laufbursche im Boxstall seines Onkels Axel. Onkel Axel macht in der Szene den Talent-Scout und mischt auch selbst immer wieder mal handgreiflich mit. Zu seiner Ex-Freundin hält Heiko gebührend artige Trennungsdistanz.

Es liegt in der Natur der Sache, dass solche Arten von Freizeitgestaltung nicht ganz ohne Risiken für die Gesundheit bleiben und so werfen enge Freunde nach und nach das Handtuch, sie wollen oder sie können ob ihrer zerschlagenen Glieder einfach nicht mehr. Allein Heiko bleibt seinen Randale-Idealen treu. Im Prinzip ist damit auch über die zentrale Schwäche des Romans schon viel gesagt. Es mutet durchaus kurz gegriffen an, wenn der Autor seinem Protagonisten jedwede Sehnsucht nach einer höheren Solidarität, nach sinnstiftender Zugehörigkeit abgehen lässt. Die vor Kampfeslust berstenden Frontlyriker des ersten Weltkrieges hatten zumindest zu Beginn ihren Spaß, Schutzschildbürger für Kaiser und Vaterland zu sein, die Freikorpsliteraten der zwanziger Jahre, die Schauweckers und Ballas ihren Glauben an die Wiedererweckung der Nation.  Bei dem eigentlich gar nicht mal so unhellen Heiko führt der Kampf dagegen ein Waisendasein, ist ein inneres aber gänzlich isoliertes Erlebnis.

Hochexplosiver Gemütszustand bleibt im Wesentlichen sich selbst überlassen und die Story damit zur relativen Flachheit verdammt. Mit Nazis will er, wenngleich er nichts dabei findet, Schwule zu klatschen, auch nichts zu tun haben. Mit dem Verweis auf familiäre Zerrüttungen und eine sich im Wesentlichen selbst kultivierende Perspektivlosigkeit wird auch tief in die Kiste gängiger  Erklärungsmuster gegriffen.

Die Sprache ist es, die das Tagebuch des inneren Grolls dennoch lesenswert macht. Trotzige Sarkasmen wie der Nachbar, der zum Herumkrakeelen seine Visage über den Gartenzaun schiebt oder ein Stillleben seines Onkels Axel, wie er sich in seiner „Schnellficker-Jogginghose“ auf einem kurz vor dem Spagat stehenden Stuhl herumfläzt sind einfach gelungen und machen Lust auf mehr. Wie die Karabinerhaken klinken sie sich an dem geheimen Spott-Voyeurismus des Lesers fest und trösten sogar über die Dichte der  Kraftausdrücke  und Unappetitlichkeiten hinweg. Über die durchaus gekonnten dramatischen Zuspitzungen hinaus halten sie Neugier und Leselust am Laufen und schaffen es, das Poesiealbum der fliegenden Fäuste tatsächlich in Literatur zu verwandeln.

 

312 Seiten


Illustrated by Aufbau Berlin

Elefant

Pressebild_ElefantDiogenes-Verlag_72dpiMartin Suter erzählt eine bezaubernde Geschichte um einen kleinen rosa Elefanten, der im Dunkeln phosphoreszierend schimmert. Dieses klitzekleine Wesen, das mit Holzscheiten statt Baumstämmen jongliert und das Herz jedes Kindes hochschlagen lassen würde, ist keine Schöpfung der Spielwarenindustrie. Es handelt sich um das Produkt geldgieriger Genmanipulateure, die an der Produktion von »glowing animals« (glühenden Tieren) arbeiten und dabei jeden Tier- und Artenschutz außer Acht lassen. Weiterlesen


Genre: Roman
Illustrated by Diogenes Zürich

Surabaya Gold. Haschischgeschichten

Surabaya GoldBernd Cailloux, Jahrgang 1945, zählt zu den Autoren, die um 1967 von der Hippie-Bewegung angetörnt wurden. Wie viele junge Leute ging auch er in jenen kulturell und politisch bewegten Tagen auf die große Sinnsuche und entdeckte – neben Musiklokalen wie Düsseldorfs »Creamcheese«, dem Hamburger »Star Club« und dem »Closed Eye« in Berlin – die verbotene Droge Cannabis. Weiterlesen


Genre: Kurzgeschichten und Erzählungen
Illustrated by Suhrkamp Frankfurt am Main

Das Lächeln der Sterne

Was haben wir der Welt angetan, fragt die Autorin in einem ihrer Gedichte, „die reine Vernunft sie hat alles beschmutzt“, „der Diener hat sich selbst an die Spitze gestellt“, „es ist unglaublich – aber kehrten wir um die Erde würde uns noch immer alles vergeben“.
Wie gut Spiritualität, Politik und Poesie zusammenpassen – ja zusammengehören –zeigt dieser Gedichtband eindrücklich. Allen Unkenrufen moderner Ideologen zum Trotz. Denn Fischers Lyrik ist hoch politisch, im schönsten Sinn der Bedeutung: sie kritisiert Umweltzerstörung und die inhumane Vorgangsweise gegenüber Flüchtlingen ebenso, wie sie vor der Gefahr der Entfremdung von unseren Wurzeln warnt. In ihrem berührenden Gedicht an das Meer (“Stern aller Sterne”), das wie die Flut an den Strand gischt, unser Gewissen wachrüttelt, unsere Versteinertheit aushöhlt, beweist sie anschaulich, wie gut sich Poesie und ganzheitliches Weltbild vertragen. Poesie und Sinnlichkeit finden desgleichen ein Emulgat in diesem Band, und wie schön Romantik in einem nachmodernen Sinn sein kann, zeigt das Gedicht: „Lösch das Licht aus“, das da weitertönt: „lass die Mondin sprechen/zart und stark//Lösch das Licht aus//Berühre meine Stirn/Ist sie fiebrig/lass mich nicht gehen//Zu viele Stolpersteine/Stolpersteine/welcher Weg?//Lösch das Licht aus/lass die Mondin sprechen/Wen schenkt die Nacht?//Lösch das Licht aus/lass die Mondin wählen/sternenbedacht.
Dass Spiritualität und Politik nicht zusammenpassen würden, reden uns die ein, die das heilige Ego an die Spitze stellen, meint Fischer – dem ist meinerseits nichts hinzuzufügen. Außer, dass die Form, in der sie uns dies mitteilt, eine höchst kunstvolle, metrisch und sprachlich sehr genaue ist – worin sich das Talent der Dichterin (die nicht von ungefähr den Künstlernamen Lyreley trägt) erweist.
Manfred Stangl

Dagmar Fischer: „Das Lächeln der Sterne“, edition art science, Wien, 2o16, ISBN: 978-3-9o2864-62-8


Genre: Lyrik
Illustrated by edition art science

Die Yogini

Ich begann einen Aufsatz über Ulli Olvedis Werk (in: pappelblatt.at) mit dem Satz: „Olvedi lesen heißt Schatztruhen öffnen“. Mit dem folgenden Roman fügt sie den leuchtenden Kleinodien der Seele ein weiteres glänzendes hinzu.
Das allerdings, wenn man kritisch sein mag, erst aus dem Schiefer, dem Mutterstein, befreit werden muss, bevor das kostbare Stück vor den Augen erstrahlt. Und das vielleicht nicht als Einstiegsroman für spirituell weniger Gutbetuchte geeignet ist. Da machen andere Romane Olvedis, wie „Das tibetanische Zimmer“ oder „Über den Rand der Welt“ mehr Sinn.
Das fast 6oo-seitige Werk erzählt die Geschichte der Yogini Lenjam, die, als die weniger spirituell anmutende Schwester von Nyima, Tochter aus höherem Haus in der tibetanischen Vergangenheit, erst manchen materiellen Verlockungen erliegt – vor allem stark wirkenden Männern –, bevor sie ihre Berufung, durch eine Dakini vermittelt, erfährt.
Inhaltlich eröffnet uns Olvedi das tantrische Verständnis der Welt, das lehrt, aus allen Begebenheiten, jeder Kleinigkeit, jeder Skepsis, jedem Irrtum, jeder Emotion einen Wegweiser am spirituellen Pfad zu entdecken. Und – falls notwendig – greifen höhere Mächte ein, Zweifel zu bereinigen, um wieder klar schauen zu können. Bemerkenswert viele Details aus dem Alltagsleben, in denen die Protagonisten irrt, werden gezeigt – beachtenswert der Fundus, aus dem Olvedi schöpft, um Textpassagen aus Heiligen Schriften zu zitieren, oder eigene Erfahrungen einzubringen, um zu vermitteln, wie nun Lenjam aus ihren Fehlern zu lernen vermag. Zwangsweise ergeben sich daraus Längen, die ich aber, präziser denkend, nicht als solche bezeichnen mag. Am besten kann der schürfende Leser das Buch wohl mit einer Edelsteinmine vergleichen, in der man lange Stollen gräbt, um auf reiche Adern zu stoßen. Ein Menschenleben umfasst zwangsläufig immense Strecken, einige Abzweigungen, Irrungen, aus denen der geübte Mineur ableiten mag, wohin der Hauptstollen führen muss, um zum Schatz zu gelangen. Dieser allerdings steckt ebenso in den Nebenwänden der Schächte – eben aufgrund der detaillierten scheinbar unscheinbaren Einsichten Lenjams. Man wiegt diese in den Händen, schleift und poliert sie mit der Schärfe der eigenen Erkenntnis und schon liegen die Kostbarkeiten zauberhaft schön vor dem blaufunkelnden inneren Auge.
Uns allen gemeinsame Schwächen werden beleuchtet, Fehleinschätzungen untersucht, denen wir alle unterliegen können; vielleicht vermögen wir auf erstem Blick den Schatz im tauben Gestein nicht zu erfassen – andere Bücher Olvedis handeln von der leichter zugänglichen Gegenwart, arbeiten mit westlichen Protagonisten, in die wir uns geschmeidiger hineinfühlen können: nichtsdestotrotz findet sich in kaum einem ihrer anderen Werke solch hochkarätige Kollektion an Karfunkeln (oder doch: jedes ihrer Bücher ist faszinierend). Zumal Olvedi eine höchst reiche Zeit schildert: voller Tempel, meditierender Mönche in Klöstern, religiös authentischer Schriften. Eine Epoche, in der spirituelle Tugenden als erstrebenswert gelten, das „einfache Volk“ ob der Segnungen von echten Lamas und Yogis Bescheid weiß und diese aufgrund der dicht gewebten spirituellen Netze auch zu unterscheiden vermag von Scharlatanen oder den geistigen Kräften weniger hoher Würdenträger. Sehnsucht könnte einen packen, denkt man an die Gegenwart, in der nur der Zellophanschein der Verpackungen zählt. Doch – was uns Olvedi vielleicht auch sagt mit diesem Roman: der tantrische Weg nimmt die Gegebenheiten an. Wir können/müssen gerade in einer geistlosen Zeit Spiritualität unverbraucht und mutig wiedererlernen.
Der vorliegende Roman Olvedis erinnert an einen Stollen tief unter dem schweren Gebirge der trostlosen Gegenwart gebaut: durch den wir schlussendlich auf unser inneres Tal der Yoginis treffen, diesen Ort von innerer Schönheit, Weisheit und Tugend, wenn wir voll Vertrauen wahrhaft bereit dazu sid …

Manfred Stangl


Genre: Roman
Illustrated by Arkana

Tagtraumnotizen

Sicher eines der schönsten der zahlreichen Bücher des Autors. Und eines der persönlichsten. Die Kindheit im Mühlviertel wird geschildert, die Beziehung zu den Eltern, zu einer brachialen „Nazi“-Erzieherin, zu den religiösen Bräuchen am Land.
Gewohnt kritisch sieht Wiplinger die Vorgänge in seiner Heimat. Beschreibt rigide Erziehungsmuster, die schon traumatisierend wirken können, und einen lebenslangen Prozess zu verarbeiten und zu wachsen. Wiplingers menschliche Reife sowie sein feines Sprachgefühl scheinen offenkundig durch bei Aussagen über seinen Vater: „und er sagte darauf völlig hilflos und wieder einmal darüber sehr traurig, daß er mich eben nicht verstand was ihm auch schmerzlich bewußt war aber ich muß dich doch verstehen du bist doch mein sohn worauf ich ihm antwortete vater das ja aber mehr auch schon nicht du weißt doch überhaupt nicht wer ich bin ich weiß ja selbst noch nicht wer ich überhaupt bin“. Der Verzicht auf Interpunktion im Buch ist nicht der modernistischen Attitüde geschuldet, vielmehr trägt er zur sogartigen Wirkung des Textes bei, die sowohl der persönlichen als auch der politischen Kritik ziemliche Intensität verleiht…
Der Tod spielt eine wesentliche Rolle: der Unfall eines Bruders, das Ableben der Eltern, das still liebevolle Verständnis am Sterbebett der Mutter, das Ertrinken der Flüchtlinge im Mittelmeer – gekonnt spannt Wiplinger weite Bögen aus der vom Nationalsozialismus und rigidem Katholizismus geprägten Kindheit bis zur Gegenwart – immer wieder blitzt Respekt vor den Altvorderen auf, etwa wo beim Gestapoverhör der Vater sich nur durch Klugheit seiner Verhaftung entziehen konnte. Schwer wiegt die Anklage des engagierten Autors, was die stets rigider werdende Flüchtlingspolitik der Regierung betrifft, die Hetze des Boulevards, die Unmenschlichkeit rechter Recken: „nicht die millionen flüchtlinge brauchen schutz nein unsere heimat braucht schutz einen heimatschutz meint er und sein outfit ist topmodisch“.
Sehr deutlich auch die Kritik am europäischen Wohlstandsmodell, das auf der Ausbeutung ausgesourcter BilliglohnarbeiterInnen beruht; und wieder eine zutiefst menschliche und zugleich kluge Reflexion des Heimatbegriffs bezüglich der Flüchtlingskrise: „diesen armen Menschen helfen ein wenig etwas abgeben von unserer heimat weil das was wir abgeben und mit ihnen teilen ja gar nichts ist im vergleich zu dem was sie verloren haben weil uns in unserem leben nichts wirklich fehlt weil wir genug an heimat haben sodaß wir vieles auch mit anderen die keine heimat mehr haben doch teilen könnten“, zumal das Gedudel über Heimat bloß zudecke, wie unsere Heimat irreparabel beschädigt wird, vom Landschaftsbild bis zur Architektur und der Lebenskultur – diese durch massenmedialen Schwachsinn.

Bemerkenswert Wiplingers Haltung zu Gefühlen generell, die heutzutage ja als überholt bis bestenfalls permanent vom Intellekt zu sanierende Dauerbaustelle gelten: „und ich höre den gesang eines fremden mir zu herzen gehenden liedes lasse mir den text übersetzen stimme mich ein in das lied und in mich selber in die tiefe meiner gefühle in etwas das zu herzen geht und nicht irgendwo oben hängt in dem gestrüpp das man verstand nennt…“.
Im zweiten schmäleren Teil des Buches lesen wir die „Venezianischen Notizen“, Wiplingers Beschäftigung mit seiner Lieblingsstadt zwischen Tourismus und (Kunst-)Geschichte. Woraus ich, weils so exakt zum Thema dieser Pappelblatt-Ausgabe passt, folgende Stelle zitieren möchte: „von zeit zu zeit in eine kirche eintreten und dort eine längere zeit verweilen sich niedersetzen in eine bankreihe vielleicht hinten auf einem platz nichts denken nichts reden nichts wollen nirgendwohin streben nein einfach nur dasein nur schauen oder dann auch einmal die augen schließen vielleicht gibt es leise musik oder eben nichts außer stille sich dieser stille hingeben sich hineinversenken in sie versinken in dieser stille ankommen in dieser stille länger als nur für einen augenblick verweilen in einer stille in dir die botschaft der stille hören aufnehmen in dich diese wortlose sprachlose lautlose botschaft bereitwillig aufnehmen in dich“

Manfred Stangl

Peter Paul Wiplinger: „Tagtraumnotizen“, Wien 2o16, Löcker, 18oS, Tb, ISBN: 978-3-854o9-678-8


Genre: Erfahrungen
Illustrated by Löcker Wien

Lucky Luke: Dicke Luft in Dalton City, Bd. 36 und Band 1

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Durch einen Fehler in einer Telegrafennachricht wird Joe Dalton auf freien Fuß gesetzt. Da seine Brüder nicht im Gefängnis bleiben sollen, befreit er sie und beschließt, zusammen mit ihnen die verwaiste Banditenstadt Fenton Town zu übernehmen und in Dalton City umzubenennen. Um Geld zu verdienen, soll Dalton City an alte, glor- und geldreiche Zeiten anknüpfen. Lucky Luke, den sie gefangen setzen, soll ihnen dabei helfen. Um Schwung in die Stadt zu bringen, engagieren die Daltons eine Cancan-Truppe. Joe will die Leaderin dieser Truppe heiraten, deshalb ein pompöses Fest inszenieren und die Crème de la Crème der Banditenwelt einladen.

Die limitierte Nostalgie-Edition bringt den ersten Band der Serie im Retro-Look von 1972 heraus, zusammen mit einem informativen Vorwort von Volker Hamann, in dem erklärt wird, warum in der deutschen Ausgabe der Bände die ersten 14 Abenteuer „verschwunden“ sind. Die Edition ist eine weitere Hommage an 70 Jahre Lucky Luke im Jahr 2016. Die verschwundenen 14 ersten Bände werden deshalb in der richtigen Reihenfolge wieder aufgelegt. Die Cover dieser Edition sind in der Retro-Optik der Koralle-Ausgaben gehalten und es gibt erstmals eine tatsächliche Bandnummer 1. Ansonsten macht auch dieses „alte“ Abenteuer Spaß zu lesen und ist vom Preis her völlig in Ordnung. Die Anspielungen machen noch mehr Spaß: Lulu Carabine ähnelt z.B. Mae West.


Genre: Comics
Illustrated by Egmont Ehapa

Asterix erobert Rom – Das Album zum Film

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Julius Cäsar hat es satt: Immer wieder werden seine Truppen durch Majestix und sein Dorf verprügelt. Also schlägt er den Galliern eine Wette vor. Wenn sie es schaffen, wie Herkules superschwere Aufgaben für Götter zu bewältigen, streckt Cäsar die Waffen. Wenn nicht, müssen sich die Gallier Cäsar unterwerfen. Majestix nimmt an und entsendet seine besten Krieger Asterix und Obelix, um die Aufgaben zu bewältigen: Die beiden sollen den schnellsten Läufer, den besten Speerwerfer, den besten Judoka besiegen, Unmengen an Essen vertilgen, auf einem geisterhaften Schlachtfeld übernachten, das Haus, das Idioten macht, überlisten, auf dem Olymp den weichsten Weichspüler herausfinden und vieles mehr. Werden die beiden Krieger das schaffen?

Das Album zum Zeichentrickfilm, der vor 41 Jahren erschienen ist, bezeichnet Uderzo in seinem Vorwort als „würdigen Rahmen“. Das Vorwort selbst ist informativ, blickt es doch auf die Entstehung des Filmes zurück und erzählt den LeserInnen, dass Uderzo die damaligen Vorlagen für die Trickfilmzeichner überarbeitet und ein neues Cover gestaltet hat. Das Cover gibt im Hintergrund einen Vorausblick auf die zu bewältigenden Aufgaben. Der Text ist in diese gelungenen Zeichnungen eingefügt. Die Zeichnungen selbst warten u.a. mit witzigen Selbstzitaten auf, wirken sehr dynamisch und arbeiten mit angenehmen Farben. Die Ideen für die Aufgaben selbst sind zeitlos humorvoll, stecken voller Anspielungen auf z.B. die Bürokratur (heute noch so aktuell wie damals) und vermitteln den LeserInnen, dass man mit Selbstbewusstsein, Köpfchen und Humor so ziemlich jede Aufgabe lösen kann und machen einfach Spaß. Der Text liest sich ein wenig gekünstelt an manchen Stellen, fasst aber die Geschichte gut zusammen. Insgesamt gelungen.


Genre: Comics
Illustrated by Egmont Ehapa

Sprichst Du mit mir

sprichst-du-mit-mirsprichst du mit mir mit einem nicht gemachten nicht sichtbaren fragezeichen am ende dieses satzfragmentes oder nur lapidare feststellung mit einem nicht ausgesprochenen anschlußwort anschlußsatz als ergänzung beginnend mit einem dann oder als eine andere fragestellung mit dem wörtchen wann davor wann endlich sprichst du mit mir und worüber ist gleich angefügt nämlich über die heimat über die liebe über den tod über erlebtes über bekommenes über verlorenes über brüchiges über sich wandelndes über endgültiges versuche zur selbstsuche und selbstfindung bisweilen eine begegnung mit sich selber oder worte aus diesen begegnungen herausgeboren und zu einem gedicht geformt in einem „denken“ jenseits sprachlicher begrifflichkeiten bilderwelt gedankenwelt empfindungswelt eingeschrieben in erinnerung in das gedächtnis als bausteine der poesie gedichte als persönliche notate empfindungen erkenntnisse gefühle gefühlsstrukturen befindlichkeiten momentane vorübergehende jetztgefühle einbettung in eine gefühlswelt in die des eigenen ichs diese aber immer wieder infragegestellt durch das eigene ich oder durch etwas außerhalb von ihm aber auf dieses ich wirkend einwirkend spuren hinterlassend wo doch alles zugeich eine einzige spurensuche ist das leben die liebe nur der tod ist das letztlich endgültige, das einzig gültige überhaupt vielleicht mag sein oder auch nicht wer weiß es schon das gedicht als aufbewahrungsort von heimat und liebe doch am abgrund der tod das alles spüren und dann spuren legen und hinterlassen feststellungen machen von einem vorübergehenden hier- und jetztsein in sich wandelnden gefühlen und in vermeintlichen erkenntnissen denn gesichert ist nichts eben weil alles so ist wie es ist vermeintlich oder auch nicht und immer wieder nichtwissen unsicherheit schweigen antwortlosigkeit auch fremdsein und heimatlosigkeit im eigenen leben manchmal steigt sehnsucht auf sehnsucht nach unbekanntem nicht mehr erwartetem wird zur melancholie zur sanften trauer um das verlorene auch um das nie erlebte um das nie erreichte eine sehnsucht wie eine solche nach einem anderen ich nach einem anderen du nach einem anderen leben nach einer anderen welt denn so steht es an einem gedichtende geschrieben „dort ist das land das ich in diesem leben nie erreicht“

ein schmales gedichtbändchen sparsam konzentriert schön nur auf jeder zweiten seite ein gedicht die vorhergehende oder nachfolgende seite unbedruckt unbeschrieben unbenutzt und doch da in ihrer funktion der trennung der texte voneinander als ein zeichen des leeren raumes für jedes einzelne gedicht das freiraum braucht für die dichterin für die poesie 34 gedichte 19 skizzenhafte bleichstiftzeichnungen detailreich symbolhaft liebevoll 3 seiten anhang mit information und ikonographie poesie und zeichengebung zeichensprache

ausgelesen das buch eingetaucht in worte und bilder ins schweigen in den leerraum mitten in und zwischen einer begegnung in die spurensuche auch in die nach dem eigenen ich in aufzeichnungen die von einem damals und dort berichten von einem hiersein und jetzt von einem das ist und einem das nicht ist oder nicht mehr oder weil das überhaupt unerreichbar weil einem nicht gegeben ist sondern verweigert wird ohne grundangabe die frage nach der schicksalhaftigkeit des lebens nein das nicht so sehr weil man um die antwortlosigkeit weiß aber man nimmt das schicksalhafte doch zur kenntnis auch weil es manchmal schmerzt so im ganzen und weil man diesen schmerz bisweilen oder als lebensbegleitendes grundgefühl spürt „das herz schmerzt an der kette“

ich lege das schmale buch zum wievielten mal nun schon zu ende gelesen aus den händen es ist abend draußen ist es schon dunkel spätherbstzeit auch in mir mein blick hinauf zum weiß der zimmerdecke der durch die vorgegebene fläche begrenzte blick auch mein leben fast zu ende man weiß es man spürt es wo sind die großen einst mächtigen gefühle ich höre nicht mehr den wind rauschen in mir kein sturm aber auch keine völlige ruhe in mir irgend etwas unbenennbares aber mir bekanntes ist in mir vielleicht auch angst abgeschiedenheit was ist mit diesen gedichten und mir denke ich was und wie sprechen diese gedichte zu mir frage ich mich und finde keine klare eindeutige antwort weil es sie nicht gibt vieles bleibt chiffre wegen mir oder wegen dem gedicht das ist stets so in der poesie in ihrer bedeutung voll ausschöpfen kannst du sie nie denke ich aber ich weiß wie ich diese gedichte gespürt habe denn plötzlich sage ich zu mir „so wie ein hellgraues seidentuch das lautlos niederschwebt auf mich sind diese gedichte“ so sanft sind sie so lautlos und schön das schweigen hat darin seinen raum

Susanne Ayoub: „Sprichst Du mit mir“. Gedichte über die Heimat, über die Liebe, über den Tod.Mit Zeichnungen vonRima Al-Juburi. Löcker Verlag, Wien, 2016. 12,5 x 20,5 cm Broschur, 93 Seiten | € 19,80, ISBN 978-3-85409-800-3

Peter Paul Wiplinger – Wien, Dezember 2016

 

 

 


Genre: Lyrik
Illustrated by Löcker Wien