Ralph Gibson. Photographs 1960–2024

Ralph Gibson. Eine Werkschau über sechs Jahrzehnte des in L.A. aufgewachsenen “Marines”-Fotografen Ralph Gibson bietet der vorliegende Fotoband des TASCHEN Verlages. Es entstand in enger Zusammenarbeit mit dem Künstler selbst und ist das Ergebnis von mehr als sechs Jahrzehnten des Bildermachens. Von Gibsons ersten Fotografien in San Francisco, Hollywood und New York in den 1960er-Jahren bis hin zur Gegenwart: die bisher umfassendste Sammlung eines Fotografen, der noch bei Dorothea Lange und Robert Frank sein Handwerk gelernt hatte.

Schule des Sehens in New York

In New York eröffnete Gibson schon bald sein eigenes Atelier. Später erhielt er Stipendien des NEA und der Guggenheim-Stiftung und wurde 2002 von der französischen Regierung zum Commandeur de l’Ordre des Arts et des Lettres ernannt. “Es ist weder gut noch schlecht, kultiviert zu sein, aber L.A. fand ich nun einmal ein wenig zu primitiv”, schreibt er über seinen Neubeginn 1967 an der Ostküste, in New York. Er quartierte sich gleich im berühmt-berüchtigten Chelsea-Hotel ein und blieb dort die ersten drei Jahre seines New Yorker Lebens. Im Max’s Kansas City sah er die Celebrities, aber seine Motive fand er mit dem Bus, mit dem er uptown und downtown fuhr. Denn Ralph Gibson wollte von Anfang an das wahre Leben zeigen, Menschen, Situationen, Akte, Porträts, Stillleben. Er schlief tagsüber und arbeitete nachts, atonale Musik, konkrete Poesie und Nouveau Romane zogen ihn an und seine Bilder hatten einen “surrealistischen Beigeschmack”, wie er selbst schreibt oder wie man neudeutsch bei uns sagen würde: Touch. Mit der Zeit wurde ihm klar, schreibt er, dass er einen Traumzustand fotografiert hatte. “The Somnambulist”, sein erstes Fotobuch entstand im Chelsea Hotel, nach drei harten Jahren des Kampfes hatte er es geschafft. Obwohl das Fotobuch nur 48 Seiten hatte machte es ihn schnell in Fotografenkreisen bekannt und es kam erstmals richtig Geld ins Haus. Damit finanzierte er sich seine ersten Reisen nach Europa. “Die kulturelle Tiefe dieser alten Länder schien jemandem, der in Los Angeles geboren wurde, so viel Stoff zu bieten.”

Von New York in die Welt

Der Rücken eines Pferdes, ein Mann, der sich in einen Baum hineinschneuzt oder Nebel- und Wasserschwaden finden sich auf seiner aus den 70igern stammenden Serie “Déjà vu”. Ein weiblicher Aktausschnitt vor einem Wolkenhimmel zeigt er in Spanien am Strand. “Days at Zea” spielt mit Formen, Händen und Steinformationen, aber auch nackter Haut. “Infanta” nennt sich das Kapitel, das mit Schatangetan zu haben, währen in “L’histoire de France” wieder mehr der Surrealismus dominiert. Die Liebe zur Frankreich sei fast schon eine uralte amerikanische Tradition, schreibt er bezugnend m Goldfisch in einem Wasserglas gewidmet. “Chiaroscuro”, eigentlich eine alte Technik, nennt sich ein Ausschnitt seines fotografischen Werks aus den Jahren 1972-1998, die ebenfalls Bilder zeigen, die in Europa gemacht wurden. “Quadrants” nimmt Bezug auf das Format einer Fotoserie, die er für eine Ausstellung in New York konzipierte.

Gotham Chronicles, eine Anspielung auf New York natürlich, will das Königreich des Oberflächlichen und das kulturelle Zentrum der Zivilisation des des Abendlandes gegenüberstellen. Beides stellt für Gibson Gotham dar, eine mittelalterliche Stadt, wo weise Männer sich als Narren ausgaben, um die Steuer zu umgehen. “Haiku”, “In Situ”, “Pharaonic Light” entführen uns nach Japan, Ägypten, Brasilien und Dakar und Korea. Am Ende findet sich auch ein Résumé sowie weitere Tipps zu Büchern von Ralph Gibson, die u.a. auch beim TASCHEN Verlag erschienen sind. Ralph Gibson hat seinen Fotografien kurze Texte beigefügt und stellt sich den Dingen, lichtet sie auf eine fast meditative Weise ab, wie es nur die Stille eines Bildes mag wiederzugeben. Weitere Werke von Ralph Gibson finden Sie hier!

Ralph Gibson. Photographs 1960–2024
Ausgabe: Mehrsprachig (Deutsch, Englisch, Französisch)
2025, Hardcover, 21 x 27.5 cm, 2.65 kg, 552 Seiten
ISBN 978-3-7544-0268-9
TASCHEN Verlag
€ 60

 


Genre: Fotografie
Illustrated by Taschen Köln

Eigentum

Eigentum. “Bist bes auf mi, Mutti?” Neu erschienen als Taschenbuch ist auch der (vor-)letzte Roman des Sprachkünstlers Wolf Haas. Der Erfinder der “Brenner”-Krimireihe fischt dieses Mal in ganz anderen Gewässern. Genauer gesagt in fremden “Lechn“, hochdeutsch: Lehen. Denn immer strebt der Mensch nach Besitz, nach Eigentum und selbst wenn es dann nur 1,7 m2 werden, ist zumindest etwas zum Vererben da.

Lehen und Leute

Teilweise im Dialekt seiner Mutter (der Autor ist in Maria Alm am Steinernen Meer geboren) verfasst, dann wieder umgangssprachlich, österreichisch, sogar hochdeutsch bereitet Wolf Haas Leserinnen und Lesern wieder eine ganz besondere Lektüre. Zwei Tage vor dem Tod seiner Mutter, will er noch das Wichtigste aufschreiben, aber was ist angesichts des Todes noch wichtig? Der Autor tut es in gebohnert Manier: mit viel Humor und witzigen Wendungen, Sprachakrobatik und viel Kunstfertigkeit. “Ich will das hinschreiben, solange sie noch lebt, danach möchte ich mich nicht mehr damit beschäftigen“, schreibt er, “(…)dann machte ich diese verdammten Geschichten auch endlich begraben, was geht es mich an, dass ein Mensch, den ich gekannt habe, sein kleines Lechn immer wieder gegen ein größeres Lehn getauscht hat.” Die ironische Verkürzung des Lebens seiner Verwandten am Land auf “Geschichten” ist natürlich nur eine Schmerzvermeidungsstrategie. Aber anders als der eingangs zitierte Liedtext vermuten lässt, war seine Mutter gar nicht böse und schon gar nicht böse auf ihn, den Wolf. Sie war böse auf die Leute. “La gente“, wie der Sohnemann beflissen hinzufügt. Denn eigentlich hätte sie sich gar nicht vor denen jahrzehntelang verstecken müssen. Im Dorf war ohnehin nur mehr am Friedhof was los. Dort begleitet er sie nun hin und verabschiedet sich von ihr.

Lass weg, Haas!

Seine Mutter hatte viele Jobs, als Servierkraft zum Beispiel. Oder bei der Briefzensur während des Krieges. Dann hat sie nach dem Krieg auch in der Schweiz gearbeitet. Acht Jahre. Aber das Geld, das sie nach Hause schickte wurde in ein Haus investiert, das sie dann nicht mehr bewohnen durfte. Ihr Vater starb 1956, der älteste Sohn 1957. Als sie Jahrzehnte später von der Raika aus ihrem Haus vertrieben wird, mit 89 Jahren, wird das Haus aber gar nicht abgerissen, sondern in ein Hotel integriert. Die geplante Poetikvorlesung muss der Autor dann aber doch absagen, als seine Mutter wirklich stirbt, in dem Haus, in dem sie ihre Kinder geboren hatte. Haas findet nur lakonische Worte, als er am Friedhof ein Grab für sie bestellt. “Unsere Mutter, die ihr Leben lang auf den ersten Quadratmeter hingespart hatte, sollte ihr schlussendlich 1,7 Quadratmeter angewachsenes Grundstück voll ausnützen. Die 1,7 Quadratmeter in bester Lage stand ihr zu, platzsparende Konzepte sollten andere umsetzten.” Nachdem sie ihren Traum, ein eigenes Grundstück zu erwerben, nicht verwirklichen konnte, hatte etwas von ihr Besitz ergriffen, schreibt ihr Sohn: “Niedergeschlagenheit“. Sie besaß nichts, aber sie war ein bißchen besessen, meint er, denn sie konnte eigentlich alles, nur nicht mit den Leuten. La gente. Die Hochzeiten und Taufen werden weniger und man sieht die Verwandtschaft schließlich nur mehr bei Begräbnissen, moniert der Sohn, das Gemeinsame der drei Ereignisse seien selbstverständlich die Tränen.

Wolf Haas
Eigentum
2025, Taschenbuch, Klappenbroschur, 160 Seiten, 12,5×18,7cm
ISBN: 978-3-328-11156-6
Pinguin Verlag
€ 14,00


Genre: Roman
Illustrated by Penguin

Schaurige Orte an der Nordsee. Unheimliche Geschichten

An Land gespülte Mumien aus Ägypten, von Piraten vergrabene Goldschätze, Warften, die dem Untergang geweiht sind – die Nordsee, nicht ohne Grund einst als Mordsee gefürchtet, hat über die Jahrhunderte unzählige Schrecken hervorgebracht. Grund genug für Herausgeber Lutz Kreutzer, in seiner Sammlung „Schaurige Orte – Die Nordsee“ den unheimlichen Facetten dieser Landschaft literarisch nachzuspüren. Weiterlesen


Genre: Anthologie, Gruselgeschichten, Kurzgeschichten und Erzählungen
Illustrated by Gmeiner

Trophäe

Halten Sie sich für moralisch gefestigt? Ihr ethisches Wertesystem ist unerschütterlich?

Ok, dann sollten Sie Trophäe unbedingt lesen. Aber bitte gut anschnallen.

Ein steinreicher amerikanischer Geschäftsmann und passionierter Großwildjäger sieht Afrika als seine ganz eigene Spielwiese an. Für Geld ist auch hier alles zu haben, vor allem die Lizenz zum Töten, vor allem für den weißen Jäger – Nomen est Omen – Hunter White. Vom Big Business zum Erlegen der Big Five, wovon ihm nur noch das aggressive Rhino, das gewaltige Nashorn, fehlt. Wilderer kommen ihm bei der auserkorenen und bereits bezahlten Beute jedoch zuvor, Frustration staut sich auf, bis ihn sein Jagdmanager und Freund auf eine zunächst völlig abwegige Idee bringt – es gibt unter Insidern ja auch noch die Big Six. Er spricht dies mit diesem gewissen Unterton aus, während sie gemeinsam einheimische Jungen beobachten, wie sie elegant wie Leoparden, kräftig wie Löwen und wachsam wie Savannenhunde mit Pfeil und Bogen ihre Jagd auf Antilopen machen.

Spätestens in diesem Augenblick stockt nicht nur Hunter White, sondern auch jedem Leser der Atem. Das darf doch wohl nicht wahr sein. Das kann es doch wohl nicht geben. So etwas darf man sich doch eigentlich nicht mal als literarische Fiktion ausmalen.

Doch halt, nicht so schnell …

Da hat man sich bei der Entscheidung für diesen Roman farbenprächtige Bilder der afrikanischen Savanne und Steppe erhofft und auch zuhauf bekommen. Jenseits von Afrika-Klischees inklusive. Schön und gut. Dafür hat man über lange Anfangspassagen aber eine ganze Menge an Machismo-Kult wegstecken müssen. Ist die Jagd-Leidenschaft nicht prädestiniert für die Ansammlung hemingwayesker Zweibeiner mit toxischer Männlichkeit? Wie kann sich ein Roman entgegen jedem woken Zeitgeist so sehr die Argumentation von Menschen zueigen machen, denen das Testosteron aus jeder Pore quillt und von denen man als doch um so viel besserer, humanistisch geprägter Gutmensch weiß, dass es all den lonesome Cowboys doch nur um die pure Lust am Töten geht?

Mit viel kritischer Abneigung nimmt man im Verlauf schwerlich und murrend hin, dass die Vergabe der Lizenzen auch eine Art Kontrolle des Wildbestandes ist, dass damit Wildhüter und Wildererbekämpfung finanziert werden und dass die Fährtenleser mit ihrem Lohn ein Stück weit ihren Stamm in Zeiten der Trockenheit und des Hungers am Leben halten.

Das ist argumentativ noch sehr schwach, aber der Roman nimmt einen extrem geschickt und fast unmerklich mit in einen inneren Disput. Immer öfter wird der Leser bei seinen eigenen Konflikten abgeholt. Ist das alles eine Regression auf einen puren maskulinen Animalismus, geschönt und verbrämt durch machistische Floskeln, oder muss man diese Jäger-Ethik doch differenzierter sehen? Gibt es nur die ganz schlechten oder auch noch die ein bisschen guten? Können wir die Lebensumstände in diesem Umfeld überhaupt vollumfänglich und korrekt beurteilen und würdigen, die wir uns in unserer westlichen Zivilisation schon lange vom Töten eines oder vieler Tiere abgekoppelt haben und uns in der Mehrheit nicht scheuen, die Produkte des anonymen Tötungsaktes als Nahrung zu verzehren?

Diese ersten Beispiele sind fast schon zu plump und zu plakativ im Vergleich dazu, wie das Buch einen in immer ausgefeiltere moralische Zwickmühlen hineinzieht. Mehr und mehr ist man gezwungen, eigene Meinungsstereotypien in Frage zu stellen oder gar zu verlassen. Und das nicht in einem Pro-und-Kontra-Sachbuch, sondern in einem absolut spannenden und schließlich extrem fesselnden Roman, dessen Handlung einen zwingt, weiter und weiter zu lesen. Ein Finale furioso. Extrem gut gemacht.

Ganz oft fragt man sich beim Lesen ab Beginn, was denn nun die Meinung des Autors zur Jagd an sich und all den brutalen Details ist. Schreibt da ein selbstherrlicher, mordlustiger Macho ohne Gewissen? Oder ist da doch jemand, bei dem Bedenken oder gar Skrupel dominieren?

Das sollte man beim Lesen am besten selbst entscheiden.

Nur so viel: Gaea Schoeters ist eine Frau.


Genre: Roman
Illustrated by Zsolnay München

Die Stunde der Komödianten

Wohl kaum nobelpreisfähig

Mit «Die Stunde der Komödianten» hat der britische Schriftsteller Graham Greene einen der für ihn typischen Romane vorgelegt, in dem menschliche Eigenschaften wie Glaube, Schuld und Verrat in abenteuerlichen Geschichten thematisiert werden. Seine Romane sind zumeist im Stil von spannenden Kriminal- oder Spionagegeschichten erzählt, enthalten aber auch einige Thriller-Elemente in Stories, die politische Inhalte haben als Grundlage des Erzählstoffs. Der vorliegende Roman erweist sich als Kritik am Kolonialismus und dessen unrühmlichen Folgen. hier explizit am Terrorregime des Diktators François Duvalier, genannt ‹Papa Doc›, der die Macht auf Haiti vor allem durch die paramilitärische Miliz der Tonton Macoute an sich reißen konnte. Trotz der düsteren Atmosphäre, in der auch dieser Roman angesiedelt ist, fehlt es im Erzählten nicht an einer Prise des typischen schwarzen, britischen Humors, worauf ja auch der Buchtitel hinweist.

Und in der Tat, es sind skurrile Figuren, die 1963 auf einem kleinen Schiff von New York nach Haiti reisen. Protagonist des Romans und Ich-Erzähler ist der etwa 50jährige, in Monte Carlo geborene Mr. Brown, der nach drei Monaten in New York wieder nach Haiti zurückkehrt. In Rückblenden erzählt er von seinem Leben, er hatte in Europa einen lukrativen Handel mit gefälschten und falsch signierten Gemälden aufgezogen, die er jeweils einem jungen Maler in Auftrag gab. Mit den Fälschungen in einem Wohnwagen zog er als ambulante Galerie von Ort zu Ort und machte gute Geschäfte mit unwissenden Kunden, bis er irgendwann aufflog! Er floh nach Haiti, wo seine Mutter in Porte aux Prince ein respektables Hotel besaß, das er nach ihrem Tod geerbt hat. Voller Elan stürzte er sich ins Geschäft und brachte das Trianon erfolgreich zu neuem Glanz. Im Spielcasino lernte er Martha, die deutsche Frau eines Botschafters kennen, sie wurde seine Geliebte. Durch das Terrorregime aber kam der Tourismus auf Haiti fast vollständig zum erliegen, niemand wollte sein Hotel kaufen, weil die Touristen schlagartig weggeblieben sind.

Auf der sechstägigen Überfahrt von New York lernte Brown den britischen Major Jones kennen, der mit seinen Kriegs-Abenteuern prahlt, ein äußerst charismatischer, jovialer Mann, den er aber nicht recht durchschauen kann, mit dem er dann auch nach der Ankunft regen Umgang pflegt. Und er trifft auf das etwas seltsame, aber grundanständige Ehepaar Smith aus den USA, wo der Ehemann 1948 Präsidentschafts-Kandidat war für die winzige Partei der Vegetarier. Mr. Smith will ‹Papa Doc›, den haitischen Präsidenten, für den Bau eines Vegetarier-Zentrums in Porte aux Prince gewinnen. Ein, wie sich herausstellt, sinnloses Unterfangen angesichts der wild wuchernden Korruption in diesem maroden Staat. Dass Paar reist ernüchtert ab! Im dritten Teil des Romans gerät Major Jones ins Visier der Tonton Macoute, wird verhaftet, kommt wieder frei, bekommt dann durch den Ich-Erzähler Brown Asyl in der Botschaft von Marthas Ehemann. Ein Eigentor für Brown, denn jetzt ist Jones ständig mit Martha, seiner Geliebten, zusammen, Brown wird eifersüchtig. Jones flüchtet bei Nacht und Nebel aus der Botschaft und schließt sich einer Rebellentruppe an, die den Diktator vom benachbarten Santo Domingo aus stürzen will.

Alles Schall und Rauch, wie sich am Ende herausstellt, die Figuren des Romans sind allesamt Traumtänzer, fast alles ist gelogen. Jones war nie im Krieg, und Browns wilde Pläne enden damit, dass er einen Job als Beerdigungs-Unternehmer antritt. Als Thriller mag dieser in einer klaren, zielgerichteten Sprache erzählte Roman seine Leser gut unterhalten, die politische Absicht, die Verdammung von staatlichem Terror, bleibt dagegen seltsam kraftlos schon im Ansatz stecken. Gauner und Spione interessieren wohl nicht nur im Kino, sondern auch in der Literatur ein breites Publikum. Um nobelpreisfähig zu sein mangelt es hier narrativ aber so ziemlich an allem, sogar an Spannung!

Fazit:   mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Zsolnay München

Die Kindheit Jesu

Vom Circulus vitiosus des Begehrens

Der Roman «Die Kindheit Jesu» des südafrikanischen Schriftstellers und Nobelpreisträgers J. M. Coetzee erinnert in seiner Thematik unwillkürlich an «Utopia» von Thomas Morus. «Ein», wie es im lateinischen Beitext von 1516 heißt, «wahrhaft goldenes Büchlein, nicht minder heilsam als unterhaltsam», das vor mehr als fünfhundert Jahren den Anstoß zum literarischen Genre der Sozialutopie gab. Auch bei Coetzee geht es um eine ideale Gesellschaft, deren detaillierte Beschreibung den Effekt hat, immer wieder neue philosophische Aspekte aufzugreifen. Der Leser wird in eine bezwingend klare, moralisch nachdenklich machende Gedankenwelt mitgenommen, die auch kafkaeske Züge trägt.

Auf einem Auswanderer-Schiff nimmt sich Simon, ein 54jähriger Mann, dem etwa fünfjährigen David an, der mutterseelenallein unter den Emigranten ist. David hat einen Brief, den er um den Hals bei sich trug und der seine Herkunft hätte klären können, verloren. Über seine Vergangenheit kann er keinerlei Auskünfte geben, nicht einmal seinen richtigen Namen weiß er. Auch Simon ist, wie es im Roman heißt, «reingewaschen von der Vergangenheit», die Einwanderungs-Behörde hat ihnen beiden einen neuen Namen zugewiesen und sorgt auch für eine Unterkunft. Simon hat sich vorgenommen, Davids Mutter zu finden, die vor ihm hierher gekommen sein muss, da ist er sich sicher. Er findet eine Arbeit als Schauermann im Hafen am Pier für Getreide. Über eine steile Leiter und eine schmale Planke muss er die schweren Säcke aus dem Schiffsrumpf an Land tragen, eine mühsame und ungewohnte Arbeit für ihn.

Der Vorarbeiter und die Kollegen sind äußerst nett zu ihm, er wird schnell in ihren Kreis aufgenommen. Als er nach einiger Zeit seinen Vorarbeiter fragt, warum diese schwere Arbeit nicht mit Hilfe eines Krans erledigt wird, löst er großes Erstaunen auch bei den Kollegen aus. Man hält ihm vor, das würde ja viele von ihnen als Arbeitskraft ersetzen, und dann wäre es ihnen ja sehr langweilig. Nach intensiver Diskussion beschließen die Männer gleichwohl, von der Baubehörde einen Kran auszuleihen und ihn probeweise einzusetzen. Aber nach einem anfänglichen Unfall mit herabfallender Ladung kehrt man wieder zur alten Methode zurück. Auch die Tatsache, dass in dem riesigen Getreidespeicher der Stadt eine Rattenplage herrscht, wird als ganz normal hingenommen. Die Bevölkerung ernährt sich fast ausschließlich von Brot und Wasser, höhere Ansprüche hat man nicht. Alle Wohnungen sind kostenlos und werden jedem von einer Behörde zugeteilt, und auch das Busfahren ist umsonst. Den Menschen ist eine leidenschaftslose Gelassenheit zueigen, sie sind absolut anspruchslos und kennen keinerlei Neidgefühle. Simon findet schließlich in einer Tennisspielerin die Mutter für David, und er kann sie tatsächlich überzeugen, diese Rolle anzunehmen. Der Junge erweist sich als hochintelligent, aber auch als sehr störrisch und eigensinnig. Die vielen Passagen seiner – extrem antiautoritären – Erziehung sind entschieden zu lang geraten und beeinträchtigen dadurch leider deutlich spürbar die eigentliche, gesellschafts-kritische Intention des Autors!

Ironisch weist Coetzee mit dem Buchtitel auf die Bibel hin, während er sich in seiner Geschichte dann aber auf Cervantes und den «Don Quichotte» bezieht, dem besten Buch der Welt, wie eine von der Nobelstiftung ausgewählte Jury aus 100 bekannten Schriftstellern im Jahre 2002 befand. Ein zeitloses Werk, das sinnbildlich für einen idealisierenden Heroismus steht. Das Streben nach mehr, so die Botschaft auch von Coetzee, erweist sich als sinnlos, weil hinter der Erfüllung der Wünsche dann gleich wieder ein neues Verlangen wartet, ein Circulus vitiosus also, der symptomatisch verkörpert ist im kapitalistischen System mit seinem Konsumterror. Das Begehren ist den Bewohnern dieses seltsamen Landes nämlich absolut fremd, ihre Bedürfnislosigkeit existiert sogar beim Sex, den es hier eigentlich nur auf Krankenschein gibt. Intellektuell auf hohem Niveau, brennt der Autor geradezu ein Feuerwerk ab an tiefschürfenden philosophischen Diskussionen, die bereichernd sind und oft sogar recht amüsant!

Fazit:   erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by S.Fischer Frankfurt am Main

Das geheime Prinzip der Liebe

Eine ungewöhnliche Thematik

Der Debütroman der französischen Schriftstellerin Hélène Grémillon befasst sich mit der literarisch seltenen Thematik einer Leihmutterschaft. Er wurde in 19 weitere Sprachen übersetzt und hat trotz seines irreführenden deutschen Titels «Das geheime Prinzip der Liebe» auch hierzulande einen Hype ausgelöst. Erstaunlich, denn es handelt sich eben nicht um einen der auflagenstarken, typisch kitschigen Liebesromane. Ganz im Gegenteil, mit seiner eher ungewöhnlichen Thematik verbinden sich vielmehr komplizierte, vielschichtige psychologische Aspekte, als da sind: Die herzliche Freundschaft zweier ungleicher Frauen, die Liebe zwischen Mann und Frau als schier unerschöpfliches Thema, ferner Eifersucht, aber auch zerstörerisches Misstrauen und letztendlich Hass, der zuletzt düstere Rachegefühle auslöst. Le Confident, so der Originaltitel, bedeutet wörtlich ‹Der Vertraute› oder Mitwisser, und genau darum geht es auch in diesem Roman. Die streng geheim gehaltene Leihmutterschaft mündet hier in einen erbitterten Krieg der beiden beteiligten Frauen um das Kind, das auf diesem unkonventionellen Wege entstanden ist.

Der Roman beginnt mit dem vorangestellten Hinweis ‹Paris 1975›: «Eines Tages bekam ich einen Brief. Einen langen Brief ohne Unterschrift.» Die 35jährige Verlegerin Camille findet unter den Beileidsbriefen zum Tode ihrer Mutter Annie einen längeren Text, der sich mit der einstigen Leihmutterschaft ihrer verstorbenen Mutter beschäftigt und mit Louis unterschieben ist. Immer mehr solcher Briefe folgen, sie rätselt, wer der Briefschreiber ist und warum er ihr schreibt. Es geht in diesen Briefen um die junge Malerin Annie, die vor dem Zweiten Weltkrieg aus der Champagne nach Paris gekommen ist, um dort Malerei zu studieren, und die in der zehn Jahre älteren Madame M eine wohlhabende Gönnerin findet. Die schenkt ihr nicht nur immer wieder neue Materialien für ihre Kunst, sondern stellt ihr auch einen Raum in ihrer großzügigen Wohnung als Atelier zur Verfügung und engagiert einen bekannten Künstler als Lehrer für sie. Als Madame M ihr in einem vertraulich en Gespräch ihre Verzweiflung darüber gesteht, dass sie offensichtlich keine Kinder bekommen kann, macht Annie ihr spontan das Angebot, für sie als Leihmutter ein Kind auszutragen. Auch der überraschte Ehemann ist schließlich bereit, seiner Frau auf diesem ziemlich ungewöhnlichen Wege ihren sehnlichen Kinderwunsch zu erfüllen.

Mit «Die Ahnung» ist ein diesem Roman stimmig vorangestelltes Zitat von Frederico Garcia Lorca übertitelt, und tatsächlich ahnt man als Leser im Verlauf der Geschichte sehr schnell, dass die hoffnungsvoll arrangierte, streng geheime Leihmutterschaft wahrscheinlich kläglich scheitern wird. Als Annie schließlich schwanger ist, zieht Madame M mit ihr in ihr einsam gelegenes Ferienhaus und verbirgt sie dort vor allen Leuten. Sie selbst aber beginnt, demonstrativ eine eigene Schwangerschaft vorzutäuschen, und als das Kind von Annie als Hausgeburt ohne Hilfe heimlich auf die Welt kommt, gibt Madame M beim Standesamt das Baby als ihr eigenes Kind aus, – und niemand durchschaut den Schwindel!

Erzählt wird all das und die darauf folgenden, erbitterten Kämpfe um das Kind in einem örtlich und zeitlich vielfach verschachtelten Plot aus ganz verschiedenen Perspektiven. In denen werden die diametral entgegenstehenden Vorstellungen und Ansprüche der einstigen engen Freundinnen an die Mutterschaft in aller Schärfe ausgetragen. Es ist seine extreme stilistische Verschachtelung, die diesen Roman als Lektüre überaus schwierig macht. Nach und nach legt die Autorin in ihrem puzzleartigen Plot ein Handlungs-Teilchen an das andere und schließt so die vielen Leerstellen ihrer Geschichte, die dem Leser dann allmählich verständlicher werden. Um auch jeden Zweifel zu zerstreuen, dass ihr Roman wirklich keine Herz-Schmerz-Liebes-Geschichte ist, lässt die Autorin ihn ganz unversöhnlich in einem harten, tragischen Ende ausklingen, mit dem man so nicht gerechnet hat als Leser.

Fazit:   lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Hoffmann und Campe

65 Karten über Kacke

Der Herausgeber Goldeimer ist ein gemeinnütziges Unternehmen aus Hamburg, das sich für den weltweiten Zugang zu Klos und für eine nachhaltige Sanitärwende einsetzt. In vorliegender Publikation werden Fakten auf den Tisch gelegt, die mit einschlägigen Grafiken, Karten und Bildern drastisch veranschaulichen auf welchem Holzweg sich unsere Zivilisation schon lange befindet. In 65 Karten über Kacke geht es nicht nur um die Wurst, sondern auch um lukrative Geschäfte, um Fäkalsprache im Bundestag und um gefrorenen Kot auf dem Mount Everest.

Kacke: Diktatur oder Demokratie?

Der Rohstoff Phosphor spielt bei der Welternährung eine wesentliche Rolle. Nur dumm, dass hauptsächlich Diktaturen über die größten Phosphorreserven der Welt verfügen. Nichtzuletzt deswegen müssen spätestens ab 2032 alle Kläranlagen, di das Abwasser von mehr als 50.000 Anwohner:innen behandeln, auch den darin enthaltenen Phosphor zurückgewinnen. In Belgrad wird dies schwierig, ist doch die serbische Hauptstadt die einzige Europas, die über keine Kläranlage verfügt. Weswegen der Schwimmer und Chemieprofessor Andreas Fath es auf seiner jährlichen Donauwassertestreise (vom Schwarzwald zum Schwarzen Meer) auch vermeidet, durch Belgrad zu schwimmen. Aber das Problem der Kläranlagen ist in der ganzen Welt als ein soziales bekannt. In Indien zum Beispiel aber auch Afrika und Indonesien gibt es nicht einmal genügend öffentliche Toiletten, was zu Krankheiten und Vergewaltigungen führt.

65 Karten über Kacke

In Nordkorea hingegen muss jede/r Staatsbürger:in seine Fäkalien sogar sammeln. Eine sog. Fäkalsteuer ist allerdings in der ganzen Welt einzigartig, so die Autoren. Urin ist tatsächlich nützlich zur Gewinnung, so er von den Exkrementen getrennt aufgefangen wird. Städte die ihren Urin sammeln können ihre Treibhausemissionen um bis 47 Prozent, ihren Energieverbrauch um bis zu 41 Prozent und ihren Frischwasserverbrauch um etwa 50 Prozent reduzieren. Die Nähstoffbelastung der Abwässer (Stichwort: Ammoniak) könnte sogar um 64 Prozent reduziert werden. Ein Gamechanger, der leider immer noch sehr tabubelastet ist, könnte die Welt tatsächlich verändern. Zum Guten.

Tabu oder To Do: Kacke

Die Länge des deutschen Kanalisationsnetzes ist länger als der Weg zum Mond. 384,400km ist der Abstand zum Erdumkreiser, 619,291 die Länge der Kanäle, die sowohl Regenwasser, Schmutzwasser als auch Mischwasser auffangen und wohin leiten? Richtig, in die Flüsse. Aber noch schlimmer ist es, am Gipfel des Mount Everest zu stehen und dem Geruch menschlicher Ausscheidungen ausgeliefert zu sein. Laut einer Statistik Befinden sich bereits 3 Tonnen Kacke am “Dach der Welt”, das wohl bald zum höchsten Örtchen der Welt wird. Besucher:innen müssen seit 2024 ihre Abfälle aber ohnehin wieder runtertragen und bekommen eigens dafür präparierte Säckchen mit einem Pulver, das die Ausscheidungen trocknet. Im Basislager des Everest sind es bereits 21,7 Tonnen die davon abgegeben wurden.

Ein Furz geht um die Welt

Aber kommen wir zu unterhaltsameren Fakten und Karten: ein Elefant kackt etwa 50kg am Tag, der Mensch im Vergleich dazu nur 128g. Ein Elefant und eine Katze brauchen für ihr Geschäft nur jeweils 20 Sekunden, ein Mensch immerhin 120. Mit den Fürzen ist es vielleicht sogar noch lustiger: 0,5 Liter/Tag, das sind bei 84 Millionen Deutschen immerhin 42 Millionen Liter, mit denen man 12 Heißluftballons füllen könnte. Wenn das Montgolfiere gewusst hätte! Grauslich wird’s mit dem “Monster von Whitechapel”. So wurde der riesige Fettberg aus Speiseöl und anderen Ölen im Londoner Kanalsystem genannt. Darin enthalten: Klopapier, Binden, Kondome, Drogen, Windeln, Wattepads u.ä. Eine Playlist zum Buch zeigt die Vielseitigkeit der Unterhaltsamkeit der Thematik und lädt zum fröhlichen Mitsingen ein.

Und wo wir schon einmal beim Thema sind, hier noch eine andere passende Publikation des Katapult Verlages: Kochen für den Arsch

Goldeimer
65 Karten über Kacke.
Über unbekannte Unterwelten, große Geschäfte und unangenehme Wahrheiten
ISBN: 978-3-68972-001-8
2025, Hardcover, 245mmx195mm, 128 Seiten
KATAPULT-Verlag GmbH
24.-€


Genre: Entwicklung der Landwirtschaft, Ökologie, Wirtschaft, Wissenschaft
Illustrated by Katapult

Der Unberührbare

Sprachgewaltiger Nicht-Thriller

In seinem Roman «Der Unberührbare» erzählt der irische Schriftsteller John Banville die Lebensgeschichte eines Spions und Doppelagenten, der am Ende seiner konspirativen Karriere auffliegt und ins Bodenlose stürzt. Victor Maskell, Sohn eines protestantischen Bischoffs, als promovierter Kunsthistoriker hoch angesehen, Kurator der königlichen Kunstsammlungen mit verwandtschaftlichen Verbindungen zu den Windsors, wird nach seiner Enttarnung von einer jungen Frau aufgesucht, die ein Buch über ihn schreiben will. Der 72Jährige hält den Inhalt ihrer Gespräche schriftlich fest und schreibt damit quasi nebenbei seine Autobiografie, er rekapituliert als plötzlich geächteter und vereinsamter Mann der britischen Oberklasse sein bewegtes Leben. Darin hat er viele Rollen gespielt, ohne je wirklich Empathie entwickelt zu haben, selbst nicht seiner Frau und seinen Kindern gegenüber. Er hat nichts und niemanden an sich heran gelassen, er war stets «Der Unberührbare». Trotz seiner Thematik ist dieser Roman allerdings alles andere als ein Spionagethriller, soviel vorweg!

Der Schwerpunkt der nicht chronologisch angelegten Erzählung liegt im London Ende der wilden ‹Dreißiger Jahre›, wo der Ich-Erzähler als Mitglied der ‹Guten Gesellschaft› ein Leben in Saus und Braus führt. Als Kunstexperte hat Victor Maskell sich einer intellektuellen Szene angeschlossen, in der wilde Diskussionen auch über politische Themen geführt werden. Die kleine Clique, der er angehört, hält den Kommunismus für die bessere Gesellschaftsform und beginnt, dem russischen Geheimdienst Informationen zu liefern und britische Behörden und Institutionen auszukundschaften. Dabei bleibt der Protagonist auffallend distanziert, für ihn ist die Spionage lediglich eine Möglichkeit, etwas Leben in seinen langweiligen Alltag als Wissenschaftler zu bringen. Seine introvertierte Art hilft ihm dabei, später auch als Doppelagent viele Kontakte zu beiden Seiten zu halten, ohne dabei aufzufallen.

Auch privat ist er ein Einzelgänger, der erst spät, als über Zwanzigjähriger, die Schwester seines besten Freundes spontan nachts anruft und sie fragt: «Wollen Sie meine Frau werden?» Nach kurzer Bedenkzeit stimmt Vivienne zu. Er erlebt nach der Hochzeit seine Initiation, denn er hatte bisher noch nie Kontakt zu einer Frau. Aber Vivienne hilft ihm lachend über seine Unbeholfenheit hinweg, sie hatte schon etliche Liebhaber. Seine bisher unterdrückte, latente Homosexualität kommt dann allerdings später umso stärker zum Vorschein. Als Schwuler führt er ein geheimes Leben in den entsprechenden Kreisen, das streng geheim bleiben muss, um ihn nicht zu kompromittieren. Aber auch dabei bleibt er rigoros egoistisch, ohne enge und dauerhafte Bindungen einzugehen. Einzig die Kunst, und dabei speziell der französische Barockmaler Nicolas Poussin, berührt ihn wirklich, ist Balsam für seine Seele.

John Banville zeichnet seinen egoistischen Protagonisten als unberechenbar und kaltherzig, wenn er ihn detailreich davon erzählen lässt, wie er zum Spion wurde. In unendlich vielen, alkohollastigen Gesprächen der unnahbaren Hauptfigur erläutert der Autor kenntnisreich die vielen Querverbindungen und Kontakte der Akteure, die ein dichtes Spionagenetz bilden, in dem kaum noch einer den Durchblick hat, selbst die obersten Chargen nicht. Aber so viel da auch erzählt wird, so wenig erfährt der Leser letztendlich wirklich, alles bleibt im Dunstkreis der Geheimagenten und ihrer chiffrierten Sprache. Sein Held, der als kunstbesessen so gar nicht in die eher profane, politische Welt jener Zeit von vor bis nach dem Zweiten Weltkrieg passt, bleibt auch im Verhältnis zum Leser «unberührbar», er ist und bleibt in seiner emotionslosen Art eine zutiefst unsympathische Figur. So wenig also der Plot selbst zu bieten hat, so kontemplativ ist die Art des Erzählens, stilistisch ein Fest geradezu an intellektuellen Gedankengängen. Die alle nachvollziehen zu können fordert volle Aufmerksamkeit, wirkt anschließend dann aber auch sehr bereichend in seiner imponierenden Sprachgewalt.

Fazit:   lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Kiepenheuer & Witsch Köln

Playlist zum Glück

Playlist zum Glück. 99,5 Songs zum glücklich werden. Michael Behrendt hat sie ausgewählt und erklärt warum gerade diese Musik ihn inspiriert, getröstet und vielleicht sogar therapiert hat. Ein Tempo von 100 bis 120 bpm scheint ideal für den Takt, den eine Herzmassage ab und zu einfach braucht!

Playlist zum Glück

Als wissenschaftlich erwiesen gilt auch die Vermutung, dass Musik Endorphine ausschüttet, anders ausgedrückt: Glückshormone wie Dopamin sorgen für ein Lächeln und Schmunzeln um die Mundwinkel und zaubern einen positiven Ausdruck in jede noch so müde Morgenmiene. “Auch den plötzlichen Optimismus und die Euphorie, die ein rauschhaftes Musikerlebnis wecken können,” schreibt Behrendt, “werden leidenschaftliche Musikfans nur zu gut kennen”. Jede verlorene Chance scheint wieder greifbar, wenn man nur die richtige Musik dazu hört. Oft sind es “bittersweet symphonies” die es laut einer kanadischen Studie schaffen, die Stimmung anzuheben, also eine Verbindung von Trauer und Glück, auch Pathos könnte man es nennen. Aber auch Ambient Musik erfüllt diesbezüglich ihren Zweck. Brian Eno lässt grüßen. Was oft als Muzak verschrieen wird, also Kaufhaushintergrundmusik, kann auf lange Frist durchaus positive Auswirkungen auf das Gemüt, wie auch Behrendt als eingefleischter Fan dieser Musik gesteht. Hätten Sie aber gewusst, dass Billie Eilish ein ASMR-Phänomen ist? ASMR steht für den neuesten musikalischen Trend: Autonomous Sensory Meridian Response. Das ist Musik die sowohl Ambient Geräusche als auch Flüstern u.ä. zu einer Soundcollage verbindet und so das Unterbewusstsein aktiviert.

99 ½ Songs für ein erfülltes Leben

Folgerichtig enthält die von Michael Behrendt hier vorgelegte Playlist zum Glück nicht nur fröhliche, positive Songs, sondern auch “nachdenkliche, traurig, sogar düstere Stücke”, wie er in seiner Einleitung schreibt. Auch “das Krachige, Schräge” könne eine eigene Schönheit, eine eigene konstruktive Wirkung entfalten. Songs stiften einfach Sinn und helfen bei der Persönlichkeitsentwicklung nicht nur von Jugendlichen. Songs sind ganz einfach Lebensbegleiter, entfalten eine positive Dynamik und können mitunter sogar für Ausgeglichenheit und mehr Zufriedenheit sorgen, sie fungieren als Ventil für Tränen ebenso wie Aggression. Michael Behrendt hat seine Playlist zum Glück nach bestimmten Gesichtspunkten strukturiert und in die Kapitel Das Universum und wir; Haltungen die das Leben erleichtern; Liebe und Partnerschaft; Resilienz; Veränderung managen und last not least Getting Started gegliedert. Zu jedem Kapitel sind es rund 20 Songs, die er vorstellt und mit weiterführenden stimmungsähnlichen Liedern ergänzt. So entsteht ein Rundumblick durch die Rock und Popgeschichte der letzten 70 Jahre, die sich natürlich allesamt in einer Playlist durchhören lassen. Den Link dazu finden Sie auf der Verlagsseite des Reclam Verlages!

Michael Behrendt
Playlist zum Glück.
99 ½ Songs für ein erfülltes Leben
Mit umfangreicher Playlist zum Buch
Originalausgabe
2025, Klappenbroschur. Format 13,5 × 21,5 cm, 272 S.
ISBN: 978-3-15-011508-4
Reclam Verlag
18,00 €


Genre: Kunst, Musik und Literatur
Illustrated by Reclam Verlag

E.M. Cioran, der Ketzer

E.M. Cioran. Um den 1911 in Rasinari bei Hermannstadt in Siebenbürgen als Sohn eines griechisch-orthodoxen Priesters geborenen rumänischen Schriftsteller ist es ruhig geworden. 2024, zum 30. Jahrestag seines Todes, erschien beim Suhrkamp Verlag eine Biographie mit dem Titel “Cioran, der Ketzer” von Patrice Bollon, die ihn ausgehend von dem verhängnisvollen Irrtum seiner Jugendzeit bis hin zu seinem bedeutenden Werk als Schriftsteller und Stilisten der französischen Sprache zeigt.

Läuterung eines Skeptikers

Am besten lässt sich der existentialistische Skeptiker anhand zweier anderer Bücher beim Suhrkamp Verlag entdecken. Mit “Vom Nachteil, geboren zu sein” (1979) und “Syllogismen der Bitterkeit” (1952) lässt sich der Verfasser zahlreicher Aphorismen als Meister der Klarheit, der Eleganz und der Gelassenheit erkennen, der frei von seinen Jugendsünden voller antisemitischer und hitlerfreundlicher Äußerungen vor allem den späteren Philosophen entdecken lässt. Cioran hatte von 1928 bis 1931 das Studium der Philosophie an der Universität Bukarest belebt, bis 1939 waren schon fünf Bücher in rumänischer Sprache von dem erst 28-Jährigen erschienen.

Cioran, der Ketzer

1937 kam Cioran als Stipendiat nach Paris, wo er als freier Schriftsteller lebte und ab 1945, dem Endes Krieges, begann, auf Französisch zu schreiben. Er starb am 20.6.1995 in Paris. Seine Bewunderung für Hitler und teilweise menschenverachtenden Aussagen stehen in einer Reihe anderer zeitgenössischer Schriftsteller wie etwa Louis Ferdinand Celine oder Curzio Malaparte, müssen allerdings von seinem Werk getrennt werden. Daran arbeitet sich auch die Biographie von Patrice Bollon ab, die den “Ketzer” im kulturellen und politischen Umfeld seiner Zeit porträtiert. Ballon zeigt, wie Cioran sich von seinen frühen Artikeln sowie jene verhängnisvolle Schrift über die “Verklärung Rumäniens” in einer lebenslangen Auseinandersetzung mit ebendiesem Irrtum von den “blutigen Possen” der Utopie und von jedem Glauben zu befreien suchte.

Rausch der Ausweglosigkeit

Bei Cioran ist ohnehin alles Lug und Trug. Selbst das Denken: “Alles ist Trug, ich habe es immer gewußt…” Auch das Denken selbst noch, das den Trug zu entlarven sich bemüht, entpuppt sich früher oder später als (Selbstbe-)Trug. Wer Nietzsche oder Georges Bataille gelesen hat, wird auch Cioran lieben, denn er verletzt und verstört ebenso alles, was uns bis vor kurzem noch als hoch und heilig galt. Der Geist ist stets “Indiskretion, Übergriff, Profanierung. Er `arbeitet´ nicht, er zersetzt. Die Spannung, die sein Vorgehen verrät, beweist Brutalität und Unerbittlichkeit. Ohne eine kräftige Dosis Grausamkeit könnte man keinen einzigen Gedanken zu Ende führen.” Harter Tobak also, wenn man seine Gedanken nicht mehr zensiert und sie so kreisen lässt, wie sie es wollen, wie es Cioran auch getan hat.

E.M. Cioran, der radikale Skeptiker

In seinen Aphorismen hat Cioran stets eine Position bezogen, die er selbst als die des Zweiflers, des radikalen Skeptikers bezeichnet. Darin kann er – jenseits aller intellektuellen weltanschaulichen Lager – sicherlich als Vorbild dienen, denn der Geist sollte keinen Tabus oder Beschränkungen ausgesetzt sein. Anders verhält es sich da schon mit der Tat. “Die Ideen”, schreibt er in “Vom Nachteil, geboren zu sein“, “eignen sich schlecht zur Agonie; sie sterben, das versteht sich, aber sie wissen nicht zu sterben, während ein Ereignis nur in Hinsicht auf sein Ende existiert. Das ist ein zureichender Grund, um die Gesellschaft der Historiker derjenigen der Philosophen vorzuziehen”, sagt der, der Philosoph.

Syllogismen der Bitterkeit

In der gleichnamigen Sammlung (im Französischen Original: Syllogismes de l’Amertume) widmet sich Cioran Themen die mit den Überschriften “Atrophie des Worts”, dem “Zirkus der Einsamkeit”, dem “Taumel der Geschichte” oder den “Quellen des Leeren” zusammengefasst wurden. Er schreibt auch “Über Musik”, den “Sog der Geschichte” oder den “Okzident”. “Wie sehr liebe ich die Geister zweiten Ranges, die aus Taktgefühl im Schatten des Genies der anderen lebten und ihr eigenes aus reiner Scheu ablehnten”, schreibt Cioran da einen Gedanken auf, der seine eigenen “stummen Tiefen” schon erahnen lässt. Im mit “Zirkus der Einsamkeit” übermittelten Kapitel geht es in seinen Aphorismen schon konkreter zur Sache: “Ich lebe nur, weil es in meiner Macht steht zu sterben, wann es mir belieben wird: ohne die /Idee/ des Selbstmords hätte ich mich schon längst getötet.” Die Verzweiflung bleibt für ihn Reportage, die Hoffnung Fiktion. Dennoch ziehe man aus dieser Fiktion die Nahrung zu leben. “Ohne Gott ist alles nichts; und Gott?”, schreibt der bei Priestern aufgewachsene Cioran, “Höchstes Nichts”.

Vitalität der Liebe

Schmeichelei betrachtet er als Waffe unsere Mitmenschen zu “knechten, demoralisieren und zu korrumpieren“. “Eine Liebe, die aufhört ist eine so reichliche philosophische Erfahrung, dass sie aus einem Friseur einen Konkurrenten des Sokrates macht“, in “Vitalität der Liebe”. Kurzum zu jedem Thema das uns wichtig erscheint, sind hier Gedanken und Aphorismen Cioran zusammengefasst, die uns in Unruhe versetzen können und die alteingesessenen Komfortzonen verlassen lassen. Das mag für manche unbequem sein, für andere die Essenz des Lebens. Oder wie sagt es Cioran: “Offen gestanden, kann man von irgendetwas anderem reden als von Gott oder von sich selber?

E. M. Cioran
Vom Nachteil, geboren zu sein
Aus dem Französischen von François Bondy
1979/2023, Broschur, 176 Seiten
ISBN: 978-3-518-37049-0
Suhrkamp Verlag
10,30.-€

Syllogismen der Bitterkeit
Bibliografische Angaben
1980/2016, Broschur, 90 Seiten
ISBN 978-3-518-371
Suhrkamp Verlag
11,00.-€


Genre: Aphorismen, Literatur
Illustrated by Suhrkamp Frankfurt am Main

Südtirol. Eine literarische Einladung

Südtirol oder auch Alto Adige und Trentino ist ein ganzjähriges Paradies. Schifahren in den Dolomiten, Baden im Kälterer See. Die Region zwischen Italien und Österreich, die auf eine konfliktreiche Geschichte zurückblickt, stellt sich in vorliegender Sammlung einheimischer Schriftsteller:innen vor. So genießen auch Leser:innen Schlutzkrapfen und Canederli, tauchen nach dem Kirchturm im Reschensee, treffen auf eine schöne Welt und böse Leut’, erleben Berg und Breakfast, singen launige Oden auf Bruneck oder erinnern sich an die erzwungene Italianità im Faschismus.

Die Felsen, die die Welt bedeuten

Das “schönste Bauwerk der Welt”, die Dolomiten, so nannte immerhin Le Corbusier die “elfenbeinweiß, graugrün, mitunter rötlich-gelb leuchtenden Kalkfelsen”. Aber es geht auch anders: als “kolossale Raumverschwendung” verunglimpfte Eve Gräfin Baudissin die Steinkolosse. Die Marmolada, die Brenta-Gruppe, der Rosengarten sowie die Bletterbachschlucht, die Drei Zinnen bilden die nach Déodat de Dolomieu benannten Dolomiten, die wesentlich die Region Südtirol mitgestalten. In “Berg und Breakfast” apeliert die Autorin Selma Mahlknecht an unsere archaische Seele, die das Wandern als Unruhe im Herzen und Sehnsucht nach dem Anderswo definiert. Ihr Heimweh richtet sich demnach nicht nach Südtirol, sondern nach den Bergen an sich aus. Dem Bild des starrsinnigen Hutzelmännchens widerspricht sie, denn gerade wer in den Bergen lebe, müsse sich bewegen. So ist jedes Heimweh auch gleichzeitig ein Fernweh.”Manchmal bedeutet Freiheit bereits einfach nur das Weglassen des Unnötigen”, schreibt Maxi Obexer in “Der rote Kontrapunkt”. Denn der Berg rufe nicht, er wolle nicht erobert werden, wie manche immer wieder behaupten. Er sei auch nicht römisch-katholisch wie die hineinbetonierten Gipfelkreuze weismachen wollen. Obexer wehrt sich gegen die völkische Vereinnahmung der Berge durch die Dirndl- und Lederhosenträger:innen. Ganz dem Begriff Südtirol widmet sich hingegen Alessandro Banda, er bezeichnet Alto Adige als pirandellische Provinz, als pessoanische sogar. Das Tirolo meridionale sei zwar Italienisch für Südtirol, Alto Adige aber in Wirklichkeit ein Gallizismus. “Haut-Adige” stammt aus den napoleonischen Kriegen und bezeichnete 1810 ein Gebiet das bald zum Königreich Italien gehörte, aber Meran noch beim Königreich Bayern verortete. Südtirol an sich bezog sich wiederum auf das was heute Trentino genannt wurde.

Italiansierung: politisch und kulinarisch

Ein dunkles Kapitel ist auch die von Ettore Tolomei durchgeführte Italiansierung der Region, die während Mussolini für das gesamte Südtirol durchgeführt wurde. Die Italianità wurde einfach behauptet, Orts-, Familien- und Vornamen italianisiert und sogar Grabsteine “umbenannt”. Aus Maier wurde etwa Massari, aus Raffeiner Rovina oder Dallarovina. Aus Pixner Armaroli, aus Tappeiner Depino, aus Urthaler Giudici usw. usf. Maddalena Fingerle erzählt in “Bozen” von ihrem Vater, der Aphasie hat oder ist es Mutismus? Die Tochter, die Erzählerin, hat Asthma und vermutet hinter den Worten dreckig und sauber etwas ganz anderes als die Erwachsenen. Auch der große Schriftsteller Stefan Zweig widmet sich in einem Gedicht dem so betitelten “Bozner Berg”. Ein Gedicht an einen herrlichen Morgen in den Bergen, der ihm “im Herzen klingt”. Aberauch kulinarische Aspekte werden in dieser literarischen Einladung berücksichtigt. “Ohne Knedl hosch nie gessn”, heißt es in Südtirol, wo Mehl, Milch, Butter, Topfen und Käse eben zu dem gehörten was man als Selbstversorger hauptsächlich hatte und daraus ließen sich vortrefflich Knödel rollen. Canederli, Ravioli, Mezzelune, Schmarren oder Schulter, eine weiße Küche, in der die Tomate keine Rolle spielte. Aber die alpine und die mediterrane Küche verbanden sich alsbald zu einer köstlichen Mischung.

Schöne Welt, böse Leut

Joseph Zauderer erzählt von der “Walschen”, wie man die Italiener in deutschen Kreisen nannte und ihr Vater, der stets für Toleranz plädiert hatte, musste schließlich doch an die Front um eine deutsche Heimat zu verteidigen, die es gar nicht mehr gab. “Schöne Welt, böse Leut” ist der Titel von Claus Gatterers Beitrag, in dem er uns in die Schulzeit entführt. Die Lehrerin tut sich mit den deutschen Namen schwer, “als hätte sie einen Igel verschluckt”, aber nicht mit allen. Denn wie überall zählte auch hier der Klassenunterschied. Die Kinder der besseren Familien hatten aussprechbare Namen, die der Bauerntölpel lohnte sich nicht zu lernen. Marco Balzano legt in “ich bleibe hier” einen erschütternden Bericht über die Enteignung vor: “Weiter bleibt nichts von dem was wir waren. (…)Niemand kann verstehen was sich unter den Dingen verbirgt. Niemand hat Zeit, stehen zu bleiben und um das zu trauern, was gewesen ist, als wir nicht da waren. Vorwärts gehen, wie Mutter zu sagen pflegte, das ist die einzige Richtung, die erlaubt ist. Sonst hätte Gott uns die Augen seitlich gemacht. Wie den Fischen.”

Im Anhang befinden sich Biographien der Autor:innen und Quellenverzeichnisse der zitierten Ausschnitte. Mit deutschsprachigen Texten und Übersetzungen aus dem Italienischen wie Ladinischen von Marco Balzano, Roberta Dapunt, Oswald Egger, Maddalena Fingerle, Claus Gatterer, Lilli Gruber, Francesca Melandri, Maxi Obexer, Joseph Zoderer und vielen anderen. Gaby Wurster ist auch die Herausgeberin der ebenfalls bei Wagenbach erschienen literarischen Einladungen nach Genua und Ligurien, Triest und Lissabon.

Gaby Wurster (Hrsg.)
Südtirol
Eine literarische Einladung
SALTO [284]. 15.8.2024
144 Seiten. Rotes Leinen. Fadengeheftet
ISBN 978-3-8031-1383-2
Wagenbach Verlag
22,– €


Genre: Literatur, Reisen
Illustrated by Wagenbach

Lektionen

Es gibt Bücher, die Ausschnitte aus dem Leben eines Menschen zum Thema haben oder gar den gesamten Lebenslauf. Letztere nennt man dann am ehesten Biographien. Es gibt Bücher, die verschiedene Epochen der Weltgeschichte beleuchten. Das sind dann meist Sach- oder Geschichtsbücher. Ian McEwan kam irgendwann auf die Idee, in Lektionen beides über eine lange Zeitachse zu fusionieren. Es wäre nicht Ian McEwan, der britische Schriftsteller, der am Fließband Preise und Ehrentitel einheimst wie einst Walt Disney die Oscars (22!) oder Bayern München deutsche Meisterschaften (33!) und dem nur eine Kleinigkeit fehlt, nämlich der Literatur-Nobelpreis (aber jener hat – wie schon in früheren Rezensionen unschwer erkennbar – mit Literatur schon immer weniger zu tun als mit Politik), also es wäre nicht Ian McEwan, wenn er diese Hercules-Aufgabe nicht mit bekannter Bravour meistern würde. Es ist zusammengefasst ein Highlight der Weltliteratur entstanden, ein Werk mit einer fesselnden, autobiografisch angehauchten Story, aber gleichzeitig auch ein Werk, das fast keine heißen gesellschaftlichen Eisen der letzten sieben oder acht Dekaden und der Neuzeit auslässt und damit jede Menge philosophische Denk-Impulse setzt. An dieser Stelle können die Eiligen also bereits aussteigen.

Die Leserschaft begleitet Roland Baines von seiner Geburt Anfang der 50er Jahre bis ins hohe Alter. Auf 720 Taschenbuchseiten oder in 1,9 MB eBook schlagen einen unendlich viele Erfahrungen in den Bann (von McEwan’s exzellentem Schreibstil ganz zu schweigen).

Nur zwei Beispiele.

Beispiel eins. Im Vordergrund steht die sexuelle Beziehung von Roland zu seiner Klavierlehrerin, welche sich im Alter von 11 Jahren anbahnt und mit 14 Jahren körperlich wird. Diese Erfahrung hat Nachwirkungen bis in seine Sechziger/Siebziger. Ist all das eine strafbare Handlung durch die selbst psychisch auffällige, erst knapp über zwanzig Jahre alte Lehrerin? Spontan würden viele einem gesellschaftlich normierten Reflex folgend sofort ja sagen, aber so einfach macht es einem McEwan nicht.

Beispiel zwei. Nach einem Leben des Sich-treiben-Lassens erhofft sich Baines von der Ehe mit Alissa die ersehnte Stabilisierung. Kleines Häuschen und Vorgarten-Idylle eingeschlossen. Doch vier Monate nach der Geburt des gemeinsamen Sohnes verschwindet Alissa in einer Nacht-und-Nebel-Aktion, um sich ihre Träume als Schriftstellerin zu erfüllen. Sie möchte dem Schicksal ihrer Mutter entgehen, die als verheißungsvolle Schriftstellerin nach Deutschland kam, aber durch eine Heirat alle hochfliegenden Pläne ad acta legen musste. Und welche für den Rest ihres Lebens unglücklich war („Ich habe das falsche Leben gelebt“).

Was alles steckt alleine in diesem meisterlichen Konstrukt? Von „Regretting Motherhood“ als einem ganz aktuellen Aspekt unserer gesellschaftlichen Gegenwart bis zur ewig gültigen und zeitlosen Frage „Was ist ein glückliches Leben?” und wie erreiche ich dieses.

Sind das die Erfahrungen und „Lektionen“ dieses Buches, die uns den Weg aufzeigen wollen? Mit großer Sicherheit nicht. Niemand kann sich am Ende der Lektüre erdreisten und beurteilen, wessen Leben denn nun glücklicher war – das des fatalistischen Roland Baines, dem das Leben einfach irgendwie passiert, der aus seiner gesellschaftskonformen Passivität, seiner lebenslangen Lethargie fast unmerklich in die senile Depression driftet. Oder das Leben von Alissa, die durch ihre fast schon immense psychische Kraftanstrengung und vielleicht auch durch den Ausbruch aus ihren Mutterpflichten zur weltberühmten Schriftstellerin wird, aber eine Vielzahl anderer Probleme kompensieren muss.

Das gesellschaftliche Denken der jeweiligen Zeit und die jeweiligen historischen Ereignisse bilden für all das das Bühnenbild, das sich mit der Handlung verwebt. Die Kuba-Krise, der Reaktorunfall von Tschernobyl, der Fall der Mauer, die Pandemie und viele andere Ereignisse der Weltgeschichte jener Zeit haben teilweise unmittelbaren Einfluss auf die Geschichte und das Leben und Agieren der Romanfiguren.

Als Leser stellt man sich bei der Lektüre immer wieder zwei Fragen:

Das Buch ist – das gibt Ian McEwan unumwunden zu – stark autobiografisch. Da wird man schon neugierig, was von alledem seinem Leben entspricht und was nicht, ohne dass dies letztendlich wichtig wäre. Ja, es gab den Major als strengen Vater, den verlorenen Bruder und das Klavierzimmer im Internat, aber sonst…?

Und zum anderen: Was sind denn nun die Lektionen oder neudeutsch die Lessons to take home, die Lifehacks? Natürlich kann und will er darauf keine allgemein gültigen Antworten liefern. Empfehlenswert ist in diesem Zusammenhang ein Interview mit Ian McEwan in der „Sternstunde Philosophie“ des Schweizer Fernsehens (SFR Mediathek oder YouTube), in dem McEwan sich im Gespräch mit Barbara Bleisch am ehesten dahingehend äußert, dass die Lektionen des Lebens die Summe der singulären Erfahrungen sind und dass Glück die Summe der bewusst wahrgenommenen glücklichen Momente ist.
Das ist doch schon eine ganze Menge.


Genre: Biographie, Gesellschaftsroman, Roman
Illustrated by Diogenes

Trio

Drei Romane in einem

Zum umfangreichen Œuvre des schottischen Schriftstellers, Drehbuchautors und Regisseurs William Boyd gehört mit dem Roman «Trio» ein Alterswerk, das er in der ihm vertrauten Szene des Filmgeschäfts sowie auch im Milieu der Autoren und Verlage angesiedelt hat. In drei parallel laufenden Handlungssträngen schildert er am Beispiel seiner drei Protagonisten die Diskrepanz zwischen Innen- und Außen-Wahrnehmung des Menschen, die er als in der unterhaltenden Kunst besonders gravierend beschreibt. Angesiedelt ist dieser Plot im Jahre der gesellschaftlichen Umbrüche 1968. Deren politische Bedeutung wird im Roman deshalb nicht thematisiert, weil ihre Auswirkungen zum Zeitpunkt der revolutionären Ereignisse, wie sie heute historisch gewertet werden, so noch gar nicht absehbar waren.

Fernab von den studentischen Unruhen in Paris wird im südenglischen Seebad Brighton ein Film mit dem künstlerisch eher skeptisch machenden Titel «Emily Bracegirdles außerordentlich hilfreiche Leiter zum Mond» gedreht. Nacheinander werden die drei Protagonisten im Roman eingeführt, ihre jeweilige Geschichte wird in drei separaten Handlungsebenen erzählt. Da ist zunächst Talbot, der mit allen Wassern gewaschene, clevere Produzent dieses Films, ein Krisenmanager par excellence, der ahnt, dass sein Co-Produzent ihn ausbooten will. Er ist verheiratet und hat zwei Kinder. Privat betätigt er sich klammheimlich mit der Aktfotografie, wobei Männer und Frauen gegen Honorar für ihn Modell stehen. Seine tief in ihm verborgene, homophile Neigung aber lebt er nicht aus, er verdrängt sie, um einen Skandal zu vermeiden.

Die junge amerikanische Schauspielerin Anny spielt in seinem Film die weibliche Hauptrolle. Sie erträgt den Stress der Publicity als umjubelter Star nur mit diversen Medikamenten und wechselnden Liebhabern, zu denen auch ihr Filmpartner gehört. Ihr Ex-Ehemann ist ein vom FBI gesuchter linker Terrorist, der in den USA drei Sprengstoff-Attentate begangen hat. Ihm ist bei einer Vernehmung die Flucht aus dem Gefängnis gelungen. Nun taucht er überraschend in ihrem Hotel auf und fordert Geld von ihr, damit er in ein möglichst weit entferntes Land fliehen kann.

Die dritte Protagonistin ist die mit dem Regisseur des Films unglücklich verheiratete Schriftstellerin Elfrida. Sie hat nach ihrem erfolgreichen Debütroman eine Schreibblockade, die nun schon zehn Jahre andauert und sie zur Alkoholikerin hat werden lassen. Ihr obsessiv gefasster Vorsatz, nun endlich wieder einen Roman zu schreiben, und zwar über den Suizid von Virginia Woolf, scheitet kläglich.. Mit der hatten die Kritiker sie ja einst bei ihrem Debüt euphorisch verglichen. Dieses Thema aber erweist sich jetzt als Debakel, sie kommt über den ersten Absatz einfach nicht hinaus. Die komplizierten Vorgänge beim Filmdreh und die Probleme und kleinen Katastrophen am Set werden in diesem Roman ebenfalls sehr anschaulich geschildert, man bekommt einen interessanten Einblick in die Usancen einer nach außen hin ja glamourösen Branche. Ähnlich bereichernd sind auch die geschilderten Schwierigkeiten von Elfrida, im Wechselspiel mit Verlagen und Agenten ein neues Romanprojekt zu realisieren.

Der turbulente, klug konstruierte und stets eindeutig nachvollziehbare Plot wartet mit vielen überraschenden Wendungen auf, die permanent für Spannung sorgen. Mit vielen Reflexionen über Innen- und Außen-Wahrnehmung demaskiert der Autor psychologisch tiefgründig die menschlichen Verhaltensweisen zwischen sturer Ignoranz und kleinlauter Selbsterkenntnis. Stilistisch angenehm unmanieriert und flüssig lesbar, erzählt der Autor oft in erlebter Rede, womit er die Distanz zu seinen Figuren aufhebt und ihr Innenleben offenlegt. Sie wirken dadurch besonders glaubhaft und realistisch. Als Leser wird man aber leider in der Erwartung enttäuscht, dass die einzelnen Geschichten am Ende zusammen geführt werden, – ein unnötiges Manko. Man hätte die drei Geschichten nämlich auch, jede für sich, als respektablen Roman veröffentlichen können!

Fazit:   erfreulich

Meine Website: https://ortaia-forum.de


Genre: Roman
Illustrated by Kampa Verlag Zürich