Baba Dunjas letzte Liebe

Ein Wink an den Leser

Die in Russland geborene und seit Anfang der Neunziger Jahre in Deutschland lebende Alina Bronski hat mit «Baba Dunjas letzte Liebe» einen Roman geschrieben, der an das Reaktorunglück von Tschernobyl im April 1986 anknüpft. Sie beschreibt, wie alte Menschen trotz der Strahlung in die Todeszone zurückkehren und dort ihren Lebensabend verbringen. Der in dem fiktiven Ort Tschernowo angesiedelte Roman basiert auf der Realität, denn tatsächlich leben dutzende meist ältere, ehemalige Einwohner inzwischen wieder dort.

Von allen nur Baba Dunja genannt, also Oma Dunja, ist die Ich-Erzählerin als Erste wieder nach Tschernowo zurückgekehrt, in ihre Heimat, der einzige Ort, an dem sie sich wohl fühlt. Früher war sie mal medizinische Hilfsschwester, ihr Mann ist gestorben, die beiden Kinder leben im westlichen Ausland. Der Enkel ist nach Kalifornien oder Florida gegangen, so genau weiß sie das nicht, ins Warme jedenfalls, sie hat keinen Kontakt mehr mit ihm. Ihre Tochter Irina arbeitet als Chirurgin in einem Bundeswehr-Krankenhaus, sie hat einen Deutschen geheiratet und hat eine Tochter mit ihm. Aber Laura spricht kein Wort Russisch und hat ihre Baba Dunja auch noch nie gesehen. Inzwischen ist sie fast erwachsen, ein Besuch von ihr im verstrahlten Tschernowo ist aber völlig undenkbar, – und ihre Oma steigt partout in kein Flugzeug! Ein einziges Mal bekam sie einen Brief von Laura, geschrieben mit lateinischen Buchstaben, nicht mit kyrillischen, und zudem in einer Sprache, die sie natürlich nicht kennt. Sie findet auch niemanden, der weiß, um welche Sprache es sich da überhaupt handelt, und übersetzen kann es erst recht keiner für sie. Und auch Baba Dunjas Tochter Irina kommt nicht nach Tschernowo, alle paar Jahre mal reist sie in die nächste Stadt außerhalb der Strahlenzone und trifft sich dort für einige Tage mit ihrer alten Mutter.

Sie sei kaum älter als 82 Jahre, hat die Ich-Erzählerin mal kokettierend erklärt, und fühle sich nur hier in Tschernowo wohl. Und sie habe keinerlei Probleme damit, das Wasser aus dem Brunnen zu trinken und ihr selbst angebautes Gemüse aus dem Garten zu essen. Als Journalisten und Biologen in Schutzanzügen erstmals die Todeszone besuchten, allerlei Messungen vorgenommen und biologische Anomalien festgestellt haben, hat sie sich über deren Ängstlichkeit köstlich amüsiert. Die wollten ja nicht mal den Tee trinken. den sie ihnen angeboten hat, – und essen schon gar nichts! Als alte und natürlich auch schon kränkelnde Frau hat sie keine Angst vor dem Tod. In ihrer Heimat zu leben sei nunmehr der einzige Wunsch, den sie noch hat ans Leben. Als unerschrockene, schlagfertige, lebenskluge Frau wird Baba Dunja von allen im Dorf bewundert, sie gilt de facto als die Bürgermeisterin des Ortes. Und zu Allem weiß sie Rat. Sie ist sogar im Ausland berühmt, man kennt sie von verschiedenen Fernseh-Reportagen über die todesmutige Heinkehrer-Clique in Tschernowo.

Zu der gehört vor allem Marja, die immer nur jammert und ihrem Mann nachtrauert, obwohl er sie doch auch geschlagen hat. Sie ist medikamenten-abhängig und hat Unmengen davon gesammelt. Petrov ist unheilbar krebskrank, er isst kaum noch und wird immer schwächer, hilft Baba Dunja aber, so gut es geht. Der alte Sidorow hat als einziger ein Telefon, dass angeblich funktioniert, was ihm aber niemand glaubt. Als es in einer schwierigen Situation am Ende des Romans aber doch gebraucht wird, erfüllt es ausnahmsweise auch mal seinen Zweck. Der im Präsens erzählte, stilistisch eher hölzern wirkende Roman beschreibt einen grotesken Kosmos, der ganz eigenen Regeln folgt und in dem der Tod allgegenwärtig ist. Die Autorin vermischt leichthändig die Realität mit surrealen Szenen, lässt Tote sprechen oder den verstorbenen Hahn der Nachbarin wieder auferstehen, der sie neugierig beäugt. Bei aller Zufriedenheit aber ist ihre Heldin zu der Erkenntnis gelangt, dass sie ihrer Tochter Irina nicht beigebracht hat, das Leben zu lieben, «Ich habe es selbst zu spät gelernt», erkennt sie selbstkritisch. Ein Wink an den Leser!

Fazit:   lesenswert

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Genre: Roman
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Haus zur Sonne

Sterben als Therapie

Schon zum dritten Mal hat Thomas Melle mit «Haus zur Sonne» einen Roman geschrieben, der sich mit psychischen Krankheiten auseinander setzt. Und zum dritten Mal ist auch ein Roman von ihm auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis gelandet. Schon in wenigen Tagen wird sich klären, ob sein Roman diesmal vielleicht sogar als Sieger hervorgeht. Wir haben es hier mit einer autofiktionalen Dystopie zu tun, deren Thematik eine psychische Erkrankung ist, unter der auch der Autor selbst schon seit langem leidet. Er ist manisch-depressiv, eine bipolare Störung also. Dieses Buch ist sein erneuter Versuch, sich schreibend damit auseinander zu setzen.

Das titelgebende «Haus zur Sonne» ist für den Ich-Erzähler als Alter Ego des Autors die vielleicht letzte Möglichkeit, endlich aus dem Teufelskreis seiner Erkrankung heraus zu finden. Zufällig ist er auf eine Broschüre dieses Sanatoriums gestoßen, das staatlich finanziert Patienten aufnimmt, die bereits mehrmals vergebens versucht haben, Suizid zu begehen. In einem schriftlichen Vertrag müssen sich alle Patienten dazu verpflichten, nach Absolvierung der psychiatrischen Behandlung dann auch tatsächlich Selbstmord zu begehen. Wobei sie allerdings professionelle Hilfe erhalten würden, ein an den «Faust» erinnernder, mephistophelischer Pakt also. Wie auch der Ich-Erzähler schrecken nämlich viele Suizidwillige in letzter Sekunde doch noch davor zurück und gelangen so in eine fatale Endlosschleife. In den Wochen vor dem Suizid durchläuft unser Patient ein Programm, bei der ihm mittels Medikamenten und anderen Methoden im Traumzustand alle seine Wünsche erfüllt werden, – wenn er denn welche hat. Denn, wie auch der Ich-Erzähler haben viele Patienten gar keine mehr, ihr einziger Wunsch ist, endlich aus dem Leben zu scheiden. Der Protagonist im Roman wünscht sich zum Beispiel, Teilnehmer einer Gruppensex-Orgie zu sein oder als Forscher mit seinem Medikament den Krebs besiegt zu haben, – und er erlebt das halluzinatorisch dann auch. Andere seiner Wünsche bleiben jedoch völlig abstrakt oder sind nur sehr vage umrissen.

Es sind große Fragen des Menschseins, mit denen sich Thomas Melle hier erneut qualvoll authentisch beschäftigt. Dabei geht es ihm vor allem um Lebenswille und Selbstbestimmung, denen bei den betroffenen Personen übermächtig die fatale Fremdbestimmung durch ihre Psychosen entgegensteht. Thomas Melles Alter Ego im Roman hat sich schreibend mit dem heftig umstrittenen Nobelpreis für Peter Handke beschäftigt und in einem Essay Twitter als eines der fragwürdigen sozialen Medien unter die Lupe genommen, ohne das diese kreative Beschäftigung seinen Leidensdruck auch nur im geringsten hat mindern können. In endlosen Gesprächen mit Betreuern und anderen Patienten werden alle Aspekte der Erkrankung und ihre vielfältigsten Auswirkungen im Leben geschildert, was sich beim Lesen mit der Zeit aber zu einer immer quälender werdenden Litanei auswächst. Letztendlich weist all das philosophisch auf einen latenten Nihilismus hin, dem man als Betroffener unwiderstehlich ausgeliefert bleibt. Immer nach dem Motto: ‹Das Leben ist sinnlos, also lass es uns beenden›!

Was im Kopf eines psychisch kranken Menschen passiert, das kann literarisch durch Vermischen von Authentischem und Fiktivem nachgebildet werden, so der Autor. Literatur sein für ihn Therapie: «Das Schreiben hat mich in irre Räume zurückgeführt, die mir bekannt waren, die ich aber mit einem Schutzanzug betreten habe: dem Erzählmodus», hat er dazu erklärt. In vielen Rückblicken auf sein Leben werden wir mit der Vorgeschichte seiner Erkrankung konfrontiert, die er schon in den zwei anderen Romanen der «Trilogie des Wahnsinns» thematisiert hat. Obwohl es dem Autor stilistisch hervorragend gelungen ist, sein differenziert betrachtetes, äußerst schwieriges Thema dem Leser anschaulich zu vermitteln, stören die ständigen Wiederholungen des Erzählten bei der Lektüre mit der Zeit denn doch erheblich. Die dystopisch anmutende Frage, ob man das Sterben als Therapie bezeichnen kann, bleibt als satirisch letztendlich denn auch offen. Kurz gesagt: Eine extreme Lektüre!

Fazit:   lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Kiepenheuer & Witsch Köln

Meine Schwester – Meine Mutter

1984 erhängt sich die Mutter der Fotografin Bettina Flitner. 33 Jahre späte wiederholt sich dasselbe Schicksal bei ihrer Schwester Susanne und dessen Ehemann Thomas. Mit ihrem 2023 erschienen Roman “Meine Schwester” legte die Autorin schonungslos die eigenen Wunden offen. Nun legt sie mit “Meine Mutter” noch einmal nach.

Meine Mutter

Bettina Flitner begibt sich in “Meine Mutter” auf eine Reise in den Luftkurort Wölfelsgrund im ehemaligen Niederschlesien, dem heutigen Międzygórze. Dort hatten ihre Vorfahren bis zur dramatischen Flucht 1946 ein Sanatorium besessen und geleitet. Dort lebte ihre Mutter bis zum Alter von zehn Jahren. Bettina, ihre Tochter, sucht an genau jener Stelle nach dem Ursprung, wo einst alles begann. Natürlich thematisiert sie auch die politischen Umwälzungen jener Zeit, die Mitgliedschaft des Großvaters in der NSDAP als “Märzgefallener” und die Vertreibung nach dem Krieg. 14 Millionen Deutsche mussten zwischen 1944 und 1948 ihre Heimat verlassen, schreibt sie. Und obwohl der Krieg zu Ende war, starben immer noch viele Menschen am Krieg. Viele auch durch Selbstmord. Eines der dunkelsten Kapitel ist die Celler Hasenjagd, bei der vier Tage vor Einmarsch der Alliierten in Celle am 8. April 1945 unschuldige Menschen durch die Straßen gejagt und umgebracht wurden. Denn nach der Bombardierung des KZ Bergen-Belsen konnte einige Insassen in die umliegenden Dörfer entkommen und wurden dort erschlagen. “Ich werde nicht älter als 47” hört Bettina heute noch ihre Mutter sagen, so als ob sie es immer schon geplant hätte. Aus den Erlebnissen ihrer Reise ins heutige Polen, den Tagebüchern und Dokumenten ihrer Familie und ihren eigenen Erinnerungen erschafft Bettina Flitner vorliegenden Roman, der näher an der Realität liegt als man sich wünschen möchte.

Meine Schwester

Noch persönlicher als das Nachfolgewerk “Meine Mutter” ist allerdings der Vorgänger aus dem Jahre 2023, “Meine Schwester”. Die Autorin beschreibt darin sachlich und zugleich erschütternd ihre Beziehung zu ihrer Schwester, die ebenfalls Suizid beging. Susanne, ihre ältere Schwester, war eine Art “trauriger Clown”. Sie konnte meisterhaft andere nachahmen und sich über alles und jeden lustig machen. Auch ihr Vater hatte ein komödiantisches Talent und als er bei der Ford Foundation in New York einen Job bekommt, geht die ganze Familie mit. “Wir vier”, denkt sich Bettina oft, aber bald schon muss sie feststellen, dass sie einer Fiktion unterliegt. Denn der Vater geht fremd und bald auch die Mutter. In den Siebziger Jahren als die beiden Schwestern aufwuchsen war dies eine Normalität. Bettina sucht in ihrem Text nach den Vorzeichen für den bevorstehenden Selbstmord, den ersten Anzeichen, wann es begann und natürlich steht die Frage im Raum, ob es nicht vielleicht doch genetisch sein könnte? Oder waren die Depressionen der Mutter eine gewollte Flucht? Wieder zurück in Deutschland besuchen sie Waldorfschule, ihre Schwester dann auch die Montessori-Schule. Als die Eltern sich sogar vor den Kindern streiten, beginnen auch die beiden sich zu zanken. Wenn Flitner das Bild des Familienautomobils als faradayschen Käfig zeichnet, wird deutlich, wie sich die Emotionen entwickelt hatten. Und bald muss sie erkennen, dass Liebe etwas war, das man mit Demütigung bezahlte, “etwas, das einen am Ende vernichten konnte”.

Eine beeindruckende Lebensbeichte, die man nur schwerlich als Roman bezeichnen kann, denn dafür sind die beiden Erzählungen zu Nahe an der Realität. Als ihre Mutter sich ohne Abschied aus der Welt nahm, machten die beiden Töchter gerade erst Abitur. Ihr damaliger Freund heiratete sechst Wochen nach ihrem Tod ihrer Mutter eine neue Frau.

Bettina Flitner
Meine Mutter
2025, Hardcover, 320 Seiten
Lieferstatus: Lieferzeit 1-2 Tage
ISBN: 978-3-462-00849-4
Kiepenheuer&Witsch
24,00 €

Meine Schwester
Verlag: KiWi-Taschenbuch
2023, Hardcover, 320 Seiten
ISBN: 978-3-462-00521-9
Kiepenheuer & Witsch
24,00 €


Genre: Biographie, Familiengeschichte, Roman
Illustrated by Kiepenheuer & Witsch Köln

Russische Spezialitäten

Roman mit Ukraine-Bonus

Der in Kiew geborene Dmitrij Kapitelman wurde mit seinem Roman «Russische Spezialitäten auf die Longlist des diesjährigen Deutschen Buchpreises gewählt. In der autobiografisch inspirierten Geschichte wird der Ukrainekrieg thematisiert, dessen Ursachen und Wirkungen toxische Spuren hinterlassen bis hinein in die jüdische Familie des Ich-Erzählers. Mit dieser hochaktuellen Thematik ist dem Roman die Aufmerksamkeit des Lesepublikums sicher. Insbesondere deshalb, weil das Alter Ego des Autors hier aus einer sehr persönlichen Perspektive berichtet, welche den offiziellen Medienberichten mit ihren nach drei Kriegsjahren allmählich abstumpfenden Schreckens-Botschaften eine geradezu intime Sicht hinzufügt, sie also durchaus bereichernd ergänzt.

Seit seinem achten Lebensjahr lebt der Ich-Erzähler in Deutschland und wird in Leipzig in der Umgebung eines Geschäftes groß, das von seinen Eltern betrieben die titelgebenden «russische Spezialitäten» verkauft. Dieses 1995 gegründete «магазин» wurde bald schon zum Treffpunkt für Menschen aus der russischen Diaspora, die hier Leidensgenossen fanden, mit denen sie sich über alltägliche fremden-feindliche Aggressionen austauschen konnten, denen man als Expat dort permanent ausgesetzt ist. Nachdem der Vater einen Schlaganfall überstanden hat und kurz treten muss bei der Arbeit, beherrscht die pausenlos rauchende Mutter das «магазин», unterstützt von der Angestellten Ira, die «auf die gute alte, sowjetische Art» die Kunden brüsk und unfreundlich behandelt und wohl genau deshalb so gut in den russischen Laden passt. Die heimelige Atmosphäre ist abrupt beendet, als der skrupellose Diktator in Moskau die Ukraine überfällt. Die politischen Meinungs-Verschiedenheiten innerhalb der Familie, die schon seit den Protesten auf dem Maidan von 2013/14 bestehen, brechen nun unvermittelt hervor, speziell zwischen der Mutter und ihrem Sohn Dmitrij sind die Fronten verhärtet. Die in Sibirien geborene und in Moldawien aufgewachsene Mutter glaubt nämlich blind die Lügengeschichten des Kremls, sie bezieht alle ihre Informationen nur vom russischen Staatsfernsehen und ist eine glühende Bewunderin Putins. So hält sie zum Beispiel auch das russische Massaker von Butscha für eine von der Ukraine lanciere Lügengeschichte, die Toten auf den Fotos seien dafür angeheuerte ukrainische Schauspieler.

Völlig verzweifelt, aber auch völlig machtlos, erlebt der Sohn, der seine Mutter innig liebt, dass sie für Fakten nicht mehr erreichbar ist, sie bricht in ihrer Verblendung sogar alle Kontakte zu ihren ukrainischen Freunden ab. Die ihrerseits alle die russische Sprache demonstrativ nicht mehr verwenden und nur noch ukrainisch miteinander sprechen. «Fakenews» ist das Stichwort, mit denen Autokraten aller Couleur weltweit ihre Propaganda betreiben. Für Dmitrij führt der Wahn seiner Mutter zu surrealen Phantasien, er wird im Laden plötzlich von den Fischen im Becken angesprochen, und Menschen machen wundersame Verwandlungen durch, mutieren zum Beispiel zu Zigaretten. Als im zweiten Teil des Romans Dmitrij in die Ukraine reist, ändert sich der Ton des Romans und wird ernster. Was er dort erlebt, vor allem an der Front, übertrifft tatsächlich noch seine schlimmsten Erwartungen.

Dieser trotz schicksalhafter Thematik mit leichter Hand, aber stilistisch ziemlich gewöhnungs-bedürftig und voller Klischees geschriebene Roman ermuntert dazu, sich nicht unterkriegen zu lassen von den Despoten dieser Welt. Wobei der ironische Grundton so mancher Tragik ein wenig die Schärfe nimmt. Der naive Protagonist dieser Erzählung lässt sich weder in seiner Liebe zur Mutter noch zur russischen Sprache beirren. Wenn es eine Botschaft gibt in diesem Roman, dann ist es die Zuversicht verströmende Erkenntnis seines nach Identität suchenden Helden, dass Resignation keine Lösung sei. Am Ende erkennt er schließlich auch: «Heimat ist der Ort, der einem nie egal wird. Kiew». Ein Roman mit Ukraine-Bonus!

Fazit:   lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Hanser Verlag München

Alles über Heather

Eine unerhörte Begebenheit

Das Debüt des bisher nur als Drehbuchautor bekannten, amerikanischen Autors Matthew Weiner unter dem Titel «Alles über Heather» wird als Roman verkauft. Es handelt sich bei dem vom Verlag mit allerlei Seiten schindenden Layout-Tricks auf gerade mal 131 Seiten gebrachten, schmalen Band aber eher um eine typische Novelle, nach Goethe also «eine sich ereignende, unerhörte Begebenheit». In einem kammerspielartigen Setting steuern eine dreiköpfige New Yorker Familie und ein Bauarbeiter auf eine Katastrophe hin, die in diesem 2017 erschienenen Buch ohne Umwege und Ausschmückungen äußerst zielstrebig erzählt wird.

Die fast vierzigjährige, in der PR-Branche tätige Karen lässt sich von ihren Freundinnen, nach einer geplatzten, siebenjährigen Liaison mit ihrem Kunstdozenten, zu einem Date mit Mark überreden, einem eher unscheinbaren Mann, der als Finanzanalyst beruflich sehr erfolgreich ist. Obwohl sie von einer Liebesheirat träumt, heiratet sie ihn aber in einer Art Torschluss-Panik, weil er ihr wenigstens ein finanziell abgesichertes Leben bieten kann. Mit der Geburt der Tochter Heather füllt sich durch die sofort spürbare, schiere Präsenz des Babys sehr schnell die emotionale Leere zwischen den Ehepartnern. Sie ist später auch im Kindesalter ein hübsches, bezauberndes Wesen voller Empathie, das alle unwiderstehlich in Bann zieht, die ihr begegnen. Für ihre Eltern ist sie ihr Ein und Alles, als typische Helikopter-Eltern behüten und umschwirren sie pausenlos ihre ebenso kluge wie liebenswerte Tochter. Karen geht ganz in ihrer Mutterrolle auf, sie ist fast schon symbiotisch mit ihr verbunden. Das ändert sich mit der Pubertät, als Heather auf die unterschwelligen Spannungen in der Ehe ihrer Eltern reagiert, sich aus der Umklammerung der Mutter löst und darauf besteht, wenigstens einmal in der Woche mit ihrem Vater allein etwas unternehmen zu können, – eine Zeit, die beide sehr genießen. Und Mark beobachtet dann immer eifersüchtig, wie die jungen Männer seiner schönen Tochter nachblicken, er will die inzwischen 14jährige Tochter unbedingt von allen Nachstellungen schützen.

In einer zweiten Handlungsebene erzählt der Autor von Bobby, dem verwahrlosten Sohn einer drogen-abhängigen, allein erziehenden Mutter, der als Heranwachsender versucht, ein Mädchen aus der Nachbarschaft zu vergewaltigen und sie dabei schwer verletzt. Hätte er sie umgebracht, lernt er im Gefängnis, hätte er ohne Spuren zu hinterlassen unerkannt entkommen können. Jahre später aus dem Gefängnis entlassen, zündet der Skinhead wütend das Haus seiner mal wieder sinnlos mit Rauschgift zugedröhnten Mutter an. Ein unerkannt bleibender Mord, dem weitere Mordphantasien folgen. Bobby arbeitet fortan als Hilfsarbeiter auf dem Bau, wo er auf Heather aufmerksam wird, die in dem Haus wohnt, dessen Penthaus von seiner Firma saniert wird Wütend beobachtet Mark, dass der junge Bauarbeiter immer wieder seiner attraktiven, halbwüchsigen Tochter nachstiert und sie offensichtlich taxiert, wenn sie an ihm vorbeiläuft. Als er eines Tages beobachtet, dass Heather sogar mal kurz mit ihm spricht, rastet er völlig aus und beschließt in seinen paranoid übersteigerten Befürchtungen, ihn umzubringen.

In einem furiosen Schluss kommt Karen ihrem Mann, dem sie zeitweise sogar inzestuöse Absichten unterstellt hat, wieder näher, – auch sexuell, wo seit langem eigentlich absolute ‹Funkstille› herrschte. Ausgangspunkt für den Autor, der schon immer davon geträumt habe, Romancier zu werden, war seine Beobachtung auf einer Baustelle, wie er im Interview erklärt hat. Dort habe ein Bauarbeiter ein Mädchen ungeniert angestarrt, und er habe sich gefragt, was wohl dessen Vater dazu sagen würde, wenn er das beobachtet hätte. Genau diese Beobachtung hat er in seiner Novelle ja dann auch thematisch umgesetzt. In einer flüssig lesbaren Sprache, zielgerichtet und ohne psychologische Tiefenbohrungen erzählt, gehört dieses spannende Buch zu der Sorte von Page Turnern, die man nicht mehr aus der Hand legt bis zum Ende, welches hier, soviel sei immerhin verraten, dann auch noch ziemlich überraschend ausfällt!

Fazit:   lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Rowohlt

Single Moms Supper Club

Zeitgeist als Manko

Die britische Wahlberlinerin Jacinta Nandi hat mit «Single Mom Supper Club» schon vom kryptischen Titel her einen feministischen Roman vorgelegt, dessen offensichtlich kultbuchartige Ambitionen bereits nach wenigen Seiten deutlich werden. Dabei geht es um nichts weniger als um eine extrem vom Zeitgeist digitaler Medien gesteuerte, scharfzüngige Abrechnung mit Alltagsrassismus und um strukturell bedingte Frauenarmut als schreiende gesellschaftliche Ungleichheit. Die Autorin fährt ein üppiges Ensemble von weiblichen Figuren auf, die unverkennbar autobiografisch inspiriert sind. Bei allem kämpferischen Feminismus, der sich gegen den Müttermythos richtet und sich hier sehr vehement Bahn bricht, ist unverkennbar immer auch Ironie im Spiel, eine oft absurde Komik, – schwarzer Humor eben, ‹very british›.

Gleich zu Beginn werden die Figuren in Kurzform vorgestellt, die Frauen auch mit ihren wichtigsten Eigenschaften: Die Single Moms mit vier «normalen Müttern» und vier «Cocain Moms», dazu auch ihre insgesamt elf Kinder. «Die Kinder sind alle super» heißt es süffisant. Es folgen fünf Männer, Herr Müller, Ruben, der Verticker, der Betrüger und Jochen. Die vier Single Moms mit drei britischen Expats und Antje, einer Deutschen, die den Club gegründet hat, laden sich turnusmäßig gegenseitig zum Essen ein. Das gleiche machen auch die deutlich jüngeren Cocain Moms, die auf Instagram unterwegs sind und als «Momfluencerinnen» gelten. Bei ihnen steht trotz ihrer Jugend Botox hoch im Kurs, und bei ihren Treffen geht es nicht nur ums Essen, sondern auch ums Koksen, der «Verticker» ist ihr zuverlässiger Lieferant dafür. Als diese beiden disparaten Cliquen sich vereinen, führt das zwangsläufig zu einem veritablen Kulturschock.

Die Autorin hat im Interview zu ihren «Single Mom»-Figuren erklärt: «Alle sagen zu mir, wenn sie über das Buch sprechen, dass alle drei Engländerinnen eigentlich ich sind. Antje ist mein deutsches inneres Ich und die anderen Drei sind verschiedene Versionen von mir: die perfekte Feministin, die Schlampe und das traurige Opfer». Ihre Protagonistinnen sind allesamt ambivalent, keine ist nur Opfer, alle sind auch Täterinnen, sie erfahren Gewalt und üben selbst Gewalt aus. Und sie scheitern an strukturellen Grenzen ebenso wie an ihren ganz persönlichen. Irritierend ist, dass Jacinta Nandi ihren Roman als «Comedy» bezeichnet hat trotz all der ernsten, eher traurig machenden Themen, die sie darin aufgreift. Bittere Armut nämlich, häusliche Gewalt, latente Mordlust, sexuelle Übergriffe, Abtreibung, ja sogar Hass auf die eigenen Kinder. Für sie sei «Comedy» kein Grund, solche Themen nicht auch zu besprechen, hat die Autorin erklärt, sie habe kein Problem damit, Leicht und Schwer thematisch zu verbinden, gesellschaftliche Normen würden für sie dabei kein Hindernis darstellen. Sie beschreibt oft geradezu unbarmherzig, wie ihre Figuren sich gegenseitig beschimpfen oder sich, ganz unverblümt, als dumm oder hässlich bezeichnen, was durch ständige Wiederholung mit der Zeit allerdings ziemlich langweilig wird. Bei alldem wirkt ihr schwarzer Humor, der permanent die Grenzen austestet und sie manchmal leider auch deutlich überschreitet, gesellschaftlich entlarvend und für den Leser aufrüttelnd.

Bleibt also festzustellen, dass der sarkastische Humor in diesem feministischem Roman mit seiner ernsten Thematik nicht, wie man glauben mag, entlastend wirkt, sondern eher verunsichernd. Das Lachen bleibt einem oft buchstäblich im Halse stecken, so zum Beispiel bei einer witzig gemeinten Anmerkung zum Holocaust, und auch wenn sie Long Covid als Lifestyle hinstellt, kann man nur noch den Kopf schütteln. Sprachlich ist diese an Reality-TV erinnernde Groteske zudem in einem Social-Media-Jargon verfasst, der den Leser immer wieder mit Begriffen bombardiert, denen man so in seriösen Print- und Funk-Medien nicht begegnen wird, – allenfalls bei deren asozialer Internet-Konkurrenz. Damit erweist sich der den Roman tragende, überstrapazierte Zeitgeist zu einem weiteren, störenden Manko neben den erwähnten anderen!

Fazit:   miserabel

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Genre: Roman
Illustrated by Rowohlt

Klimaresilienz

Frau Berndt ist Wissenschaftsjournalistin und schreibt anschaulich, wie Individuen sich ein- und umstellen können, um die kommenden Belastungen besser ertragen zu können—also, wie sie ihre eigene Resilienz verbessern können.

Dabei zitiert sie Wissenschaftler, die in nicht-wissenschaftlichen Medien interviewt werden, gerne aus der Süddeutschen Zeitung, als Quellenangabe. Allerdings gibt es zu jedem Kapitel ausführliche Lese Empfehlungen, insgesamt über zwanzig Seiten.

Das Buch ist in neun Kapitel eingeteilt, mit passenden Überschriften, wie „Ein heißes Thema“ oder „Gefährlich frische Luft“, über Artensterben und das gleichzeitige Auftreten neuer Schädlinge.

In den ersten Kapiteln werden die Veränderungen aufgezählt. Heißer wird es: da hilft schwitzen. Das kann man lernen, indem man öfter in die Sauna geht. Aber, wenn die Luft zu feucht ist, wird Schwitzen schwerer. Der neue „Klimaschick“ sei helle Kleidung, gerne weißes Leinen. Und natürlich viel trinken, da wird Einiges empfohlen. So gibt es eine Fülle von Tipps, die vor allem für Ältere gelten, denn sie sind, wie man weiß, besonders gefährdet.

Als ehemalige Kinderärztin möchte ich die Gefahren für Kinder und Jugendliche herausstellen, denn von ihnen wird hier auch gesprochen.

Es gibt Bekanntes: Nicht in der Anwesenheit Schwangeres rauchen, Stillen, aber Kaiserschnitte nur, wenn nötig! Das empfiehlt auch die WHO. Da das früher eines meiner Themen war, habe ich gegoogelt: In der BRD sind es stabil gut ein Drittel der Geburten, die WHO empfiehlt weniger als die Hälfte davon, besonders schnittbereit sind Geburtshelfer im Saarland, da sind es doppelt so viele. 60%!

Die natürliche Geburt hilft Kindern bei der Ausbildung eines stimmigen Immunsystems und schützt so vor Allergien. Dieses Thema wird, in seiner Widersprüchlichkeit ausführlich und mit neueren Erkenntnissen behandelt.

Auch Erwachsene leiden vermehrt unter Allergien, ein Grund sind die verlängerten Blühzeiten der allergenbildenden Pflanzen.

„Wider das schlechte Gewissen“ zeigt die Schädlichkeit von Fernreisen auf. Wussten Sie, dass private Propellermaschinen noch schädlicher sind? Und dass Taylor Swift Menschen verklagt, die von ihren Privatflügen berichten?

Es kommen Warnungen vor Greenwashing bei Kompensationsangeboten, www.goldstandard.org ist eine gute Adresse, wenn Flugscham auf das Gewissen drückt.

„Luft für die Seele“ zeigt Möglichkeiten auf, um sich vom Klimastress nicht zu sehr runterziehen zu lassen.

Dies gilt für alle, ein Psychiater wird zitiert: “Der Klimawandel ist ein der drängendsten Herausforderungen unserer Zeit, auch für die Psychiatrie.“

Besonders sind auch hier wieder Jugendliche betroffen, die Psychologists for future sehen eine Zunahme an Depressionen und anderen Störungen.

Deshalb sei es wichtig, die Bedrohung auch immer mit Handlungsmöglichkeiten für dem Einzelnen zu begleiten, auch wenn es nur eine wenig ist, der Seele hilft es. Und auf Erfolge hinzuweisen, etwa, dass das Ozonloch durch gemeinsame weltweite

Anstrengungen wieder geschlossen ist.

Hier das Schlusswort: „Für den Zustand der Erde gilt somit ebenso wie für die Seele des Menschen: Es gibt sie, die Chancen zur Resilienz, auch in Zeiten des Klimawandels. Sie sind überall. Man muss sie nur ergreifen.“


Genre: Politik und Gesellschaft
Illustrated by Bertelsmann München

Rom sehen und nicht sterben

Irritierend eigenständig

Der neue Roman von Peter Wawerzinek mit dem originellen Titel «Rom sehen und nicht sterben» reiht sich ein in die nicht abreißende Welle von auto-biografischen Romanen, mit denen derzeit im Bereich der Belletristik der Buchmarkt geradezu überschwemmt wird. Es entsteht der Eindruck, den schreibenden Damen und  Herren fällt nichts mehr ein, deshalb müssen alle sie über ihr eigenes, mehr oder weniger interessantes Leben schreiben. Statt das dann auch «Autobiografie» zu nennen, werden kurzerhand einige fiktionale Elemente eingefügt, und schon gibt es einen neuen Roman. Und «Roman» auf dem Buchtitel, sei hinzugefügt, das verkauft sich halt einfach besser! Immerhin hat es ja das neue Buch des Autors auf die Longlist für den Deutschen Buchpreis dieses Jahres geschafft, trotz der auto-biografischen Schwemme, das zeugt ja immerhin von einer gewissen literarischen Qualität.

Und in der Tat erweist sich dieser Roman, der als Brief eines Schriftstellers (sic) an einen nicht identifizierbaren Empfänger verfasst ist, gleich zu Beginn als stilistisch grandios, wenn der Autor auf der Tiberbrücke Ponte Sisto stehend den abendlichen Einzug der Stare von den kalten Olivenhainen ins sonnenwarme Rom beschreibt. Am Anfang sei nur diese Schwärze über dem Horizont als «Flatterband» zu sehen. «Das sich im Anflug aufbläht, an Volumen gewinnt und zerreißt, sich in Fetzen auflöst. Wolken bilden sich aus unzähligen Leibern, die aufeinander zufliegen, sich berühren, durchdringen, verschlingen, auffressen, ausspeien, in kleinere Wirbel zerstäuben, sich neuerlich zusammentun, voluminöse Blubber bilden, die implodieren und sich in Wohlgefallen auflösen». Und weiter heißt es: «Könnten unser beider Gedanken, Wünsche, Sehnsüchte, Hoffungen sein, in Bewegung geraten».

Der Ich-Erzähler ist Stipendiat der Villa Massimo, wo er für zehn Monate Quartier bezieht, um ungestört schreiben zu können, eine große Ehre, fast schon ein Ritterschlag für jeden Schriftsteller. Die geschichtsträchtige Ewige Stadt bietet ihm eine Fülle von neuen Eindrücken, wobei er allerdings auch kritisch anmerkt, das vieles hier, auch in der Villa Massimo, nur auf antik getrimmt ist. Auf langen Spaziergängen durchstreift er täglich die Stadt, um Inspirationen für den Roman zu sammeln, den er hier zu schreiben gedenkt. Bis er schließlich, durch die Corona-Pandemie gezwungen, seine täglichen Expeditionen einstellen muss. Zu allem Unglück löscht er auch noch versehentlich und unreparabel auf seinem Laptop den fast fertigen, neuen Roman. Er zieht für einige Jahre nach Trastevere um und beschließt, dort über den Filmregisseur Pier Paolo Pasolini zu schreiben. Nach einigen Schwäche-Anfällen entschließt er sich schließlich widerwillig, seinen Hausarzt in Deutschland anzurufen, mit dem er auf sehr vertrautem Fuße steht, er duzt ihn und nennt ihn nur «Min Skipper». Der beordert ihn sofort nach Deutschland zurück, und nach einigen Untersuchungen steht dann fest, dass er Krebs hat. Als Kämpfernatur beschießt er, nicht aufzugeben, sich der Konfrontation mit dem Tod zu stellen. Dieser Weg zurück ins Leben macht den größten Teil der Erzählung aus, er wird äußerst anschaulich und mitreißend beschrieben.

Ein lebensbejahender und Mut machender Roman also, dessen Stärke und Alleinstellungs-Merkmal die eigenwillige und auch eigenständige Sprache ist, in der er geschrieben wurde. Es wimmelt darin nur so von vielerlei Reihungen, wie sie exemplarisch im Zitat vom Einzug der Stare nach Rom zu sehen sind. Der vorwärts drängende, reportageartige Erzählfluss wird auch durch das Weglassen der Subjekte in vielen Sätzen verstärkt, wie nachfolgendes Beispiel zeigt: «Bekomme Krämpfe in den Fingern. Schlafen mir die Arme ein. Kribbeln. Werde vom Schwindelgefühl befallen. Weiß plötzlich nicht mehr, was ich schreiben wollte». Stilistisch verbinden sich hier Wortwitz, lustige Wortspiele und rasanter Sprachrhythmus miteinander, die dem Roman, in Hinblick auf seine Thematik allerdings irritierend, etwas sehr Eigenständiges verleihen.

Fazit:   lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Penguin

Wachs

Wächserne Lektüre

Mit dem Roman «Wachs hat die Schriftstellerin Christine Wunnicke kürzlich schon das zweite Mal einen Platz auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises erreicht, auf der Longlist war sie außerdem schon dreimal vertreten. Auch dieser neue Roman folgt wieder ihrem bewährten Erzählmuster, historisch verbürgte, mehr oder weniger prominente Personen als exzentrische Figuren auszuwählen und sie mit ihren jeweiligen Obsessionen in einem zum großen Teil fiktiven Geschehen agieren zu lassen. Die Autorin selbst hat ihr Roman-Personal als «zerfallende Personen» und «fragmentierte Figuren» bezeichnet, die in ihrem Werk dann ein Eigenleben führen würden. Zu ihrem Stil hat sie an gleicher Stelle angemerkt, sie beschreibe «Zwischenzustände, Grenzüberschreitungen, zweifelhafte Identitäten».

So hat sie auch mit dem vorliegenden Roman wieder ein ganz eigenständiges Werk geschaffen, in dem sich verschiedene literarische Gattungen zu einem im Genre historischer Werke eher seltenen Kurzroman vermischen. Der reichert als gelehrte Groteske real Verbürgtes mit unbeirrt Fiktivem an und erzählt es mit zuweilen parodistischem Einschlag.. Im Mittelpunkt dieser im Paris des 18ten Jahrhunderts angesiedelten Geschichte stehen mit der Anatomin Marie Biheron und der Malerin Madeleine Basseporte zwei historisch verbürgte Frauen im Mittelpunkt. Marie, die anfangs 14jährige Tochter eines Apothekers, besucht einen Kurs im Zeichnen bei der bekannten Malerin Madeleine, die deren Talent entdeckt und zu ihrer Mentorin wird. Im Roman werden sie kurzerhand als lesbisches Paar zusammen geführt, das es dann durch eine List von Marie sogar schafft, kirchlich getraut zu werden. Es lebe die Fiktion! Die reale Marie Marguerite Bihéron war zu damaligen Zeiten als Anatomin eine absolute Ausnahme-Erscheinung nicht nur in Frankreich und weithin bekannt für ihre realistischen Zeichnungen und anschaulichen Wachsmodelle des menschlichen Körpers. Wie gleich im ersten der zehn Kapitel des Romans beschrieben, versucht Marie als blutjunges Mädchen vergebens, beim Militär an die für ihre Obsession benötigten Leichen heran zu kommen. Naiv wie sie ist hat sie nämlich geglaubt, dort müsste es ja viele davon geben, – die erstaunten Soldaten haben nur den Kopf geschüttelt! Aber stur und zielstrebig, wie sie auch ist, findet sie mit Unterstützung ihrer Eltern, abseits der anatomischen Institute, einen illegalen Weg und wird fortan zuverlässig von einem Bestattungs-Unternehmen ‹beliefert›,

Das auch altersmäßig ungleiche Paar findet fortan durch den Verkauf der Zeichnungen von Madeleine und die überall neugierig bestaunten anatomischen Wachsmodelle von Marie ihr Auskommen. Das politische Geschehen vor und während der Französischen Revolution spielt voll mit hinein in einen Plot, in dem den Männern allenfalls Nebenrollen zugedacht sind, so auch für Denis Diderot, der hier Kaffee trinkend als ziemlicher Schwätzer dargestellt wird. Trotz seiner Kürze wird viel erzählt in diesem feministischen Roman, in dem es, mit wilden Zeitsprüngen und gelegentlichen Abschweifungen, vor allem um die Probleme geht, denen Frauen damals ausgesetzt waren. Aber gerade weil diese Hürden ihnen den Weg schwer machten, wurden zielstrebige Kämpfernaturen weiblichen Geschlechts wie die Protagonistin Marie damals zu Höchstleitungen angestachelt und vollbrachten für unmöglich Gehaltenes.

Und genau das ist denn auch die Botschaft dieses historischen Romans, der en passant neben geschichtlichen auch durch anatomische und botanische Details bereichernd wirkt für den Leser. Gelungen sind auch die Passagen, in denen über die verklemmten, religiös oktroyierten Moralvorstelllugen dieser Zeit berichtet wird, über Jungfräulichkeit und ehrbares Verhalten als Frau. Es sind durchweg sympathische Figuren, die den Roman bevölkern, allen voran Marie als willensstarke, autodidaktische Anatomin, Die Sprache, in der all das erzählt wird, ist wohl bewusst, quasi der Zeit geschuldet, etwas altertümelnd gehalten, also weder elegant noch flüssig lesbar, sie erscheint vielmehr in dieser Hinsicht als ziemlich «wächserne» Lektüre!

Fazit:   lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Berenberg Verlag

Sam Shaw: Dear Marilyn

Sam Shaw: Dear Marilyn

Sam Shaw: Dear Marilyn. Am 1.6.2026 wäre die in Los Angeles geborene Norma Jeane Baker 100 Jahre alt geworden. Grund genug jetzt schon das Marilyn Monroe Jubiläum auszurufen und mit vorliegendem, großformatigen Bildband die Schauspielerin und Produzentin zu feiern.

Sam Shaw: Unveröffentlichte Briefe und Fotos von Marilyn

Sam Shaw: Roxbury, CT, 1957

Was zumeist untergeht, ist, dass MM  (1926-1962) nicht nur als Fotomodell und Schauspielerin arbeitete, sondern 1954 die Marilyn Monroe Productions Incorporated in New York gründete und am Actors Studio studierte. Sie hatte alle ihre Hollywoodverträge aufgelöst “Der Prinz und die Tänzerin”, in dem sie auch die Hauptrolle spielte. Mit “Misfits – Nicht gesellschaftsfähig” gelang ihr 1961 der Wechsel ins ernste Rollenfach und sie schrieb erneut Geschichte. Der vorliegende Band ist aber ganz ihrer Filmkarriere gewidmet und zeigt hinreißende Bilder und Dokumente, die bisher noch nicht bekannt waren.

Blowing Skirt Fotos und mehr verflixte Bilder

NEW YORK – SEPTEMBER 1954: Marilyn Monroe with the skirt of her white dress blowing as she stands over a subway grate at the corner of 51st Street and Lexington Avenue in September, 1954 during the filming of “The Seven Year Itch” in New York, New York. (Photo by Sam Shaw/Shaw Family Archives/Getty Images)

Kaum zu glauben, aber es gibt sogar von Marilyn Monroe – sie gilt als die meistfotografierte Person des 20. Jahrhunderts –  immer noch Dinge, die nicht bekannt sind. Sam Shaw, der Hollywoodphotograph, Produzentenkollege und enge Freund Marilyns schoß 1954 die sog. “blowing skirt-Photos” über dem New Yorker Subway-Schacht für die Promotion des Films “Das verflixte 7. Jahr”. Aufgrund eines Rechtsstreits waren diese Bilder allerdings jahrzehntelang blockiert. Um genau zu sein: ganze 71 Jahre! Nachdem dieser Rechtsstreit nun endlich beigelegt ist, veröffentlicht die Familie des 1999 verstorbenen Photographen seine Marilyn-Bilder zusammen mit unveröffentlichten Briefen, in einem großen hochqualitativen Bildband. Insgeheim wird die vorliegende Publikation im Format einer Schallplatte jetzt schon als Auftakt zum Marilyn Centennial 2026 gehandelt.

Dear Marilyn: eine Ikone der Frauenbewegung?

Sam Shaw: Roxbury, CT, 1957

Auf 240 Seiten werden 77 Farb- und 180 Schwarzweiß-abbildungen gezeigt, die Marilyn Monroe beim Telefonieren, am JFK Airport, bei Dreharbeiten über besagtem New Yorker U-Bahn Schatz, mit Arthur Miller vor der Queensboro Bridge, zuhause beim Tanzen in Roxbury, CT oder auch an der Amagansett Beach in NY zeigen. Egal auf welchem Foto und in welcher Position: immer sieht sie frisch wie aus dem Ei gepellt hat, zeigt ihr volles Charisma und erstrahlt. Alle Fotos zeigen eine atemberaubend schöne, selbstbewusste, fröhliche, versonnene, immer überraschende Marilyn, ganz so, wie man sie in Erinnerung behalten möchte. Sam Shaw hatte die Gelegenheit, Marilyn Monroe von 1950 bis in die 1960er Jahre zu begleiten, photographierte sie am Set und privat, korrespondierte mit ihr – damals noch in Briefen – und hielt seine eigenen Erlebnisse in Tagebüchern fest. “Dear Marilyn” – so der liebevoll gemeinte Buchtitel –  schildert den Weg vom Starlet über den Superstar zur unabhängigen Produzentin in drei Akten. Ein eigenes Kapitel ist auch der Entstehung des blowing skirt-Photos gewidmet. zeigen eine atemberaubend schöne, selbstbewusste, fröhliche, versonnene, immer überraschende Marilyn.

Vermächtnis und Ausblicke auf das Jubiläumscentennial 2026

AMAGANSETT, NY – 1957: Marilyn Monroe on the beach in 1957 in Amagansett, New York. (Photo by Sam Shaw/Shaw Family Archives/Getty Images)

Sam Shaw (1912, New York City – 1999, Westwood, New Jersey) begann als Illustrator für Zeitschriften und war ab den 1940er Jahren Photojournalist für Collier’s, Life und Look. In den 1950er Jahren arbeitete er als Setphotograph in Hollywood, u.a. für Elias Kazan (Endstation Sehnsucht, Viva Zapata! mit Marlon Brando) und Billy Wilder (Das verflixte 7. Jahr) und war ab den 1960er Jahren als Produzent, u.a. der Filme von John Cassavetes (Husbands, Eine Frau unter Einfluss, Opening Night, Gloria) tätig. Marilyn Monroe, geb. am 1.6.1926 in Los Angeles als uneheliche Tochter einer Filmcutterin, wuchs bei Verwandten und diversen Pflegefamilien auf. Nachdem sie Ende der 1940er Jahre als Fotomodell und Nachwuchsschauspielerin in Hollywood Aufsehen erregt hatte, gelang ihr 1950 der Durchbruch als Filmschauspielerin. Von 20th Century Fox auf den Typ der naiven, lasziven Blondine festgelegt, avancierte sie mit Filmen wie Niagara, Blondinen bevorzugt, Wie angelt man sich einen Millionär? oder Das verflixte 7. Jahr Anfang der 1950er Jahre zum größten Star in Hollywood und zu einer der bekanntesten und meistfotografierten Frauen der Welt. Ihre wohl berühmteste Rolle ist die Ukulelespielerin Sugar Kane in der Billy Wilder-Komödie Manche mögen’s heiß von 1959, für die sie mit dem Golden Globe ausgezeichnet wurde.

Ihr trauriges Ende – sie starb an einer Überdosis Barbituraten – ist bis heute ungeklärt. Sie starb mit nur 36 Jahren in Brentwood, Los Angeles. Weitere interessante Annäherungen an Mythos und Legende Marilyn Monroe stammen etwa von Joyce Carol Oates und der nach ihren Aufzeichnungen gedrehte gleichnamige Film von Andrew Dominik “Blond”.

SAM SHAW
DEAR MARILYN
DIE UNVERÖFFENTLICHTEN BRIEFE UND PHOTOGRAPHIEN
Mit einem Vorwort von Meta Shaw und Edie Shaw
und einem Text des Photographen
Aus dem Englischen von Haide Paul
240 Seiten, 77 Farb- und 180 Schwarzweißabbildungen
ISBN 978-3-82961046-9
Schirmer/Mosel Verlag
€ 49,80 € (Ö) 51,20 CHF 57,30


Genre: Bildband, Biographie, Fotobuch, Fotografie
Illustrated by schirmer/mosel

Die Ausweichschule

Ein Roman ohne Verleger

Der Schriftsteller Kaleb Erdmann hat mit «Die Ausweichschule» einen Roman über das Schreiben eines Romans geschrieben, der gerade erst in die Shortlist für den diesjährigen Deutschen Buchpreis gewählt wurde. Der Autor thematisiert in diesem Metaroman seine Recherchen zum Amoklauf von Erfurt am 26. April 2002, bei dem ein 19jähiger, ehemaliger Schüler des städtischen Gutenberg-Gymnasiums sechzehn Menschen und anschließend sich selbst erschossen hat. Der damals elfjährige Autor Kaleb Erdmann hat den Amoklauf miterlebt, ohne allerdings mit dem Täter konfrontiert gewesen zu sein oder bei seiner Flucht aus dem Schulgebäude eines der Opfer gesehen zu haben. Es war der letzte Tag der Abiturprüfungen dieses Jahres, dem zwanzigminütigen Massaker fielen elf Lehrer, eine Referendarin, eine Sekretärin, zwei Schüler und ein Polizist zum Opfer. Es dauerte eineinhalb Stunden, bis die Polizei den Täter endlich im Gebäude tot auffand. Das Gymnasium wurde sofort geschlossen, umgebaut und renoviert, der Unterricht in eine «Ausweichschule» verlegt. Alle Betroffenen erhielten für lange Zeit eine intensive psychologische Betreuung nach neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen für derartige Katastrophenfälle.

Zwanzig Jahre später holen die unverarbeiteten Ereignisse von damals den inzwischen als Schriftsteller tätigen Ich-Erzähler eines noch zu schreibenden Romans völlig unerwartet wieder ein. Er beginnt mit intensiven Recherchen, die im Wesentlichen den Handlungsfaden des vorliegenden Romans bilden. Sie sind für ihn stets auch verbunden mit Fragen nach dem Sinn seines Tuns und Zweifeln über dessen Folgen. Die dürften, mit all den späten Erinnerungen, auch die unbewältigten Traumata aller, nicht nur der unmittelbar Betroffenen, hervorrufen, wenn nun die alten Wunden wieder aufgerissen werden. Es geht ihm aber eher ganz allgemein um spezielle Fragen wie die nach den Vorbedingungen solcher Gewaltexzesse, nach ihren unmittelbaren Folgen, möglichen Erkenntnissen und Konsequenzen, und natürlich auch um die Spätfolgen und die mentalen Schäden, die dauerhaft zurückbleiben. Denn der Ich-Erzähler selbst hat zwar, wie es im Buch heißt, «keinen Mord und kein Blut gesehen», er ist seit damals aber traumatisiert und angstgestört. Ihn treibt ständig die Frage um, wie man über eine derartige Gewalttat denn überhaupt schreiben könne.

Zunächst zieht er dazu das 2004 erschienene und kontrovers diskutierte Buch von Ines Geipel heran, das sich unter dem Titel «Für heute reicht’s» dokumentarisch mit dem Amoklauf von Erfurt befasst. Darin wirf sie den Sicherheitskräften Versagen vor und den Rettungskräften unprofessionelles Handeln. Dem widerspricht die von der Landesregierung eingesetzte «Gasser-Kommission» in ihrer ausführlichen Dokumentation vehement, es habe allenfalls Mängel bei der Kommunikation während des Einsatzes gegeben, die jedoch folgenlos geblieben seien. Sie widerspricht auch der Darstellung von Ines Geipel, die als Ego-Shooter bezeichneten Ballerspiele am Computer seien Schuld an der unfassbaren Verrohung des jugendlichen Täters gewesen. Schließlich nimmt der Ich-Erzähler auch noch Kontakt zu einem im Roman nur als «Dramatiker» benannten, schreibenden Kollegen auf, der gerade ein Bühnenstück über den Fall verfasst. Sie treffen mehrmals zusammen und tauschen sich auch telefonisch lebhaft aus über ihr jeweiliges literarisches Projekt.

Man kann den geschilderten Schreibprozess des Ich-Erzählers als Reise in das eigene Ich deuten, wobei ja eine besondere Schwierigkeit darin besteht, nicht in Voyeurismus abzugleiten, bloß nicht die Sucht nach Horror-Darstellungen zu bedienen, was hier auch überzeugend gelungen ist. In der interessanten Rahmenhandlung mit dem Schreibprozess geht es durchaus auch ironisch zu, wobei die Figur des Ich-Erzählers in seiner Schusseligkeit und Fress- und Saufsucht allerdings wenig sympathisch wirkt. Letztendlich feiert dann das Bühnenstück des «Dramatikers» seine Premiere, während der Roman, dessen Entstehen man mitverfolgen konnte, ironischer Weise keinen Verleger findet!

Fazit:   lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Ullstein Berlin

Katzentage

Ewald Arenz: Katzentage

Katzentage. “Manchmal ist das so. Dann ist die ganze Welt nur Kulisse für das eine kurze Stück, das unser Leben heißt.” Der Oktober steht  vor der Tür und damit die schönste Jahreszeit, mit so vielen Schattierungen, wie die Blätter Farben haben. Von Ewald Arenz stammen die herbstlichen Worte, von Florian Bayer die verführerischen Bilder.

Eine wunderschöne Erzählung, so leicht wie…

Ewald Arenz hat eine wunderschöne Erzählung, so leicht wie ein Radausflug an einem sonnigen Herbsttag geschrieben. Zwei Fremde, Paula und Peter, landen aufgrund eines Bahnstreiks – ungewollt und unverhofft – in dem Mainstädtchen Würzburg. Sie beschließen, das Beste aus der Situation zu machen und nehmen sich ein malerisches B&B in einem Garten. Peter, den Paula ursprünglich für einen langweiligen Juristen hielt, entpuppt sich als witziger Gesellschafter und Reisegefährte. Er arbeitet in der Verwaltung derselben Klinik, wo sie eine Arztstelle hat. Aber außer ein paar gemeinsamen Kantinenbesuchen hatte sich zwischen ihnen nicht so viel getan. Alles rein freundschaftlich natürlich, denn die Arbeit läßt mehr als das kaum mehr zu. Doch dann bietet sich ihnen da dieses Fenster: eine Auszeit, eine Flucht aus ihrem Leben und ihrem Alltag. “Katzentage“, nennt der Autor diese Seinsform, “ein paar gestohlene Oktobertage“, eine Auszeit vom Alltag.

…Ein Radausflug an einem sonnigen Herbsttag

Im Herbst wird man immer ein wenig atemlos von der Schönheit, die man so besonders nur jetzt mit allen Sinnen aufnimmt“, sagt Peter, der Poet. “Das sind die leuchtenden Tage, die am Ende entscheiden, ob ein Leben gut war oder nicht“, erwidert Paula, die Sinnliche. Bei einem ersten Spaziergang prickelt es zwischen den beiden schon und das mag nicht nur am Wein liegen. Ein Kuss am Friedhof, was für Peter immer ein Spielplatz der Kindheit war und immer noch, Jahrzehnte später, das Gefühl des Nachhausekommens bei ihm auslöst, verbindet die beiden. “Manches muss ja im Herbst gesät werden“, sagt Peter hoffnungsvoll, “dass es im Frühjahr blüht und Frucht im Sommer trägt“. Aber Paula zögert noch, ziert sich, denn sie will vor allem den Moment, den Augenblick genießen und sich nicht zu viele Gedanken über die Zukunft machen. Ein gemeinsames Wochenende haben sie und so mieten sie sich zwei Fahrräder und genießen den Herbst und seine “tausend Schattierungen“. “Jeder muss für sich selbst entscheiden, ob er Glück oder Wehmut, Abschied oder Anfang bedeutet”, meint Peter verheißungsvoll, doch dann taucht plötzlich eine Katze auf, die alles verändern wird. Vor allem das Leben der beiden.

Einfach Katzentage im Oktober…

Eine bestechende Geschichte, bebildert mit verführerischen Illustrationen, die das schöne Leben genauso feiern wie die Liebe. Die Leichtigkeit des Seins zelebriert mit einem rührenden Ende. Eine Katze müsste man sein. Oder zumindest wieder einmal ein paar solcher Katzentage erleben.

Ewald Arenz/Florian Bayer
Katzentage
Illustrierte Erzählung
ISBN: 978-3-7558-0056-9
2025, Hardcover, 128 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag, farbigem Vorsatzpapier und Lesebändchen
DuMont Verlag
22,00 €

Ewald Arenz, 1965 in Nürnberg geboren, hat englische und amerikanische Literatur und Geschichte studiert. Er arbeitet als Lehrer an einem Gymnasium in Nürnberg. Seine Romane und Theaterstücke sind mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet worden. Mit ›Alte Sorten‹ (DuMont 2019) stand er auf der Liste »Lieblingsbuch der Unabhängigen« 2019 und ›Der große Sommer‹ (DuMont 2021) erhielt 2021 ebenjene Auszeichnung. Zuletzt erschien ›Zwei Leben‹ (DuMont 2024).

Florian Bayer ist freier Illustrator aus Esslingen bei Stuttgart. Seit 2007 illustriert er u. a. für Der Spiegel, Die Zeit, Süddeutsche Zeitung und FAZ. Seit 2023 ist er Professor für Illustration an der Merz Akademie, Hochschule für angewandte Kunst, Design und Medien, Stuttgart. Seine Arbeiten wurden mehrfach ausgezeichnet, u. a. mit dem World Illustration Award, dem European Design Award und dem German Design Award.


Genre: Erzählung, Illustrationen
Illustrated by DuMont

Das Bildnis des Dorian Gray

Das Bildnis des Dorian Gray

Die Jugend lächelt auch ohne Grund. Das ist einer ihrer Reize“, so der Lebemann Lord Henry, der eine wichtige Rolle in dem Dark-Romance Klassiker von Oscar Wilde spielt, der zu einem Kultbuch seiner Generation und darüber hinaus wurde. Schließlich prägte er darin nicht nur den Begriff des Dandy, sondern auch den Verfall des viktorianischen Zeitalters.

Fin de siècle – Fin du globe

Dieses “hirnlose, schöne Geschöpf”, wie Lord Henry Dorian Gray bezeichnet, wird von Basil Hallward in einem unvergleichlichen Bild porträtiert. Aber das Gemälde entwickelt schnell ein Eigenleben. Statt dass das Modell, Dorian, altert, altert das Bild und legt sich wie ein Fluch über das Leben des jungen Adonis. Denn nicht nur dass er ewig jung bleibt, es schaden ihm auch keine Exzesse oder Versuchungen mehr, allein sein Porträt nimmt Schaden. Alsbald in den Dachboden verdammt spielt es die Rolle, die Freud dem “Es” zuteilte: in den Keller damit. Bei Oscar Wilde wird das Bild zum Sinnbild der Seele, der Lebemänner wie Lord Henry längst abgeschworen haben. “Das einzig Schreckliche in der Welt ist ennui, Darian. Das ist die einzige Sünde für die es keine Vergebung gibt”, ermuntert Lord Henry seinen jungen Schützling zu immer weiteren Exzessen. “Nein, wir haben den Glauben unseren Glauben an die Seele aufgegeben. Spiel mir etwas! Spiel mir ein Nocturne”, fordert Lord Henry Dorian Gray am Ende des Romans dann nochmals auf, bevor er zu einer Lobpreisung der Jugend ansetzt und Dorian in den White’s Klub einlädt. Denn die Jugend wird von Lord Henry wie ein neuer Gott angebetet, allein, sie bleibt auch für ihn unwiederbringlich, der den armen Dorian in seinen eigenen Abgrund mitreißt. Lord Henry ist aber auch die bunteste und schillerndste Figur des vorliegenden Romans. Seine Sinnsprüche und Weisheiten vor allem über die Frauen aber auch das Leben sind Legende. “Pünktlichkeit stiehlt einem nur die Zeit” sagt Lord Henry oder “Vielleicht sieht man nie so gut aus, wie zu der Zeit, in der man eine Rolle zu spielen hat”. Über das andere Geschlecht scheint er ganz besonders Bescheid zu wissen: “Frauen lieben uns wegen unseren Fehlern. Wenn wir derer genug haben, verzeihen sie uns alles, selbst unseren Verstand.” Oder: “Ein Mann kann mit jeder Frau glücklich sein – solange er sie nicht liebt.” Doch genau das geschieht mit Dorian, denn er verliebt sich in die junge Schauspielerin Sybil Vane, die sich wegen ihm das Leben nimmt. Daraufhin beginnt das Bild von Basil zu altern, denn jedes Mal dann, wenn sich Dorian Versuchungen und Sünden ergibt, nimmt nicht er Schaden, sondern das Porträt. “Eine wilde Angst vor dem Tod hatte ihn erfasst und dabei war ihm das Leben gleichgültig geworden”, schreibt Oscar Wild in Vorwegnahme der noch kommenden Ereignisse. Seinen Dark Romance Klassiker schrieb er auf einem Vulkan, 1891, wenige Jahre später versiegte er: 1900, die Jahrhundertwende erlebte er gerade noch. Für ihn wurde das Fin de siècle allerdings zum Fin du globe – dem Ende seiner Welt.

Ein Roman und seine Folgen

Oscar Wilde rächt sich aber auch an der Provinz und der dem Untergang geweihten Gesellschaftsschicht, dem Adel: “Auf dem Lande kann jeder gut sein, da gibt es keine Versuchungen. Das ist der Grund warum die Leute, die nicht in der Stadt wohnen, so ganz und gar ohne Kultur sind. Kultur ist eine Sache, die keineswegs leicht zu erreichen ist. Es gibt nur zwei Wege, zu ihr zu kommen. Der eine heißt Bildung, der andere Verdorbenheit. Die Leute auf dem Lande haben zu beiden keine Gelegenheit, darum stagnieren sie.”, lässt er Lord Henry sagen. Und seine Schwester, die Herzogin Gladys Wotton legt noch nach: “Wissen wäre verhängnisvoll. Die Ungewissheit reizt einen. Ein Nebel macht die Dinge wundervoll.” Die vorliegende Ausgabe des von Hedwig Lachmann und Gustav Landauer übersetzten Romans wurde von Benjamin Lacombe illustriert. Im Anhang befindet sich auch ein Bilderzyklus der zeigt, wie der Verfall des Gemäldes von Basil Hallward ausgesehen haben könnte. Außerdem wurde das lesenswerte Nachwort vom Neffen von Oscar Wilde, Merlin Holland, verfasst, der darin die Entstehungsgeschichte des einzigen vollendeten Romans seines Großvaters nachzeichnet. Oscar Wilde hatte ihn mit 35 geschrieben, verheiratet, zwei Kinder, von Rezensionen von Büchern und Theaterstücken lebend und – schwul. Für den Dorian Gray wurde er vom Vater seines Liebhabers Alfred Douglas, dem Marquess von Queensberry, der Sodomie beschuldigt. Wilde’s Klage ging nach hinten los und brachte ihn um seinen Ruf und seine Freiheit. Die vom Gericht inkriminierten Passagen, die ein homosexuelles Verhältnis zwischen Basil und Dorian suggerieren, sind in vorliegender Ausgabe in eckige Klammern gesetzt. Auch dadurch ergibt sich eine besonders delikate Lektüre. Gerade wenn man bedenkt, was Wilde in einem Brief geschrieben hatte: “Basil Hallward ist das was ich denke, Lord Henry ist das, was die Welt von mir denkt; Dorian Gray ist das, was ich gerne sein würde.” In den Bau ging Oscar Wilde schließlich nicht wegen dem Roman Dorian Gray, sondern wegen Unzucht. Aber Dorian hatte ihn davor auch nicht bewahren können: Oscar Wilde war gesellschaftlich ruiniert. Ihm fehlte die Bühne.

Oscar Wilde
Das Bildnis des Dorian Gray
Übersetzung von Hedwig Lachmann und Gustav Landauer
Mit Illustrationen von Benjamin Lacombe
Serie: Papillon Noir
2024, Hardcover, Halbleinen mit Kupferprägung. Mit transluziden Seiten und durchgehender Vierfarbigkeit
ISBN-13: 9783964282231
Verlagshaus Jacoby Stuart
€ 51.-

 


Genre: Illustrationen, Krimi, Roman, Romance
Illustrated by Coppenrath

What Goes Up Must Come Down. Kleine Geschichte der Popmusik

Whatever goes up must come down Eine kleine Geschichte der Popmusik

Der österreichische Musiker und inzwischen auch Schriftsteller Hans Platzgumer bezieht sich im Titel seines neuesten Buches auf einen Song von Blood, Sweat & Tears. Sein Essay über das “Gravitationsgesetz des Pop” wird mit einer Playlist und einem “Hidden Track” ergänzt und erschien im Frühjahr 2025 in der Reihe “Bibliothek des Alltags//Beutezüge im Bekannten” im Wiener bahoe books Verlag in einem poppigen Cover mit Goldleineneinband.

Auf Schreien folgt Schweigen. Reverse.

Abgesehen von seiner eigenen Lebensgeschichte als Frontman diverser Bands wie Capers, KÖB, H.P. Zinker, Convertible u.v.a.m. und Beispielen aus der Popwelt der Sechziger bis heute, verwendet Platzgumer als kulturtheoretischen Klebstoff auch den Klassiker von Guy Debord, “Gesellschaft des Spektakels”, das schon 1967 die wesentlichen Elemente unserer heutigen Realität vorwegnahm, als Grundlagen für sein lesenswertes Essay. Guy Debord formulierte quasi als erstes, dass unsere direkte Erfahrung schrittweise durch mediale Repräsentationen verdrängt wird. Widerstand und Kritik könnten dem nur durch eigenes Handeln entgegengesetzt werden. Wer sich das umfangreiche Oeuvre des Autors und Musikers ansieht, sein Lebenswerk, wird zugeben müssen, dass der aus dem kleinstädtischen Milieu des Innsbrucks der Achtziger Jahre genau das getan hat. Vom aufbegehrenden Punkmusiker seiner ersten Platte “Tod der CD” entwickelte sich der inzwischen 56-jährige Musiker zu einem New Yorker Grungerockmusiker der frühen Neunziger hin zu einem elektronischen Musiker, der sich Jahre später dann doch wieder die Gitarre umschnallte. Auf John Cage rekurrierend, der schon 1952 mit “4’33” die Grundlagen für das legte, was später als Ambient oder Musique concrète bezeichnet wurde, darf man vielleicht auch Platzgumer eine gewisse Entwicklungsfähigkeit in seinem musikalischen Schaffen attestieren. Denn auf den Lärm (des Punks und Rocks) folgte auch bei ihm die Stille (des Schriftstellers). Auf Schreien, Schweigen. Und umgekehrt.

Pop zwischen Ursache und Wirkung

Seine Grundannahme ist, dass der Mainstream auch durch den Underground beeinflusst werde und es ohne den Austausch der beiden keine Entwicklung im Pop gebe. Platzgumer bemerkt außerdem, dass jede Rebellion ihren Sound gehabt hätte und es diese heute einfach nicht mehr gebe. Dabei verwechselt er tatsächlich Ursache und Wirkung, denn nicht der Sound macht die Rebellion, sondern die Rebellion erzeugt den Sound. Im Sinne des Ressource Mobilization Ansatzes der US-amerikansichen Sozialbewegungsforschung sind es nämlich tatsächlich die frei werdenden Ressourcen und Bündnisfähigkeiten, die den Erfolg einer sozialen Bewegung ermöglichen. Die Ästhetik des Punk wurde etwa z.B. wesentlich durch das Billigerwerden von Kopierern bestimmt, die es ermöglichte Flugblätter massenhaft zu erzeugen und zu verbreiten. House resp. Techno entstand wiederum durch das Billigerwerden des Roland Sytnhies. Damit wären wir auch wieder bei Guy Debord. Denn die heutigen Ressourcen sind ganz klar von social media bestimmt und erzeugen somit auch deren Ästhetik. In Platzgumers Fall war es übrigens ein altes Röhrenradio, an das er seine erste Gitarre anschloss, was ihn dann zum Punk führte. Der von Platzgumer angenommene Austausch zwischen Oben und Unten, also Mainstream und Underground, unterliegt allerdings vielmehr der Akzeleration der Verwertungsmechanismen des postfordistischen Akkumulationsregimes des Spätkapitalismus, in dem ganz einfach alles dem Profit untergeordnet ist. Und das eben immer schneller. Die Akzeleration (Beschleunigung des Wachstums) ist heutzutage durch social media sogar so schnell, dass es gar keinen Mainstream oder Underground mehr gibt, die Grenzen verwischen. Was nicht bedeutet, dass oben=unten oder unten=oben.

Smells like… Akzelaration

Dass nämlich ausgerechnet Kathleen Hanna der Grrrls Riot Band Bikini Kill für den Jahrhunderthit “Smells Like Teen Spirit” von Nirvana verantwortlich zeichnet und der Mainstream und Underground 1991 dank permanenter MTV-Rotation zu einer schrillen Synthese verschmolz, ist sicherlich ein Beweis für die immer schneller werdende Akzeleration des Kapitals. Durch die Seismographen des Internets kann etwas Neues aus dem sog. Underground sofort zu einem Mainstream-Trend werden. Sozialveränderndes Potential traut Platzgumer allein noch dem Hip Hop zu, der in immer neuem Gewande die Mainstreamkultur aufbreche. Die Sex Pistols im Vorprogramm (als “support act”) von Guns’n’Roses in diesem Wiener Sommer im Wiener Prater Stadion vor 43.000 Leuten ist somit nur ein weiteres Beispiel für die Richtigkeit von Debords Theorie der Gesellschaft des Spektakels: als Menschen treten wir nicht mehr direkt in Beziehung zur Wirklichkeit oder zueinander, sondern vor allem zu Bildern, Repräsentationen und Inszenierungen. Realität wird als Spektakel vermittelt – durch Medien, Werbung, Konsum, Politik in Form von Bildern und Inszenierungen, so Debord 1967 (!). “What Goes Up Must Come Down” von Hans Platzgumer ist ein interessantes Essay, das die mit Popmusik assoziierte Rebellion in den Mittelpunkt stellt – sowohl als eigene Lebenserfahrung des Autors als auch als neues Akkumulationsregime des Spätkapitalismus spätestens seit den Sechzigern. Auch diese Wechselbeziehung beruht im übrigen auf der Ausbeutung von Ressourcen.

Hans Platzgumer
What Goes Up Must Come Down
Kleine Geschichte der Popmusik
2025, Hardcover mit Goldleineneinband, 128 Seiten, Format 14x22cm
ISBN 978-3-903478-41-1
bahoe books
€ 24,00


Genre: Essay
Illustrated by Bahoe Books