Der talentierte Mr. Ripley

Der talentierte Mr. Ripley

Der talentierte Mr. Ripley. Eine sensationelle Neuverfilmung des 1955 erstmals erschienenen Romans der Texanerin Patricia Highsmith wirft die Scheinwerfer wieder auf das eigentliche Original. Der Roman, der 2024 in einer Neuübersetzung bei Diogenes erschien, legte eine Steilvorlage für die Miniserie “Ripley” von Steven Zaillian.

Doppelmord und Doppelleben

Tom Ripley lebt in New York. Vielleicht sollte man besser sagen “überlebt” in NYC, denn er hält sich durch Steuerbetrügereien und andere Gaunereien mehr oder weniger über Wasser. Außerdem ist ihm die Polizei auf den Fersen und es wird immer enger um ihn. Da bietet sich ihm eine einzigartige Gelegenheit. Herbert Richard Greenleaf, der Vater eines alten Freundes, “Dickie”, setzt sich mit ihm in Verbindung und bittet ihn um einen Gefallen. Dickie hat sich nämlich nach Europa abgesetzt und lebt irgendwo in der Nähe von Neapel, in einem kleinen Ort namens Mongibello. Dort will er Maler werden und dem Dolce Vita oder vielleicht eher doch dem dolce far niente frönen. Seine Mutter hat Leukämie und nur mehr ein Jahr zu leben und deswegen bittet sein Vater nun Tom Ripley seinen verlorenen Sohn wieder in die Heimat zurückzuholen. Er zahlt ihm dafür ein ordentliches Salär und natürlich sind auch die Reiskosten und andere Spesen mitinbegriffen. Greenleaf Sen. ist ein steinreicher Reeder und will, daß sein Sohn in seine Fußstapfen tritt und das Familienimperium übernimmt. Tom übernimmt den Auftrag vorerst ohne böse Gedanken, im Gegenteil, er offenbart sich sogar Dickie, dass sein Vater ihn geschickt habe und ihm auch alles bezahle. Diese Ehrlichkeit bricht das Eis zwischen dem zuerst reservierten Dickie und Tom und bald beginnen sie eine Männerfreundschaft, die die ebenfalls in Mongibello lebende amerikanische Schriftstellerin Marge ganz schon eifersüchtig macht. Denn eigentlich erwartet sie von Dickie, dass er ihr den Hof macht. Doch dann kommt alles ganz anders.

“A Month of Sundays”

Mit stilsicherer Brillanz beschreibt Patricia Highsmith das Innenleben eines – so viel darf verraten werden – Mörders, der immer mehr in seine Rolle hineinwächst und sich darin sogar selbst übertrifft. Seine Schizophrenie führt ihn sogar in eine Maskerade (“Travestie”), ein Doppelleben, das sich am Ende genau als das beste Werkzeug herausstellt, die Behörden zu überlisten. Einfühlsam beschreibt Highsmith wie sich der Emporkömmling in der Rolle des reichen Reedersohnes fühlt und beginnt, sein Leben als “ein anderer” endlich zu genießen. Er füllt die Rolle so gut aus, dass selbst der Vater und Marge, die Dickie am nächsten Stehenden und sogar seine Freunde von ihm an der Nase herumgeführt werden. Die homoerotische Spannung und leicht homophobe Stimmung passt perfekt in das Milieu der Zeit in der die Handlung spielt. Der Roman “Der talentierte Mr. Ripley” habe – so Paul Ingendaay im Nachwort – “durch Charme und Skrupellosigkeit die moralische Wertskala der Suspense-Gattung auf den Kopf gestellt” und ihn, Ripley, als “Traum aller Schwiegermütter” inszeniert. Denn er ist stets aufmerksam und höflich, ganz weltmännisch wie ein Kosmopolit. “Als müsste sie für das Los der lesbischen Liebe mildernde Umstände finden, kritisiert die Autorin bei heterosexuellen Paaren Bequemlichkeit, Selbstbetrug und erstarrte Rituale“, fasst Ingendaay ihre gesellschaftspolitische Perspektive zusammen. Mit “Der talentierte Mr. Ripley” hat Patricia Highsmith zudem einen ersten Serienhelden erschaffen, dessen Abenteuer sämtlich bei Diogenes in einer erweiterten Neuauflage erschienen sind. Ursprünglich hätte der Roman übrigens nach seinem Leitmotiv “A Month of Sundays” heißen sollen.

Fortsetzungen und Verfilmungen

Darunter: Ripley Under Ground, Ripley’s Game, Ripley Under Water, Der Junge, der Ripley folgte, etc. Übrigens soll auch die kongeniale Verfilmung von Steven Zaillian mit Andrew Scott fortgesetzt werden. Material an Steilvorlagen hat Patricia Highsmith auf hohem Niveau jedenfalls bereits geliefert, schön, dass die filmische Umsetzung so gut gelungen ist. 20 Jahre nach der Verfilmung mit Matt Damon übertrifft “Ripley” von Steven Zaillian mit Andrew Scott in der Hauptrolle alle Erwartungen an eine gelungene Literaturverfilmung. Auch Highsmiths Romanerstling “Zwei Fremde im Zug” wurde übrigens verfilmt: von Alfred Hitchcock. Er machte sie über Nacht berühmt.

Patricia Highsmith
Der talentierte Mr. Ripley
Herausgegeben von Paul Ingendaay und Anna von Planta.
Aus dem amerikanischen Englisch von Melanie Walz.
Mit einem Nachwort von Paul Ingendaay und einer editorischen Notiz von Anna von Planta
2024, Taschenbuch, 432 Seiten
ISBN: 978-3-257-24764-0
Diogenes
€ (D) 14.00 / sFr 19.00* / € (A) 14.40


Genre: Literaturverfilmung, Roman
Illustrated by Ansata / Penguin Random House, Diogenes Zürich

Panikherz

Wenn man den Cover-Text von „Panikherz“ liest, befürchtet man, dass da jemand mit Promi-Voyeurismus den schnellen Euro machen will. Aber ist nicht schon der Erwerb des Buches ein untrügliches Indiz dafür, dass man für diese Marketingstrategie empfänglich ist? Ok, erwischt. Weiterlesen


Genre: Autobiografie, Belletristik, Popliteratur, Roman
Illustrated by Kiepenheuer & Witsch Köln

Das stille Haus

Ein gar nicht stiller Roman

Der zweite Roman des türkischen Schriftstellers und Literatur-Nobelpreisträgers Orham Pamuk erschien 2009, erst 26 Jahre nach seiner Erstveröffentlichung, unter dem Titel «Das stille Haus» auch in deutscher Übersetzung. Nach eigenem Bekunden zählen hauptsächlich westliche Schriftsteller zu seinen Vorbildern, unter anderem auch Thomas Mann, an dessen «Buddenbrooks» dieser vergleichsweise kurze Familienroman auch tatsächlich erinnert. Allerdings weicht Pamuk stilistisch sehr deutlich von dessen altväterlich konventioneller, chronologischer Erzählweise ab. Er lässt nämlich multi-perspektivisch gleich fünf Ich-Erzähler abwechselnd und über drei Generationen hinweg in vielerlei Rückblenden auftreten.

Die Rahmengeschichte handelt von einem siebentägigen Treffen der Familie im Juli 1980, das im Haus der 90jährigen Großmutter in Cennethisar am Marmarameer stattfindet. Dabei wird ein sehr differenziertes Bild der türkischen Gesellschaft gezeichnet. Das Spannungsfeld zwischen orientalischer Tradition und europäischer Moderne wird sehr anschaulich am Beispiel dieser Familie aus dem Mittelstand gespiegelt. Beginnend bei der Geschichte des Großvaters Selâhattin, der als Arzt ein dem Regime unangenehmer Aufklärer war und deshalb aus Istanbul in die Provinz verbannt wurde, um ihn mundtot zu machen. Dort in der Provinz verfällt er dem Alkohol, vernachlässigt seine Arztpraxis und muss mit dem Verkauf des Familienschmucks seiner Frau den Lebensunterhalt finanzieren. Geradezu besessen widmet er sich als nihilistischer Aufklärer einer «Enzyklopädie» zur Reform der türkischen Gesellschaft, die sein Lebenswerk werden soll, bei seinem Tod aber unvollendet bleibt. Selâhattin war mit Fatma verheiratet, der gastgebenden Großmutter, die aus dem traditions-bewussten, konservativen Großbürgertum von Istanbul stammt und seine politische Orientierung strikt ablehnt. Aus einer außerehelichen Beziehung zu seinem Dienstmädchen stammen die zwei Söhne des Großvaters, der kleinwüchsige Recep und der nach einem Beinbruch hinkende Ismail, der als Losverkäufer arbeitet. Außerdem nehmen an dem Treffen während der Sommerferien kurz vor dem Militärputsch von 1980 auch drei Enkel teil: Faruk, Dozent für Geschichte, ferner die Soziologie-Studentin Nilgün und der Gymnasiast Metin.

Ein Großteil der Familiengeschichte wird von der vereinsamten Großmutter Fatima erzählt, die kaum noch ihr Schlafzimmer verlässt und in schlaflosen Nächten endlos ihre Vergangenheit Revue passieren lässt. Dabei sinniert sie auch über die früheren Konflikte mit den beiden unehelichen Kindern ihres Mannes, und folglich werden diese Reminiszenzen der alten Dame im Roman auch durch den kleinwüchsigen Recep ergänzt. Der berichtet als unerwünschter Halbverwandter über sein problematisches Leben als Lakai und beklagt sich über die Hausherrin, die einst recht ruppig mit ihm und seinem humpelnden Bruder umgegangen ist. Das würde Fatima am liebsten ungeschehen machen und schweigt sich reuevoll darüber aus. Während der gemeinsamen Ferienwoche am Marmarameer diskutieren die Besucher vehement untereinander und mit der Großmutter, wobei sich die politischen Gräben quer durch die Familie ziehen und so Generationen übergreifend den soziologischen Wandel in der Türkei veranschaulichen.

Stilistisch arbeitet Orhan Pamuk in seinem vielschichtigen, sehr sprunghaft angelegten und dadurch nicht immer leicht nachvollziehbaren Plot mit lebhaften, stimmigen Dialogen. Zudem benutzt er neben der multi-perspektivischen, rein personalen Erzählweise häufig auch die Innere Rede als Stilmittel für seine Figuren, die dann oft auch noch in Form des Bewusstseinsstroms seine Erzählung thematisch vorantreiben. Der historische Kontext dieses Romans wird von den zwei Militärputschen der Jahre 1908 und 1980 markiert, ohne dass hier allerdings diese politischen Aspekte im Vordergrund stehen. Eine  arabeskenartig ausgeschmückte, dabei aber auch historisch und soziologisch aufschlussreiche Lektüre – aus einem gar nicht so «stillen Haus» übrigens – wartet auf wissbegierige und aufnahmefähige Leser!

Fazit:   erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Hanser Verlag München

Einen Vulkan besteigen

Am Rande des Schweigens

Mit ihrem Band von Kurzgeschichten unter dem Titel «Einen Vulkan besteigen» folgt die Schriftstellerin Annette Pehnt ihrem ganz eigenen Stil der radikalen Reduktion, zu dessen Vorbildern John Steinbeck gehört, dem sie als erste ihrer Veröffentlichungen ein eigenes Werk gewidmet hat. In abgemilderter Form erinnert ihr Stil auch an Castle Freeman, einen weiteren amerikanischen Autor, der ebenso erfolgreich mit kargen sprachlichen Mitteln arbeitet und trotzdem im Kopf des Lesers viel bewegt. Hier steht also die sprachliche Knappheit dem ausufernden, weitläufigen Erzählen vieler literarischer Klassiker diametral gegenüber. Erstaunlicher Weise aber wird die Leserschaft emotional dabei nicht minder tiefgründig berührt, sie reagiert seelisch nicht weniger betroffen als bei den Geschichten der großen Meister mit den kunstvoll konstruierten, langen Schachtelsätzen. Einen Theodor Fontane beispielsweise liest man gerne allein seines grandiosen Plaudertons wegen, auch wenn, wie in seinem Alterswerk «Der Stechlin», so gut wie nichts passiert auf 500 Seiten, wie er selbst bekannt hat. Bei Annette Pehnt hingegen passiert emotional unglaublich viel auf drastisch reduzierten, kurzen Flattersatz-Zeilen.

Im Nachwort erklärt sie: «Ich wollte wissen, was entsteht, wenn ich (radikaler als sonst) im Schreiben alles Überflüssige weglasse. Was geschieht mit der Sprache, wenn ich sie konsequent entschlacke, dass keine Füllwörter, keine verschachtelten Sätze, keine Abschweifungen, keine elaborierten Metaphern mehr Platz haben»? Und weiter: «Welche Räume öffnen sich, wenn ich am Rande des Schweigens entlang schreibe»? Impuls war für sie das Regelwerk der «Leichten Sprache«, und so steht denn auch in diesem Band nahezu jeder Satz in einer eigenen Zeile, Zeitsprünge und Perspektiv-Wechsel werden konsequent vermieden. Sie wolle damit Lesern «Räume zwischen den Zeilen» eröffnen.

Die Ich-Erzähler oder -Erzählerinnen, deren wahre Identität sich oft erst nach einer ganzen Seite herausstellt, berichten von ihren ureigensten Sehnsüchten, Ängsten, Hoffungen, Irrtümern und Widersprüchen. Dabei ergibt sich Alles als geradezu zwangsläufig, und Vieles liegt in der Einsamkeit der Figuren begründet und in ihrer Sprachlosigkeit. Sei es der Wunsch nach einer Schwester, die Nöte der Schwangerschaft, das Alleinsein, wenn die Kinder aus dem Hause sind, das Erlebnis einer Komponistin bei der ersten Aufführung ihres Werks. Thematisiert werden auch die psychotischen Ängste eines Vaters, die Fehlinvestition in ein vermeintlich idyllisches Landhaus, die Nöte eines Politikers, eine Flucht von Kindern aus der beengenden Wohnung in den Wald, die Erfolge eines smarten Bruders, der Tod eines Vaters, die Verwahrlosung einer Katzen-Närrin, ein gelungener Studienabschluss, die Vulkanbesteigung als menschliche Herausforderung. Weitere Themen sind Fitnesswahn, der grausame Tod einer Schnecke, eine Wohnungsauflösung nach dem Tod des Vaters, der Umgang mit Tieren, eine geplatzte Verabredung, eine unerquickliche Liaison, das Phänomen der Muttermilch, Erlebnisse eines Fährmanns, Verlust eines Goldrings, die Zumutungen von Patienten eines Arztes, ein seltsames Kranichhotel, eine plötzliche Erkrankung, eine schwierige Geschenkauswahl, Erlebnisse einer selbsternannten, manischen Müllsammlerin im Stadtpark, der Tod des Vaters beim Schwimmen, das plötzliche Alleinsein zweier Kinder und der vermeintliche Gewinn einer teuren Kreuzfahrt.

All das zeigt in seiner Knappheit ein auf das Wesentliche reduziertes Bild des Menschseins. Unter dieser narrativen Oberfläche findet eine dem Titel entsprechende Gratwanderung durch das menschlich Allzumenschliche statt. Die sprachlich nicht immer voll gelungene, stilistische Reduzierung regt gleichwohl den Leser zu erstaunlichen Reflexionen über hochkomplexe Themen an. Man fragt sich aber unwillkürlich, an welche Leser die Autorin sich damit wenden will, denn sprachlich affine dürfte sie eher verschrecken. Aber der Mut zur Reduktion ist gleichwohl zu loben, und das Ergebnis ihres kühnen stilistischen Experiments ist zudem durchaus überzeugend!

Fazit:   erfreulich

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Genre: Kurzgeschichten und Erzählungen
Illustrated by Piper Verlag München

Baba Dunjas letzte Liebe

Ein Wink an den Leser

Die in Russland geborene und seit Anfang der Neunziger Jahre in Deutschland lebende Alina Bronski hat mit «Baba Dunjas letzte Liebe» einen Roman geschrieben, der an das Reaktorunglück von Tschernobyl im April 1986 anknüpft. Sie beschreibt, wie alte Menschen trotz der Strahlung in die Todeszone zurückkehren und dort ihren Lebensabend verbringen. Der in dem fiktiven Ort Tschernowo angesiedelte Roman basiert auf der Realität, denn tatsächlich leben dutzende meist ältere, ehemalige Einwohner inzwischen wieder dort.

Von allen nur Baba Dunja genannt, also Oma Dunja, ist die Ich-Erzählerin als Erste wieder nach Tschernowo zurückgekehrt, in ihre Heimat, der einzige Ort, an dem sie sich wohl fühlt. Früher war sie mal medizinische Hilfsschwester, ihr Mann ist gestorben, die beiden Kinder leben im westlichen Ausland. Der Enkel ist nach Kalifornien oder Florida gegangen, so genau weiß sie das nicht, ins Warme jedenfalls, sie hat keinen Kontakt mehr mit ihm. Ihre Tochter Irina arbeitet als Chirurgin in einem Bundeswehr-Krankenhaus, sie hat einen Deutschen geheiratet und hat eine Tochter mit ihm. Aber Laura spricht kein Wort Russisch und hat ihre Baba Dunja auch noch nie gesehen. Inzwischen ist sie fast erwachsen, ein Besuch von ihr im verstrahlten Tschernowo ist aber völlig undenkbar, – und ihre Oma steigt partout in kein Flugzeug! Ein einziges Mal bekam sie einen Brief von Laura, geschrieben mit lateinischen Buchstaben, nicht mit kyrillischen, und zudem in einer Sprache, die sie natürlich nicht kennt. Sie findet auch niemanden, der weiß, um welche Sprache es sich da überhaupt handelt, und übersetzen kann es erst recht keiner für sie. Und auch Baba Dunjas Tochter Irina kommt nicht nach Tschernowo, alle paar Jahre mal reist sie in die nächste Stadt außerhalb der Strahlenzone und trifft sich dort für einige Tage mit ihrer alten Mutter.

Sie sei kaum älter als 82 Jahre, hat die Ich-Erzählerin mal kokettierend erklärt, und fühle sich nur hier in Tschernowo wohl. Und sie habe keinerlei Probleme damit, das Wasser aus dem Brunnen zu trinken und ihr selbst angebautes Gemüse aus dem Garten zu essen. Als Journalisten und Biologen in Schutzanzügen erstmals die Todeszone besuchten, allerlei Messungen vorgenommen und biologische Anomalien festgestellt haben, hat sie sich über deren Ängstlichkeit köstlich amüsiert. Die wollten ja nicht mal den Tee trinken. den sie ihnen angeboten hat, – und essen schon gar nichts! Als alte und natürlich auch schon kränkelnde Frau hat sie keine Angst vor dem Tod. In ihrer Heimat zu leben sei nunmehr der einzige Wunsch, den sie noch hat ans Leben. Als unerschrockene, schlagfertige, lebenskluge Frau wird Baba Dunja von allen im Dorf bewundert, sie gilt de facto als die Bürgermeisterin des Ortes. Und zu Allem weiß sie Rat. Sie ist sogar im Ausland berühmt, man kennt sie von verschiedenen Fernseh-Reportagen über die todesmutige Heinkehrer-Clique in Tschernowo.

Zu der gehört vor allem Marja, die immer nur jammert und ihrem Mann nachtrauert, obwohl er sie doch auch geschlagen hat. Sie ist medikamenten-abhängig und hat Unmengen davon gesammelt. Petrov ist unheilbar krebskrank, er isst kaum noch und wird immer schwächer, hilft Baba Dunja aber, so gut es geht. Der alte Sidorow hat als einziger ein Telefon, dass angeblich funktioniert, was ihm aber niemand glaubt. Als es in einer schwierigen Situation am Ende des Romans aber doch gebraucht wird, erfüllt es ausnahmsweise auch mal seinen Zweck. Der im Präsens erzählte, stilistisch eher hölzern wirkende Roman beschreibt einen grotesken Kosmos, der ganz eigenen Regeln folgt und in dem der Tod allgegenwärtig ist. Die Autorin vermischt leichthändig die Realität mit surrealen Szenen, lässt Tote sprechen oder den verstorbenen Hahn der Nachbarin wieder auferstehen, der sie neugierig beäugt. Bei aller Zufriedenheit aber ist ihre Heldin zu der Erkenntnis gelangt, dass sie ihrer Tochter Irina nicht beigebracht hat, das Leben zu lieben, «Ich habe es selbst zu spät gelernt», erkennt sie selbstkritisch. Ein Wink an den Leser!

Fazit:   lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Kiepenheuer & Witsch Köln

Haus zur Sonne

Sterben als Therapie

Schon zum dritten Mal hat Thomas Melle mit «Haus zur Sonne» einen Roman geschrieben, der sich mit psychischen Krankheiten auseinander setzt. Und zum dritten Mal ist auch ein Roman von ihm auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis gelandet. Schon in wenigen Tagen wird sich klären, ob sein Roman diesmal vielleicht sogar als Sieger hervorgeht. Wir haben es hier mit einer autofiktionalen Dystopie zu tun, deren Thematik eine psychische Erkrankung ist, unter der auch der Autor selbst schon seit langem leidet. Er ist manisch-depressiv, eine bipolare Störung also. Dieses Buch ist sein erneuter Versuch, sich schreibend damit auseinander zu setzen.

Das titelgebende «Haus zur Sonne» ist für den Ich-Erzähler als Alter Ego des Autors die vielleicht letzte Möglichkeit, endlich aus dem Teufelskreis seiner Erkrankung heraus zu finden. Zufällig ist er auf eine Broschüre dieses Sanatoriums gestoßen, das staatlich finanziert Patienten aufnimmt, die bereits mehrmals vergebens versucht haben, Suizid zu begehen. In einem schriftlichen Vertrag müssen sich alle Patienten dazu verpflichten, nach Absolvierung der psychiatrischen Behandlung dann auch tatsächlich Selbstmord zu begehen. Wobei sie allerdings professionelle Hilfe erhalten würden, ein an den «Faust» erinnernder, mephistophelischer Pakt also. Wie auch der Ich-Erzähler schrecken nämlich viele Suizidwillige in letzter Sekunde doch noch davor zurück und gelangen so in eine fatale Endlosschleife. In den Wochen vor dem Suizid durchläuft unser Patient ein Programm, bei der ihm mittels Medikamenten und anderen Methoden im Traumzustand alle seine Wünsche erfüllt werden, – wenn er denn welche hat. Denn, wie auch der Ich-Erzähler haben viele Patienten gar keine mehr, ihr einziger Wunsch ist, endlich aus dem Leben zu scheiden. Der Protagonist im Roman wünscht sich zum Beispiel, Teilnehmer einer Gruppensex-Orgie zu sein oder als Forscher mit seinem Medikament den Krebs besiegt zu haben, – und er erlebt das halluzinatorisch dann auch. Andere seiner Wünsche bleiben jedoch völlig abstrakt oder sind nur sehr vage umrissen.

Es sind große Fragen des Menschseins, mit denen sich Thomas Melle hier erneut qualvoll authentisch beschäftigt. Dabei geht es ihm vor allem um Lebenswille und Selbstbestimmung, denen bei den betroffenen Personen übermächtig die fatale Fremdbestimmung durch ihre Psychosen entgegensteht. Thomas Melles Alter Ego im Roman hat sich schreibend mit dem heftig umstrittenen Nobelpreis für Peter Handke beschäftigt und in einem Essay Twitter als eines der fragwürdigen sozialen Medien unter die Lupe genommen, ohne das diese kreative Beschäftigung seinen Leidensdruck auch nur im geringsten hat mindern können. In endlosen Gesprächen mit Betreuern und anderen Patienten werden alle Aspekte der Erkrankung und ihre vielfältigsten Auswirkungen im Leben geschildert, was sich beim Lesen mit der Zeit aber zu einer immer quälender werdenden Litanei auswächst. Letztendlich weist all das philosophisch auf einen latenten Nihilismus hin, dem man als Betroffener unwiderstehlich ausgeliefert bleibt. Immer nach dem Motto: ‹Das Leben ist sinnlos, also lass es uns beenden›!

Was im Kopf eines psychisch kranken Menschen passiert, das kann literarisch durch Vermischen von Authentischem und Fiktivem nachgebildet werden, so der Autor. Literatur sein für ihn Therapie: «Das Schreiben hat mich in irre Räume zurückgeführt, die mir bekannt waren, die ich aber mit einem Schutzanzug betreten habe: dem Erzählmodus», hat er dazu erklärt. In vielen Rückblicken auf sein Leben werden wir mit der Vorgeschichte seiner Erkrankung konfrontiert, die er schon in den zwei anderen Romanen der «Trilogie des Wahnsinns» thematisiert hat. Obwohl es dem Autor stilistisch hervorragend gelungen ist, sein differenziert betrachtetes, äußerst schwieriges Thema dem Leser anschaulich zu vermitteln, stören die ständigen Wiederholungen des Erzählten bei der Lektüre mit der Zeit denn doch erheblich. Die dystopisch anmutende Frage, ob man das Sterben als Therapie bezeichnen kann, bleibt als satirisch letztendlich denn auch offen. Kurz gesagt: Eine extreme Lektüre!

Fazit:   lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Kiepenheuer & Witsch Köln

Meine Schwester – Meine Mutter

1984 erhängt sich die Mutter der Fotografin Bettina Flitner. 33 Jahre späte wiederholt sich dasselbe Schicksal bei ihrer Schwester Susanne und dessen Ehemann Thomas. Mit ihrem 2023 erschienen Roman “Meine Schwester” legte die Autorin schonungslos die eigenen Wunden offen. Nun legt sie mit “Meine Mutter” noch einmal nach.

Meine Mutter

Bettina Flitner begibt sich in “Meine Mutter” auf eine Reise in den Luftkurort Wölfelsgrund im ehemaligen Niederschlesien, dem heutigen Międzygórze. Dort hatten ihre Vorfahren bis zur dramatischen Flucht 1946 ein Sanatorium besessen und geleitet. Dort lebte ihre Mutter bis zum Alter von zehn Jahren. Bettina, ihre Tochter, sucht an genau jener Stelle nach dem Ursprung, wo einst alles begann. Natürlich thematisiert sie auch die politischen Umwälzungen jener Zeit, die Mitgliedschaft des Großvaters in der NSDAP als “Märzgefallener” und die Vertreibung nach dem Krieg. 14 Millionen Deutsche mussten zwischen 1944 und 1948 ihre Heimat verlassen, schreibt sie. Und obwohl der Krieg zu Ende war, starben immer noch viele Menschen am Krieg. Viele auch durch Selbstmord. Eines der dunkelsten Kapitel ist die Celler Hasenjagd, bei der vier Tage vor Einmarsch der Alliierten in Celle am 8. April 1945 unschuldige Menschen durch die Straßen gejagt und umgebracht wurden. Denn nach der Bombardierung des KZ Bergen-Belsen konnte einige Insassen in die umliegenden Dörfer entkommen und wurden dort erschlagen. “Ich werde nicht älter als 47” hört Bettina heute noch ihre Mutter sagen, so als ob sie es immer schon geplant hätte. Aus den Erlebnissen ihrer Reise ins heutige Polen, den Tagebüchern und Dokumenten ihrer Familie und ihren eigenen Erinnerungen erschafft Bettina Flitner vorliegenden Roman, der näher an der Realität liegt als man sich wünschen möchte.

Meine Schwester

Noch persönlicher als das Nachfolgewerk “Meine Mutter” ist allerdings der Vorgänger aus dem Jahre 2023, “Meine Schwester”. Die Autorin beschreibt darin sachlich und zugleich erschütternd ihre Beziehung zu ihrer Schwester, die ebenfalls Suizid beging. Susanne, ihre ältere Schwester, war eine Art “trauriger Clown”. Sie konnte meisterhaft andere nachahmen und sich über alles und jeden lustig machen. Auch ihr Vater hatte ein komödiantisches Talent und als er bei der Ford Foundation in New York einen Job bekommt, geht die ganze Familie mit. “Wir vier”, denkt sich Bettina oft, aber bald schon muss sie feststellen, dass sie einer Fiktion unterliegt. Denn der Vater geht fremd und bald auch die Mutter. In den Siebziger Jahren als die beiden Schwestern aufwuchsen war dies eine Normalität. Bettina sucht in ihrem Text nach den Vorzeichen für den bevorstehenden Selbstmord, den ersten Anzeichen, wann es begann und natürlich steht die Frage im Raum, ob es nicht vielleicht doch genetisch sein könnte? Oder waren die Depressionen der Mutter eine gewollte Flucht? Wieder zurück in Deutschland besuchen sie Waldorfschule, ihre Schwester dann auch die Montessori-Schule. Als die Eltern sich sogar vor den Kindern streiten, beginnen auch die beiden sich zu zanken. Wenn Flitner das Bild des Familienautomobils als faradayschen Käfig zeichnet, wird deutlich, wie sich die Emotionen entwickelt hatten. Und bald muss sie erkennen, dass Liebe etwas war, das man mit Demütigung bezahlte, “etwas, das einen am Ende vernichten konnte”.

Eine beeindruckende Lebensbeichte, die man nur schwerlich als Roman bezeichnen kann, denn dafür sind die beiden Erzählungen zu Nahe an der Realität. Als ihre Mutter sich ohne Abschied aus der Welt nahm, machten die beiden Töchter gerade erst Abitur. Ihr damaliger Freund heiratete sechst Wochen nach ihrem Tod ihrer Mutter eine neue Frau.

Bettina Flitner
Meine Mutter
2025, Hardcover, 320 Seiten
Lieferstatus: Lieferzeit 1-2 Tage
ISBN: 978-3-462-00849-4
Kiepenheuer&Witsch
24,00 €

Meine Schwester
Verlag: KiWi-Taschenbuch
2023, Hardcover, 320 Seiten
ISBN: 978-3-462-00521-9
Kiepenheuer & Witsch
24,00 €


Genre: Biographie, Familiengeschichte, Roman
Illustrated by Kiepenheuer & Witsch Köln

Russische Spezialitäten

Roman mit Ukraine-Bonus

Der in Kiew geborene Dmitrij Kapitelman wurde mit seinem Roman «Russische Spezialitäten auf die Longlist des diesjährigen Deutschen Buchpreises gewählt. In der autobiografisch inspirierten Geschichte wird der Ukrainekrieg thematisiert, dessen Ursachen und Wirkungen toxische Spuren hinterlassen bis hinein in die jüdische Familie des Ich-Erzählers. Mit dieser hochaktuellen Thematik ist dem Roman die Aufmerksamkeit des Lesepublikums sicher. Insbesondere deshalb, weil das Alter Ego des Autors hier aus einer sehr persönlichen Perspektive berichtet, welche den offiziellen Medienberichten mit ihren nach drei Kriegsjahren allmählich abstumpfenden Schreckens-Botschaften eine geradezu intime Sicht hinzufügt, sie also durchaus bereichernd ergänzt.

Seit seinem achten Lebensjahr lebt der Ich-Erzähler in Deutschland und wird in Leipzig in der Umgebung eines Geschäftes groß, das von seinen Eltern betrieben die titelgebenden «russische Spezialitäten» verkauft. Dieses 1995 gegründete «магазин» wurde bald schon zum Treffpunkt für Menschen aus der russischen Diaspora, die hier Leidensgenossen fanden, mit denen sie sich über alltägliche fremden-feindliche Aggressionen austauschen konnten, denen man als Expat dort permanent ausgesetzt ist. Nachdem der Vater einen Schlaganfall überstanden hat und kurz treten muss bei der Arbeit, beherrscht die pausenlos rauchende Mutter das «магазин», unterstützt von der Angestellten Ira, die «auf die gute alte, sowjetische Art» die Kunden brüsk und unfreundlich behandelt und wohl genau deshalb so gut in den russischen Laden passt. Die heimelige Atmosphäre ist abrupt beendet, als der skrupellose Diktator in Moskau die Ukraine überfällt. Die politischen Meinungs-Verschiedenheiten innerhalb der Familie, die schon seit den Protesten auf dem Maidan von 2013/14 bestehen, brechen nun unvermittelt hervor, speziell zwischen der Mutter und ihrem Sohn Dmitrij sind die Fronten verhärtet. Die in Sibirien geborene und in Moldawien aufgewachsene Mutter glaubt nämlich blind die Lügengeschichten des Kremls, sie bezieht alle ihre Informationen nur vom russischen Staatsfernsehen und ist eine glühende Bewunderin Putins. So hält sie zum Beispiel auch das russische Massaker von Butscha für eine von der Ukraine lanciere Lügengeschichte, die Toten auf den Fotos seien dafür angeheuerte ukrainische Schauspieler.

Völlig verzweifelt, aber auch völlig machtlos, erlebt der Sohn, der seine Mutter innig liebt, dass sie für Fakten nicht mehr erreichbar ist, sie bricht in ihrer Verblendung sogar alle Kontakte zu ihren ukrainischen Freunden ab. Die ihrerseits alle die russische Sprache demonstrativ nicht mehr verwenden und nur noch ukrainisch miteinander sprechen. «Fakenews» ist das Stichwort, mit denen Autokraten aller Couleur weltweit ihre Propaganda betreiben. Für Dmitrij führt der Wahn seiner Mutter zu surrealen Phantasien, er wird im Laden plötzlich von den Fischen im Becken angesprochen, und Menschen machen wundersame Verwandlungen durch, mutieren zum Beispiel zu Zigaretten. Als im zweiten Teil des Romans Dmitrij in die Ukraine reist, ändert sich der Ton des Romans und wird ernster. Was er dort erlebt, vor allem an der Front, übertrifft tatsächlich noch seine schlimmsten Erwartungen.

Dieser trotz schicksalhafter Thematik mit leichter Hand, aber stilistisch ziemlich gewöhnungs-bedürftig und voller Klischees geschriebene Roman ermuntert dazu, sich nicht unterkriegen zu lassen von den Despoten dieser Welt. Wobei der ironische Grundton so mancher Tragik ein wenig die Schärfe nimmt. Der naive Protagonist dieser Erzählung lässt sich weder in seiner Liebe zur Mutter noch zur russischen Sprache beirren. Wenn es eine Botschaft gibt in diesem Roman, dann ist es die Zuversicht verströmende Erkenntnis seines nach Identität suchenden Helden, dass Resignation keine Lösung sei. Am Ende erkennt er schließlich auch: «Heimat ist der Ort, der einem nie egal wird. Kiew». Ein Roman mit Ukraine-Bonus!

Fazit:   lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Hanser Verlag München

Alles über Heather

Eine unerhörte Begebenheit

Das Debüt des bisher nur als Drehbuchautor bekannten, amerikanischen Autors Matthew Weiner unter dem Titel «Alles über Heather» wird als Roman verkauft. Es handelt sich bei dem vom Verlag mit allerlei Seiten schindenden Layout-Tricks auf gerade mal 131 Seiten gebrachten, schmalen Band aber eher um eine typische Novelle, nach Goethe also «eine sich ereignende, unerhörte Begebenheit». In einem kammerspielartigen Setting steuern eine dreiköpfige New Yorker Familie und ein Bauarbeiter auf eine Katastrophe hin, die in diesem 2017 erschienenen Buch ohne Umwege und Ausschmückungen äußerst zielstrebig erzählt wird.

Die fast vierzigjährige, in der PR-Branche tätige Karen lässt sich von ihren Freundinnen, nach einer geplatzten, siebenjährigen Liaison mit ihrem Kunstdozenten, zu einem Date mit Mark überreden, einem eher unscheinbaren Mann, der als Finanzanalyst beruflich sehr erfolgreich ist. Obwohl sie von einer Liebesheirat träumt, heiratet sie ihn aber in einer Art Torschluss-Panik, weil er ihr wenigstens ein finanziell abgesichertes Leben bieten kann. Mit der Geburt der Tochter Heather füllt sich durch die sofort spürbare, schiere Präsenz des Babys sehr schnell die emotionale Leere zwischen den Ehepartnern. Sie ist später auch im Kindesalter ein hübsches, bezauberndes Wesen voller Empathie, das alle unwiderstehlich in Bann zieht, die ihr begegnen. Für ihre Eltern ist sie ihr Ein und Alles, als typische Helikopter-Eltern behüten und umschwirren sie pausenlos ihre ebenso kluge wie liebenswerte Tochter. Karen geht ganz in ihrer Mutterrolle auf, sie ist fast schon symbiotisch mit ihr verbunden. Das ändert sich mit der Pubertät, als Heather auf die unterschwelligen Spannungen in der Ehe ihrer Eltern reagiert, sich aus der Umklammerung der Mutter löst und darauf besteht, wenigstens einmal in der Woche mit ihrem Vater allein etwas unternehmen zu können, – eine Zeit, die beide sehr genießen. Und Mark beobachtet dann immer eifersüchtig, wie die jungen Männer seiner schönen Tochter nachblicken, er will die inzwischen 14jährige Tochter unbedingt von allen Nachstellungen schützen.

In einer zweiten Handlungsebene erzählt der Autor von Bobby, dem verwahrlosten Sohn einer drogen-abhängigen, allein erziehenden Mutter, der als Heranwachsender versucht, ein Mädchen aus der Nachbarschaft zu vergewaltigen und sie dabei schwer verletzt. Hätte er sie umgebracht, lernt er im Gefängnis, hätte er ohne Spuren zu hinterlassen unerkannt entkommen können. Jahre später aus dem Gefängnis entlassen, zündet der Skinhead wütend das Haus seiner mal wieder sinnlos mit Rauschgift zugedröhnten Mutter an. Ein unerkannt bleibender Mord, dem weitere Mordphantasien folgen. Bobby arbeitet fortan als Hilfsarbeiter auf dem Bau, wo er auf Heather aufmerksam wird, die in dem Haus wohnt, dessen Penthaus von seiner Firma saniert wird Wütend beobachtet Mark, dass der junge Bauarbeiter immer wieder seiner attraktiven, halbwüchsigen Tochter nachstiert und sie offensichtlich taxiert, wenn sie an ihm vorbeiläuft. Als er eines Tages beobachtet, dass Heather sogar mal kurz mit ihm spricht, rastet er völlig aus und beschließt in seinen paranoid übersteigerten Befürchtungen, ihn umzubringen.

In einem furiosen Schluss kommt Karen ihrem Mann, dem sie zeitweise sogar inzestuöse Absichten unterstellt hat, wieder näher, – auch sexuell, wo seit langem eigentlich absolute ‹Funkstille› herrschte. Ausgangspunkt für den Autor, der schon immer davon geträumt habe, Romancier zu werden, war seine Beobachtung auf einer Baustelle, wie er im Interview erklärt hat. Dort habe ein Bauarbeiter ein Mädchen ungeniert angestarrt, und er habe sich gefragt, was wohl dessen Vater dazu sagen würde, wenn er das beobachtet hätte. Genau diese Beobachtung hat er in seiner Novelle ja dann auch thematisch umgesetzt. In einer flüssig lesbaren Sprache, zielgerichtet und ohne psychologische Tiefenbohrungen erzählt, gehört dieses spannende Buch zu der Sorte von Page Turnern, die man nicht mehr aus der Hand legt bis zum Ende, welches hier, soviel sei immerhin verraten, dann auch noch ziemlich überraschend ausfällt!

Fazit:   lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Rowohlt

Single Moms Supper Club

Zeitgeist als Manko

Die britische Wahlberlinerin Jacinta Nandi hat mit «Single Mom Supper Club» schon vom kryptischen Titel her einen feministischen Roman vorgelegt, dessen offensichtlich kultbuchartige Ambitionen bereits nach wenigen Seiten deutlich werden. Dabei geht es um nichts weniger als um eine extrem vom Zeitgeist digitaler Medien gesteuerte, scharfzüngige Abrechnung mit Alltagsrassismus und um strukturell bedingte Frauenarmut als schreiende gesellschaftliche Ungleichheit. Die Autorin fährt ein üppiges Ensemble von weiblichen Figuren auf, die unverkennbar autobiografisch inspiriert sind. Bei allem kämpferischen Feminismus, der sich gegen den Müttermythos richtet und sich hier sehr vehement Bahn bricht, ist unverkennbar immer auch Ironie im Spiel, eine oft absurde Komik, – schwarzer Humor eben, ‹very british›.

Gleich zu Beginn werden die Figuren in Kurzform vorgestellt, die Frauen auch mit ihren wichtigsten Eigenschaften: Die Single Moms mit vier «normalen Müttern» und vier «Cocain Moms», dazu auch ihre insgesamt elf Kinder. «Die Kinder sind alle super» heißt es süffisant. Es folgen fünf Männer, Herr Müller, Ruben, der Verticker, der Betrüger und Jochen. Die vier Single Moms mit drei britischen Expats und Antje, einer Deutschen, die den Club gegründet hat, laden sich turnusmäßig gegenseitig zum Essen ein. Das gleiche machen auch die deutlich jüngeren Cocain Moms, die auf Instagram unterwegs sind und als «Momfluencerinnen» gelten. Bei ihnen steht trotz ihrer Jugend Botox hoch im Kurs, und bei ihren Treffen geht es nicht nur ums Essen, sondern auch ums Koksen, der «Verticker» ist ihr zuverlässiger Lieferant dafür. Als diese beiden disparaten Cliquen sich vereinen, führt das zwangsläufig zu einem veritablen Kulturschock.

Die Autorin hat im Interview zu ihren «Single Mom»-Figuren erklärt: «Alle sagen zu mir, wenn sie über das Buch sprechen, dass alle drei Engländerinnen eigentlich ich sind. Antje ist mein deutsches inneres Ich und die anderen Drei sind verschiedene Versionen von mir: die perfekte Feministin, die Schlampe und das traurige Opfer». Ihre Protagonistinnen sind allesamt ambivalent, keine ist nur Opfer, alle sind auch Täterinnen, sie erfahren Gewalt und üben selbst Gewalt aus. Und sie scheitern an strukturellen Grenzen ebenso wie an ihren ganz persönlichen. Irritierend ist, dass Jacinta Nandi ihren Roman als «Comedy» bezeichnet hat trotz all der ernsten, eher traurig machenden Themen, die sie darin aufgreift. Bittere Armut nämlich, häusliche Gewalt, latente Mordlust, sexuelle Übergriffe, Abtreibung, ja sogar Hass auf die eigenen Kinder. Für sie sei «Comedy» kein Grund, solche Themen nicht auch zu besprechen, hat die Autorin erklärt, sie habe kein Problem damit, Leicht und Schwer thematisch zu verbinden, gesellschaftliche Normen würden für sie dabei kein Hindernis darstellen. Sie beschreibt oft geradezu unbarmherzig, wie ihre Figuren sich gegenseitig beschimpfen oder sich, ganz unverblümt, als dumm oder hässlich bezeichnen, was durch ständige Wiederholung mit der Zeit allerdings ziemlich langweilig wird. Bei alldem wirkt ihr schwarzer Humor, der permanent die Grenzen austestet und sie manchmal leider auch deutlich überschreitet, gesellschaftlich entlarvend und für den Leser aufrüttelnd.

Bleibt also festzustellen, dass der sarkastische Humor in diesem feministischem Roman mit seiner ernsten Thematik nicht, wie man glauben mag, entlastend wirkt, sondern eher verunsichernd. Das Lachen bleibt einem oft buchstäblich im Halse stecken, so zum Beispiel bei einer witzig gemeinten Anmerkung zum Holocaust, und auch wenn sie Long Covid als Lifestyle hinstellt, kann man nur noch den Kopf schütteln. Sprachlich ist diese an Reality-TV erinnernde Groteske zudem in einem Social-Media-Jargon verfasst, der den Leser immer wieder mit Begriffen bombardiert, denen man so in seriösen Print- und Funk-Medien nicht begegnen wird, – allenfalls bei deren asozialer Internet-Konkurrenz. Damit erweist sich der den Roman tragende, überstrapazierte Zeitgeist zu einem weiteren, störenden Manko neben den erwähnten anderen!

Fazit:   miserabel

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Genre: Roman
Illustrated by Rowohlt

Klimaresilienz

Frau Berndt ist Wissenschaftsjournalistin und schreibt anschaulich, wie Individuen sich ein- und umstellen können, um die kommenden Belastungen besser ertragen zu können—also, wie sie ihre eigene Resilienz verbessern können.

Dabei zitiert sie Wissenschaftler, die in nicht-wissenschaftlichen Medien interviewt werden, gerne aus der Süddeutschen Zeitung, als Quellenangabe. Allerdings gibt es zu jedem Kapitel ausführliche Lese Empfehlungen, insgesamt über zwanzig Seiten.

Das Buch ist in neun Kapitel eingeteilt, mit passenden Überschriften, wie „Ein heißes Thema“ oder „Gefährlich frische Luft“, über Artensterben und das gleichzeitige Auftreten neuer Schädlinge.

In den ersten Kapiteln werden die Veränderungen aufgezählt. Heißer wird es: da hilft schwitzen. Das kann man lernen, indem man öfter in die Sauna geht. Aber, wenn die Luft zu feucht ist, wird Schwitzen schwerer. Der neue „Klimaschick“ sei helle Kleidung, gerne weißes Leinen. Und natürlich viel trinken, da wird Einiges empfohlen. So gibt es eine Fülle von Tipps, die vor allem für Ältere gelten, denn sie sind, wie man weiß, besonders gefährdet.

Als ehemalige Kinderärztin möchte ich die Gefahren für Kinder und Jugendliche herausstellen, denn von ihnen wird hier auch gesprochen.

Es gibt Bekanntes: Nicht in der Anwesenheit Schwangeres rauchen, Stillen, aber Kaiserschnitte nur, wenn nötig! Das empfiehlt auch die WHO. Da das früher eines meiner Themen war, habe ich gegoogelt: In der BRD sind es stabil gut ein Drittel der Geburten, die WHO empfiehlt weniger als die Hälfte davon, besonders schnittbereit sind Geburtshelfer im Saarland, da sind es doppelt so viele. 60%!

Die natürliche Geburt hilft Kindern bei der Ausbildung eines stimmigen Immunsystems und schützt so vor Allergien. Dieses Thema wird, in seiner Widersprüchlichkeit ausführlich und mit neueren Erkenntnissen behandelt.

Auch Erwachsene leiden vermehrt unter Allergien, ein Grund sind die verlängerten Blühzeiten der allergenbildenden Pflanzen.

„Wider das schlechte Gewissen“ zeigt die Schädlichkeit von Fernreisen auf. Wussten Sie, dass private Propellermaschinen noch schädlicher sind? Und dass Taylor Swift Menschen verklagt, die von ihren Privatflügen berichten?

Es kommen Warnungen vor Greenwashing bei Kompensationsangeboten, www.goldstandard.org ist eine gute Adresse, wenn Flugscham auf das Gewissen drückt.

„Luft für die Seele“ zeigt Möglichkeiten auf, um sich vom Klimastress nicht zu sehr runterziehen zu lassen.

Dies gilt für alle, ein Psychiater wird zitiert: “Der Klimawandel ist ein der drängendsten Herausforderungen unserer Zeit, auch für die Psychiatrie.“

Besonders sind auch hier wieder Jugendliche betroffen, die Psychologists for future sehen eine Zunahme an Depressionen und anderen Störungen.

Deshalb sei es wichtig, die Bedrohung auch immer mit Handlungsmöglichkeiten für dem Einzelnen zu begleiten, auch wenn es nur eine wenig ist, der Seele hilft es. Und auf Erfolge hinzuweisen, etwa, dass das Ozonloch durch gemeinsame weltweite

Anstrengungen wieder geschlossen ist.

Hier das Schlusswort: „Für den Zustand der Erde gilt somit ebenso wie für die Seele des Menschen: Es gibt sie, die Chancen zur Resilienz, auch in Zeiten des Klimawandels. Sie sind überall. Man muss sie nur ergreifen.“


Genre: Politik und Gesellschaft
Illustrated by Bertelsmann München

Rom sehen und nicht sterben

Irritierend eigenständig

Der neue Roman von Peter Wawerzinek mit dem originellen Titel «Rom sehen und nicht sterben» reiht sich ein in die nicht abreißende Welle von auto-biografischen Romanen, mit denen derzeit im Bereich der Belletristik der Buchmarkt geradezu überschwemmt wird. Es entsteht der Eindruck, den schreibenden Damen und  Herren fällt nichts mehr ein, deshalb müssen alle sie über ihr eigenes, mehr oder weniger interessantes Leben schreiben. Statt das dann auch «Autobiografie» zu nennen, werden kurzerhand einige fiktionale Elemente eingefügt, und schon gibt es einen neuen Roman. Und «Roman» auf dem Buchtitel, sei hinzugefügt, das verkauft sich halt einfach besser! Immerhin hat es ja das neue Buch des Autors auf die Longlist für den Deutschen Buchpreis dieses Jahres geschafft, trotz der auto-biografischen Schwemme, das zeugt ja immerhin von einer gewissen literarischen Qualität.

Und in der Tat erweist sich dieser Roman, der als Brief eines Schriftstellers (sic) an einen nicht identifizierbaren Empfänger verfasst ist, gleich zu Beginn als stilistisch grandios, wenn der Autor auf der Tiberbrücke Ponte Sisto stehend den abendlichen Einzug der Stare von den kalten Olivenhainen ins sonnenwarme Rom beschreibt. Am Anfang sei nur diese Schwärze über dem Horizont als «Flatterband» zu sehen. «Das sich im Anflug aufbläht, an Volumen gewinnt und zerreißt, sich in Fetzen auflöst. Wolken bilden sich aus unzähligen Leibern, die aufeinander zufliegen, sich berühren, durchdringen, verschlingen, auffressen, ausspeien, in kleinere Wirbel zerstäuben, sich neuerlich zusammentun, voluminöse Blubber bilden, die implodieren und sich in Wohlgefallen auflösen». Und weiter heißt es: «Könnten unser beider Gedanken, Wünsche, Sehnsüchte, Hoffungen sein, in Bewegung geraten».

Der Ich-Erzähler ist Stipendiat der Villa Massimo, wo er für zehn Monate Quartier bezieht, um ungestört schreiben zu können, eine große Ehre, fast schon ein Ritterschlag für jeden Schriftsteller. Die geschichtsträchtige Ewige Stadt bietet ihm eine Fülle von neuen Eindrücken, wobei er allerdings auch kritisch anmerkt, das vieles hier, auch in der Villa Massimo, nur auf antik getrimmt ist. Auf langen Spaziergängen durchstreift er täglich die Stadt, um Inspirationen für den Roman zu sammeln, den er hier zu schreiben gedenkt. Bis er schließlich, durch die Corona-Pandemie gezwungen, seine täglichen Expeditionen einstellen muss. Zu allem Unglück löscht er auch noch versehentlich und unreparabel auf seinem Laptop den fast fertigen, neuen Roman. Er zieht für einige Jahre nach Trastevere um und beschließt, dort über den Filmregisseur Pier Paolo Pasolini zu schreiben. Nach einigen Schwäche-Anfällen entschließt er sich schließlich widerwillig, seinen Hausarzt in Deutschland anzurufen, mit dem er auf sehr vertrautem Fuße steht, er duzt ihn und nennt ihn nur «Min Skipper». Der beordert ihn sofort nach Deutschland zurück, und nach einigen Untersuchungen steht dann fest, dass er Krebs hat. Als Kämpfernatur beschießt er, nicht aufzugeben, sich der Konfrontation mit dem Tod zu stellen. Dieser Weg zurück ins Leben macht den größten Teil der Erzählung aus, er wird äußerst anschaulich und mitreißend beschrieben.

Ein lebensbejahender und Mut machender Roman also, dessen Stärke und Alleinstellungs-Merkmal die eigenwillige und auch eigenständige Sprache ist, in der er geschrieben wurde. Es wimmelt darin nur so von vielerlei Reihungen, wie sie exemplarisch im Zitat vom Einzug der Stare nach Rom zu sehen sind. Der vorwärts drängende, reportageartige Erzählfluss wird auch durch das Weglassen der Subjekte in vielen Sätzen verstärkt, wie nachfolgendes Beispiel zeigt: «Bekomme Krämpfe in den Fingern. Schlafen mir die Arme ein. Kribbeln. Werde vom Schwindelgefühl befallen. Weiß plötzlich nicht mehr, was ich schreiben wollte». Stilistisch verbinden sich hier Wortwitz, lustige Wortspiele und rasanter Sprachrhythmus miteinander, die dem Roman, in Hinblick auf seine Thematik allerdings irritierend, etwas sehr Eigenständiges verleihen.

Fazit:   lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Penguin

Wachs

Wächserne Lektüre

Mit dem Roman «Wachs hat die Schriftstellerin Christine Wunnicke kürzlich schon das zweite Mal einen Platz auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises erreicht, auf der Longlist war sie außerdem schon dreimal vertreten. Auch dieser neue Roman folgt wieder ihrem bewährten Erzählmuster, historisch verbürgte, mehr oder weniger prominente Personen als exzentrische Figuren auszuwählen und sie mit ihren jeweiligen Obsessionen in einem zum großen Teil fiktiven Geschehen agieren zu lassen. Die Autorin selbst hat ihr Roman-Personal als «zerfallende Personen» und «fragmentierte Figuren» bezeichnet, die in ihrem Werk dann ein Eigenleben führen würden. Zu ihrem Stil hat sie an gleicher Stelle angemerkt, sie beschreibe «Zwischenzustände, Grenzüberschreitungen, zweifelhafte Identitäten».

So hat sie auch mit dem vorliegenden Roman wieder ein ganz eigenständiges Werk geschaffen, in dem sich verschiedene literarische Gattungen zu einem im Genre historischer Werke eher seltenen Kurzroman vermischen. Der reichert als gelehrte Groteske real Verbürgtes mit unbeirrt Fiktivem an und erzählt es mit zuweilen parodistischem Einschlag.. Im Mittelpunkt dieser im Paris des 18ten Jahrhunderts angesiedelten Geschichte stehen mit der Anatomin Marie Biheron und der Malerin Madeleine Basseporte zwei historisch verbürgte Frauen im Mittelpunkt. Marie, die anfangs 14jährige Tochter eines Apothekers, besucht einen Kurs im Zeichnen bei der bekannten Malerin Madeleine, die deren Talent entdeckt und zu ihrer Mentorin wird. Im Roman werden sie kurzerhand als lesbisches Paar zusammen geführt, das es dann durch eine List von Marie sogar schafft, kirchlich getraut zu werden. Es lebe die Fiktion! Die reale Marie Marguerite Bihéron war zu damaligen Zeiten als Anatomin eine absolute Ausnahme-Erscheinung nicht nur in Frankreich und weithin bekannt für ihre realistischen Zeichnungen und anschaulichen Wachsmodelle des menschlichen Körpers. Wie gleich im ersten der zehn Kapitel des Romans beschrieben, versucht Marie als blutjunges Mädchen vergebens, beim Militär an die für ihre Obsession benötigten Leichen heran zu kommen. Naiv wie sie ist hat sie nämlich geglaubt, dort müsste es ja viele davon geben, – die erstaunten Soldaten haben nur den Kopf geschüttelt! Aber stur und zielstrebig, wie sie auch ist, findet sie mit Unterstützung ihrer Eltern, abseits der anatomischen Institute, einen illegalen Weg und wird fortan zuverlässig von einem Bestattungs-Unternehmen ‹beliefert›,

Das auch altersmäßig ungleiche Paar findet fortan durch den Verkauf der Zeichnungen von Madeleine und die überall neugierig bestaunten anatomischen Wachsmodelle von Marie ihr Auskommen. Das politische Geschehen vor und während der Französischen Revolution spielt voll mit hinein in einen Plot, in dem den Männern allenfalls Nebenrollen zugedacht sind, so auch für Denis Diderot, der hier Kaffee trinkend als ziemlicher Schwätzer dargestellt wird. Trotz seiner Kürze wird viel erzählt in diesem feministischen Roman, in dem es, mit wilden Zeitsprüngen und gelegentlichen Abschweifungen, vor allem um die Probleme geht, denen Frauen damals ausgesetzt waren. Aber gerade weil diese Hürden ihnen den Weg schwer machten, wurden zielstrebige Kämpfernaturen weiblichen Geschlechts wie die Protagonistin Marie damals zu Höchstleitungen angestachelt und vollbrachten für unmöglich Gehaltenes.

Und genau das ist denn auch die Botschaft dieses historischen Romans, der en passant neben geschichtlichen auch durch anatomische und botanische Details bereichernd wirkt für den Leser. Gelungen sind auch die Passagen, in denen über die verklemmten, religiös oktroyierten Moralvorstelllugen dieser Zeit berichtet wird, über Jungfräulichkeit und ehrbares Verhalten als Frau. Es sind durchweg sympathische Figuren, die den Roman bevölkern, allen voran Marie als willensstarke, autodidaktische Anatomin, Die Sprache, in der all das erzählt wird, ist wohl bewusst, quasi der Zeit geschuldet, etwas altertümelnd gehalten, also weder elegant noch flüssig lesbar, sie erscheint vielmehr in dieser Hinsicht als ziemlich «wächserne» Lektüre!

Fazit:   lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Berenberg Verlag

Sam Shaw: Dear Marilyn

Sam Shaw: Dear Marilyn

Sam Shaw: Dear Marilyn. Am 1.6.2026 wäre die in Los Angeles geborene Norma Jeane Baker 100 Jahre alt geworden. Grund genug jetzt schon das Marilyn Monroe Jubiläum auszurufen und mit vorliegendem, großformatigen Bildband die Schauspielerin und Produzentin zu feiern.

Sam Shaw: Unveröffentlichte Briefe und Fotos von Marilyn

Sam Shaw: Roxbury, CT, 1957

Was zumeist untergeht, ist, dass MM  (1926-1962) nicht nur als Fotomodell und Schauspielerin arbeitete, sondern 1954 die Marilyn Monroe Productions Incorporated in New York gründete und am Actors Studio studierte. Sie hatte alle ihre Hollywoodverträge aufgelöst “Der Prinz und die Tänzerin”, in dem sie auch die Hauptrolle spielte. Mit “Misfits – Nicht gesellschaftsfähig” gelang ihr 1961 der Wechsel ins ernste Rollenfach und sie schrieb erneut Geschichte. Der vorliegende Band ist aber ganz ihrer Filmkarriere gewidmet und zeigt hinreißende Bilder und Dokumente, die bisher noch nicht bekannt waren.

Blowing Skirt Fotos und mehr verflixte Bilder

NEW YORK – SEPTEMBER 1954: Marilyn Monroe with the skirt of her white dress blowing as she stands over a subway grate at the corner of 51st Street and Lexington Avenue in September, 1954 during the filming of “The Seven Year Itch” in New York, New York. (Photo by Sam Shaw/Shaw Family Archives/Getty Images)

Kaum zu glauben, aber es gibt sogar von Marilyn Monroe – sie gilt als die meistfotografierte Person des 20. Jahrhunderts –  immer noch Dinge, die nicht bekannt sind. Sam Shaw, der Hollywoodphotograph, Produzentenkollege und enge Freund Marilyns schoß 1954 die sog. “blowing skirt-Photos” über dem New Yorker Subway-Schacht für die Promotion des Films “Das verflixte 7. Jahr”. Aufgrund eines Rechtsstreits waren diese Bilder allerdings jahrzehntelang blockiert. Um genau zu sein: ganze 71 Jahre! Nachdem dieser Rechtsstreit nun endlich beigelegt ist, veröffentlicht die Familie des 1999 verstorbenen Photographen seine Marilyn-Bilder zusammen mit unveröffentlichten Briefen, in einem großen hochqualitativen Bildband. Insgeheim wird die vorliegende Publikation im Format einer Schallplatte jetzt schon als Auftakt zum Marilyn Centennial 2026 gehandelt.

Dear Marilyn: eine Ikone der Frauenbewegung?

Sam Shaw: Roxbury, CT, 1957

Auf 240 Seiten werden 77 Farb- und 180 Schwarzweiß-abbildungen gezeigt, die Marilyn Monroe beim Telefonieren, am JFK Airport, bei Dreharbeiten über besagtem New Yorker U-Bahn Schatz, mit Arthur Miller vor der Queensboro Bridge, zuhause beim Tanzen in Roxbury, CT oder auch an der Amagansett Beach in NY zeigen. Egal auf welchem Foto und in welcher Position: immer sieht sie frisch wie aus dem Ei gepellt hat, zeigt ihr volles Charisma und erstrahlt. Alle Fotos zeigen eine atemberaubend schöne, selbstbewusste, fröhliche, versonnene, immer überraschende Marilyn, ganz so, wie man sie in Erinnerung behalten möchte. Sam Shaw hatte die Gelegenheit, Marilyn Monroe von 1950 bis in die 1960er Jahre zu begleiten, photographierte sie am Set und privat, korrespondierte mit ihr – damals noch in Briefen – und hielt seine eigenen Erlebnisse in Tagebüchern fest. “Dear Marilyn” – so der liebevoll gemeinte Buchtitel –  schildert den Weg vom Starlet über den Superstar zur unabhängigen Produzentin in drei Akten. Ein eigenes Kapitel ist auch der Entstehung des blowing skirt-Photos gewidmet. zeigen eine atemberaubend schöne, selbstbewusste, fröhliche, versonnene, immer überraschende Marilyn.

Vermächtnis und Ausblicke auf das Jubiläumscentennial 2026

AMAGANSETT, NY – 1957: Marilyn Monroe on the beach in 1957 in Amagansett, New York. (Photo by Sam Shaw/Shaw Family Archives/Getty Images)

Sam Shaw (1912, New York City – 1999, Westwood, New Jersey) begann als Illustrator für Zeitschriften und war ab den 1940er Jahren Photojournalist für Collier’s, Life und Look. In den 1950er Jahren arbeitete er als Setphotograph in Hollywood, u.a. für Elias Kazan (Endstation Sehnsucht, Viva Zapata! mit Marlon Brando) und Billy Wilder (Das verflixte 7. Jahr) und war ab den 1960er Jahren als Produzent, u.a. der Filme von John Cassavetes (Husbands, Eine Frau unter Einfluss, Opening Night, Gloria) tätig. Marilyn Monroe, geb. am 1.6.1926 in Los Angeles als uneheliche Tochter einer Filmcutterin, wuchs bei Verwandten und diversen Pflegefamilien auf. Nachdem sie Ende der 1940er Jahre als Fotomodell und Nachwuchsschauspielerin in Hollywood Aufsehen erregt hatte, gelang ihr 1950 der Durchbruch als Filmschauspielerin. Von 20th Century Fox auf den Typ der naiven, lasziven Blondine festgelegt, avancierte sie mit Filmen wie Niagara, Blondinen bevorzugt, Wie angelt man sich einen Millionär? oder Das verflixte 7. Jahr Anfang der 1950er Jahre zum größten Star in Hollywood und zu einer der bekanntesten und meistfotografierten Frauen der Welt. Ihre wohl berühmteste Rolle ist die Ukulelespielerin Sugar Kane in der Billy Wilder-Komödie Manche mögen’s heiß von 1959, für die sie mit dem Golden Globe ausgezeichnet wurde.

Ihr trauriges Ende – sie starb an einer Überdosis Barbituraten – ist bis heute ungeklärt. Sie starb mit nur 36 Jahren in Brentwood, Los Angeles. Weitere interessante Annäherungen an Mythos und Legende Marilyn Monroe stammen etwa von Joyce Carol Oates und der nach ihren Aufzeichnungen gedrehte gleichnamige Film von Andrew Dominik “Blond”.

SAM SHAW
DEAR MARILYN
DIE UNVERÖFFENTLICHTEN BRIEFE UND PHOTOGRAPHIEN
Mit einem Vorwort von Meta Shaw und Edie Shaw
und einem Text des Photographen
Aus dem Englischen von Haide Paul
240 Seiten, 77 Farb- und 180 Schwarzweißabbildungen
ISBN 978-3-82961046-9
Schirmer/Mosel Verlag
€ 49,80 € (Ö) 51,20 CHF 57,30


Genre: Bildband, Biographie, Fotobuch, Fotografie
Illustrated by schirmer/mosel